Professor Zamorra 1092 - Simon Borner - E-Book

Professor Zamorra 1092 E-Book

Simon Borner

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Beschreibung

Jack "Wiz" Entwistles Auftragsbuch ist leer wie die Wüste Gobi. Aber immer wenn man glaubt, dass es nicht mehr geht, tut sich doch eine Tür auf. In diesem Fall ist es seine Bürotür und ein Auftrag spaziert hinein - diesmal in Form der hinreißend attraktiven Gabby Coolidge, die ihn beauftragt, nach ihrer Schwester zu suchen.

Das Leben kann also doch angenehm sein, oder etwa nicht?

Wiz glaubt daran, doch dann nimmt der neue Fall Dimensionen an, die er sich nicht hat träumen lassen. Nicht einmal in der Stadt der Träume selbst ...

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Seitenzahl: 153

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Inhalt

Cover

Impressum

Die unsterblichen Schatten

Leserseite

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln

Verlagsleiter Romanhefte: Dr. Florian Marzin

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Michael Lingg

Datenkonvertierung E-Book: Blickpunkt Werbe- und Verlagsgesellschaft mbH, Satzstudio Potsdam

ISBN 978-3-7325-2781-6

www.bastei-entertainment.de

Die unsterblichen Schatten

von Simon Borner

»Was hast du mit Wiz gemacht?«, fragte Zamorra den Dämon mit dem Gesicht seines Freundes. Im Flur konnte er schon erste Flammen sehen, Vorboten der Zerstörung, die sich vom Erdgeschoss ihren Weg nach unten fraß, gierig wie der Tod. »Warum lässt du ihn nicht in Ruhe? Ich bin es, den du willst. Niemand sonst.«

Der unheimliche Gigant verzog die gestohlenen Lippen zu einem hämischen Grinsen. »Du irrst, Zamorra. Einmal mehr. Auch Wiz hat mir geschadet.«

»Und das ist alles? Weil er dir einmal im Weg war, muss er nun leiden?«

»Das müsst ihr alle«, verkündete das Monstrum mit den tausend Stimmen. »Und mit dir fange ich an!«

»… als wäre Hollywood der Name des verwunschenen Waldes, in dem man verloren geht und sich wiederfindet; der Wald, der dich verändert; der Wald, in dem du den Verstand verlierst; der Wald, wo die Schatten länger leben als du selbst.«

Angela Carter: Wie’s uns gefällt

Kapitel 1 Der verwunschene Wald

Katie Bannister hatte schon schlechtere Ferienjobs gehabt, doch keiner war langweiliger gewesen. Abend für Abend in diesem winzigen Kassenhäuschen zu sitzen, Wechselgeld rauszugeben und die eine oder andere Popcorn-Tüte, während alle anderen an ihr vorbei gingen und Spaß hatten? Das war doch kein Leben. Erst recht nicht, wenn man, wie Katie, sechzehn war und deutlich andere Vorstellungen von einem Freitagabend hatte. Lebendigere.

Ein Kino war für sie immer ein Ort des Vergnügens gewesen. Einer, den man aufsuchte, um zu schwärmen, sich zu gruseln oder den Atem geraubt zu bekommen. Nun aber lernte sie ihn als gähnend langweilige Ödnis kennen, in der nichts passierte und nichts von Bedeutung war, weil zwar stets neue Gesichter vor ihrem Kassenhäuschen auftauchten, aber immer wieder dasselbe sagten – »Einmal, bitte!« – und sich keinen Deut um sie scherten. Noch nicht einmal ihr Handy konnte Katie benutzen. Der Boss hatte es verboten. Dabei hätte sie jetzt viel lieber mit ihrer besten Freundin Jen gechattet, als diesen Idioten Tickets zu verkaufen, die sich zum Sprechfenster in Katies Plexiglasscheibe vorbeugten und der Schülerin ihre Dollars zuschoben.

Und überhaupt: Wie beknackt musste man sein, Karten zu einem Schwarzweißfilm zu kaufen? Einem uralten Stück Schrott, das bestimmt noch langweiliger war als dieser Ferienjob! Schließlich wusste doch jeder – zumindest jeder in Katie Bannisters Freundeskreis –, dass Schwarzweißfilme den farbigen von Natur aus gehörig unterlegen waren. Das war ja völlig normal. Daddys Musik war ja auch ein Witz, verglichen mit der von heute. So etwas tat man sich doch nicht an, wenn man Ahnung und Geschmack hatte. Ein Paul McCartney war doch nur wichtig, weil Kanye West mal mit ihm was aufgenommen hatte. Und ein Lon Chaney – dessen seltsames Schwarzweißopus heute in Katies kleinem, in einer Seitengasse Hollywoods gelegenen Kino gezeigt wurde – war selbstverständlich ein schlechter Scherz, verglichen mit einem Chris Hemsworth oder Benedict Cumberbatch. Ohne Frage. Also bitte: Lon Chaney? Wer sollte das denn sein, hm? Hatte der je in irgendeiner Late-Night-Show gesessen? War der je bei »ellen« zu Gast gewesen? Wohl kaum!

Aber gut. Es musste wohl auch Idioten geben. Jedenfalls ließ der Strom an Idioten nicht nach, seit Katie an diesem Abend das Kassenhäuschen geöffnet hatte. Alle paar Minuten tauchte das nächste kleine Grüppchen auf und begehrte tatsächlich Einlass zu einem Schwarzweißfilm!

Volltrottel, attestierte Katie ihnen. Allesamt riesige Volltrottel.

Okay, vielleicht bis auf die Zwillinge von vorhin. Die zwei Männer mit den engelsgleichen Zügen, die ihre Karten einstimmig bestellt und jede einzelne Bewegung komplett synchron vollzogen hatten. Die waren süß gewesen. Krank, aber süß.

Abermals ärgerte sich Katie über das Handyverbot ihres Arbeitgebers. Sie hätte Jen zu gern von den Zwillingen erzählt.

Tu’s doch, dachte sie bei sich. Ist der Boss vielleicht hier?

War er nicht. Das Rialto war ein altes Kino und hatte bloß eine einzige Leinwand. Da brauchte es kein großes Personal, um den Betrieb am Laufen zu halten. Der Boss kam, schloss die Bude auf, wies den Ferienjobber des Abends kurz ein und verschwand dann wieder.

Katie sah auf die Uhr. Noch gut zwei Stunden bis Schichtende. Vorher würde der Boss sicher nicht auftauchen. Wer sollte sie verpfeifen?

Sie gab weitere Eintrittskarten aus, legte sogar neues Popcorn nach und wartete noch ein bisschen. Dann, als sie sich endlich sicher sein konnte, dass der Film begonnen hatte und kein Nachzügler mehr an ihr Häuschen kommen würde, zog sie das Handy aus der Tasche ihrer hautengen Jeans.

Jen war online.

Voll doof hier, tippte Katie ins Chatfenster. Nur Idioten, die einen idiotischen Opafilm gucken. Ohne Farbe!!!

Eeeecht?, erwiderte die Freundin. Ohne Farbe? Is das nich verboten oda so?

Katie lachte leise. »Das gehört verboten«, murmelte sie.

Aber ich hab zwei voll süße Typen gesehen. Glaubst du gar nicht. Die konnten echt alles gleichzeitig und …

Sie ließ den Satz unvollendet, den Cursor erwartungsvoll blinken. Ein seltsames Geräusch hatte sie abgelenkt.

Katie runzelte die Stirn und sah aus ihrem Fensterchen hinaus auf die herbstlich leere Straße vor dem Kino. Nirgends regte sich etwas. Mondlicht spiegelte sich auf dem regennassen Teer. Das Rialto lag fernab der Hauptverkehrsrouten. Auch das war einer seiner Nachteile.

Abfällig schüttelte Katie den Kopf. »Du siehst Gespenster, Mädchen«, tadelte sie sich leise und sah wieder aufs Handydisplay.

 … und sahen aus wie Engel und …

Da! Schon wieder dieses Geräusch. Ein lang gezogenes, schrilles … Irgendwas. Ganz in der Nähe. Katie hörte es, und kalte Schauer zogen über ihren Rücken – was ja wohl mal vollkommen bescheuert war!

Wieder sah sie sich um, wieder fand sie nichts und niemanden.

Hör auf mit dem Scheiß!, tippte sie wütend ins Chatfenster.

Was ist los?, fragte ihre beste Freundin zurück.

Katie schnaubte. Ich weiß, dass du hier bist, du dumme Bitch, schrieb sie. Also hör auf, mich zu stalken.

Doch Jen wirkte ratlos. Bei dir? Nee, ich bin bei Eric. Hab ich dir doch gesagt.

Das Geräusch wiederholte sich ein drittes Mal. Es klang wie rostige Nägel auf einer Tafel, wie Fingernägel auf Schiefer, wie ein Bohrer beim Zahnarzt. Es fuhr Katie bis ins Mark.

Einen Scheiß bist du, echt, echauffierte sich die Sechzehnjährige in ihrem liebsten Kommunikationsmedium. Ihre Finger zitterten dabei. Du stehst hinter meinem Kassenhäuschen und machst gruselige Geräusche, du dumme Kuh.

Keine Reaktion. Katie fühlte sich schon als Siegerin des kleinen Streits, da kam ein Foto von Jen an. Es zeigte die Freundin nebst Eric in dessen Zimmer. Nicht im Rialto.

Einen Augenblick später hörte Katie Bannister die Schreie. Laute, schrille, zutiefst panische Schreie – und mit einem Mal wusste sie, was das für ein Geräusch gewesen sein musste.

Die Leute, schoss es ihr durch den Kopf. Die Leute im Kino … haben Angst!

Aber es war nicht die Angst, die man von Gruselfilmen bekam, oder? Die Geräusche kannte Katie. Nein, das da war Todesangst! So klang es, wenn man qualvoll starb!

Mit einem Mal musste sie an Aurora denken. An den Irren, der bei dieser Batman-Vorführung vor ein paar Jahren wild um sich geschossen hatte. Wiederholte sich das etwa gerade? Hier im Rialto?

Katie hatte eine Dose Pfefferspray im Kassenhäuschen. Sie ließ das Handy Handy sein, nahm die Dose und ihre Taschenlampe. Dann trat sie aus dem Häuschen hinaus und in den menschenleeren Korridor des Kinos. Sofort wurden die Schreie lauter. Katie hörte Gepolter, gurgelndes Ächzen, qualvolles Stöhnen. Sie hörte Angst, nackte und panische Angst. Sie hallte von den Korridorwänden wider wie das Ächzen eines Ertrinkenden aus einem tiefen Brunnenschacht.

Katies Knie zitterten, als sie sich der Tür zum Kinosaal näherte. Die Spraydose vor sich haltend, als wäre sie ein Schutzschild, schob Katie Bannister die Tür einen Spalt auf.

Ein letzter, gellender Schrei hallte in diesem Moment durch das Rialto, als hätte er nur auf sie gewartet. Dann wurde alles still. Totenstill.

Katie schob die Tür weiter auf. Schaltete die Taschenlampe an. Trat über die Schwelle.

Trat in Blut.

Konnte man den Tod riechen? An diesem Abend wusste Katie, dass man es konnte. Denn sie roch ihn ganz deutlich. Und sie spürte ihn – spürte ihn wie eine eisige Knochenhand, die ihr über den Rücken, und wie eine eisige Nadel, die ihr tief in die Seele fuhr.

Totenstille, überall. Nicht einmal der Projektor lief noch. Katie schaltete die Taschenlampe an, ließ zitternd den Lichtkegel über die Sitzreihen schweifen. Das Licht musste nicht lange suchen. Nahezu sofort fiel es auf frisch abgetrennte Gliedmaßen, auf Arme, Hände, Köpfe …

Katie Bannister ließ erst die Spraydose, dann die Taschenlampe fallen und schrie um ihr Leben.

***

Es war eine dieser Nächte, wie es sie nur in dieser Branche gab: prasselnder Regen vor dem mit Lamellenrollos verhangenen Bürofenstern, billiger Fusel im Glas und ein Auftragsbuch, so leer wie die Wüste Gobi. Jack »Wiz« Entwistle schluckte den Fusel hinunter und den Fluch, der ihm auf der Zunge gelegen hatte, gleich mit. Dann stand er ächzend auf und trat hinter seinem abgewetzten Schreibtisch hervor. Die Lage war ernst, das wusste der kalifornische Detektiv. Wenn nicht bald etwas geschah, würde er sich selbst den billigen Fusel nicht mehr leisten können. Und dann?

Du kannst immer noch untreue Ehemänner beschatten, erinnerte er sich. Solche Jobs sind hier nie Mangelware.

Das stimmte zwar, aber Wiz war nicht Privatdetektiv geworden, um sich dem Bodensatz dessen zu widmen, was dieser Beruf an Aufträgen mit sich brachte. Er wollte Verbrechen lösen, keine Affären aufdecken. Zumal: Neunzig Prozent der Untreue-Verdachtsfälle erwiesen sich ohnehin als unhaltbar. Außer Spesen nix gewesen.

Früher … Da hatte er noch Erfolge gefeiert! Nicht oft, wohlgemerkt, und auch nicht oft freiwillig. Aber trotzdem. Seite an Seite mit seinem alten Partner Creighton Burnett war ihm so einiges gelungen. Doch Creigh existierte nicht mehr. Und so ungern Wiz es auch zugab: Allmählich vermisste er die alte Nervensäge. Alles war besser als Langeweile. Sogar die Gesellschaft eines besserwisserischen Untoten, den nur Wiz sehen konnte und der ihm gelegentlich wertvolle Tipps aus der Welt jenseits der letzten Grenze gab.

Seufzend trat Wiz ans Fenster und sah hinaus auf die Straße und den Regen. Es regnete nur selten in der Stadt der Engel, wie man Los Angeles auch nannte. In der Nacht, in der Creigh … gegangen war, hatte es ebenfalls geregnet. Als Creigh sich geopfert hatte, damit Zamorra überlebte. Damit LEGION – dieses Destillat aus zahllosen Gegnern des Dämonenjägers – nicht siegte.

Mehrere Monate waren seitdem vergangen. Wiz hatte den Professor nicht wiedergesehen – und Creigh ebenfalls nicht. Anfangs hatte er den Geist kaum vermisst. Der alte Knacker konnte eine echte Plage sein. Aber dann …

»Auf dich, Kumpel«, murmelte der Detektiv nun und prostete den Regenwolken über der Skyline zu. »Wo immer du auch bist. Ich hoffe, du schlägst dich da besser als ich hier.«

»Klingt nicht gerade ermutigend.«

Die Frauenstimme war in Wiz’ Rücken erklungen, völlig überraschend. Der Detektiv verschluckte sich prompt, wirbelte herum – und hustete sich beinahe die Lunge aus dem Leib. Letzteres lag auch am Anblick der Stimmenbesitzerin.

Sie war schön. Sogar sehr schön. Schlanke Taille, lange Beine, an den richtigen Stellen rund, an den noch richtigeren Stellen ebenso. Rotes Haar fiel ihr bis auf die von einem eng anliegenden Kleid bedeckten Schultern. Haut wie weißer Samt. Große, nahezu kindlich-unschuldige Augen.

»Verzeihung«, sagte die Frau ein wenig peinlich berührt. Sie trat aus Wiz’ Türrahmen – hatte er mal wieder nicht abgeschlossen? – in Wiz’ für sie viel zu schmutziges Büro. Ihr Lächeln war schüchtern und schwach. »Ich wollte Sie nicht erschrecken. Mr. Entwistle?«

»W … iz«, brachte Wiz heraus. Er deutete auf einen freien Stuhl vor seinem Tisch, merkte dann, dass gar keiner frei war, und eilte sich, die Stapel aus leeren Pizzaschachteln und Flaschen beiseite zu räumen.

Die Schönheit kommentierte sein Tun nur mit einem hilflosen Blick.

»Nennen Sie mich Wiz«, sagte er dann und setzte sich ebenfalls. »Was kann ich für Sie tun, Miss …?«

»Coolidge.« Hektisch sah sie sich um, betrachtete sein kreatives Chaos, seinen Staub, sein Leben. »Jack »Wiz« Entwistle . Aber ich frage mich, ob Sie überhaupt etwas tun können. Ein Detektiv, der trinkt und Selbstgespräche führt …«

Wiz winkte ab. »Das … war aus dem Kontext gerissen. Vergessen Sie’s. Was führt Sie nach L.A., Miss Coolidge?«

Ein Lächeln, etwas sicherer und warm. »Gabby.«

»Gabby.«

Sie nickte. Irrte er sich, oder entspannte sie sich gerade ein wenig? Und warum freute ihn das so sehr? »Woher wissen Sie, dass ich nicht von hier bin?«

»Der Akzent«, antwortete Wiz. »Ich höre so was meist sofort. Was ist Ihrer? Maine?«

»Fast.« Gabby lächelte schon wieder. Anerkennend. »Großraum Boston. Aber als Kinder waren wir oft in Maine.«

»Und ›wir‹ sind …?«, fragte Wiz. Er mochte ein Loser sein, aber er erkannte eine Geschichte, wenn sie sich ihm präsentieren wollte.

Gabby Coolidge seufzte – und mit einem Mal kam sie ihm wieder unfassbar schwach vor, hilflos und verwundbar. Ein Reh im Scheinwerferlicht. »Mr. Ent … Wiz«, sagte sie, und es klang wie ein Flehen, »ich bin hier, weil ich nicht mehr weiter weiß.«

Erfolgreiche Privatschnüffler hatten für Momente wie diesen immer Taschentücher da, die sie der weinenden Klientin lässig reichen konnten. Wiz war kein erfolgreicher Privatschnüffler. Einmal mehr verfluchte er sich dafür. Hilflos fischte er ein zweites Glas aus den Untiefen seines Tisches und schenkte der Schönheit kurzerhand zwei Fingerbreit Fusel ein.

Gabby nahm das Glas dankend. Sie trank. Sie hustete.

Wiz ließ die Flasche schnell verschwinden. »Ich höre, Gabby«, sagte er sanft – auch um das Thema zu wechseln.

Und Gabby erzählte. »Meine Schwester ist fort. Sam. Unser Baby. Sie … Sie war schon immer das schwarze Schaf meiner Familie, wissen Sie? Verzogen, durch und durch. Ein verwöhntes Gör. Die Boston-Coolidges sind Geldadel, Mr. … Wiz. In Boston kennen wir jeden, der Rang und Namen hat. Wir kennen unsere Rollen in der Gesellschaft. Aber Samantha … Sam wollte die ihre nie ausfüllen, verstehen Sie? Sie hatte schon immer ihren ganz eigenen Kopf.«

»Eine Rebellin«, soufflierte Wiz.

Die Schönheit nickte und nahm zu seiner grenzenlosen Überraschung noch einen Schluck vom Fusel. Dieses Mal hustete sie nicht. »Durch und durch, fürchte ich. Sam wollte schon als Kind mit dem Kopf durch jede Wand, die sich ihr bot. Sie hörte nicht auf unsere Eltern. Sie suchte sich explizit die falschesten Freunde, die man nur finden konnte. Sie …«

Als sie nicht weitersprach, nickte Wiz. »Und jetzt ist sie weg«, sagte er, denn er ahnte längst, wie die Geschichte endete. Er hatte sie schon oft gehört. »Ausgerissen, richtig?«

Gabby nickte nur.

»Und Sie vermuten sie hier in L.A.?«

Wieder ein Nicken.

»Haben Sie ein Foto?«

Gabby hatte eines. Wiz sah ein junges Ding mit pechschwarz gefärbtem Haar, einem Ring in der Nase, zu viel Schmiere im Gesicht. Ein trotziges Ding. Eines, das alles hatte, was es sich nur vorstellen konnte – und doch nichts, was ihm gefiel. Ein verzogenes Gör.

»Wie alt ist Ihre Schwester, Gabby? Fünfzehn?«

»Neunzehn«, antwortete sie und leerte das Glas. Sie hielt die Augen geschlossen, während der Fusel ihre Kehle wärmte. Auch das, fand Wiz, sprach für sie. »Das Foto ist schon etwas älter. Mr. … Wiz, ich brauche Ihre Hilfe. Ich weiß nicht mehr, was ich meinen Eltern sagen soll. Nicht allein die Sorge, nein, auch die Schande lastet schwer auf ihnen. Eine Ausreißerin? In unseren Kreisen?«

»Haben Sie irgendeine Ahnung, wo sie sich hier in der Stadt aufhalten könnte?«, fragte er und merkte erst danach, dass er noch gar nicht über seinen Preis gesprochen hatte. Irgendwas in seinem Inneren – vermutlich der Teil von ihm, der für Rehaugen und Jungfern in Nöten mehr als anfällig war – hatte Gabbys Fall offenkundig längst angenommen. Wiz entschied, auf diesen Teil zu hören. »Irgendeinen Hinweis?«

Sie nickte unsicher. »Vielleicht. Sie … Sie wollte in ein Kino, hatte sie mal gesagt. Wenn sie je nach Los Angeles käme, würde sie auf jeden Fall das Rialto besuchen. Das ist angeblich ein sehr schickes Lichtspielhaus, sehr alt und …«

»Ich kenne das Rialto«, bestätigte Wiz. Es zählte zu den prächtigsten Kinos des ganzen Landes. Es atmete noch immer den Hauch des alten Hollywoods, der Zeit von Bogart, Bacall und Konsorten. »In Ordnung, Gabby. Wenn Sie wollen, höre ich mich mal nach Ihrer Schwester um.« Er schluckte. Verdammt, warum war er auf einmal so nervös? Er redete mit einer Klientin, nicht mit seiner Freundin – mit der er aktuell mal wieder gehörig zerstritten war. »Kann ich Sie irgendwo erreichen? Sind Sie länger in der Stadt?«

»So lange Sie mich hier brauchen«, antwortete Gabby Coolidge ganz unschuldig – und jagte damit unwissend einen wohligen Schauer über Wiz’ seit gut drei Wochen einsam schlafenden Körper. Dann nannte sie ihm den Namen ihres Motels.

***

Das Rialto glich einem Kriegsschauplatz. Wiz erreichte das Kino gegen elf Uhr nachts, keine Dreiviertelstunde, nachdem er Gabby Coolidge in ihrem Motel abgesetzt hatte. Doch die Cops waren schon da. Überall sah der Detektiv gelbes Absperrband, blinkendes Blaulicht und überheblich blickende Uniformierte.

Schweigend ging er an ihnen vorbei. Er hatte die Erfahrung gemacht, dass Cops einen dann in Ruhe ließen, wenn man sie glauben machte, man sei durch und durch befugt, den Tatort zu betreten.

Diese Cops kannten den Trick allerdings schon.

»Hey!«, erklang eine scharfe Frauenstimme in seinem Rücken, kaum dass er die Absperrung überschritten hatte. »Hey, wo wollen Sie denn hin?«

Wiz hob abwehrend die Hände und drehte sich um. »Na, kommen Sie, Bliss. Wohin will ich schon?«

Detective Jane Bliskowski – Ende dreißig, durchtrainiert, braune Haare; Letzteres leider auch auf den Zähnen – trat auf ihn zu. Sie trug keine Uniform, aber eine strenge Miene zur Schau. Das Blaulicht spiegelte sich auf der Dienstmarke, die ihr vom Hals hing. »Nach Hause, hoffe ich doch sehr, Wiz. Und zum letzten Mal: Nennen Sie mich nicht Bliss[1]!«

»Ein Geschöpf, das aussieht wie Sie? Das kann ich gar nicht anders nennen.«

»Was Sie können und was nicht, entscheide immer noch ich.« Bliskowski baute sich vor ihm auf, stemmte die Hände an die bezaubernde Hüfte. Ihre Bluse war genau einen Knopf zu wenig aufgeknöpft, erkannte Wiz, der gern mehr von ihrem Dekolleté gesehen hätte. »Zumindest, wenn’s um meinen Tatort geht. Also? Was verschafft mir das Elend Ihres unangekündigten Besuchs?«

Wiz kannte Bliskowski. Sie zählte zu den Guten, und von denen gab es beim Los Angeles Police Department nicht allzu viele. Mit wenigen Worten berichtete er ihr von seinem Fall und zog sogar Samantha Coolidges Foto aus der Tasche seiner abgewetzten Lederjacke. »Ist die hier zufällig irgendwo? Falls nicht – und darauf geb’ ich Ihnen mein Wort als Ehrenmann, Bliss – bin ich sofort wieder weg.«