Professor Zamorra 1269 - Rafael Marques - E-Book

Professor Zamorra 1269 E-Book

Rafael Marques

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Beschreibung

Der Kopf des wolfsähnlichen Geschöpfes ruckte herum. Jetzt sah Gary, dass sich noch mehr der Kreaturen im Wohnzimmer aufhielten. Ein besonders großes Exemplar mit braunem Fell stieß sich beinahe augenblicklich ab und flog ihm mit weit aufgerissenem Maul entgegen.
Gary wusste, dass er sterben würde. Deshalb fuhr er im Stand herum, um seinen Sohn zu warnen, damit wenigstens ihm die Flucht gelang. Das Letzte, was er in seinem Leben sah, waren Andrews vor Entsetzen geweiteten Augen, dann riss ihn etwas mit brachialer Gewalt zu Boden ...


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Seitenzahl: 144

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Inhalt

Cover

Para-Geister

Leserseite

Vorschau

Impressum

Para-Geister

von Rafael Marques

Wick, Schottland, 2002

»Du willst wirklich da raus?«

Danny Ashton, dessen Hand bereits auf der Türklinke ruhte, verharrte in der Bewegung. Hätte er seinem Freund Richard bloß nichts von seinem Vorhaben erzählt. Der Typ war so oder so schon ein Angsthase, was umso verwunderlicher war, da sie beide in einem Heim für straffällig gewordene Jugendliche leben mussten, um dem Gefängnis zu entgehen. Einen Lebensmittelladen hatte Richard bestimmt nicht überfallen, eher wäre ihm beim Versuch die Waffe aus der Hand gerutscht ...

»Machst du jetzt einen Rückzieher?«, entgegnete Danny leicht genervt. »Dann bleib eben hier.«

Richard druckste weiter herum. »Nein, ich ... will nur nicht im Gefängnis landen.«

»Niemand landet dafür im Gefängnis, dass er sich in einem alten Herrenhaus nachts aus seinem Zimmer schleicht, um nach ein paar Geistern zu suchen. Ich hätte an deiner Stelle eher Angst, dass mich der Spuk ebenso verschwinden lässt wie die anderen Opfer zuvor.«

Ob es in den zwei Wochen, die Danny nun bereits schon in Lorham Manor lebte, wirklich zu Todesfällen gekommen war, blieb bisher ein Gerücht, das sich allerdings hartnäckig unter den Bewohnern verbreitete. Rick DeMore, der Blonde aus Manchester, der nun schon zwei Monate in dem Etablissement gefangen war, behauptete, dass in der Zeit drei Insassen über Nacht quasi vom Erdboden verschluckt und nie wieder gesehen wurden. Auch schon vorher soll es zu derartigen Todesfällen gekommen sein.

Natürlich wollte die Heimleiterin, Eugenia Arthur, von solchen Geschichten nichts wissen. Alles Hirngespinste, hatte sie nur gesagt und sofort das Thema gewechselt. Danny war da von Anfang an anderer Meinung gewesen. Er spürte mit jeder Faser seines Körpers, dass hier etwas Übernatürliches vor sich ging. Warum ihn dieses Gefühl beschlich, konnte er zwar nicht in Worte fassen, doch es war eben so. Und da vor vier Tagen Colin, seinem vorherigen Mitbewohner, dasselbe Schicksal ereilt hatte, wollte er dem Spuk unbedingt auf den Grund gehen, bevor es auch ihn erwischte.

Im Gegensatz zu dem hageren, scheuen Richard wusste Danny genau um seine Stärken. Mit seinen fünfzehn Jahren war er schon ziemlich durchtrainiert, und das nicht ohne Grund. Er hatte seinem Vater, einem Alkoholiker, Paroli bieten wollen, wenn dieser mal wieder seine Fäuste sprechen ließ, auch gegen seine eigene Familie. Wenn es nur dabei geblieben wäre, hätte man ihn wohl kaum ins Heim gesteckt.

»Also, was ist nun?«, fragte Danny, ohne sich dabei umzudrehen. »Kommst du mit, oder nicht?«

Ein lautes Stöhnen erklang. »Ja, gut.«

»Also, geht doch.«

Es war nicht unbedingt so, dass Danny Richard brauchte, um sein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Allerdings war es immer besser, wenn jemand einem den Rücken freihielt, selbst wenn es nur ein zitterndes Bündel wie Richard Lee war. Insgeheim ging er davon aus, dass sein neuer Mitbewohner überhaupt kein Verbrechen begangen und die Schuld für den Raubüberfall auf sich genommen hatte. Das würde auch erklären, warum er sich seit seiner Ankunft verhielt wie ein junges Kalb zwischen einem Rudel Wölfen.

Beide waren sie mit Taschenlampen ausgerüstet, die sie sich am Abend aus dem Geräteschuppen des Hausmeisters geborgt hatten. Danny wollte sie erst einsetzen, wenn sie im Keller angelangt waren, denn eigentlich war das Innere des Hauses dank des vollen Mondes hell erleuchtet. Genau deswegen hatte er sich auch diese Nacht für sein Vorhaben ausgesucht.

Ein kühler Luftzug streifte seine Brust, als er hinaus auf den langen Gang trat. Der alte, muffig riechende Teppich dämpfte den Klang seiner Schritte. An den Wänden hingen alte, elektrische Kerzenleuchter, an denen sich oft dicke Spinnenweben ausbreiteten und dem ehemaligen Herrenhaus den Eindruck eines Spukschlosses verliehen.

Der lange Flur führte an insgesamt acht Zimmern vorbei, von denen im Moment nur drei besetzt waren. Hinter keiner der Türen war mehr etwas zu hören, was seinem Vorhaben in gewisser Weise zugute kam. Je weniger etwas davon mitbekamen, dass Richard und er um die Uhrzeit durch die Hallen schlichen, desto unwahrscheinlicher war es, dass sie dabei erwischt wurden.

»Ich verstehe nicht, warum du glaubst, dass es hier spuken soll«, flüsterte Richard. »Das ist doch alles hohles Gequatsche.«

Danny drehte sich um und grinste. »Warum fürchtest du dich dann so?«

Er wartete gar nicht erst die Antwort seines Mitbewohners ab und machte sich auf den Weg zur Treppe. An den Wänden hingen Porträts der früheren Bewohner, die sicher allesamt schon lange das Zeitliche gesegnet hatten. Selbst ihm waren die Gemälde nicht ganz geheuer, vor allem, da es sich bei einigen der dargestellten Menschen um Kinder handelte. Immerhin war ihnen wohl ein besseres Leben vergönnt gewesen als ihm, denn sobald man ihn aus dem Heim nach Hause entließ, kehrte er in denselben Horror zurück, den er dort schon durchlebt hatte. Zu so viel Selbstreflektion war auch er schon fähig.

Er war so in Gedanken versunken, dass er kaum merkte, wie er ins Erdgeschoss trat. Auch hier herrschte natürlich Totenstille, sowohl in der großen, von einem riesigen Kronleuchter geprägten Eingangshalle, in der zum Spiel- und Lernzimmer umfunktionierten Bibliothek als auch im Speisesaal. Trotzdem mussten sie besonders leise sein, denn auch Eugenia Arthur nächtigte im Erdgeschoss und war für ihren leichten Schlaf bekannt. Meist trat sie als milde und gütige Persönlichkeit auf, wenn man sie jedoch reizte, lernte man eine völlig andere Seite von ihr kennen. Danny hatte da schon böse Geschichten gehört ...

Der Zugang zum Keller befand sich hinter einer völlig unscheinbaren Tür. In einigen Nischen neben der Treppe wurden diverse Getränke gelagert, die steinernen Stufen selbst waren für die Bewohner tabu. So kursierten allerlei Gerüchte über die Unterwelt des Herrenhauses. Von einer Gruft über einen Folterkeller bis hin zu einem endlosen Labyrinth war so ziemlich alles dabei, was man sich vorstellen konnte.

Als er eine Hand auf die Klinke legte, rann ihm ein Schauer über den Körper. Da war es wieder, das seltsame Gefühl, das ihn immer wieder mal beschlich, seit er nach Lorham Manor gebracht worden war und das er nicht einzuordnen wusste. Beim ersten Mal war er völlig neben der Spur gewesen, doch inzwischen genoss er es geradezu. Es machte auf ihn keinen feindlichen Eindruck, eher einen freundschaftlichen, als würde ihm eine unheimliche Kraft die Hand reichen. Über solche Gefühle durfte er natürlich mit niemandem reden, sonst hätte man ihn sicher in ein Heim für Geisteskranke gesteckt.

»Was ist?«, zischte Richard ungeduldig. »Worauf wartest du?«

»Ruhig!«

Dannys scharf gesprochene Aufforderung wirkte. Sein Begleiter war und blieb ein Weichei, das alles mitmachen würde, solange er die Befehle gab. Ein Umstand, der ihm durchaus gefiel, im Moment aber keine Rolle spielte.

Schließlich öffnete er die Tür. Fast hätte er mit einem weiteren kalten Luftzug gerechnet, doch von der Treppe her drang wie immer ein undefinierbarer, herber Geruch nach oben. Es war beileibe nicht das erste Mal, dass er an dieser Stelle stand und in die ungewisse, pechschwarze Tiefe starrte. Diesmal allerdings würde er die unsichtbare Grenze überwinden und dem Spuk auf den Grund gehen, von dem er überzeugt war, dass er wirklich existierte. Etwas lauerte hier, das ihm diese nicht fassbaren Botschaften schickte.

Ein wenig kam er sich vor wie die Figur des Aladdin aus dem gleichnamigen Disney-Film, den er als Kind geliebt hatte. Statt durch das Maul eines riesigen Tigers in die Höhle der Wunder war er dabei, in eine von der Kellertreppe getrennte fremde Welt zu treten. Nur war Danny wohl kaum ein ungeschliffener Diamant, sondern einfach nur ein wertloser, schwarzer Stein. Zumindest fühlte er sich meistens so.

»Ich weiß nicht, ob ...«, begann Richard, doch Danny unterbrach ihn schnell.

»Sei endlich still! Und mach die Tür hinter dir zu!«

»Ja, gut«, murmelte sein Begleiter kleinlaut.

Richard schloss die Tür, woraufhin sie endgültig in allumfassender Dunkelheit standen. Zumindest so lange, bis Danny die Taschenlampe einschaltete und hinab auf die rauen, steinernen Stufen leuchtete. Sie passten nicht zum gediegenen Design des restlichen Herrenhauses, erschienen eher wie Fremdkörper. Möglicherweise hatten sie ja auch schon existiert, als das Gebäude an dieser Stelle errichtet worden war.

Endlich gelang es Danny, die innere Anspannung zu überwinden und den ersten Schritt in die Tiefe hinter sich zu bringen. Wieder rann ihm ein wohliger Schauer über den Körper, als hätte die hier lauernde Kraft nur auf ihn gewartet. Zugleich war da aber auch die Furcht vor dem Unbekannten, die seine Schritte verkrampft und ungelenk wirken ließ. Die Unruhe ergriff bald auch von Richard Besitz, der immer wieder überlaut schnaufte, als ob er Danny so zur Umkehr bewegen wollte.

Natürlich dachte er gar nicht daran, jetzt kehrtzumachen. Je tiefer er die Stufen hinabstieg, desto stärker verfestigte sich der Eindruck, in ein fremdes zweites Gebäude einzudringen, das nur durch diese Treppe mit dem Herrenhaus verbunden war. Die groben Steine erinnerten ihn an eine der mittelalterlichen Burgen, die er während des einzigen Urlaubs seines Lebens in den Highlands erlebt hatte.

An dem Mörtel hielt sich eine kühle, klebrige Feuchtigkeit, während die Luft um ihn herum immer drückender wurde. In Filmen nahmen die Protagonisten oft Kerzen mit an solche Orte, um festzustellen, wann ihnen der Sauerstoff ausging. Das würde er wohl später am eigenen Leibe erfahren.

Als Danny schon glaubte, die Treppe würde nie enden, erfasste der Lichtkegel der Taschenlampe endlich eine ebene, mit Staub und kleinen Gesteinsbrocken bedeckte Fläche. Sofort fielen ihm die teils frischen, teils schon wieder überdeckten Schuh- und Fußabdrücke auf. Ganz so vergessen war der eigentlich verbotene Keller also nicht, aber vielleicht waren die angeblich spurlos verschwundenen Heimbewohner auch lediglich wie er hier unten eingedrungen und deshalb rausgeworfen worden. Irgendwie wollte er jedoch nicht so ganz an diese Theorie glauben.

»Haben wir jetzt genug gesehen?«, fragte Richard halblaut.

»Nein.«

Wieder sorgte seine einsilbige Antwort dafür, dass sein Begleiter verstummte. Allmählich ging ihm sein winselndes Anhängsel auf die Nerven, weshalb er versucht war, ihn auf der Treppe zurückzulassen. Da er jedoch nicht sicher war, ob sich Richard vor Angst in die Hose machen und ihn bei der Arthur verpetzen würde, nahm er von der Idee Abstand.

Unvermittelt wurde Danny nun doch von einem Luftzug getroffen, der ihm etwas von dem alten Staub in die Augen wehte. Ein leiser Fluch ging ihm über die Lippen, während er sich die Kleinstpartikel aus den Augen wischte. Als sich sein Blick wieder klärte, fiel ihm auf, dass es am Fuße der Treppe nicht so dunkel war, wie er im ersten Moment gedacht hatte. Kaltes, graues Licht sickerte über den Steinboden, für das es keine natürliche Quelle zu geben schien.

Kurz zögerte er, dann schaltete er die Taschenlampe ab. Das Licht dagegen blieb bestehen, was dafür sorgte, dass nicht nur sein Begleiter schwer atmete. Danny zögerte, die letzten Stufen hinabzusteigen, andererseits wollte er auch nicht als Angsthase dastehen. Er musste das jetzt durchziehen, denn wenn nicht, würde er nie erfahren, was in dem alten Herrenhaus wirklich vor sich ging.

»Danny?«, ächzte Richard. »Verflucht, was ist das für ein Licht?«

»Ich weiß es nicht.«

Der Angesprochene wollte sich nicht weiter mit seinem Mitbewohner aufhalten, nahm die letzten Stufen in Angriff und trat schließlich in einen langen, breiten Flur, an dessen Ende das Licht des Vollmonds durch ein offenes Fenster sickerte. Der Wind sorgte dafür, dass die rissigen, schwarzen Vorhänge im Wind flatterten wie die Schwingen eines Raben.

Danny erschauderte, allerdings nicht wegen des Windes. Ihn machte die Tatsache Angst, dass er sich tief unter der Erde befand, an einem Ort, an dem unmöglich ein Fenster existieren konnte. Entweder er halluzinierte oder ...

Als hätte die andere Seite seine Gedanken gelesen, erschienen vor dem Fenster zwei Gestalten. Ein Mann und eine Frau standen dort, beide etwa im Alter seines Vaters. Ihre Gesichter waren nicht zu erkennen, Danny fielen lediglich ihre seltsamen Klamotten auf, die nicht so recht in die Zeit passen wollten. Der Mann trug ein schwarzes, eng anliegendes Jackett, eine dunkelgraue Cordhose und einen Hut mit mittellanger Krempe, wobei er sich auf einem hölzernen Spazierstock abstützte. Seine Begleiterin dagegen fiel durch ihr schulterlanges, schwarzes Haar, das bis zum Boden reichende, weiße Kleid mit goldenen Knöpfen, dem weiten Ausschnitt sowie der angenähten Rose in Höhe ihres Herzens auf. Um den Hals trug sie eine funkelnde, sicher mit Diamanten besetzte Kette.

Danny schluckte, während sich seine Finger um den Griff der Taschenlampe krampften. Die beiden Fremden mussten die ursprünglichen Bewohner des alten Herrenhauses sein, davon war er überzeugt, obwohl die Gesichter weiterhin nicht zu erkennen waren. Ganz so, als hätten sie gar keine, befand sich an ihrer Stelle eine geschwärzte Fläche. Die Bewohner von Lorham Manor hatten das Haus also niemals wirklich verlassen, sondern spukten nun durch die düsteren Hallen ihres Herrenhauses und ... ja, was eigentlich? Machten sie Jagd auf menschliche Opfer, die sie mit ihren seltsamen Botschaften in den Keller lockten, um sie dort zu verschlingen? Wenn ja, stand Richard und ihm wohl ein ähnliches Schicksal bevor.

Erst nach einer Weile fielen ihm die rissigen Holztüren mit den Metallknäufen auf, die unscheinbar in die Steinwände eingelassen waren. Da sich die beiden Gestalten weiterhin nicht von der Stelle bewegten, trat Danny auf eine der Türen zu, begriff jedoch schnell, dass sie abgeschlossen war.

»Hörst du das?«

Danny fuhr herum und sah Richard ins Gesicht, der durch das fahle Mondlicht noch blasser wirkte als zuvor. Die Mundwinkel zuckten, auf der Stirn schimmerte kalter Schweiß und zwischen den verkrampften Fingern klemmte die Taschenlampe, als wäre sie sein letzter Rettungsanker.

»Hast du das nicht gehört?«, fragte Richard noch einmal, während sein flackernder Blick immer wieder von den Gestalten zu Danny und wieder zurück wanderte.

Zunächst wollte Danny mit ›Nein‹ antworten, bis auch ihn etwas erfasste, das fast wie eine Stimme klang. Nur fast, weil er nicht wirklich etwas hörte, sondern lediglich einen undefinierbaren, inneren Ruf verspürte. Als wären die hier unten lauernden Geschöpfe nicht in der Lage, auf normalem Wege mit ihnen zu kommunizieren. Dennoch glaubte er, die Botschaft zu verstehen, weshalb er sich langsam der nächsten Tür näherte.

Hatte sich Richard in den letzten Minuten noch so eingeschüchtert gezeigt, reagierte er in diesem Fall schneller. Noch ehe Danny die so unscheinbare Tür erreichen konnte, legte sein Mitbewohner die linke Hand auf den Knauf.

Ein spitzer, wütender Schrei hallte durch den Keller, so laut, dass Danny geschockt zurücktaumelte und sich die Hände gegen die Ohren presste. Richard hingegen riss seine Augen so weit auf, dass es aussah, als würden sie gleich aus den Höhlen treten. Das geschah nicht, dafür löste sich der Vierzehnjährige schlagartig auf!

Wie lange Danny Ashton mit offenem Mund und auf die Ohren gepressten Händen mitten in dem Keller stand und vergeblich zu begreifen versuchte, was da gerade geschehen war, wusste er bald selbst nicht mehr. Die Zeit schien in dem Moment eingefroren zu sein, als Richard spurlos verschwunden war. Nicht durch eine Falltür oder weil eine Monsterkralle nach ihm gegriffen hatte, es gab ihn einfach nicht mehr. Von einer Sekunde auf die nächste hatten sein Begleiter, seine Kleidung und die Taschenlampe aufgehört zu existieren.

»R-r-richard?«, stotterte Danny entsetzt. Es war lächerlich, dass er den Namen seines Mitbewohners überhaupt aussprach, doch in diesen Augenblicken wusste er nicht, was er noch sagen sollte. Der unheimliche Ruf, der ihn überhaupt erst in den Keller gelockt hatte, war eine Sache gewesen, die Geister schon eine ganz andere, aber Richards Schicksal zog ihm endgültig den Boden unter den Füßen weg. Wie war es möglich, dass sich jemand einfach so auflöste?

Es ist möglich, und es ist bestimmt nicht zum ersten Mal passiert, schoss es ihm durch den Kopf. Die Gerüchte, dass immer mal wieder Bewohner in Lorham Manor verschwanden, entsprachen der Wahrheit, und er hatte gerade den Beweis dafür erlebt. Alles in ihm schrie danach, auf der Stelle zur Treppe zurückzulaufen und das alte Herrenhaus noch in dieser Nacht für immer zu verlassen. Warum, verflucht noch mal, spürte er trotzdem den Drang, sich der Tür zu nähern und ebenfalls die Hand auf den Knauf zu legen?

»Nein!«, wollte er schreien, doch über seine Lippen drang nur ein Flüstern.

Nein!

Inzwischen fand der Widerstand nur noch in seinem Kopf statt. Die Sehnsucht, die Tür zu öffnen, übermannte ihn, bis er einen weiteren Schritt nach vorne trat. Schließlich musste er nur noch den Arm ausstrecken, um ...

»Nein!«

Der Ruf traf Danny wie ein Donnerschlag. Benommen fuhr er herum und sah eine korpulente, grauhaarige Frau mit faltigem und zugleich alterslosem Gesicht auf der Treppe stehen. Eugenia Arthur trug wie immer eine dunkelgraue Stoffjacke mit schweren Silberknöpfen sowie einen schwarzen Rock, der ihr bis zu den Knöcheln reichte. Ein Outfit, das ihr den Spitznamen Schwarze Lady eingebracht hatte.

Die Heimleiterin beließ es nicht bei dem Ruf, sondern trat auf ihn zu und zerrte ihn weg von der Tür, auch weg von den Geistern, bis sie gemeinsam die Treppe erreichten. Als Danny wie ein Zombie auf die erste Stufe trat, erlosch auch das unheimliche Licht. Nur der tief in ihm verwurzelte Drang, in den Keller zurückzukehren und die Tür zu öffnen, die Richard den Tod gebracht hatte, blieb bestehen.

»Ich habe euch gewarnt«, zischte ihm die Arthur zu. »Immer wieder habe ich euch gewarnt. Niemand darf den Keller betreten.«

»Aber Richard ...«

»Vergiss ihn! Vergiss Lorham Manor! Du wirst das Heim noch in dieser Nacht verlassen und nie wieder daran zurückdenken.«

Northfield, südlich von Wick, Gegenwart