Professor Zamorra 1254 - Simon Borner - E-Book

Professor Zamorra 1254 E-Book

Simon Borner

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Beschreibung

Zamorra hatte das Wohnzimmer erreicht und sah die beiden Personen, die auf seiner Couch Platz genommen hatten. Ihr Anblick ließ ihn verstummen - mitten im Satz.
"Hallo chéri", grüßte Nicole Duval zögernd. "Das ist jetzt nicht so, wie es aussieht. Das musst du mir glauben."
Einen Sekundenbruchteil später griff Zamorra an!


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Inhalt

Cover

Personenliste

Insel des Grauens

Kapitel 1 Das Glück der Tüchtigen

Kapitel 2 Mr X und das goldene Ticket

Kapitel 3 Ein unwillkommener Gast

Kapitel 4 Insel des Grauens

Kapitel 5 Im Auge des Wahnsinns

Kapitel 6 Runde 1

Kapitel 7 Der Teufel von Bloodsworth

Kapitel 8 Endgame

Leserseite

Vorschau

Impressum

Die Hauptpersonen des Romans sind:

Professor Zamorra: Der Meister des Übersinnlichen

Nicole Duval: Zamorras Partnerin und Kampfgefährtin

Finn Cranston: Vampir und Zamorras Erzfeind

Mr X: geheimnisvoller Spielleiter

Die stinkreichen Mitspieler:

LeBron Miller: Basketballstar

Kate Bishop: Drogenkönigin

Eric Stonefront: Casino-Unternehmer

Joseph Beddingfield: Waffendealer

sowie: »Jameson R. Sinclair«: Hollywoodstar

und »Honey«, seine Begleiterin

Insel des Grauens

von Simon Borner

Zamorra hatte das Wohnzimmer erreicht und sah die beiden Personen, die auf seiner Couch Platz genommen hatten. Ihr Anblick ließ ihn verstummen – mitten im Satz.

»Hallo chéri«, grüßte Nicole Duval zögernd. »Das ist jetzt nicht so, wie es aussieht. Das musst du mir glauben.«

Einen Sekundenbruchteil später griff Zamorra an!

»Die Chinesen brauchen zwei Pinselstriche, um das Wort ›Krise‹ aufzuschreiben. Ein Pinselstrich steht dabei für ›Gefahr‹, der zweite für ›Chance‹. In einer Krise sollten wir uns also stets der Gefahr bewusst sein – und die Chancen erkennen.«

John F. Kennedy

Kapitel 1Das Glück der Tüchtigen

Das Boot kam aus westlicher Richtung, wo sich Potomac River und Chesapeake Bay trafen. Zielsicher hielt es auf die kleine Insel zu. Der Außenbordmotor lief nahezu lautlos, und das Dunkel der Nacht verbarg das Boot vor neugierigen Blicken, die es hier draußen auf dem Wasser ohnehin nicht gab.

Steve Bannister stand an der Reling und nickte zufrieden. Es lief alles nach Plan. Es würde – nein: es musste – gelingen.

»Wir sind gleich da, hm?«, meinte eine Stimme rechts von ihm.

Bannister drehte den Kopf zur Seite. Shelley Briggs stand plötzlich neben ihm. Die blondierte Frau aus Texas trug Tarnkleidung der Armee und hatte sich – als Einzige der gesamten Gruppe – die Wangen und die Stirn mit schwarzer Theaterschminke verdunkelt. Es sah albern aus, gelinde gesagt. Doch sie war da anderer Meinung.

»Bloodsworth Island«, gab Bannister zurück. Er deutete voraus, wo die Küste der Insel immer größer wurde. »Bereit für uns, wenn wir bereit sind.«

»Oh, das sind wir, Steve.« Briggs' Grinsen war so kalt wie eine Nacht am Nordkap. »Ich bin schon bereit zur Welt gekommen, Mann!«

Der nächtliche Ausflug war seine Idee gewesen. Er allein hatte die goldene Einladungskarte des mysteriösen Mr X erhalten, niemand sonst aus der Gruppe. Doch Bannister hielt wenig von derartiger Theatralik. Nicht nur deswegen hatte er sich einen feuchten Dreck um die Karte und ihre Versprechungen geschert und stattdessen sein eigenes Ding gemacht. Er machte immer sein eigenes Ding, denn nur so wurde man erfolgreich.

»Erklärst du's mir noch mal?«, fragte Briggs, während das Boot allmählich langsamer wurde. »Wie du hiervon erfahren hast, meine ich? Klar kenn ich die Geschichte inzwischen, aber ich höre sie eben so gern.«

Nun war er es, der grinste. »Klar, Shell. Gleich an Land, einverstanden? Dann geb ich euch allen eine kurze Ansprache.«

Das Boot kam in einer kleinen Bucht zum Halt. Bannister, Briggs und die drei anderen Männer gingen von Bord und wateten durch brusthohes Wasser an Land. Niemand blieb zurück.

Als sie endlich trockenen Boden unter den Füßen hatten, versammelte Bannister die Mitstreiter um sich. Einmal mehr sah er in ihre Gesichter. Colin Hayward hatte ein vernarbtes Gesicht mit strengen Zügen, Bob Deacon einen weißen gepflegten Vollbart. Die Männer aus dem Mittleren Westen, beide hatten die Fünfzig längst überschritten, trugen in dieser Nacht teure Taschenlampen und schwer wirkende Rucksäcke. Auch Shelley Briggs hatte eine Tasche mitgebracht. Einzig Mike Connors, der Fast-Food-Titan aus Chicago, stand mit leeren Händen da. Er schien wohl zu erwarten, dass die anderen ihm die Ware schon an Bord tragen würden.

Typisch Connors, dachte Bannister.

Er hasste den Typen. Eigentlich hasste er die gesamte Gruppe, denn auch die anderen drei hatten mehr Geld als Anstand. Doch ein Teil ihres sündhaft großen Vermögens würde schon bald ihm gehören, und nur darauf kam es Bannister an. Nur deshalb hatte er sie mit nach Bloodsworth Island genommen.

»Willkommen auf Bloodsworth«, begann er seine spontane Ansprache. »Willkommen an einem Ort, an dem wir alle nichts verloren haben. Jedenfalls nicht, wenn es nach denen in Washington geht. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs, so heißt es, hat kaum mehr jemand diese Insel betreten. Uncle Sam verbietet es nämlich und droht mit hohen Strafen. Und warum? Weil er das, was hier lagert, mit niemandem teilen möchte!«

Connors räusperte sich, und schon dieses Räuspern klang affektiert. »Ist es nicht eher so, dass die Regierung Unfälle vermeiden möchte?«

Briggs schnaubte ungehalten. »Was denn für Unfälle?«

»Hier lagert Munition«, antwortete der Fast-Food-Titan gelassen. »Waffen, Shelley. Sprengsätze aus alten Armeebeständen. Zeug, das hochgefährlich ist, wenn es in die falschen Hände gerät.«

»Wenn Sie das für gefährlich halten«, fuhr Deacon auf und stemmte die Hände gegen die breite Hüfte, »warum sind Sie dann hier, Mike?«

Connors lächelte, als er ihn ansah. »Weil ich nicht dumm bin, Colin. Meine Hände sind nicht die falschen. Ihre etwa?«

Das saß. Die gesamte Gruppe lachte leise, selbst Deacon stimmte mit ein.

Die Waffen waren der Grund ihres Kommens. Sie alle fünf wollten ein Stück von dem Kuchen haben, der hier seit Jahrzehnten ungenutzt lagerte. Uncle Sam mochte die Insel zum Sperrgebiet erklärt und ihre Bestände geheim gehalten haben, aber es gab Menschen in Amerika, denen Uncle Sams Anordnungen so wichtig waren wie ein umgefallener Sack Reis in China. Menschen, die es besser wussten. Vier von ihnen hatte Steve Bannister in seinen Plan eingeweiht und mitgenommen – für eine mehr als stattliche Gebühr.

»Wir fünf«, fuhr der Organisator des illegalen Ausflugs fort, »werden uns heute Nacht an diesen Vorräten gütlich tun. Wir werden uns hier auf Bloodsworth bedienen und mitnehmen, was immer wir tragen können. Ihr wisst so gut wie ich, was in unseren Zirkeln für derartige Ware gezahlt wird. Wir stehen also vor dem vielleicht größten Reibach unseres gesamten Lebens.« Nun hob er die Hand und die Stimme. »Aber! Diese Insel ist gefährlich. Wir müssen mit äußerster Vorsicht vorgehen, jeder Einzelne von uns. Niemand weiß, dass wir hier sind, und so soll es auch bleiben. Verstanden?«

»Na logo«, antwortete Briggs, und wieder lachten alle.

Dann zogen sie los, jeder in eine andere Richtung. Bloodsworth Island war nicht allzu klein, doch die eingeschossigen Bauten aus den alten Armeetagen lagen allesamt um die südliche Küste verstreut. Bannister widmete sich der ersten Lagerhalle, deren Vorhängeschloss im Nu vor ihm kapitulierte, und atmete aus, als er die Schätze in ihrem Inneren erblickte. Kisten voller Munition präsentierten sich ihm im Schein seiner Taschenlampe, dazu Gewehre und sogar einige alte Tretminen und drei noch immer fahrtüchtig wirkende Jeeps.

Jackpot, jubelte Bannister innerlich.

Abermals musste er an den rätselhaften Mr X denken. Diese Null, wer immer sie auch sein mochte, würde ganz schön dumm aus der Wäsche gucken, so viel war sicher. Selbst schuld!

Bannister bückte sich nach der ersten Munitionskiste. Im selben Moment brachte ein ohrenbetäubender Knall die Wände zum Beben.

»Heilige Scheiße!«, fluchte er und rannte aus der Halle.

Schon von Weitem sah er die Rauchsäule. Sie stieg aus der hintersten Halle, die den Hügeln jenseits der Küste am nächsten lag. Bannister hielt darauf zu. Auch aus anderen Richtungen kamen Mitglieder seiner Gruppe herbei.

»Is was passiert?«, brummte Briggs.

Colin Hayworth war als Erster an der qualmenden Halle. Er warf einen Blick durch das halb aus den Angeln gerissene Tor, dann beugte er sich zur Seite und begann zu würgen.

»Was zum ...?«, murmelte Bannister und sah selbst nach.

Der Anblick war ekelerregend. Mike Connors' zerfetzte Eingeweide waren quer durch die Halle verteilt, sein warmes Blut troff von alten Regalen und hölzernen Lagerkisten.

»Tell...« Hayworth keuchte und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Tellermine. Mike muss sie falsch angefasst haben oder so.«

»Was fasst der die überhaupt an, der Idiot?«, blaffte Bob Deacon. »Das geschieht dem nur recht.«

Briggs nickte. »Einer weniger, mit dem wir teilen müssen. Richtig, Steve?«

Auch Bannister weinte dem arroganten Mann aus Chicago keine Träne nach. Dennoch war ihm unwohl bei der Sache. »Der Knall war laut, Leute. Und die Rauchsäule ist von Weitem deutlich zu erkennen. Wir sollten uns beeilen.«

»Ach was.« Deacon winkte ab. »Es ist mitten in der Nacht, Steve. Am Arsch der Welt. Uns bemerkt schon niemand.«

»Sicher ist sicher«, beharrte Bannister. »Wir brechen in fünfzehn Minuten wieder auf. Kein Risiko! Schnappt euch also schnellstens, was ihr bis dahin an Bord schaffen könnt. Aber keine Sekunde länger, klar? Bedankt euch bei Mike.«

»Fünfzehn Minuten?« Selbst Hayworth protestierte. »Steve, wir haben dich teuer bezahlt, um hier zu sein! Fünfzehn Minuten sind ein Witz, wenn man bedenkt ...«

»Und Mike Connors hat die Situation soeben grundlegend verändert«, fiel er dem jüngeren Mann ins Wort. »Neue Lage, neue Regeln. Ihr habt fünfzehn Minuten. Wem das nicht passt, der kann gern schon jetzt aufbrechen – und ans Festland schwimmen.«

Er wartete nicht auf eine Reaktion der anderen. Stattdessen ging er zurück zu seiner eigenen Halle. Wenn er es schaffte, die Kisten auf einen der Jeeps zu wuchten, konnte er den Jeep vielleicht bis zum Boot steuern. Dann würde er heute Nacht trotz aller Umstände noch immer Gewinn machen.

Sofort legte er los. Doch nach fünf Minuten hörte er einen gellenden Schrei und kehrte ins Freie zurück.

»Was ist denn jetzt schon wieder?«, schimpfte er. Dann runzelte er die Stirn, denn auf einmal herrschte ein immer dichter werdender Nebel an den Hallen. Auch das war eigenartig.

Briggs kam ihm aus der Nachbarhalle entgegen. »Keine Ahnung«, antwortete sie schulterzuckend. »Klang wie Deacon, findest du nicht auch?«

»Welchen Teil von unauffällig habt ihr Idioten eigentlich nicht verstanden?«, grollte er. Doch dann hob er die Stimme. »Bob? Hey, Bob! Was soll die Scheiße? Was brüllst du hier rum und ...«

Er verstummte, als er Hayworth sah. Der Mann aus dem Mittwesten kam blutüberströmt aus den grauen Schwaden getaumelt, keine zehn Meter voraus. Er sah aus, als sei ihm der Leibhaftige begegnet.

»Bob, er ...«, stammelte Hayworth. »Er ... Er hat ihn sich geholt, Steve. Er war plötzlich da und ... und hat ihn sich geholt!«

»Wer hat was?« Briggs runzelte die Stirn. »Bist du verletzt, Colin? Und wo steckt Bob jetzt?«

Hayworth deutete fassungslos an sich hinab. »Das ist Bob!«, schrie er. »Das ist nicht mein Blut!«

Bannister packte ihn an den Schultern, schüttelte ihn. »Jetzt mal langsam und von vorne, Mann. Was ist passiert?«

»Da war ...« Hayworth schluckte, keuchte, zitterte. »Wir waren vor der zweiten Halle, Bob und ich. Und auf einmal war da der Nebel. Und im Nebel kam dieser gewaltige Schatten auf uns zu – wahnsinnig schnell. Ich ... Ich konnte nur Umrisse erkennen. Mächtige Schwingen, wie von einem Drachen. Funkelnde Augen voller Hass und Gier. Und dann ... und dann flog Bob auf einmal in der Luft über mir. Er schrie wie am Spieß, und sein Blut regnete auf mich hinab, bis ... bis ...« Er begann zu weinen, krümmte sich auf dem nackten Erdboden.

Einen halben Herzschlag später sah Bannister den Schatten! Ein gewaltiges Dunkel, schwärzer als die Nacht zwischen den Hallen, stieg plötzlich im grauen Dunst über den Hügeln auf. Breite Schwingen, gewaltige Augen.

»Was ...« Briggs wich entsetzt zurück. »Was ist das?«

Er wusste es nicht. Sein Verstand rebellierte gegen diesen dunklen Schemen da oben, denn der war nicht logisch. So etwas konnte es gar nicht geben.

»Steve!«, schrie Briggs, als die finstere riesige Form mit dem Nebel näher schwebte – lautlos und zielsicher. »Steve, was ist das? Wo zur Hölle hast du uns hingeführt?«

Dann schoss das Dunkel vom Himmel. Es packte Hayworth, just als dieser panisch davonkriechen wollte, und zerriss ihn in der Luft – in einer einzigen, ruckartigen Bewegung. Es ging so schnell, dass man es kaum sah, und das war eine Gnade.

Einen Sekundenbruchteil danach wirbelte Bannister herum und floh. Er hörte Briggs hinter sich kreischen, drehte sich aber nicht nach ihr um. Seine Panik ließ es nicht zu.

Weg hier! Nur weg hier!

Er schaffte es bis zum Wasser. Das Boot lag verlassen im von einzelnen Nebelschwaden verhangenen Mondschein. Bannister rannte in die kalte Bucht, so schnell er nur konnte.

Ich schaffe es, dachte er. Verdammt, ja! Ich schaffe es.

Vergessen waren die Munition und die erhofften Gewinne, die sie ihm hätten einbringen sollen. Es gab nur noch das Boot für ihn, nur noch die Angst ums nackte Überleben. Wenn er es an Bord schaffte und den Motor startete, konnte er zurück zum Festland. Weg von der verfluchten Insel mit ihren Geheimnissen. Er hatte die dunkle Kreatur noch immer nicht genau gesehen. Doch das Wenige, das er hatte beobachten müssen, reichte voll und ganz. Es würde ihn in seinen Albträumen verfolgen bis ans Ende aller Tage – ohne jeden Zweifel.

Bannister erreichte das Boot. Zitternd griff er nach der kurzen Strickleiter, die von der Reling ins Wasser führte.

Ich schaffe es, dachte er erneut, und Hoffnung flammte in ihm auf wie ein Feuer im ewigen Eis.

Einen Augenblick später verschwand das Mondlicht, weil ein breiter Schatten es verdeckte. Und gnadenlose Krallen schossen aus der Luft über dem Boot, um nach Bannister zu greifen.

Niemand hörte seine Schreie.

Washington DC

Die Stunden vor Sonnenaufgang waren die perfekte Zeit für die Jagd, jedenfalls auf Capitol Hill. Zwischen drei und fünf Uhr in der Früh war kaum noch jemand auf den Straßen und in den Parks der amerikanischen Machtzentrale unterwegs. All die ach so wichtigen Macher lagen daheim in den Betten – oder in denen ihrer willigen Praktikanten – oder waren sturzbetrunken an ihren Büroschreibtischen eingeschlafen. Niemand sah mehr aus den Fenstern und in die Schatten zwischen den Straßenlaternen.

Finn Cranston liebte diese Zeit. Sie beflügelte ihn jede Nacht aufs Neue.

Wie früher, dachte er und schlug den Kragen seines schwarzen Mantels höher. Wie in New York.

Auch dort hatte es ach so wichtige Macher gegeben, wenn auch zumeist an der Wall Street und nicht in der Politik.

Es war lange her, dass Cranston so unbeschwert hatte jagen können. In DC war das Leben anders als im Big Apple. Seine alte Stadt hatte sich einen Dreck darum geschert, was er in ihr trieb. New Yorker kümmerten sich schon von Natur aus nur um ihren eigenen Kram – vor allem jene Broker und Börsenhaie der Wall Street, die von Natur aus keine Moral kannten. Selbst ein blutrünstiger Vampir wie er fand in ihrer Stadt kaum Beachtung, wenn er es richtig anstellte. Aber Washington war nicht New York, sondern von Neid und Missgunst zerfressen. In DC gönnte man dem Gegenüber nicht einmal die Butter auf dem Brot und behielt ihn deswegen auch sehr genau im Auge – immer und überall.

Außer in den wenigen Stunden vor Sonnenaufgang. Seiner Zeit.

Komm raus, komm raus, wo du auch bist, dachte Cranston.

Belustigt schritt er die North Carolina Avenue entlang, vorbei an verlassenen Ministerien und längst geschlossenen Business-Cafés. Bis zum Fogler Park war es nicht mehr weit, das wusste er. Wenn er bis dort kein Opfer gefunden hatte, würde er es in einem anderen Viertel der Stadt versuchen. Doch bislang hatte Capitol Hill ihn nie enttäuscht. Warum sollte es heute Nacht damit anfangen?

Cranston hatte die Ecke North Carolina und 2nd Street fast erreicht, da sah er sie. Die junge Frau kam aus einem dunklen Bürogebäude – allein und mit mehreren Büchern im Arm. Er wusste sofort, womit er es zu tun hatte: eine weitere junge Mitarbeiterin, die die Nacht zum Tag machte, weil sie von der großen Karriere träumte und gar nicht merkte, wie DC sie für diesen Traum ausnutzte. Genau sein Fall.

Die Frau sah aus wie Ende zwanzig. Blondes Haar, schlanke Schultern. Sie ging gebückt und schnell, als könne sie es kaum erwarten, den rettenden U-Bahnhof zu erreichen.

Cranston schmunzelte. Nicht mit mir, Püppchen.

Ein letztes Mal blickte er sich nach Zeugen um. Es war niemand zu sehen. Dann trat er aus den Schatten und in den Weg der jungen Frau. »Guten Abend.«

Sofort blieb sie stehen. Panik flackerte in ihrem Blick auf, zog sich über die sanften Züge. »Was ...«

»Pssst«, machte der Vampir. Er hob eine Hand, winkte gelassen ab. Dann legte er ein wenig Macht in seine Stimme. »Keine Sorge. Es ist alles gut. Ich will dir nichts tun.«

»Es ...« Die Frau stockte. Die Panik verflog und wurde ersetzt durch eine eigenartige Leere, die ihr Gesicht ergriff. »Es ist alles gut«, wiederholte sie.

»Ganz genau.« Cranston lächelte und deutete hinter sich, wo das Grün auf der anderen Straßenseite begann. »Hier, lass uns eine Runde durch den Park drehen. Wäre das nicht schön?«

»Das ... wäre schön«, echote das Opfer.

Es waren nicht ihre eigenen Worte, und doch kamen sie aus ihrem Mund. Und selbstverständlich gehorchte ihr Körper ihnen. Die Frau setzte sich in Bewegung und schritt ruhig neben Cranston her.

Der Vampir atmete tief ein. Er roch die Jugend dieser Frau, genoss sie. Nach all den Jahrhunderten war Jugend etwas, das ihn mehr reizte als fast alles auf der Welt. Obwohl er selbst kaum älter aussah als am Tag seiner Vampirwerdung.