Professor Zamorra 1059 - Simon Borner - E-Book

Professor Zamorra 1059 E-Book

Simon Borner

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Beschreibung

Jenny Moffat ist seit einigen Jahren unsterblich. Sie hat schon alles versucht, ihr irdisches Leben loszuwerden - doch nie gelang es: Sie ist zur Unsterblichkeit verdammt.

Jetzt versucht die junge Journalistin, des Rätsels Lösung beim Zirkel zu suchen - den vermeintlichen Experten, deren Mitglied Gideon einst ihre beste Freundin umbrachte.

Doch kann sie den Geheimbündlern wirklich vertrauen ...?

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Seitenzahl: 132

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Inhalt

Cover

Impressum

Der König von Babylon

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln

Verlagsleiter Romanhefte: Dr. Florian Marzin

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Michael Lingg

Datenkonvertierung E-Book: Blickpunkt Werbe- und Verlagsgesellschaft mbH, Satzstudio Potsdam

ISBN 978-3-7325-0812-9

www.bastei-entertainment.de

Der König von Babylon

von Simon Borner

Wiederaufführung wegen des großen Erfolges

Ich war dabei, als das Ende der Welt begann. Als Dämonenfürsten über unsere Metropole regierten, unaussprechliches Grauen uns in die Schatten zerrte und Hoffnung zu einem Wort ohne Bedeutung verkam. Als sich die Leichenberge in den Straßen stapelten, Bruder gegen Bruder kämpfte und die Wolken Blut weinten. Apokalypse.

Mein Name ist …warJenny Moffat –, und wenn Sie dies lesen, ist alles vorbei.

Wenn Sie dies lesen, haben wir verloren.

Sagen Sie Zamorra, es tut uns leid …

Schnitt. Abspann.

»Die Menschen werden niemals frei sein, bis man nicht den letzten König mit den Eingeweiden des letzten Priesters erdrosselt hat.«

Denis Diderot

PrologEine Geschichte über uns

Es gibt Geschichten … und es gibt Geschichten . Dies ist eine der letzteren Sorte, und dessen müssen wir uns von Anfang an bewusst sein. Andernfalls gehen wir hoffnungslos in ihr verloren.

Diese Geschichte bringt uns nämlich nicht artig und chronologisch von A nach B. Sie erzählt uns Neues, natürlich, denn das ist nun einmal die Art der meisten Geschichten; aber diese spezielle erzählt uns auch Altes, an das wir vielleicht gar nicht mehr denken. Dinge, die wir vor einiger Zeit sahen und denen wir damals unter Umständen weit weniger Bedeutung beimaßen, als sie eigentlich hatten. Aber wir müssen nun an sie denken. Nur dann ergibt diese Geschichte (die keine Geschichte der anderen Sorte ist) und nur dann ergeben sie endlich alle den Sinn, der ihnen seit Anbeginn vorherbestimmt war. Sie ist die einzige Geschichte, die noch zu erzählen bleibt. Das Ende.

Unsere Geschichte weiß all das. Und sie weiß auch, dass wir ihre führende Hand brauchen werden, um uns in ihr zurechtzufinden. Da! Dort ist die Hand. Sehen wir sie? Sie winkt uns, lockt uns zu sich. Folgen wir ihr. Vertrauen wir ihr. Aber nicht zu sehr! Vertrauen hat schon viele Menschen vor uns ins Verderben gestürzt.

Die Hand führt uns in ein großes Theater voller leerer, plüschbezogener Sitzreihen. Die Luft riecht nach Popcorn, die Sitze quietschen. Wir sind allein hier im Dämmerlicht, doch wir ahnen, dass wir uns nicht zu ängstigen brauchen - noch nicht. Die Geschichte will sich uns erzählen. Sie braucht uns, damit sie existieren kann. Denn es ist auch eine Geschichte über uns, irgendwo. Ohne uns wäre sie nichts. Ohne uns wäre sie vollkommen sinnlos. Sie mag uns von fremden Orten und anderen Personen erzählen, doch tief in ihrem Inneren weiß sie, wer ihre wahren Hauptfiguren sind: wir, hier draußen auf den billigen Plüschsesseln. Wartend im Dämmerlicht. Lassen wir sie also gewähren, zumindest für den Moment. Wir können schließlich jederzeit aufstehen und fliehen, falls uns irgendwann doch die Panik überkommt. Wir kennen ja den Weg zurück ins Freie.

Oder etwa nicht mehr …?

Hinter dem weinroten Vorhang wartet eine Leinwand auf uns, das sehen wir durch den kleinen Spalt zwischen dem Stoff. Doch im Augenblick dürfen wir uns noch dem Geschehen auf der Bühne widmen, und nicht dem Film der Erinnerungen, der das Stück später für uns ergänzen wird.

Wir wundern uns gerade, wann das Stück denn endlich beginnt – oder hat es etwa längst begonnen? –, da geht das Licht im Saal abrupt aus. Stockfinstere Schwärze umhüllt uns. Irren wir uns, oder wird die Luft auf einmal kälter? Und ist das bloß Einbildung, oder hören wir wirklich plötzlich schlurfende Schritte hinter uns? Das knarrende Geräusch schwerer Sohlen auf dem Boden? Nähert sich da jemand? Jemand, den wir besser fürchten sollten?

Ein Scheinwerfer kommt von irgendwo über uns und erhellt eine Gestalt auf den Bühnenbrettern vor dem Vorhang. Wir haben sie gar nicht kommen sehen. Sie ist plötzlich einfach da. Und sie lenkt uns von den sofort verstummenden Geräuschen in unserem Rücken ab, denn, das bemerken wir sofort, sie friert ganz entsetzlich. Mit einem Mal erkennen wir sie wieder. Es ist gar nicht so lange her, dass wir sie zuletzt sahen, oder? Ihr Name … lautete er nicht Dallé?

Und während wir noch rätseln, geht die Geschichte längst weiter.

Kapitel 1… und alle Fragen offen

Dominique Dallé fröstelte. Doch das lag weniger an den Temperaturen dieser grönländischen Nacht, sondern am Anblick, der sich ihm bot. Dallé hatte Kalaallit Castle eine ganze Weile nicht besucht – und nun, da er im Innenhof der altehrwürdigen Festung stand, erkannte er sie kaum wieder.

»Was in Gottes Namen ist hier geschehen?«, murmelte er, und weiße Atemwölkchen wehten vor seinem Mund. Mondlicht spielte mit ihnen, bis sie verblasst waren.

Nitnikvaa, seine Begleiterin, zuckte nur mit den Schultern. Sie war bereits wieder damit beschäftigt, ihren Hubschrauber, mit dem sie Dallé hergebracht hatte, startklar für den Rückflug zu machen. »Fragen Sie mich nicht«, sagte sie dann in ihrer Muttersprache, die Dallé fließend beherrschte. »Ich bringe Sie her, weiter nichts. Ich bin nicht Ihr Sicherheitsdienst, verstanden?«

Dallé nickte stumm. Sicherheitsdienst. Bislang hatten sie keinen gebraucht. Kalaallit Castle lag eine gefühlte Ewigkeit von der Küste der Baffin Bay entfernt und landeinwärts – in einem vom Menschen nie besiedelten Winkel des Landes, mitten im Nichts. Wäre da nicht der Hubschrauberlandeplatz im weiten Innenhof der Festung, man hätte sie nur per Schneemobil und nach tagelanger Reise erreicht. Hierher kam niemand einfach durch Zufall. Erst recht nicht, um zu zerstören.

Doch Dallé, der glatzköpfige Leiter der hier ansässigen, weltweit agierenden Geheimorganisation, des sogenannten Zirkels, blickte auf nichts anderes als auf totale Zerstörung. Seine Festung hatte Jahrhunderte und mehr überdauert. Nichts hatte ihr je etwas anhaben können. Nun aber glich sie halb einer Ruine. Mauern waren eingestürzt, schwere Sicherheitstüren hingen schief in den Angeln. Fensterläden waren aus ihren Scharnieren gebrochen, Scheiben zerborsten. Die Natur schien sich bereits seit Wochen ihren Weg ins Innere des großen Gebäudes gebahnt zu haben: Selbst im Mondenschein und von draußen sah Dallé Schneeverwehungen und Pfotenabdrücke jenseits der Türschwellen.

»In Ordnung, dann viel Vergnügen.« Nitnikvaa hievte seine Reisetaschen aus der Kabine des Helis und ließ sie in den Schnee plumpsen. »Sie melden sich, wenn Sie abgeholt werden wollen, richtig? Wie immer.«

Er blinzelte. »Moment, Sie … Sie wollen weg? Jetzt?«

»So lautete die Abmachung. Ich bringe Sie her, dann fliege ich zurück.«

Die burschikose Grönländerin zählte zu Gottes verschlageneren Kreaturen. Sie war verschwiegen, deswegen nutzte der Zirkel sie und ihre Dienste, doch sie ließ sich ihr Schweigen auch gut bezahlen. Ihr Vater und ihr Großvater waren da nicht anders gewesen; Dallé hatte beide gekannt.

»Aber hier …« Er seufzte, breitete die Arme aus. »Sie sehen doch selbst, was hier los ist!«

Erneut zuckte sie mit den Schultern. »Ist nicht mein Problem, wie gesagt. Ich habe meinen Teil unserer Abmachung erfüllt, Mr. Dallé: Sie sind hier. Wenn Sie bleiben wollen, bleiben Sie. Wenn nicht, nehme ich Sie gern wieder mit zurück – jetzt.«

Dallé atmete tief durch, spürte die eisige Nachtluft in seiner Nase. Schweigend sah er sich um. Der Zirkel war sein Lebensinhalt, sein Daseinszweck. Und nun lag das Herz dieses Lebens in Trümmern. Warum?

»Ich bleibe«, antwortete er und griff nach seinen Taschen. »Bis auf Weiteres.«

Nitnikvaa nickte knapp und desinteressiert. Dann stieg sie wieder in ihre Maschine und schloss die Kabinentür. Dallé stapfte durch den Schnee davon, brachte ein wenig Abstand zwischen sich und den Helikopter.

Auf der Schwelle der verbogenen Tür, von der aus es ins Gebäudeinnere ging, blieb er stehen und drehte sich um. Die Rotorblätter bewegten sich, der Motor brummte. Dann stieg Nitnikvaa wieder auf, und Dallé sah ihr nach. Für einen kurzen Moment verdeckte der schlanke Helikopter den Vollmond, und die Nacht schien finsterer denn je zu werden.

Als das Rotorengeräusch leiser und leiser wurde, riss sich der Leiter des Zirkels vom Anblick des Nachthimmels los und betrat die Festung. Schnee knirschte unter seinen Schuhsohlen, und als er die behandschuhte Rechte zum Lichtschalter ausstreckte, wunderte es ihn nicht, dass dieser nicht reagierte.

Kein Strom.

Schweigend trat Dallé weiter vor. Er kannte das Gebäude in- und auswendig, und es war ihm ein Leichtes, die paar Schritte bis zur Wand im Dunkeln zurückzulegen. Die Fackel, die dort in ihrer gusseisernen Halterung hing, fand er auf Anhieb und entzündete sie mit dem Feuerzeug aus der Tasche seines dicken schwarzen Mantels.

Flackerndes Licht erhellte den Gang und zauberte tanzende Schatten auf die nackten Mauern. Kalaallit Castle wirkte archaisch, fast schon mittelalterlich. Doch hinter der schlichten Fassade, rau wie die sie umgebende Natur, schlummerte modernstes Hightech. Frühe Mitglieder des Zirkels hatten die Festung einst errichtet, und der Zirkel finanzierte sie bis heute komplett selbst. Sie war ihm Hauptsitz und Enklave zugleich, ein Stück Ewigkeit in einer Welt, die sich ständig veränderte. Dallé ging tiefer ins Gebäude hinein und sah hohe Mauern aus Sandstein und Basalt, Böden aus glattem Marmor, Gobelins und dunkles Edelholz, glattes Glas und glänzendes Chrom. Hohe Säulen, die fast schon griechisch anmuteten. Oder wie etwas aus Walhalla. Harpunen und andere traditionell grönländische Werkzeuge hingen als Zierrat an den Wänden, und in alten Regalen lagerten in Leder gebundene Schätze der Weltliteratur und der Philosophie Seite an Seite mit den Chroniken, dem wohl wertvollsten Schatz des Zirkels.

Zumindest war dem einmal so gewesen. Nun aber lag so manche Säule zerbrochen am Boden. Decken waren eingestürzt, Möbel von unschätzbarem Wert unter ihnen begraben worden.

Als hätte hier ein Erdbeben gewütet, dachte Dallé, während er entsetzt staunend durch die Ruinen schritt, die sich ihm im schwachen Schein der Fackel präsentierten. Doch er musste kein Geograf sein, um zu wissen, wie unwahrscheinlich ein Erdbeben der nötigen Stärke in dieser abgelegenen Gegend Grönlands war. Was immer hier vorgefallen war, hatte nichts mit einer Naturkatastrophe zu tun gehabt. Daran hegte er keinen Zweifel. Was das auch war, es wurde künstlich erzeugt.

Also musste es einen Auslöser gegeben haben. Einen lebenden Auslöser – oder gleich mehrere.

Fieberhaft dachte Dallé nach. Hatte der Zirkel Feinde, von denen er nichts wusste? Die Organisation agierte seit ihrer Gründung nur im Verborgenen. Nicht einmal die Objekte ihrer Forschung wussten von ihrer Existenz, und der Rest der Welt schon zweimal nicht.

Nein, entschied er. Keine Feinde.

Aggressoren, dann? Konnte es sein, dass zerstörerische Personen in die Festung einfielen und wüteten wie die Barbaren? Einfach so?

Dallé kannte die Natur und ihre willkürlich anmutenden Launen wie kaum ein zweiter. Dennoch sträubte er sich, diese Fragen zu bejahen. Der Zufall, so wusste er, war selten die allein gültige Antwort, wenn es um Menschen ging.

Hier musste mehr dahinter stecken. Viel mehr.

Jemand war nach Kalaallit Castle gekommen. Mit Wut. Und er hatte Rache genommen. Aber wofür, um Himmels willen?

Die Antwort kam ihm just in dem Moment, da er die Leiche sah.

***

Gideons sterbliche Überreste verdienten ihren Namen kaum noch. Was die unerklärlichen Verbrennungen, die seinen Körper verunstaltet hatten, nicht schon zerstörten, hatte die Natur nach seinem Ableben erledigt: Nagetiere und ähnliches Geschmeiß schienen sich am kalten Fleisch des Mannes gütlich getan zu haben. Was Dallé zwischen den Trümmern des einstigen Konferenzraumes fand, war wenig mehr als ein Haufen Knochen in den zerfetzten Überbleibseln einstmals teurer Kleidung.

Dennoch erkannte er ihn sofort.

»Gideon.« Er seufzte. »Ich hätte bei Ihnen härter durchgreifen müssen. Viel härter.«

War das nun die Quittung? Dallé hatte seinen eigensinnigen Mitarbeiter streng gerügt, das schon. Aber danach hatte er ihn wieder in die Welt entlassen – auch, um weiteren Schaden vom Zirkel abzuwenden. Gideon hatte beenden sollen, was er ohne das Wissen des Zirkels begonnen hatte. Damit die Organisation keine Folgen befürchten musste.

Doch allem Anschein nach war dem Beobachter aus New York City auch dies gründlich misslungen.

Dallé seufzte wieder und ließ sich neben den staubbedeckten Gebeinen des Mannes auf die Knie sinken. »Gideon«, murmelte er. »Ach, verflucht, Gideon.«

»Das können Sie laut sagen.«

Dallé zuckte entsetzt zusammen, als die fremde Stimme in den Schatten erklang. Ruckartig drehte er den Kopf, spähte suchend in das ihn umgebende Dunkel. Ein weiterer Mensch? Hier draußen in der Einsamkeit? Er wollte gerade aufspringen, da trat die Gestalt in den Schein seiner Fackel – und richtete den Lauf einer pechschwarzen Automatikpistole auf seinen Kopf.

Er erstarrte. Wagte es kaum, zu atmen. Glotzte fassungslos. Er hatte diese Person noch nie zuvor gesehen. Oder?

»Was machen Sie hier? Sagen Sie’s schnell, Monsieur Dallé«, knurrte die blonde Frau mit der Waffe. »Denn, so wahr ich hier stehe, gleich blase ich Ihnen den Schädel weg!«

***

Wenige Stunden zuvor

»Vielleicht …« Die Stimme, die aus dem Funkgerät drang, stockte, zögerte. Aber nur kurz. »Vielleicht verrennst du dich da in eine Hoffnung, die keine reale Grundlage mehr hat. Genau wie er. Versteh mich jetzt bitte nicht falsch, Jenny; ich wünsche mir ebenfalls nichts sehnlicher, als dass sie wieder zu uns findet und doch noch alles gut wird. Aber …«

Jenny Moffat schnaubte. Biss die Zähne zusammen. Blinzelte eine Träne fort.

Wie konnte es da ein Aber geben? Warum verstand denn niemand, dass man kämpfen musste, bis man nicht mehr konnte? Andernfalls hatte man doch längst verloren, verdammt!

»Ich bin Medizinerin«, versuchte es Diane Millerton, die Stimme von jenseits des Ozeans, anders. »Okay, Gerichtsmedizinerin. Doch auch ich habe meinen Teil an lebenden Patienten gesehen, das kannst du mir glauben. Ich weiß vermutlich sogar besser als viele Kollegen aus anderen Sparten über den schmalen Grat zwischen Leben und Tod Bescheid. Und … ehrlich gesagt? Für mich ist Amy ein verlorener Fall. Ein Opfer mehr. Ein Grund, Abschied zu nehmen – und nicht, sich in verquere Hoffnungen zu verrennen.« Je länger sie gesprochen hatte, desto leiser war Millerton geworden.

Jenny verstand sie trotzdem gut genug. Schließlich hörte sie Sätze wie diese nun schon seit Wochen, wohin sie sich auch wandte. Schweigend sah die junge Journalistin aus dem Fenster des klobigen Fahrzeugs, hinter dessen Steuer sie saß. Es stand auf einer schneebedeckten Anhöhe, und unter sich im Tal konnte Jenny das Ziel ihrer Reise sehen. Kalaallit Castle, sonnenbeschienen, verlassen und ziemlich ramponiert.

Ganz wie in ihrer Erinnerung.

»Bist du noch da?«, fragte Millerton vorsichtig.

Jenny griff nach dem Funkgerät, drückte die Sprechtaste. »Mhm.«

Schweigen. Nur das Rauschen im Äther und draußen der grönländische Wind.

»Aber du stimmst mir nicht zu«, sagte die Medizinerin leise. Bedauernd.

»Wie könnte ich das, Diane?« Jenny seufzte. »Ich verstehe dich. Wirklich, das tue ich. Aber ich kann noch nicht aufgeben. Nicht, so lange ich Chancen sehe. Mag gut sein, dass ich mir die nur einbilde. Aber ich muss sie überprüfen, bevor ich mich geschlagen gebe. Das schulde ich Amy. Das schulde ich Zandt. Und das schulde ich mir.«

Millerton lachte kurz. »Du klingst genau wie Andy, weißt du das? Der weigert sich auch standhaft, den Ärzten und dem gesunden Menschenverstand zu glauben. Ungeachtet aller Beweise.«

Jenny verstand ihn gut. Einige Wochen waren inzwischen vergangen, seit Andy Sipowicz’ Freundin, die schwangere New Yorker Polizistin Amy Williams, ins Koma gefallen war. Jenny selbst war damals nicht in der Stadt gewesen, hatte sich die Ereignisse aber in aller Ausführlichkeit berichten lassen – in all den Tagen und Nächten, die sie seitdem mit Andy und Diane an Amys Krankenbett gesessen hatte.

Sie waren zum entscheidenden Kampf gegen Elektra aufgebrochen: Andy, Amy, Diane, ihr gemeinsamer Vorgesetzter Lieutenant Steven Zandt, Professor Zamorra – und New Yorks vampirischer Bürgermeister Finn Cranston. Der Mann, dem der ganze Hass des mächtigen Wesens namens Elektra gebührt hatte.

Tief unter der Erde Manhattans war es zur alles entscheidenden Konfrontation gekommen. Elektra, die den Big Apple und vor allem sein Oberhaupt seit einer kleinen Ewigkeit terrorisiert hatte, gegen Cranston und das Team des Dämonenjägers. Und das Gute hatte gesiegt. Dank eines kleinen, aber bedeutsamen Trumpfes, den Jenny selbst ins Spiel gebracht hatte und den Zamorra genau im richtigen Moment auszuspielen verstand, war Elektra ein für alle Mal vernichtet worden – und alles, für das sie stand, mit ihr. Die Angst, immerhin eine nicht unbedeutende Komponente Elektras, hatte durch diese Niederlage eine schmerzhafte Schwächung erlangt – auf die Zamorra und Cranston an anderem Ort aufbauen konnten.