Professor Zamorra 1155 - Simon Borner - E-Book

Professor Zamorra 1155 E-Book

Simon Borner

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Beschreibung

Es war die totale Zerstörung. Höllenfeuer loderten in den Gassen und Straßen Leipzigs. Häuserblocks waren eingestürzt, Rauch stieg aus Mauerrissen. Die Universität lag in Schutt und Asche, der berühmte Zoo nahe dem Hauptbahnhof war ein einziger Krater.

Menschen irrten durch das Elend, schrien und weinten. Zamorra sah Kinder, die jämmerlich in der Gosse verreckten. Männer und Frauen, die kreischend vor Flammenwänden flohen. Blutströme, breit wie Bäche, flossen über den Markplatz. Blut bedeckte das Völkerschlachtdenkmal ...

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Inhalt

Cover

Impressum

Der Fluch von Leipzig

Leserseite

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Tereshchenko Dmitry; LaMiaFotografia / shutterstock

Datenkonvertierung eBook: Blickpunkt Werbe- und Verlagsgesellschaft mbH, Satzstudio Potsdam

ISBN 978-3-7325-6861-1

www.bastei-entertainment.de

Der Fluch von Leipzig

von Simon Borner

Es war die totale Zerstörung. Höllenfeuer loderten in den Gassen und Straßen Leipzigs. Häuserblocks waren eingestürzt, Rauch stieg aus Mauerrissen. Die Universität lag in Schutt und Asche, der berühmte Zoo nahe dem Hauptbahnhof war ein einziger Krater.

Menschen irrten durch das Elend, schrien und weinten. Zamorra sah Kinder, die jämmerlich in der Gosse verreckten. Männer und Frauen, die kreischend vor Flammenwänden flohen, nur um in plötzlich aufbrechende Straßenrisse zu stürzen. Blutströme, breit wie Bäche, flossen über den Markplatz. Blut bedeckte das Völkerschlachtdenkmal.

Überall Blut.

»Manche sprechen vom Volk, als sei es eine Person, mit der sie anlässlich der Leipziger Messe gerade erst diniert hätten. Doch wer soll dieses Volk sein? Das Volk ist kein Ding, sondern eine Idee, ein Postulat wie die Kirche.«

– Karl Wilhelm Friedrich Schlegel

Kapitel 1 Die Ketzerin

Leipzig, Anno Domini 1700

Die Wände waren kahl und schmutzig. Trübes Licht fiel durch das kleine, vergitterte Fenster. Die mit altem Stroh gefüllte Matratze stank zum Himmel, genau wie der mit einem blechernen Deckel nur notdürftig verschlossene Fäkalieneimer drüben in der Ecke. Gleich neben der von außen verriegelten Tür.

Doch all das störte Wilhelm Sander nicht. Nicht mehr.

»So«, keuchte der stiernackige Wachmann. Entschlossenheit lag in seinem Blick, als er endlich wieder aufstand. Seine Männlichkeit stand noch immer in voller Blüte. »Jetzt weißt du, was du wert bist.« Er hatte es ihr gezeigt. Oh ja, das hatte er.

Die Lichtlein lag am Boden. Sie rührte sich kaum. Einzig ihre regelmäßigen, pfeifenden Atemzüge bewiesen, dass sie noch lebte. Der Saum ihres schmucklos grauen Leibchens war gerissen, und Sander konnte ihr Gesäß sehen.

Wütend stieß er mit der Stiefelspitze dagegen. »He! Hörst du, was ich dir sage?«

Noch immer keine Reaktion. Die Lichtlein stellte sich tot.

Sander, der sich gerade den Hosenstall schließen wollte, fasste es nicht. Zornig ballte er die Hände zu Fäusten. Wagte das Stück Dreck etwa immer noch, ihn zu verspotten? Nach all dem, was er soeben bewiesen hatte?

»Du bist Abschaum«, zischte er. Seine Schultern zuckten, und Schweiß lief von seiner Stirn. Wieder trat er nach der Frau am Boden. »Weißt du das? Widerlicher Abschaum. Eine Schande für diese Stadt und eine Schande für den Herrn.«

Sie war noch nicht lange seine Gefangene. Erst seit ein paar Tagen. Doch Sander, der diesen Beruf schon seit Jahrzehnten ausübte, hatte noch nie eine Insassin erlebt, die ihn mehr erzürnt hätte als sie. Die ihn mehr gereizt hätte.

»Es ist gut, dass du endlich hinter Schloss und Riegel bist«, knurrte er, während er seine Hose endlich schloss und seine Uniformweste glättete. »Das wurde allerhöchste Zeit. Und ich sage dir noch eins: Wenn du dich nicht bald änderst, wirst du hier drin nicht alt. Oh nein, Frollein, das wirst du garantiert nicht.«

Ein Flüstern, ganz schwach und kaum mehr als ein Windhauch.

Doch es genügte, um Sanders Wut erneut auflodern zu lassen. In Windeseile lag er wieder auf der Frau. Er packte ihren Hinterkopf, zog an ihren langen roten Haaren und rammte seine Ellenbogen voller Wucht in ihre Rippen. »Was hast du gesagt?«, fuhr er sie an, ungezügelter Zorn. »Hm? Gibst du erneut Widerworte, du elende Vettel? Hast du deine Lektion noch immer nicht gelernt? Nur zu, wir können auch da weitermachen, wo wir eben aufgehört haben. Es ist deine Entscheidung.«

Die Lichtlein rührte sich nicht. Sie ließ alles so widerstandslos mit sich geschehen, als habe es nichts mit ihr zu tun. Das war es, was Sander am allermeisten aufregte.

Angewidert ließ er ihr Haar los und stand wieder auf. Dann zog er lautstark die Nase hoch und spuckte auf die Frau am Boden. »Nein«, knurrte er. »Das hättest du wohl gern, du elende Hexe. Aber den Gefallen tue ich dir nicht. Du bekommst hier, was du verdienst. Nicht, was du willst.« Wieder rotzte er sie an. Wieder reagierte sie nicht.

Obwohl: Nicht war das falsche Wort. Sie tat durchaus etwas. Nur was?

Sander spitzte die Ohren, als sich das eigenartige Flüstern wiederholte. Das waren Worte, oder? Kaum hörbar und auf gar keinen Fall verstehbar, aber die Lichtlein redete. Mit jedem Atem, den sie pfeifend ausstieß, kamen auch Laute aus ihrem verfluchten Maul.

»Was murmelst du da?« Sander trat neben ihren Kopf und ging in die Knie. »Hm? Sag es mir.«

Einmal mehr kam er nicht umhin, ihre Schönheit zu bewundern. Hildegard Lichtlein war eine absolute Augenweide, selbst jetzt noch, unten im Dreck. Die Einundzwanzigjährige hatte feuerrotes Haar und eine blasse, sommersprossige Haut. Das Gesicht war schmal und wohlgeformt, der Körper an genau den richtigen Stellen weich und rund. Sie sah gleichzeitig aus wie die Unschuld vom Lande und wie die personifizierte Sünde. Unter anderen Umständen wäre diese Person, die die Garde der Stadt vor den Toren Leipzigs aufgegriffen hatte, ein ausgesprochener Fang gewesen – ein Glücksgriff für jeden heiratswilligen Junggesellen. Optisch brachte sie alles mit, was ein Mann sich wünschen konnte. Doch ihr Charakter war ein Makel, der jede Schönheit übertraf. Hinter ihrer atemberaubend attraktiven Schale ruhte ein Kern, der so verdorben, so schwarz und so teuflisch sein musste, dass selbst der Leibhaftige sich entsetzt abgewendet hätte. Hildegard Lichtlein war weitaus schmutziger als die Zelle, in der sie lag, und ganz Leipzig durfte dem Herrn danken, dass sie endlich hinter Schloss und Riegel war.

Das Georgenhaus lag im Nordosten der Innenstadt, nahe der Hallischen Bastei, und war ein kleines Schmuckstück im Reigen der städtischen Bauten. Erst vor wenigen Monaten hatte es Eröffnung gefeiert, weil die alte Einrichtung, die sich drüben am Johannisplatz befunden hatte, schon nach weniger als fünf Jahrzehnten Betrieb zu klein geworden war. Es diente als Zuchthaus, aber auch als Hort für Waisenkinder und als Platz, an dem die Armen und Obdachlosen der sächsischen Metropole Obdach und vor allem Arbeit fanden. Es war das Überlaufbecken der gesamten Stadt, sozusagen. Jeder, der woanders nicht mehr passte, konnte hier eine neue Bestimmung finden.

Vor allem aber natürlich die Straftäter, von denen es in diesen Zeiten nicht wenige gab. Sander kannte sie alle: die Betrüger, die Diebe, die Mörder. Tagaus und tagein sah er sie, wenn er zur Arbeit im Georgenhaus kam, und nach all den Jahren glaubte er sogar beim Sonntagsspaziergang mit seiner Gattin das Böse in den Visagen derer erkennen zu können, die ihm entgegenkamen. Früher oder später, so dachte er dann nicht selten, kommst auch du in eine meiner Zellen. Du weißt es nur noch nicht.

Seine Prognosen trafen nicht selten sogar ins Schwarze. Die Gerechtigkeit war eine Naturgewalt, sagte Sander immer. Nichts und niemand konnte sie stoppen, wenn sie einmal in Fahrt geriet. Sie mochte sich Zeit lassen, aber sie kam immer zum Ziel.

»He da«, knurrte er nun und verpasste der Lichtlein einen groben Schlag mit der flachen Hand. »Ich rede mit dir. Was murmelst du da die ganze Zeit?«

Die schöne Gefangene antwortete nicht. Sie lag einfach nur da, das Gesicht im Dreck und den nackten Hintern vor aller Welt entblößt. Sie streckte alle viere von sich wie eine erlegte Sau.

Das, fand Sander, war auch schon ein Sieg. Zufrieden stand er wieder auf. Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar und wischte sich den letzten Schweiß von der hohen Stirn. Niemand würde ihm ansehen, was hinter dieser Zellentür vorgefallen war. Aber es würde ohnehin niemanden interessieren. Er würde es nicht zugeben, und falls die Lichtlein es bei Sanders Vorgesetzten erwähnen wollte, würde ihr ohnehin niemand Glauben schenken. Doch nicht einer Ketzerin!

»Also gut«, brummte er. »Schweig eben, wenn du das willst. Ich habe dir ohnehin alles gesagt, was ich dir sagen wollte.« Für den Moment, ergänzte er in Gedanken. Momentan widerte diese Frau ihn einfach nur an, aber er kannte sich. Er konnte nicht ausschließen, dass ihn die Lust irgendwann erneut übermannte. Hildegard Lichtlein hatte eine schmutzige Seele, aber ihr Leib war jede Sünde wert. »Das genügt.«

Er nestelte an seinem Gürtel herum, wo der schwere Schlüsselbund hing, und fand den richtigen Schlüssel. Dann warf er einen letzten Blick zurück zur noch immer reglos daliegenden Gefangenen, sperrte die Zellentür auf und trat hinaus auf den Flur. Schwer und laut fiel die Tür hinter ihm ins Schloss, und Sander verriegelte sie lächelnd.

***

Hexe. Ketzerin. Sünderin.

So hatten sie sie genannt, und so dachten sie über sie. Alle. Ganz Leipzig.

Hildegard Lichtlein wusste es genau, doch es kümmerte sie nicht. Dies war eine Stadt voller Narren und Idioten. Was hatte es mit ihr zu tun, wenn Leipzig zu blind war, die Wahrheit zu erkennen?

Es hat ganz schön viel mit dir zu tun, ermahnte sie eine innere Stimme. Es war die Stimme ihrer schmerzenden Glieder, die ihres verletzten Stolzes und ihrer verlorenen Ehre. Sieh dich nur um, wo du gelandet bist. Spüre doch nur, was man dir angetan hat – und dir noch antun wird!

Aber das scherte sie nicht länger. Sie konnten sie einsperren, sie schlagen, sie anspucken und sich sogar an ihr vergehen. Lichtlein würde sich nicht dagegen wehren, denn das konnte sie gar nicht. Sie hatte ihre Freiheit verloren; die winzige und vor Dreck strotzende Zelle hier bewies es. Doch ihre triebestollen und hasserfüllten Peiniger vergaßen, dass sie ihr nie und nimmer die Freiheit des Geistes nehmen konnten.

Leipzig war verdorben. Die Bürgerschaft der sächsischen Metropole tat ganz fromm und gottesfürchtig, doch ihre Tugend war bloß schöner Schein. Bloß Fassade. Alle wussten das, aber niemand gab es zu.

Diese Stadt brauchte Menschen wie Hildegard Lichtlein. Jede Stadt brauchte das. Doch niemand sprach darüber. Genauso gut hätten sie von ihren Ausscheidungen sprechen können, von dem Kot, den sie erzeugten und dem Rotz, den sie absonderten, wenn mal keiner zuschaute.

Sie brauchten eine Heilerin wie Lichtlein. Aber sie schämten sich dafür. Und wenn die Scham zu groß wurde …

»Dann braucht sie ein Ventil«, beendete Lichtlein den Gedanken. Es war das erste Mal seit einer gefühlten Ewigkeit, seit Sander sich an ihr vergangen hatte, dass sie laut sprach. Im ersten Moment erschrak sie selbst. War das wirklich ihre Stimme? Sie klang so kalt, so distanziert – und so zornig!

Doch es war ihre Stimme. Genauso wie der Zorn ihr Zorn war.

»Macht mit mir, was immer ihr wollt«, sagte Lichtlein. Mühsam rappelte sie sich vom Boden auf und stand. Schlurfend ging sie zu dem kleinen, vergitterten Zellenfenster. Sie konnte die Regenwolken über der Stadt sehen. »Aber seid euch einer Sache bewusst, ihr Narren: Ich mache das auch. Mit euch!«

Ihr Körper schmerzte entsetzlich. Doch ihr Geist war frei, und nur den brauchte sie. Lichtlein schloss die Augen, atmete tief ein und konzentrierte sich. Uralte Worte, vor Jahren im Krötenhaus gelernt, kamen ihr wieder in den Sinn. Worte der Macht. Worte des Grauens. Sie rief sie sich ins Gedächtnis, öffnete sich für sie …

… und dann tat sie, was immer ihr gefiel.

Man hatte sie verhaftet, verhöhnt und misshandelt. Man hatte sie getreten und bespuckt. Das alles war sicher nur die Spitze des Eisbergs. Es würde neue Pein kommen, vielleicht sogar der Tod. Dessen war sich Lichtlein bewusst. Sie machte sich keine Illusionen, das hatte sie noch nie getan. Träume waren für Traumtänzer, nicht für die Wirklichkeit.

Aber sie würden sich noch wundern, das stand fest.

Sie alle.

Hildegard Lichtlein sprach die uralten Worte. Und sie lächelte dabei.

***

Das Georgenhaus war eine Institution. Es existierte schon seit dem dreizehnten Jahrhundert. Damals hatte es noch außerhalb der Stadtmauer gelegen, gleich beim Ranstädter Tor. Doch mehrere Umzüge und Neubauten später war es nun am Brühl angekommen, in einer der ältesten Straßen Leipzigs. Der stattliche Kasten war schon von Weitem zu sehen und jedem Bürger der Stadt ein Begriff. Niemand wollte nennenswert mit ihm zu tun haben, denn ein Zucht-, Arbeits- und Waisenhaus schickte sich natürlich nicht, wenn man etwas auf sich hielt. Dennoch wussten alle, dass sie das Georgenhaus brauchten. Es war der Teppich, unter den Leipzig seine Sünden kehrte. Es existierte, damit man sich in all den guten Stuben die Köpfe nicht über die Schattenseiten des Daseins zerbrechen musste. Es war der Verband um eine Wunde, die doch nie heilte, die man so aber wenigstens nicht jeden Tag sehen musste.

Richard Bielenbach wusste das. Er mochte erst zehn Jahre alt sein, aber er hatte stets gehört, er sei erstaunlich weitsichtig für sein Alter. Er verstand, wofür das Georgenhaus da war.

Ebenso verstand er, dass er es so schnell nicht mehr verlassen würde. Niemand sonst nahm einen Knaben auf, der stahl.

Wie immer, wenn er nachts wach lag und in den stillen Schlafraum starrte, wanderten Richards Gedanken in die Vergangenheit ab. Im Geiste sah er seine Eltern und den Brand, dem sie zum Opfer gefallen waren. Er sah die langen Monate auf der Straße wieder. Mittellos und hilflos hatte er von der Hand in den Mund gelebt, hier gestohlen und da gelogen. Er war über die Runden gekommen, allerdings eher schlecht als recht. Niemand mochte einen Bettler.

Über kurz oder lang hatten sie ihn aufgegriffen. Richard bot ihnen eine spektakuläre Verfolgungsjagd durch die Stadt. Letzten Endes bekamen sie ihn aber zu fassen und brachten ihn hierher. Nur sein junges Alter verhinderte, dass auch er eine der Zellen belegen musste. Stattdessen lag er nun hier oben im großen Schlafsaal der Jungen – der auch nur ein Gefängnis mit anderem Namen und geringfügig anderen Regeln darstellte. Draußen in Freiheit hatte es dem Jungen deutlich besser gefallen.

Auch wegen ihr.

»Karl?«, wisperte Richard und drehte den Kopf zur Seite. »He, Karl. Schläfst du schon?«

»Was’n?«, kam die mürrisch-verschlafene Erwiderung. Zwei helle Punkte erschienen im Dunkel. Es waren Karls frisch geöffnete Augen, in denen sich Mondlicht spiegelte. »Was soll ich denn sonst machen, hm? Es ist mitten in der Nacht.«

»Tut mir leid.«

Schweigen.

Karl seufzte. »Jetzt sag schon. Worum geht es? Du weckst mich doch nicht nur, um dich dann dafür zu entschuldigen, Richard. Was willst du? Warum schläfst du nicht?«

Der Junge schluckte trocken. Sein Anliegen war albern, das wusste er selbst. Kindisch und voller Aberglauben. Doch er konnte nicht anders. »Es ist wegen … der Ketzerin.«

Abermals seufzte sein Bettnachbar. »Fängt das schon wieder an?«, flüsterte er gequält. »Zum hundertsten Mal, Richard: Die tut dir nichts. Die hat dir letzte Woche nichts getan, als sie noch lebte. Und jetzt, wo sie tot ist, kann sie dir erst recht nicht mehr ans Leder. Die Lichtlein war eine böse Frau, und das Gesetz ist mit ihr verfahren, wie man eben mit bösen Frauen verfährt.«

Richard nickte stumm. Die Lichtlein war seit Tagen das Thema Nummer eins im Schlafraum. Jeder kannte die Hexe, die außerhalb der Stadtgrenzen gelebt hatte, und jeder wusste abenteuerliche Hörensagen-Geschichten über sie zu erzählen. Dass sie fliegen könne und einen echten feuerspeienden Drachen besäße. Dass sie als Geist umherging. Dass sie anderen Menschen ihren Willen aufzwinge und schon mehr als tausend Jahre auf der Welt sei. Es waren lächerliche Geschichten, daran hegte Richard keinen Zweifel. Doch selbst er hatte die Leute reden hören, draußen auf den Straßen der Stadt. Sogar die geachtetsten Bürger Leipzigs hatten hinter vorgehaltener Hand von ihr zu berichten gewusst und sich dabei nicht darum geschert, ob Betteljungen ihnen zuhörten.

Richard wusste, dass Legenden keine Wahrheit waren. Doch er ahnte auch, dass nicht alles, was man der Lichtlein nachgesagt hatte, gelogen gewesen war. Genau deshalb machte er sich ja Sorgen.

»Gut, sie ist tot«, sagte er. »Aber macht es das wirklich besser? Die Frau war böse, Karl. Wer weiß, wozu sie alles fähig war? Wer weiß, ob der Tod wirklich ein Ende für sie bedeutet?«

»Der Tod ist sogar das größte Ende von allen«, murmelte Karl und zog die Decke über den Kopf. »Den überlebt niemand. Nicht einmal eine Ketzerin. Und jetzt schlaf endlich, du Narr. Die Frau, vor der du Angst hast, lebt nicht mehr mit uns unter ein und demselben Dach. Weil sie nämlich überhaupt nicht mehr lebt. Nicht hier und auch nicht sonst irgendwo. Gute Nacht.«

Wenige Augenblicke später hörte Richard wieder seine gleichmäßigen Atemzüge. Karl war eingeschlafen.

Einzig er selbst fand keinen Schlaf. Abermals wälzte er sich im Bett umher, während Minuten zu Stunden wurden. Richard sah dem Mond zu, dessen Schein über die hohe Zimmerdecke wanderte. Er lauschte auf die Schritte der Nachtaufsicht, draußen im Treppenhaus. Hin und wieder hörte er sogar einen kurzen Schrei, der aus dem Westflügel herüberdrang, wo die besonders harten Fälle einsaßen und offenbar von ihren grausamen Sünden träumten.

Auch die Lichtlein hatte im Westflügel gesessen. Richard hatte sie nie gehört. Und dafür war er sehr dankbar.