Professor Zamorra 1138 - Simon Borner - E-Book

Professor Zamorra 1138 E-Book

Simon Borner

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Beschreibung

Eigentlich waren Zamorra und Nicole mal ganz privat unterwegs. Aber wenn einer eine Reise tut ... Ausgerechnet im beschaulichen Travemünde hat ausgerechnet die shoppingsüchtige Nicole eine - ja, tatsächlich, eine Modeboutique geerbt!

Doch wie kaum anders zu erwarten, erweist sich der Weg zu Nicoles neuer Karriere als Modeberaterin für Touristen mehr als nur steinig ...

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Seitenzahl: 142

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Inhalt

Cover

Impressum

Das Ende der Saison

Leserseite

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Zacarias Pereira da Mata / shutterstock

Datenkonvertierung eBook: Blickpunkt Werbe- und Verlagsgesellschaft mbH, Satzstudio Potsdam

ISBN 978-3-7325-5860-5

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Das Ende der Saison

von Simon Borner

Helen Schneider keuchte. Angst packte nach der Rentnerin wie eine kalte, leblose Hand. Alle Hauslichter waren ausgegangen, von einem Moment zum anderen! Einzig die wenigen noch aktiven Straßenlaternen spendeten einen Rest Helligkeit, der durch die Gardinen fiel. Und auf einmal sah sie es.

»H … Hubert?«, wisperte sie.

Abermals strich die kalte Hand des Entsetzens über ihre Seele. Dort vorn, wenige Schritte entfernt, stand ihr Mann, ihrverstorbenerMann. Ohne jeden Zweifel.

Die Gestalt kam schlurfend näher. Langsam trat sie ins Licht.

Helen Schneider schrie, als sie die fahlen, faulenden Züge des Untoten sah.

Und die Jagd begann.

»An diesem Ort, in Travemünde, dem Ferienparadies, wo ich die unzweifelhaft glücklichsten Tage meines Lebens verbracht habe, Tage und Wochen, deren tiefe Befriedigung und Wunschlosigkeit durch nichts Späteres in meinem Leben, das ich doch heute nicht mehr arm nennen kann, zu übertreffen und in Vergessenheit zu bringen war – an diesem Ort gingen das Meer und die Musik in meinem Herzen eine ideelle, eine Gefühlsverbindung für immer ein, und es ist etwas geworden aus dieser Gefühls- und Ideenverbindung – nämlich Erzählung, epische Prosa.«

Thomas Mann

Kapitel 1 Das Meer und die Musik

»Hörst du das?« Ben Jansen sah über die Reling und kniff die Lider enger zusammen. Kalter Abendwind spielte mit seinem grauen Haar. »Das … läuft da irgendwo ein Radio, oder was?«

Björn Süpeck, Jansens langjähriger Kollege, zuckte nur mit den Schultern. »Ich hör nichts. Also, nichts außer Svens übliches Geschwätz. Ehrlich, Mann, wenn der nicht bald fröhlicher wird, machen die uns den Laden zu. Kein Wunder, dass kaum noch Leute an Bord kommen – so trübselig, wie Sven immer tut!«

Jansen verscheuchte den Gedanken an die Musik, die er kurzzeitig zu hören geglaubt hatte – jenen sanften und doch schrillen Klang, der über die Ostsee herangeweht zu sein schien – und konzentrierte sich wieder aufs Hier und Jetzt. Er konnte Björn eigentlich nur zustimmen: Die Trave-Königin hatte weitaus bessere Zeiten erlebt. Früher, als er noch jung gewesen war, hatte das Oberdeck nur so gewimmelt vor Touristen. Heute konnten sie schon froh sein, wenn eine Handvoll Menschen zu ihren drei Mal am Tag stattfindenden Hafen- und Seerundfahrten erschienen.

»Es ist fast Winter, Björn«, hielt Jansen dennoch dagegen. »Die Saison ist eigentlich längst vorüber. Schau dich nur im Ort um: Überall stehen Hotelzimmer und Ferienwohnungen leer. Selbst der Altweibersommer ist für dieses Jahr durch. Deswegen kommt keiner mehr.«

»Mag sein, mag sein«, stimmte Süpeck zu. »Aber trotzdem: Svens andauernde Grabreden helfen nicht.«

Das zumindest stimmte. Sven Beringsen war der Kapitän des Touristenschiffes und somit auch derjenige, dessen Stimme aus den überall an Bord angebrachten Lautsprechern drang, um den zahlenden Passagieren die Schönheit Travemündes und der Lübecker Bucht zu erklären. Beringsen, inzwischen stolze siebzig, fuhr seit Dutzenden von Jahren auf diesen Wassern, und auch ihm gefiel wenig an der neuen Zeit und ihren Wundern.

»Zu Ihrer Linken sehen Sie das Maritim-Hotel«, brummte Beringsens Stimme aktuell aus den Boxen, miesepetrig und grummelig wie eh und je, »ein vielstöckiges Hochhaus direkt an der Strandpromenade. Es entstand vor langer Zeit als Touristenmagnet. Heute sind viele seiner Stockwerke Privatwohnungen, anders bekäme man sie nicht gefüllt, und aufgrund seiner geografischen Lage musste Deutschlands ältester Leuchtturm den Betrieb einstellen – das Hochhaus versperrte ihm die Sicht auf die See. Schöne neue Welt …«

Das knappe Dutzend Passagiere sah artig nach links, staunte über das absurd riesige Maritim und nahm den deutlich interessanteren kleinen Leuchtturm schräg dahinter kaum noch wahr. Fotoapparate klackerten, Handys wurden gezückt.

Stoisch zog die Trave-Königin weiter, der Flussmündung und der Ostsee entgegen. Travemünde lag direkt an der Küste, das war sein touristisch wertvollstes Gut, und wenngleich hier schon lange nicht mehr nennenswert gefischt werden konnte, denn auch da hatte der Mensch in früheren Jahrzehnten immens übertrieben, waren viele Schiffe und Boote immer noch in alltäglichem Betrieb, wenigstens während der Saison – der Urlauber wegen. Aber wenn die Königin diese letzte Fahrt des Tages hinter sich gebracht hatte, so wusste Jansen genau, würde auch sie für den Winter vor Anker gehen. Denn in einem hatte Süpeck vollkommen recht: Die Saison war mehr als vorüber, so leid es ihnen auch tat.

Eine maue Saison noch dazu, dachte Jansen. Erst hatte das Wetter verrückt gespielt und ihnen den halben Sommer verregnet, dann hatten die Unmengen an neuen Baustellen – allesamt für Schickimicki-Wohnungen, die ebenso hässlich wie teuer waren – dazu geführt, dass Strand und Hafen deutlich weniger besucht wurden als in den Vorjahren. Manchmal fragte sich der alte Seebär echt, was sich die Sesselfurzer drüben im Rathaus eigentlich dachten. Man baute doch keine Schandflecke direkt an den Strand! Erst recht nicht mitten im Sommer! All der Dreck und Lärm am schönsten Urlaubsufer Schleswig-Holsteins? Genauso gut könnte man die Vorderreihe, Travemündes berühmte Flanier- und Cafémeile, für Auswärtige schließen!

Dann hielt er inne. Da! Da war sie wieder, diese eigenartige Musik. Jansen runzelte die Stirn und trat noch näher an die Reling. Suchend sah er sich in der Dämmerung um. Woher kam nur dieser schräg klingende Singsang? »Ist da noch jemand auf dem Priwall?«, murmelte er nachdenklich. »Um diese Zeit?«

Der Priwall war eine Halbinsel auf der anderen Seite der Trave, besetzt von einem kleinen – und zu dieser Jahreszeit von allen guten Geistern verlassenen – Feriendorf, einem großen Naturschutzgebiet und dem Museumsschiff Passat, einer alten Viermastbark.

»Falls ja, muss dieser Jemand aber gehörig Party machen«, sagte Süpeck. Auch er war nun an die Reling getreten. Fragend sah er in die Abenddämmerung dem Strand des Priwalls entgegen. »Ich meine, den Krach hört man ja wirklich bis aufs Meer hinaus!«

Eigenartig, fand Jansen. Travemünde zog kein Partypublikum an. Hier an der Lübecker Bucht wurden die Bürgersteige nach Anbruch der Nacht quasi hochgeklappt, und der Großteil der Urlauber war ohnehin im Rentenalter und spätestens nach dem Tatort im Bett. Leute, die die Gegend mit Lärm beschallten und erst nachts auf Touren kamen, fuhren doch lieber nach Malle und Konsorten, oder?

Eine kalte Windbö aus östlicher Richtung ließ Jansen frösteln. Er schlug den Mantelkragen höher und sah aufs Meer hinaus – und stutzte. »Moment mal. Das … Kann es sein, dass das in Wahrheit von da draußen kommt?«

Die See lag still und ruhig da. Einzig der Wind versetzte sie in leichte Bewegung. Doch am Horizont, der schon fast in völliger Dunkelheit lag, ballte sich etwas zusammen. Jansen glaubte eine gewaltige Wolkenbank zu erkennen, in deren Inneren es schon gewittrig leuchtete. Das überraschte ihn, denn von Sturm hatte der Wetterbericht kein Wort gesagt. Spielte seine Fantasie ihm vielleicht einen Streich?

»Von da?« Süpeck schnaubte spöttisch. »I wo. Da ist doch niemand mehr. Die Segelboote und Jachten liegen alle vor Anker, und der letzte Frachter nach Dänemark hat uns schon mittags verlassen. Außerdem: Was sollte ein Frachter mit diesen eigenartigen Chorklängen, hm?«

Chorklänge. Ja, das kam hin, fand Jansen. Je mehr er sich darauf konzentrierte, desto sicherer war er sich, dass die Musik in Wahrheit eine Art Gesang war – schräg, irgendwie kehlig und noch dazu unmelodisch. Er konnte kein Wort verstehen, nicht einmal die Klangabfolge richtig benennen, aber er hörte ihn. Schwach wie den Wind, aber doch ohne jeden Zweifel. Es klang absurd, aber diese Töne hatten etwas Sakrales. Auf eine bizarre, perverse Weise klangen sie heilig.

Oder unheilig?

Was rede ich denn da? Entsetzt riss Jansen sich am Riemen. Er war ein bodenständiger alter Seebär, ein Mann der Tat und des Handwerks. Kein Träumer mit überbordender Einbildungskraft. So ein Unfug.

»Lass uns lieber mal auf die Brücke gehen«, schlug er seinem Kollegen vor – auch, um sich auf andere Gedanken zu bringen. »Mir wird’s hier draußen langsam kalt.«

»Die alten Knochen, hm?« Süpeck grinste spöttisch, folgte dem Vorschlag aber sichtlich gern. Auch ihm fröstelte es.

Die Brücke des Touristenschiffs lag mitten auf dem Oberdeck und war in etwa so groß wie Jansens Wohnzimmer. Ein breites Pult beinhaltete alle Steuer- und Kommunikationssysteme, ein altes Steuerrad diente primär der Nostalgie, und allerhand Nippes an den Wänden – vom stilisierten Anker bis hin zu einer gerahmten Ansammlung von Seemannsknoten auf grauem Hintergrund – sorgte für die richtige Touri-Atmosphäre. Dies war Sven Beringsens Reich.

Der alte Kapitän stand am Steuerrad, den Blick auf seine Konsolen gerichtet. Sein Gesicht lag in Falten, und auf seinen Zügen lag ein alles andere als freundlicher Ausdruck. »Dich Drecksding soll der Klabautermann holen!«, schimpfte er, als die beiden Männer eintraten. »Oder Dewel, der alte Teufelskapitän. Du spinnst doch! Da ist nichts.«

»Probleme?«, fragte Jansen. Ungefragt bediente er sich an Beringsens Thermoskanne. Der Kaffee des Kapitäns war stark, heiß – und ziemlich hochprozentig.

»Probleme ist gut.« Beringsen schnaubte. »Das Radar spielt schon seit Minuten verrückt. Immer mal wieder zeigt es mir Fremdkörper – direkt voraus. In einem Moment da, im anderen nicht. Aber da ist nichts. Natürlich nicht. Ich kenne doch meine Bucht.«

Jansen stutzte. Er sah Beringsen über die Schultern, konnte auf den Anzeigen aber nichts erkennen. »Schlechtes Wetter?«, fragte er und dachte an die Wolkenwand.

»Von schlechtem Wetter war nie die Rede«, blaffte der Kapitän.

»Trotzdem wird’s langsam ungemütlich da draußen«, stimmte nun auch Süpeck zu. Er stand am Fenster und sah, wie mehrere Passagiere das Oberdeck verließen und – merklich frierend – ins Innere der Trave-Königin flüchteten.

»Das Wetter kippt«, beharrte Jansen. »Ich spüre es, Leute. Da kommt was übers Meer auf uns zu. Könnte eine ungemütliche Nacht werden.«

»Papperlapapp.« Grimmig griff Beringsen nach seinem Mikrofon. Er schien die nächste Durchsage beginnen zu wollen. Doch als er den Sprechknopf rechts an dem Mikrofon berührte …

Das Pfeifen war ohrenbetäubend! Ein lautes, durch Mark und Bein fahrendes Geräusch drang aus den Boxen. Die drei Männer zuckten zusammen. Süpeck drehte sich um und hielt sich die Ohren zu, Jansen ging leicht in die Knie. Dann verging der Ton … und ihm folgte der eigenartige Gesang! Jener fremdartige, sakrale Singsang drang plötzlich aus den Lautsprechern des Schiffes. Zu leise, um ihn wirklich zu verstehen, aber doch unverkennbar da.

»Was in aller Welt …« Ratlos betrachtete Beringsen sein Mikrofon. Er drehte an Reglern, drückte auf Knöpfe. »Was ist das? Spinnt jetzt auch noch der Funk, oder was?«

Jansen sah ins Freie und Richtung offener See. Irrte er sich, oder leuchtete es wieder gewittrig, da drüben am dunklen Horizont? Er ließ seinen Blick weiterwandern, nach rechts zum Priwall, der in vollkommener Dunkelheit zu liegen schien.

Und diese Klänge … So verrückt es auch klang, die Musik schien ihm tief in sein Innerstes zu gehen, berührte ihn auf Wegen, für die es keine Worte gab. Jansen war, als bewegte sie seine Seele – und besudelte sie gleichermaßen!

»Schalt das ab.« Süpeck trat vor. Fast schon rücksichtslos ging er an die Konsole. Er hatte die Fäuste geballt und schlug nahezu panisch auf die Anzeigen. Mit jedem Schlag, jeder Silbe wurde sein Tonfall lauter, drängender … und flehentlicher. »Abschalten, hab ich gesagt. Mach das aus!«

Treffer! Süpeck hatte irgendeinen wichtigen Bestandteil des Kommunikationssystems getroffen, denn der Singsang verstummte, und schwarzer, beißender Rauch stieg plötzlich aus der Konsole.

»Heilige Scheiße«, brummte Beringsen. Er griff zum Feuerlöscher an der hinteren Kabinenwand und löschte den entstehenden Brand im Inneren der Bordtechnik. »Tolle Leistung, Björn. Echt gut gemacht.«

Doch der Tadel prallte von Süpeck ab. Jansen sah, dass der jüngere Kollege tief durchatmete. Blut troff von seiner rechten Faust, was Süpeck selbst kaum bemerkte. Stattdessen zitterte er wie jemand, der in letzter Sekunde einer großen Gefahr entkommen war. Einer, die er gar nicht benennen konnte.

Jansen verstand ihn gut. Denn ihm ging es nicht anders.

Ihm … und ihrem Kapitän. »Wisst ihr was, Männer?«, sagte Beringsen leise. Er stellte den Feuerlöscher weg und griff nach seinem Steuerrad. Sein Blick hing dabei am Horizont, an dem es pechschwarz geworden war. »Lassen wir’s gut sein. Dies ist unsere letzte Tour für das Jahr, und die Handvoll zahlende Passagiere merkt es gar nicht, wenn wir sie um ein paar Minuten verkürzen.«

»Du meinst …?«, begann Jansen.

Beringsen nickte. »Wir machen kehrt. Jetzt sofort. Zurück zum Hafen, Männer. Es ist Feierabend. Die See läuft uns nicht weg.«

Erleichterung stieg in Jansen auf, die er sich nicht erklären konnte. Mit einem Mal machte die Ostsee ihm Angst. Er konnte es kaum erwarten, wieder an Land zu gehen. Obwohl er noch vor wenigen Minuten das Ende der Saison bedauert hatte, konnte der Winter nun kaum schnell genug kommen.

Doch: Die See lief ihnen nicht weg? Jansen sah zweifelnd zum Horizont. Er verstand nicht, was gerade geschah, aber er spürte, dass es etwas Großes war. Etwas Gefährliches. Etwas, bei dem er nicht zugegen sein wollte. »Wenn du dich da mal nicht irrst, Skipper«, murmelte Ben Jansen leise, und einmal mehr zog ihm ein kalter Schauer über den Rücken. »Wenn du dich da mal nicht irrst.«

***

Helen Schneider hatte oft über den Tod nachgedacht. In all den Jahren, da sie ihren Mann pflegen musste, war das Thema stets ganz vorn in ihrem Geist gewesen. Auch nun, als Witwe mit allerlei eigenen Gebrechen, betrachtete die Rentnerin den fahlen Gevatter Tod als ständigen und vor allem ständig nahenden Begleiter ihrer Tage.

Doch nie hätte sie geglaubt, ihm auf diese Art zu begegnen …

Einundzwanzig Uhr. Das kleine Feriendorf auf dem Priwall lag in abendlicher Schwärze da. Nirgends rührte sich mehr etwas. Die Fenster der übrigen Häuschen waren dunkel, die Wohnungen samt und sonders leer. Schneider war die letzte Touristin hier draußen, das Schlusslicht der Saison. Morgen, das wusste sie, würden ihre Kinder und Enkel aus der Stadt kommen – für ein finales Wochenende und dann, so der Plan, für die gemeinsam begangene Seebestattung des Patriarchen. Schneider hätte mit ihren Kindern fahren können. Aber sie wollte dieses kleine Haus auf dem Priwall, in dem sie und ihr verstorbener Gatte so viele schöne Sommer verlebt hatten, noch ein letztes Mal für sich haben. Eine letzte Nacht lang. Deswegen war sie schon hier.

Kommendes Frühjahr würde sie das Haus dann verkaufen. Ihre Kinder wussten es noch nicht, aber Schneider wusste es. Manche Dinge gehörten einfach irgendwann zur Vergangenheit. Auch schöne Sommer. Auch … auch gemeinsam verbrachte Leben.

»Schlaf gut, Hubert«, sagte die Rentnerin leise. Sie stand auf der schmalen Terrasse ihres Häuschens und sah zu den Dünen. Ihre Stimme brach, und sie schluckte schwer. Nachtwind bewegte den Strandhafer, und hier und da raschelten Nagetiere im hohen Gras. Irgendwo am Horizont schien ein Gewitter zu wüten. Die Luft roch nach Salz und Weite, aber auch schon nach dem Ozon nahender Blitze. »Gute Nacht, mein Schatz.«

Sie wünschte Hubert jede Nacht eine angenehme Ruhe. So hatte sie es jahrzehntelang getan, als er noch neben ihr lag. Der fahle Gevatter würde sie nicht davon abhalten, diese Tradition fortzusetzen. Wenigstens diese eine.

Dann kam der Knall.

Schneider erschrak. Irgendwo hinter ihr musste etwas umgefallen sein. Sie drehte sich um – langsam, denn die Hüfte wollte nicht mehr so gut – und spähte ins Halbdunkel des Wohnungsinneren. Alles schien wie immer.

Der Wind? Sie zuckte mit den Schultern. Es wurde kalt hier draußen, und die Ostsee war für ihre plötzlichen Wetterumschwünge berüchtigt.

Seufzend sah sie wieder zum Meer und den Dünen.

Und auf den Knall folgte ein Klirren. Laut, zerstörerisch … und böse.

»Was …«

Schneider keuchte. Angst packte nach ihr wie eine kalte, uralte Hand. Abermals sah sie ins Innere ihres kleinen Ferienhäuschens. Alle Lichter waren ausgegangen, von einem Moment zum anderen! Einzig die wenigen noch aktiven Straßenlaternen spendeten einen Rest Helligkeit, der durch die Gardinen fiel. Und im Schein dieser Lampen sah sie es.

»H-Hubert?«, wisperte sie.

Abermals strich die kalte Hand des Entsetzens über ihre Seele. Dort vorn, wenige Schritte entfernt, stand ihr Mann, ihr verstorbener Mann. Mitten im Wohnzimmer. Schneider erkannte wenig mehr als Umrisse, hätte diese Gestalt aber überall wiedererkannt. Der gebeugte Rücken, die breiten Schultern … das war ihr Hubert. Ohne jeden Zweifel.

Und es war unmöglich!

Was passiert hier?

Die Gestalt machte einen Schritt vor, dann einen zweiten. Schlurfend. Wortlos.

»Hu …« Schneider schluckte wieder. Sie wollte wegrennen, gleichzeitig konnte sie sich nicht rühren. »Hubert? Bist du das wirklich?«

Er war zurückgekehrt. Zurück zu ihr. Nach all den Wochen der Tränen und der Einsamkeit stand er wieder vor ihr. Noch dazu hier draußen, in ihrem kleinen, alten, lieb gewonnenen Versteck auf dem Priwall, wo nur das Meer und die Natur regierten.

Für einen kurzen Moment wich die Angst einer unfassbar großen Erleichterung. Was hier geschah, war keine Bedrohung, natürlich nicht. Es war ein Segen! Hubert war wieder da, an ihrer Seite. Wo er hingehörte.

Die Gestalt kam noch näher. Langsam trat sie über die Schwelle der Terrassentür ins Freie … und ins Licht.

Helen Schneider schrie, als sie die fahlen, faulenden Züge des Untoten sah.

Und die Jagd begann.

***

Die Kreatur knurrte. Helen Schneider hörte sie hinter sich – so nah, als müsse sie jeden Moment den faulen Atem im Nacken spüren und die Berührung stahlharter Hände, die kein Erbarmen kannten.

»Nein«, wimmerte die Rentnerin. »B-Bitte. Nein.«