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So hatte sich Zamorra den feuchtfröhlichen Abend mit dem alten Studienfreund nicht vorgestellt. Nach ein paar Gläschen zuviel wollte er eigentlich nur schlafen - aber in seinem Hotelbett. Und sicher nicht in der endlosen schneebedeckten Ebene, in der er sich unversehens wiederfindet, im Kampf mit einem schleimigen Monster, das ihn vernichten will ...
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Seitenzahl: 140
Veröffentlichungsjahr: 2017
Cover
Impressum
Endstation Ewigkeit
Leserseite
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Arndt Drechsler
Datenkonvertierung eBook: Blickpunkt Werbe- und Verlagsgesellschaft mbH, Satzstudio Potsdam
ISBN 978-3-7325-5436-2
www.bastei-entertainment.de
Endstation Ewigkeit
von Simon Borner
Der Hass des Monstrums war unerschöpflich! Gnadenlos hielt es auf Zamorra zu. Schon reckten sich erste Greifarme nach ihm. Spitze Mäuler schnappten zu, lange Tentakel wollten ihn umschlingen.
Sie scheiterten. Doch die Gegenwehr kostete Zamorra Unmengen an Kraft. Lange würde er das nicht durchhalten.
Niemand kommt mir zur Hilfe,dachte er keuchend.Ich werde nur überleben, wenn ich gewinne.
»Ich habe es im Guten versucht«, stieß er zwischen bebenden Lippen hervor. Trotz der Kälte lief ihm vor Anstrengung der Schweiß in Strömen von der Stirn. »Jetzt versuche ich es anders!«
Dann griff er an.
»Das Pendel zeigt den Augenblick an, aber was zeigt die Ewigkeit an?«
Walt Whitman
Kapitel 1 Die letzte Nacht der Welt
Die Nacht war sternenklar und kühl. Ein laues Lüftchen zog von Westen her über die Dächer und durch die Gassen der Stadt. Laternen verströmten gelblichen Glanz, und vereinzelt zogen streunende Katzen ihre Bahnen – vorbei an den leeren Außenbereichen der Bars und Brasserien, an dunklen Schaufenstern, nachtschlafenden Häuserfassaden und dem ewig murmelnden Fluss der Seine.
Auch er war wohl so etwas wie eine streunende Katze, schoss es Professor Zamorra durch den Kopf. Dann prustete er los. Der Gedanke war aber auch amüsant. Zumindest war er das nach … Grundgütiger, wie viele Gläser waren es gewesen? Jedenfalls zu viele. So viel stand fest.
Ein Glück, dass Nicole keine Lust hatte, mich nach Paris zu begleiten. Er seufzte tief. Wenn seine Partnerin ihn so sehen könnte, würde sie ihm – nicht ganz zu unrecht – eine mehr als gesalzene Standpauke halten. Aber man trifft alte Freunde ja auch nicht alle Tage wieder.
Jerome Debussy war ein alter Freund. Noch dazu ein sehr enger – jedenfalls damals, als sie beide noch jung und voller Träume gewesen waren. Seit Jahrzehnten hatte der Meister des Übersinnlichen nichts mehr von ihm gehört und auch kaum einen Gedanken auf den jovialen Kommilitonen mit der dunklen Haut und dem noch dunkleren Sinn für Humor verschwendet. Jerome war ein Kapitel der Vergangenheit gewesen, und unter der stand ein dicker, fetter Schlussstrich.
Bis vorige Woche. Das Telefon hatte im Château Montagne geklingelt, und eine Stimme aus der Vergangenheit war in Zamorras Leben zurückgekehrt.
»Mir ist natürlich klar, wie kurzfristig das jetzt ist. Falls du nicht frei sein solltest, habe ich vollstes Verständnis. Aber der Gastredner ist in letzter Minute abgesprungen, und jetzt habe ich eine empfindliche Lücke im Vortragsprogramm. Und ich dachte, den Versuch ist es wert. Zumal ich dich echt gern mal wieder sehen würde. Weißt du noch, damals?«
Jerome Debussy. Promillereiche Eskapaden durch ein Paris der späten 1960er Jahre. Partys, Mädchen, ein kirschrotes Cabrio auf dem Kopfsteinpflaster vor Montmartre. Kleine Dachstuben, aufgeladen mit der Freude am Leben, an der Jugend, an den kommenden Möglichkeiten. Sie waren Kinder gewesen in jenen Tagen; erwachsen nach den Standards des Gesetzes, aber dennoch so unendlich jung. Spielende Kinder, voller Hoffnungen und der inneren, wenngleich nie ausformulierten Überzeugung, unsterblich zu sein.
Zamorra hätte Himmel und Erde bewegt, um diese Vortragsanfrage zu erfüllen. Selbstverständlich hatte er Zeit – kurzfristig oder nicht. Immerhin war es Jerome, der ihn darum bat.
Und so kam er her, in die Stadt der Liebe. Das Paris des Jahres 2017 war anders als das Paris seiner Studententage. Internationaler, irgendwie. Lauter, das auch. Schmutziger. Aber tief drin war es der Ort, den er seit gefühlten Ewigkeiten kannte und liebte – und als plötzlich Debussy wieder vor ihm stand, war es exakt wie früher.
Der Vortrag wurde ein voller Erfolg. »Die Bedeutung der Parawissenschaften für das neue Jahrtausend«, ein Thema, über das der Dämonenjäger auch ohne nennenswerte Vorbereitung mühelos neunzig Minuten referieren konnte. Der große Hörsaal an der Sorbonne war gut gefüllt gewesen, als er seine Ausführungen begann, und die Nachfragen der interessierten Zuhörer hatten erneut gut eine Stunde Zeit gefüllt. Entsprechend spät war es bereits, als Zamorra und Debussy endlich wieder auf der Straße standen.
»Noch ein Glas?«, hatte Debussy gefragt, das junge schelmische Funkeln in den alt gewordenen Augen. »Auf früher?«
Zamorra hatte geseufzt. »Ich muss zurück, Jerome. Nicole wartet, und ich fahre eigentlich gern bei Nacht über die Schnellstraßen …«
»Zurück?« Debussy hatte den Kopf geschüttelt. »Aber wir haben doch ein Hotel für dich. Hab ich das nicht gesagt? Die Uni zahlt. Na, komm. Gib dir einen Ruck. Wir haben uns so lange nicht gesehen, Zamorra. Ich übernehme auch die erste Runde!«
Das Angebot war verlockend gewesen. Nostalgie war eine Krankheit, deren Ausbruch auch ein Dämonenjäger hin und wieder begrüßte. Also hatte er nachgegeben. Nicole würde schon nicht allzu sauer werden. Sie war ohnehin in letzter Zeit ein wenig gleichgültig, was diese Dinge anging. Für einen Augenblick brachte das in Zamorra eine seltsame Saite zum Klingen, so, als habe er so etwas schon einmal erlebt, doch dann ließ die angenehme Aussicht, den Abend mit nostalgischen Geschichten und Erinnerungen zu verbringen, ihn diesen Gedanken wieder vergessen. Sie zogen los.
Debussy kannte die kleine Bar in Bahnhofsnähe. Mit sicheren Schritten führte er seinen Gast dorthin. Das Eternité war im Stile alter Personenzüge eingerichtet und hatte eine geradezu göttliche Getränkeauswahl. Und aus dem späten Abend war in Windeseile eine Nacht geworden.
Und aus einem vernunftbegabten Mann ein maßloser dummer Junge, dachte Zamorra. Der Gedanke riss ihn aus seinen Erinnerungen zurück in die Gegenwart und die nachtschlafenden, leeren Gassen von Paris. Einer, der morgen früh einen ganz schönen Kater haben dürfte.
Was eigentlich erstaunlich war, denn so schlimm hatte er doch gar nicht getrunken! Andererseits dachten das vermutlich alle Menschen von sich, bis es zu spät und sie nicht mehr Herr ihrer Sinne waren. Das letzte Glas war immer das Glas zu viel.
Seufzend bog er um die Straßenecke, und endlich sah er sein Ziel. Die Adresse, die Jerome ihm vorhin beim Abschied genannt hatte, stimmte. Das Hotel Parisienne lag in der Innenstadt, allerdings in einer der wenig frequentierten kleinen Nebenstraßen. Und wenig frequentiert sah es auch aus. Die Fassade war schmutzig, einige Fensterläden hingen schief, und bei Tag, so vermutete der Dämonenjäger, machte es sicher einen noch viel schlechteren Eindruck als im Dunkeln.
Doch für eine Nacht würde es genügen müssen. Zamorra nahm den Schlüssel, den Debussy ihm gegeben hatte, ließ sich ein und ging – die Rezeption war längst nicht mehr besetzt – schweigend auf sein Zimmer, eine kleine, staubreiche Stube im Dachgeschoss. »Wie in alten Zeiten«, murmelte er, als er sich aufs quietschende Bett sinken ließ. Er wollte gerade das Licht löschen, da summte das TI Alpha auf seinem Nachttisch.
»Ach, du lebst ja doch noch?«, begann Nicole das Gespräch. Sie klang … ungut.
»Es ist spät geworden«, erklärte er ihr. »Tut mir leid. Jerome und ich …«
»Spät und feuchtfröhlich, so wie du dich anhörst.« Sie unterbrach ihn nicht oft. In letzter Zeit häuften sich die Gelegenheiten allerdings. »Meine Güte, euch beide kann man auch nicht allein lassen.« Sie lachte leise, doch er wusste nicht, ob es freundlich oder frustriert gemeint war.
»Schuldig im Sinne der Anklage, fürchte ich. Jedenfalls hat er mir ein Zimmer besorgt. Absolut nichts Erwähnenswertes, glaub mir. In dem kleinen Bad ist weniger Platz als in Asmodis’ dunklem Herzen. Aber es ist ja nur für eine Nacht. Beziehungsweise für den schmalen Rest einer solchen.« Er gähnte. In wenigen Stunden ging die Sonne auf, und Alkohol machte müde.
»Aber morgen früh fährst du los?«
»Indianerehrenwort«, versprach er – und verscheuchte den kurz aufwallenden Ärger über ihre Frage. Seit wann war er ihr Rechenschaft schuldig? Andererseits: Seit wann reagierte er so empfindlich, wenn sie empfindlich reagierte? »Gleich nach dem Frühstück. Falls es so etwas hier überhaupt gibt.« Ohne Kaffee schaffte er es jedenfalls nicht mal über die Türschwelle dieses Hauses, so viel stand fest.
Sie verabschiedeten sich und legten auf. Keine drei Sekunden später schloss der Dämonenjäger die Augen, atmete tief aus und entspannte sich. Die Stille des Zimmers, der Alkohol in seinem Blut und die Schwere seiner Glieder verbanden sich zu einem höchst potenten Schlafmittel und …
Das Stöhnen kam ganz plötzlich! Eben noch hatte herrlichste Stille geherrscht, im nächsten Moment waren die Geräusche da. Ein tiefes, fast schon animalisch klingendes Ächzen und Stoßen, ein Keuchen und Schmatzen. Es kam von nebenan, daran bestand kein Zweifel. Von der anderen Seite der Wand, an der Zamorras schmales Bett aufgestellt war. Im Nachbarzimmer passierte … etwas.
Was, konnte er nicht benennen. Waren das Bettgeräusche? Das Stoßen und Stöhnen legte es nahe, doch darunter lag ein eigenartig aggressiver, fast schon hasserfüllt klingender Unterton, der ihn zweifeln ließ. Und dieses gutturale Knurren? Dieses gierige Schmatzen, das eher an ein Raubtier als an eine Liebesbegegnung denken ließ?
Zamorra richtete sich auf. Schweigend lauschte er in die Nacht. Die Geräusche vergingen so schnell sie gekommen waren. Stille kehrte wieder ein.
Eigenartig. Er legte das Ohr an die Wand, konzentrierte sich auf jeden einzelnen Laut.
Und ein gellender, qualvoller Schrei hallte durch das Hotel Parisienne!
Sofort sprang Zamorra vom Bett. Mit schnellen Schritten durchquerte er sein Zimmer, riss die Tür zum stockfinsteren Flur auf und trat über die Schwelle.
Dann drehte sich die Welt.
***
Der Schmerz war unbeschreiblich. Von einem Moment auf den nächsten schien sein ganzer Körper in Flammen zu stehen. Muskeln, Poren, Nervenstränge – alles war wie mit brennendem Öl übergossen. Alles schien von innen heraus und von außen zu vergehen, in einem einzigen, unendlich qualvollen Augenblick. Zamorra keuchte, krümmte sich vor Pein, und verlor endgültig die Orientierung.
Alles drehte sich vor ihm. Der dunkle Hotelflur, die Umrisse der Nachbartür, die Treppe am hinteren Ende des Ganges. Sie drehten und drehten sich, wurden dunkler und dunkler, und vergingen dann komplett. Eine schwarze, haltlose Leere tat sich vor dem Dämonenjäger auf, und er fiel, fiel, fiel.
Bis er Schnee an seiner Wange spürte. Feucht und hart und eisig kalt. Zamorra stöhnte vor Übelkeit und vor Schmerz, der allmählich verging. Blinzelnd öffnete er die Augen und begriff dann erst, dass er sie zuvor geschlossen hatte. Er fand sich auf einem weißen Untergrund wieder, der silbrig im Licht des fahlen Mondes glitzerte. Unberührt, ewiglich.
Schnee. Mitten in Paris? Zamorra stützte sich mit den Händen auf und stemmte sich hoch. Er lag bäuchlings in der weißen Pracht, nichts am Leib als seine Unterwäsche, und die Kälte wurde mehr als unangenehm.
Fragend sah er sich um. Das ergab keinen Sinn, oder? Vor ihm lag eine schneebedeckte Ebene, die sich bis zum Horizont erstreckte. Ein sternenreicher Nachthimmel überdachte eine wahre Polarlandschaft aus weiter Fläche, eisbedeckten Felsen und vollkommen unberührtem Niemandsland. Die Stille war ohrenbetäubend und der Anblick absolut bizarr.
Was ist das hier?, dachte Zamorra. Was soll das?
Er träumte doch, oder? Das konnte unmöglich real sein. Diese … diese Ödnis, die schien, als wäre sie aus einer anderen Dimension gefallen, konnte doch nicht einfach so in Paris auftauchen! Das ergab keinerlei Sinn.
Aber er hatte auch in keinem Traum der Welt je so gefroren wie in diesem Augenblick. Und ein Traum, in dem man sich vor Kopfschmerzen beinahe übergeben musste? Auch das ergab irgendwo keinen Sinn, oder?
Also gut, kombinierte er und versuchte vergebens, sein wild pochendes Herz zu beruhigen. Ich bin nicht mehr in Paris. Aber wo bin ich dann? Und vor allem: Warum?
Er stand auf, blanke Fußsohlen im eisigen Schnee. Wo war Süden? Wo lag die Zivilisation? Gab es hier überhaupt so etwas? Der Versuch, sich an den Sternen zu orientieren, schlug fehl. Diese Konstellationen dort oben hatte Zamorra nie zuvor gesehen. Sie ähnelten denen, die er seit Kindertagen kannte – hier schien das W der Kassiopeia durch, dort die Umrisse des Großen Wagens –, aber sie waren es nicht. Schlecht gemachte Kopien eines ignoranten Zufalls.
Zamorra versuchte ein paar Schritte vorwärts, schlurfend und mühsam. Suchend ließ er seine Blicke wandern – nach irgendetwas, einem Licht in der Ferne, dem Umriss eines Hauses, dem Versprechen von Wärme und Obdach und Antworten. Doch er fand nur mondbeschienene Leere, nur Eis und Schnee und Fremde.
Dann hörte er den Zug. Der Pfiff der Lokomotive schnitt durch die nächtliche Stille wie ein warmes Messer durch Butter. Zamorra drehte den Kopf in die Richtung, aus der der Pfiff kam. Dort hinten am Horizont gab es also etwas. Etwas anderes als Eis und Kälte. Ob er es bis dorthin schaffte? Oder erledigte die Kälte ihn vorher? Der Horizont schien weit, und der Pfiff war aus der Ferne gekommen, daran bestand kein Zweifel.
Wenn ich hier bleibe, sterbe ich sowieso, entschied er pragmatisch. Erfrieren kann ich also genauso gut beim Versuch, diese Gleise zu finden.
Er schlang die zitternden Arme um den Oberkörper, schluckte einmal und setzte sich in Bewegung, mit nackten Füßen dem Horizont entgegen.
Fünf Minuten später sah er das Monstrum.
***
Am Anfang war das Geräusch. Jenes Knurren und Stoßen, Schlurfen und Ächzen, das er schon im Hotelzimmer vernommen hatte. Es kam ganz plötzlich, von einem Augenblick zum nächsten. Im ersten Moment hielt er es für Einbildung, für eine Todesphantasie seiner überreizten und zunehmend wie schockgefrosteten Sinne und Glieder. Eine Illusion, die sein Geist ihm vorspielte, um von der Sensation des langsamen Erfrierens abzulenken.
Doch es war keine Einbildung. Das spürte er eine Sekunde, bevor das Monstrum hinter dem hohen Felsen hervorkam. Und die leere Ödnis wurde endgültig zur tödlichen Falle!
Das Vieh war gut und gern drei Stockwerke groß. Es hatte einen schuppigen Leib aus Feuer, Schleim und Narben. Lange Greifarme zappelten unbeherrscht, bestimmt ein Dutzend an der Zahl, und kleine Münder mit spitzen Zähnen ploppten an ihnen auf wie Knospen einer teuflisch-gierigen Blume. Es hatte Augen aus Höllenfeuer, ein lippenloses Maul wie ein offen stehender Glutofen und unverkennbaren Hass im Sinn. Es gierte nach Zerstörung, nach Tod und Verderben. Es lebte für die Qual, die es anderen verursachen konnte.
Zahlreiche Drüsen auf seinem massigen Körper produzierten eine ätzend scheinende Schleimschicht, die es komplett bedeckte. Dieser Schleim war es auch, auf dem er sich vorwärts bewegte – und wo er den Schnee berührte, dampfte das Wasser und taute das Eis. Das Monstrum war Feuer, durch und durch. Todbringend wie eine unbändige Flamme. Und es kam direkt auf den Dämonenjäger zu!
Zamorra reagierte sofort. Aus unzähligen Kämpfen geschulte Reflexe übernahmen die Kontrolle über sein Handeln. Kälte, Furcht, Orientierungslosigkeit – all das zählte nicht mehr, als der Instinkt des Kriegers übernahm und sich das Licht einmal mehr gegen das dämonisch Dunkle stellte.
Er wusste, dass er keine Hilfe erwarten durfte. Nichts und niemand war hier draußen im Nichts an seiner Seite. Kein Freund und auch keine magische Waffe. Keine – außer Merlins Stern!
Das Amulett scherte sich nicht um Kälte und Eis. Sowie das Monstrum auf den Professor zuhielt, erwachte Merlins Stern zum Leben. Eine wabernde Blase aus nahezu undurchdringlicher Energie baute sich rings um den Meister des Übersinnlichen auf. Eine Wand aus Licht, als Schutz vor den Mächten der Finsternis. Es war die einzige Funktion, die das Amulett ohne seinen Befehl ausführte.
»Wer bist du?«, knurrte der Dämonenjäger. Er hatte die Fäuste geballt, und sein Blick ruhte auf dem unheimlichen, riesigen Gegner. »Was willst du von mir?« Es waren unnütze Fragen, das wusste er. Doch die gesamte Situation war unnütz. »Ich muss nicht dein Feind sein. Nicht hier, nicht jetzt. Geh zurück, und ich werde dich nicht weiter behelligen. Verschwinde einfach, so lange du noch kannst.«
Er wollte keinen Kampf. Nicht aus plötzlich empfundenem Mitleid für das dämonische Gezücht, sondern aus rein praktischen Gründen. Seine Chance, die Bahngleise zu erreichen, war auch so schon illusorisch klein. Wenn er seine Kraft an einen Kampf verschwendete, wurde sie noch kleiner. Zumal er den Kampf gegen diesen feurigen Koloss vielleicht ohnehin nicht überstand. Nicht so – allein und nahezu wehrlos im eisigen Nichts.
Doch sein Gegner war nicht zum Reden gekommen. Laut hallte sein animalisches Knurren über die stille Ebene. Jetzt befahl Zamorra seinem Amulett, anzugreifen. Die Energieblitze prallten auf der Schleimschicht, die seinen Leib bedeckte, scheinbar wirkungslos ab. Erst bei genauerem Hinsehen bemerkte Zamorra, dass sie dünne Kerben in die Schicht schlugen, die jedoch prompt von neuem Schleim gefüllt wurden. Dieses Ungeheuer hatte einen schier unerschöpflichen Vorrat.
Und unerschöpflichen Hass! Gnadenlos hielt es auf den durchgefrorenen Mann von der Loire zu. Schon reckten sich erste Greifarme nach ihm aus. Spitze Mäuler schnappten nach dem Dämonenjäger, und lange Tentakel versuchten, ihn in die Schlinge zu nehmen.
Sie scheiterten allesamt. Noch! Die energetische Blase, die das Amulett errichtet hatte, hielt. Allerdings spürte Zamorra, wie viel Kraft es ihn kostete, die Blase gegen diese Übermacht aufrechtzuerhalten. Lange hielt er das nicht durch.
Ich darf mich nicht nur verteidigen, erkannte er – und keuchte laut auf, als ein neuer Hieb des Monstrums an der Blase endete.