Protestantische Orientierungen in einer postmodernen Kultur - Euler Renato Westphal - E-Book

Protestantische Orientierungen in einer postmodernen Kultur E-Book

Euler Renato Westphal

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Beschreibung

Der brasilianische Theologe und Kulturwissenschaftler Euler Renato Westphal fragt kritisch nach heutigen Formen der Enteignung und Monopolisierung von Leben. Stichworte hierfür sind "Biopiraterie" oder "Patent-Kolonialismus". Bei genauerem Hinsehen handele es sich bei Teilen des wissenschaftlichen und technologischen Fortschritts um die Fortführung der kolonialen Herrschaft mit anderen Mitteln. Der Fortschritt offenbart darin seine Schattenseiten. Das Buch ist ein wichtiger Beitrag zur Diskussion um die Frage von Theologie als Wissenschaft und ihrer Beziehung zu anderen Wissenschaften, insbesondere Biologie und Angewandte Ethik. Das Werk wurde zuerst auf Portugiesisch unter dem Titel "O Oitavo Dia: Na era da seleção natural" publiziert. Die englische Fassung erschien unter dem Titel "The Eighth Day. In the age of artificial selection. An analysis on the post-modern thought, its esthetic expressions and its scientific practice". [Protestant Orientations in a Postmodern Culture Bioethical Challenges and Lutheran Theology] The Brazilian scholar Prof. Dr. Euler Renato Westphal, holder of a chair for systematic theology, analyzes scientific as well as technological progress and opens in this way, against his theological background, an interdisciplinary dialogue on bioethics. The book is an important contribution to the debate on the scientific character of theology and its relation to other sciences, particularly biology and applied ethics. The book was first published in Portuguese under the title "O Oitavo Dia: Na era da seleção natural". The English version appeared under the title "The Eighth Day. In the age of artificial selection. An analysis on the post-modern thought, its esthetic expressions and its scientific practice.

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Euler R. Westphal

Protestantische Orientierungen in einer postmodernen Kultur

Bioethische Herausforderungen und lutherische Theologie

Herausgegeben und kommentiert von Ralf Koerrenz und Sebastian Engelmann

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2015 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig

Copyright © der Originalausgabe 2004:

Euler Renato Westphal und Editora União Cristã

Originaltitel: O Oitavo Dia – na era da seleção artificial.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Cover: Kai-Michael Gustmann, Leipzig

Satz: Katja Rub, Leipzig

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2016

ISBN 978-3-374-04384-2

www.eva-leipzig.de

Vorwort

Globale Bildung stellt eine der zentralen Herausforderungen der Gegenwart dar. Wenn wir heute unseren Lebenslauf bewusst gestalten wollen, kommen wir nicht umhin, „die Welt“ in unser Denken und Handeln mit einzubeziehen. Von der Urlaubsgestaltung bis hin zu unserem Konsumverhalten in Sachen Nahrung oder Kleidung haben globale Vernetzungen (und deren Probleme) längst Einzug gehalten in alltägliche Entscheidungsprozesse. In der Ökumenischen Bewegung wird seit den 1950er Jahren darüber nachgedacht, wie diese zunehmend als alltäglich empfundene und tatsächlich auch wirkende Globalisierung theologisch buchstabiert werden kann. Welche Herausforderungen bringen die Veränderungen für das Verständnis des christlichen Glaubens mit sich? Und umgekehrt: Wie beeinflusst der christliche Glauben die Sichtweise auf die globalen Entwicklungen?

An einem aktuellen Themenfeld, der Biotechnologie unter besonderer Berücksichtigung der Bioethik, hat der brasilianische Theologe, Ethiker und Kulturwissenschaftler Euler Renato Westphal die Verschränkung dieser beiden Frageperspektiven in einer kritischen Auseinandersetzung mit dem vermeintlich so offenen und vorurteilsfreien Gegenwartskontext der Postmoderne zusammengeführt. Mit der Lesebrille des lutherischen Theologen nähert er sich relevanten Fragen auf diesem Feld: von der Genforschung über die Biopiraterie bis hin zu Patentierungsverfahren im biologischen Bereich. Seine ursprünglich auf Portugiesisch erschienene Studie wird hier mit zwei kurzen, kommentierenden Einleitungstexten der beiden Herausgeber der deutschsprachigen Diskussion zugänglich gemacht.

Diese Übersetzung ist das Ergebnis eines mehrjährigen wissenschaftlichen Austauschs von Euler Renato Westphal mit dem an der Friedrich-Schiller-Universität Jena im Rahmen des Instituts für Bildung und Kultur angesiedelten Kollegs Globale Bildung. Westphal war im Sommer 2015 als Gastprofessor an diesem Kolleg Globale Bildung tätig, um neuere Forschungen zur Toleranz-Thematik durchzuführen und letzte Feinheiten dieses Publikationsprojektes abzustimmen. Die vorliegende Übersetzung ins Deutsche folgt dabei der englischen Fassung von „O Oitavo dia – na era da seleção artificial“, die von Raphaelson Steven Zilse erstellt worden war.

Euler Renato Westphal (Jahrgang 1957) wurde in Rio do Sul, Bundestaat Santa Catarina, Brasilien, geboren. Seine Vorfahren waren Mitte des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts aus Deutschland nach Brasilien ausgewandert. Seinen Bachelor-Abschluss in Theologie erwarb er an der Escola Superioir de Teologia der Evangelischen Kirche Lutherischen Bekenntnisses in Brasilien. Von 1978 bis 1982 studierte er auch am theologischen Seminar der Pilgermission St. Chrischona in der deutschsprachigen Schweiz. Für acht Jahre praktizierte Euler Renato Westphal als Pfarrer und Missionar bei der Missão Evangélica União Cristã (MEUC), einer evangelischen Missionsorganisation in der Tradition der Reformation und des Pietismus, die auf eine lange Geschichte zurückblicken kann. Dieser Ableger der Gnadauer Brasilien-Mission entwickelte sich nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer starken missionarischen Bewegung innerhalb der Evangelischen Kirche Lutherischen Bekenntnisses in Brasilien (IECLB). In seiner Zeit bei der MEUC gründete Westphal im brasilianischen Blumenau zwei sozialdiakonische Einrichtungen, die sich im Bereich der Armenfürsorge und der Arbeit mit Drogenabhängigen engagieren.

Seit 1986 lehrt Westphal an der Faculdade Luterana de Teologia in São Bento do Sul und an der Universidade da Região de Joinville – UNIVILLE in Joinville im brasilianischen Bundesstaat Santa Catarina. 1998 schloss er seine Promotion in Theologie ab. Seine Dissertation verfasste er zu dem Thema „Der christliche Gott. Eine Studie über die trinitarische Theologie des Leonardo Boff“. Leonardo Boff (Jahrgang 1938) gilt als einer der Hauptvertreter der sogenannten Befreiungstheologie, die christliches Denken und Handeln eng mit der Idee der Menschenrechte verknüpft hat. Aktuell ist Euler Renato Westphal Professor für Ethik an der Universität Joinville und Professor für Systematische Theologie an der Faculdade Luterana de Teologia in São Bento do Sul.

Westphal arbeitet schwerpunktmäßig zu Wissenschaftsphilosophie und zu evangelisch-lutherischer Theologie. Zudem – und das ist der Schwerpunkt der vorliegenden Studie – setzt Westphal sich mit Fragestellungen auseinander, die erst im Prozess des technischen Fortschritts der Lebenswissenschaften an Bedeutung gewonnen haben. Dabei berücksichtigt er sowohl bioethische als auch technikethische Perspektiven. Hierbei verbindet er Motive der Befreiungstheologie, technikkritische Argumentationslinien sowie einen hermeneutischen Ansatz und schafft so eine auch methodologisch in sich selbst interessante Perspektive.

An der Universität Joinville ist er aktiv in die Gestaltung des Magisterprogramms für Kultur, Gesellschaft und kulturelles Erbe eingebunden, das am Jenaer Institut für Bildung und Kultur im Master-Studiengang „Bildung – Kultur – Anthropologie“ eine Parallele hat. Euler Renato Westphal hat bislang fünf Bücher und zahlreiche wissenschaftliche Beiträge vorgelegt. Seine Schriften sind in portugiesischer Sprache verfasst, zum Teil jedoch auch in deutscher Sprache erschienen. Er lebt mit seiner Frau Simony, die als Lektorin tätig ist, in São Bento do Sul, Santa Catarina, und hat drei Kinder.

Es ist uns eine große Freude, das vorliegende Buch als Ausdruck der deutsch-brasilianischen Kooperation vorlegen zu können. Die kritischen Impulse, die von einer theologischen Sicht auf die Welt inspiriert werden, erscheinen als notwendige kulturelle Korrektive in einer Zeit, in der vermeintlich keine großen Erzählungen mehr existieren. Der calvinistische Philosoph, Pädagoge und Kulturkritiker Jean-Jacques Rousseau hatte bereits Mitte des 18. Jahrhunderts auf die Notwendigkeit hingewiesen, sich nicht vom angeblich so vorurteilsfreien, wertneutralen und alternativlosen Glauben an den Fortschritt einlullen zu lassen. Dabei kann es heute gewiss nicht um eine Zurückweisung des Fortschritts an sich gehen. Eine kritische Analyse der offenen, zumeist aber verdeckten Normen und Wertmaßstäbe scheint jedoch notwendiger denn je, denn Manches, was selbstverständlich erscheint, ist es vielleicht gar nicht.

Jena, im Spätsommer 2015

Ralf Koerrenz

Sebastian Engelmann

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Geleitwort zur deutschen Ausgabe

Ralf Koerrenz

Menschliche Perfektion in der vermeintlichen Leere – Der Tanz um das Goldene Kalb in der Gegenwart

Sebastian Engelmann

Biopiraterie und Gerechtigkeit – Eine einführende Übersicht

Euler Renato Westphal

Protestantische Orientierungen in einer postmodernen Kultur

Einleitung

„Der Kampf gegen die Universalien“

Die Kriterien der Leistung und Funktionalität

Interdisziplinäres Wissen

Eugenische Utopien der Postmoderne

Experimente an Menschen Das neue Design der Bricolage

Möglichkeiten und Grenzen der neuen biotechnologischen „Architektur“

Die Patentierung von Lebewesen

Die Logik des ökonomischen Liberalismus und der Patentierung

Eine Kritik des ökonomischen Liberalismus

Eigentum und Nahrungsproduktion

Die Neoliberale Logik der Patentierung

Biopiraterie

Postmoderne Sklaverei Die Abschaffung der Sklaverei

Biotechnologische Sklaverei

Das Prinzip Verantwortung

Technik und Bioethik: Konfrontation oder Dialog?

Weitere Bücher

Fußnoten

Geleitwort zur deutschen Ausgabe

Rund elf Jahre sind vergangen, seit das Buch O Oitavo dia na era da seleção artificial im Verlag der Editora União Cristã in Brasilien erschienen ist. Seitdem habe ich einige andere Bücher und Artikel verfasst, die die Themen dieses Buches aufgenommen und akzentuiert haben. In der Zwischenzeit haben sich vielleicht einige Probleme verlagert, ihre Aktualität aber haben sie nicht verloren.

Die vorliegende Publikation möchte keine wissenschaftliche Studie über Biologie oder Medizin sein. Es handelt sich auch nicht um eine philosophische Abhandlung im strengen Sinne des Wortes. Vielmehr sollen Anregungen für den Humanisierungsprozess in der Medizin formuliert werden, die vom Prinzip der Verantwortung hergeleitet werden.

Das ethische und theologische Kernproblem lautet: Wenn der Mensch sich als Maßstab aller Dinge sieht, wird er selbst zum Gott über alles Geschöpfliche. Im gewissen Sinne könnte man dann von einer Säkularisierung der christlichen Heilsgeschichte sprechen, denn die alte Schöpfung wird durch Neuschöpfungen ersetzt. Die Performativität der Postmoderne wird als ein neues Evangelium proklamiert: Neues wird geschaffen, eine neue Ethik, neue Wahrheiten werden verkündigt. Diese Neuschöpfungen sind auf eine Erlösung ausgerichtet, die sich in der Produktion einer heilen und gesunden Person ausdrückt. Die eschatologische Perspektive ist dabei, dass wir als Menschen selbst einen neuen Himmel und eine neue Erde, ein neues Paradies ohne Leiden schaffen werden, welches bereits in der nahen Zukunft eintreten soll. Ein Weg zu diesem neuen Himmel und dieser neuen Erde führt dann durch das Enhancement der Embryone, damit Kinder eugenisch perfekt zur Welt kommen können.

Diese Erwartungen an Heil und Zukunft sind eng verbunden mit einem bestimmten Verständnis von Wissenschaft, das in der sogenannten Postmoderne die Oberhand gewonnen hat. Dies berührt unmittelbar auch das Verhältnis von Wissenschaft und Religion. Das Problem der Postmoderne besteht danach nicht in dem Antagonismus zwischen Wissenschaft und Religion an sich. Es geht vielmehr um eine Auffassung von Wissenschaft, in der die Wissenschaft selbst zur Religion wird, indem sie totalisierende Antworten auf Kernfragen des Menschlichen geben will und so eine neue Art der messianischen Hoffnung mit Naherwartungstendenz formuliert.

Im vorliegenden Gedankengang geht es mir nicht um eine feindliche Einstellung gegenüber der Wissenschaft an sich. Es geht mir auch nicht darum, die Patentierung von Erfindungen an sich in Frage zu stellen. Ein wesentlicher Punkt ist jedoch, dass Patentierungen von Entdeckungen von Lebewesen, die dann als commodities behandelt werden, unwürdig sind. Meine Überlegungen sollen als Impulse verstanden werden, die zum kritischen Nachdenken im interdisziplinären Gespräch zwischen Theologie, Bioethik und Medizin beitragen.

Ich danke Prof.Dr.Dr.Ralf Koerrenz, Leiter des Kollegs Globale Bildung am Institut für Bildung und Kultur der Friedrich-Schiller-Universität Jena, herzlich, dass er als Herausgeber die Publikation des Buches in einer deutschen Fassung möglich macht. Es war eine bereichernde Erfahrung, im Sommer 2015 als Gastprofessor am Kolleg Globale Bildung tätig gewesen zu sein. Danken möchte ich auch Sebastian Engelmann M. A., der den Text aus der englischen Version ins Deutsche übersetzt hat, für die kritischen Gespräche und Anregungen im Zuge der Übersetzung. Mein Dank gilt ebenfalls Raphaelson Steven Zilze, der den Text ursprünglich aus dem Portugiesischen ins Englische übersetzt hat. Dem Verlag Editora União Cristã – São Bento do Sul in Brasilien – und insbesondere Rolf Fitzlaf danke ich für die freundliche Erlaubnis der Publikation in deutscher Sprache.

Der vorliegende Text ist das Ergebnis von interdisziplinären Diskussionen, die ich mit Professoren und Studierenden der Medizin, Jura, Theologie, Biologie, Architektur an der Universidade da Região de Joinville – UNIVILLE – Joinville im Bundesstaat Santa Catarina im Süden Brasiliens geführt habe. Das Buch ist von einer Perspektive innerhalb der Lutherischen Theologie in Brasilien bestimmt, die den Konflikt von Arm und Reich, von Nord und Süd zum Ausgangspunkt nimmt. Die geographische und kulturelle Perspektive aus der südlichen Halbkugel ist eine andere als die der Länder, die in der nördlichen Halbkugel über größere politische und wirtschaftliche Machtressourcen verfügen. Dennoch wäre es zu leicht, in eine Art hegemonialen Manichäismus zu verfallen, nach dem die nördlichen Länder Ausbeuter sind und die südlichen Länder die Unterdrückten. Die Lage ist vielfältiger und komplexer als das simple Schema von Unterdrücker und Unterdrückten. Die hermeneutischen Überlegungen müssen von den Problemlagen ausgehen und in diese eine kritische Diskussion der vermeintlichen Selbstverständlichkeiten eintragen. In diesem Sinne grüße ich die Leserinnen und Leser der deutschen Ausgabe herzlich und wünsche eine herausfordernde Lektüre.

Euler Renato Westphal

Jena, Juli 2015

Menschliche Perfektion in der vermeintlichen Leere – Der Tanz um das Goldene Kalb in der Gegenwart

Ralf Koerrenz

Das „Goldene Kalb“ ist ein Motiv, das die hebräische Überlieferung den monotheistischen Religionen in ihr ethisches Gewissen eingeschrieben hat. Dieses Motiv steht für die Tendenzen, mit denen der Mensch seit alters her innerweltliche Instanzen oder sich selbst zum letzten Maßstab des Denkens und Handelns machen wollte. Es scheint ein unzerstörbarer Drang des Menschen sowohl als Individuum als auch als Gattungswesen zu sein, nach glänzenden Mittelpunkten zu suchen. Der Tanz um eine solch strahlende Mitte erleichtert dann den Alltag, weil es dem lernenden Streben des Menschen eine entlastende Orientierung zu geben vermag. Die entlastende Orientierung resultiert daraus, dass durch die Strahlkraft der Mitte vorgegeben ist, worauf sich das Streben des Erkennens und Handelns richten soll. Vor allem aber ist mit dem Motiv des „Goldenen Kalbs“ in biblischer Sicht die verhängnisvolle Konsequenz verbunden, dass der Mensch sich selbst in einer Art tänzerischer Selbstvergessenheit für die letzte Autorität seiner Existenz hält. Eine solch verblendete Gewissheit erhält er durch Identifikation – durch eine Identifikation des menschlichen Lebens schlechthin mit der Sinnstiftung, die von dem Verehrungsappell des Goldenen Kalbes ausgeht. Raum gewinnt eine solche Mitte nach der biblischen Erzählung erst dann und nur dann, wenn der Mensch vergessen hat, dass er als Geschöpf nur Gast auf Erden ist und in dieser Gastrolle in seinem Denken und Handeln dem Schöpfer rechenschaftspflichtig ist. Einen Sinn, der innerweltlich von einem Kalb – wie glänzend dies auch sein mag – ausgeht, gibt es dann nicht. In einer Kritik des Goldenen Kalbes wird die

Welt wohltuend sinnlos und öffnet so zugleich die Ahnung für das Nicht-Feststellbare.

Die Geschichte der menschlichen Kultur ist eine Geschichte der Goldenen Kälber. Es gibt keine menschliche Existenz, es gibt keine menschliche Kultur ohne sie. Die Botschaft der hebräischen Überlieferung ist immer nur die eines notwendigen, eines unverzichtbaren Korrektivs. Realität hat der Einspruch gegen die Goldenen Kälber in der historischen Rückschau allenfalls am Rande gefunden: als Einspruch und Widerspruch der Ketzer gegen die Machtstrukturen der Kultur. Die grundlegende Verdorbenheit der Kultur zeigt sich nicht zuletzt an denen, die sich auf die Geschichte der Differenz von Gott und Götze berufen haben. Selbst die Prediger einer kritischen Skepsis gegenüber den Kälbern, die Kirchen, wandelten sich in der Geschichte nur allzu oft in Zuchtanlagen der Legitimation und Stabilisierung innerweltlicher Herrschaft, die mit Repression, Ausbeutung und Unterdrückung einhergegangen sind. Der kolonialisierte Süden – und nicht nur der – kann endlose Lieder darüber singen.

Die äußere Gestalt dieser Kälber mit ihren Gefolgschaftsansprüchen wechselt von bedrückender Direktheit (vor allem in Gestalt fundamentaler politischer oder religiöser Alleindeutungsansprüche) bis hin zur scheinbaren Verflüchtigung des Goldenen Kalbes an sich. Die letztgenannte Form der scheinbaren Verflüchtigung des Goldenen Kalbes als der vielleicht subtilsten Form des Herrschaftsanspruchs ist Thema des Buches von Euler Renato Westphal: die menschliche Existenz im illusionären Gestus der Postmoderne. Das Goldene Kalb der Gegenwart wird getragen von einem Paradox: Auf der einen Seite scheint es gar nicht mehr existent, um auf der anderen Seite genau in der Behauptung seiner Nicht-Existenz im Gewand einer Vision der zu perfektionierenden Menschen eine geradezu neokolonialistische Herrschaft zu legitimieren. Das Bild einer Postmoderne, in dessen vermeintlicher Leere vorgeblich kein Platz mehr für umgreifende, sinnstiftende Erzählungen ist, gewinnt seine farbige Leuchtkraft durch eben solche, vermeintlich nicht existente sinnstiftende Erzählungen wie die der Perfektionierung des Menschen durch biotechnischen Fortschritt. An die Stelle des offen verkündeten Glaubens an Etwas als sichtbare Symbolisierung des Goldenen Kalbes sei – so die große Erzählung der Postmoderne – der endgültige Verlust großer Erzählungen getreten. Die größte Erzählung der Gegenwart ist dann die vermeintlich voraussetzungsfreie Kritik an allem Gegebenen, die umso fester um das menschliche Verstandes- und Urteilsvermögen als dem goldenen Kalb der Gegenwart tänzelt. Die Berufung auf eine kritische Instanz jenseits des Menschen erweckt Verdacht – im gewissen Sinne mit gutem Recht, letztlich jedoch als Gestus der menschlichen Erhebung über sich selbst.

Dieser Konstellation will der nun in deutscher Übersetzung vorliegende Text „Protestantische Orientierungen in einer postmodernen Kultur. Bioethische Herausforderungen und lutherische Theologie“ von Euler Renato Westphal auf die Spur kommen. Der Text wurde zunächst im Jahr 2004 im Verlag União Cristã in portugiesischer Sprache veröffentlicht. Sein Titel lautet im Original: „O Oitavo dia – na era da seleção artificial“ (Der Achte Tag – Im Zeitalter der künstlichen Auslese). In der unveröffentlichten englischen Übersetzung wurde der Untertitel „An analysis on the post-modern thought, its esthetic expressions and its scientific practice“ hinzugefügt, aus dem das Motiv der Postmoderne in den Titel der deutschen Ausgabe übernommen wurde.

Thematisch verbindet der Text in seiner von lutherischer Theologie getragenen Kulturkritik sehr unterschiedliche Ebenen und Motive: Die philosophisch fundierte Analyse der Bedingungen und Möglichkeiten der Postmoderne wird mit einem kritischen Blick auf den Bereich der Biotechnologie verbunden. Dieser kritische Blick wird gespeist von ethischen Grundsatzüberlegungen insbesondere mit Blick auf eine zunehmende Ökonomisierung der Biotechnologie. Das Erkenntnisinteresse richtet sich dabei auf die Strategien, mit denen biotechnologische Forschung und die Anwendung von deren Ergebnissen legitimiert werden. Im Hintergrund der so beschriebenen Tendenzen in der Wissenschaft scheint ein neues Forschungsparadigma auf. Dieses Paradigma sieht Westphal in der Herangehensweise der Bricolage, in der es um eine spielerische Verknüpfung von oftmals kontrastiv gedachten Elementen geht. Performativität, Nützlichkeit und Lukrativität sind Bausteine für jene Strategie, mit der in der Postmoderne Denken organisiert und Handeln legitimiert wird. Das ursprünglich von Claude Lévi-Strauss als Bricolage bezeichnete Vorgehen, zu nehmen und zu verknüpfen, was vorgefunden wird, ohne nach einer die Ordnung steuernden externen Instanz zu fragen, eröffnet insbesondere Bereichen wie der Biotechnologie eine Grundlage, auf der bestimmte Entwicklungen ihren Eigen-„Sinn“ entfalten. Diese neuen Sinnstrukturen stehen in Spannung zu der von Jean Francois Lyotards in seinem Essay Das Postmoderne Wissen formulierten Beobachtung, die Zeit der großen Erzählungen wie die eines Schöpfergottes und eines diesem verpflichteten Menschen sei vorbei. Zugestanden wird die Beobachtung, dass augenscheinlich in einer neuen Qualität eine Leere entstanden ist. Dies aber ist bei genauerem Hinsehen gerade die große Illusion der Postmoderne, weil es eine solche Leere nicht geben kann und Kultur immer – um in der Sprache dieses Vorworts zu bleiben – als Tanz um goldene Kälber organisiert ist. Westphals Argumentation zufolge ist es die Biotechnologie, die sich aufgrund des Verfalls der großen Metanarrationen und dem Abgesang der Postmoderne auf Universalien zu ungeahnten Höhen aufschwingt. Obwohl Universalien, systematische Welterklärungsmuster und übergreifende Ordnungsprinzipien in dem Verständnis von Postmoderne eigentlich nicht mehr vorhanden sein können, wird die nun frei gewordene Stellung im Koordinatensystem der Wirklichkeit faktisch neu besetzt. Die Biotechnologie – so Westphal – setze sich als neue, gottgleiche Instanz, die in sich selbst Heilsversprechen wie die Heilung von Krankheiten, die Perfektionierung des Menschen und in letzter Konsequenz das ewige Leben bereithält. In früheren Zeiten seien diese Heilaussichten klassischen religiösen Erzählungen zugerechnet worden.

Die neue Erzählung der Biotechnologie legitimiert sich selbst über Motive der Überwindung und ein neues Heilsversprechen. Die Abhängigkeit des Menschen vom eigenen Körper und von genetischen Vorprogrammierungen könne demnach durch die Fortschritte der Biotechnologie nicht nur genauer in den Blick genommen, sondern auch modifiziert und zum Positiven gewendet werden. Perspektivisch geht es um die Formung des besseren, in letzter Konsequenz um die Formung des perfekten Menschen. Die Kultur hat damit eine neue Mitte, von der sie behauptet, dass es gar keine Mitte im Sinne einer Großerzählung wäre, weil es diese ja in der Postmoderne eigentlich gar nicht geben dürfe. Der Sache nach aber hat das Goldene Kalb der Gegenwart zu seinem strahlenden neuen Gesicht gefunden.

In dieser Veränderung der Wissenschaft in der Postmoderne sieht Westphal seine These von den eugenischen Utopien der Postmoderne bestätigt. Biotechnologie verkündigt in der Postmoderne als Botschaft, im Dienste des Menschen die Natur dem Menschen im Sinne eines unbedingten Herrschaftsauftrages untertan zu machen. Solange die Natur den Menschen etwas nutzt, hat sie dabei für die Menschen auch einen Wert. Sobald die Natur aber nicht mehr nützlich ist oder nutzbar gemacht werden kann, verliert sie ihren Wert. Diese Motive lassen erkennen, dass Westphal an dieser Stelle die Biotechnologie als Religionsersatz in Position bringt. In dieser Sichtweise auf die der Biotechnologie innewohnende Gestaltungslogik sei die technische Ermöglichung des ewigen Lebens die letzte,