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Im Jahr 2059 haben multinationale Großkonzerne die Welt unter sich aufgeteilt. Um im harten Konkurrenzkampf zu bestehen und auch die entlegensten Orte ausbeuten zu können, nimmt der Einsatz von künstlichen Menschen immer mehr zu. Jesko Rudolph arbeitet als Problemlöser für LupoTek und muss so manche Schweinerei des Konzerns bereinigen. Als die hauseigene Söldnergruppe Jagd auf scheinbar willkürlich ausgewählte Personen macht, wird Jesko neugieriger, als es in seinem Job gut ist. Schon bald kreuzt er den Weg des Ermittlers Ilja Costello, der auf Konzerne nicht gut zu sprechen ist. Die beiden Männer liefern sich ein Wettrennen, um die wahren Hintergründe der Ereignisse zu ergründen. Doch während Costello sie aufdecken will, muss Jesko alles vertuschen. Bald wird klar, dass es nicht nur um Macht und finanzielle Gewinne geht, sondern auch um ein dunkles Geheimnis, das die bestehenden Verhältnisse verändern kann. Inspiriert von seinen beiden früheren Deinoid XT-Romanen "Mein Babylon" und "Exodus" von 2017, hat der Autor mit "PROTOTYPEN" eine vollständig überarbeitete, eigenständige Neufassung geschaffen.
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Seitenzahl: 348
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Andreas Zwengel
PROTOTYPEN
© Copyright Andreas Zwengel
© Copyright 2025 der E-Book-Ausgabe bei Verlag Peter Hopf
Kuhlenstraße 1A, 32427 Minden
www.verlag-peter-hopf.com
ISBN 978-3-86305-392-5
Korrektorat: Andrea Velten, Factor 7
Cover und Umschlaggestaltung: Jörg Jaroschewitz, etageeins
Titelillustration © [email protected]
Alle Rechte vorbehalten
Die in diesem Roman geschilderten Ereignisse sind rein fiktiv.
Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Begebenheiten, mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre rein zufällig und unbeabsichtigt.
Der Nachdruck, auch auszugsweise, die Verarbeitung und die Verbreitung des Werkes in jedweder Form, insbesondere zu Zwecken der Vervielfältigung auf fotomechanischem, digitalem oder sonstigem Weg, sowie die Nutzung im Internet dürfen nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages erfolgen.
Mit einem Mal war sie bei Bewusstsein. Sie breitete reflexartig die Arme aus, die sofort gegen einen Widerstand stießen. Wo war sie? Und wer war sie? Namenlos und ohne Gedächtnis fand sie sich in einer Röhre wieder, aus der Flüssigkeit ablief. Sie würgte an einem Schlauch in ihrer Kehle und zog ihn in einer schnellen Bewegung heraus.
Sobald die Flüssigkeit zu ihren Füßen versiegt war, öffnete sich die Röhre, und sie konnte heraustreten. Der enganliegende Overall war weniger Kleidung als ein Ganzkörpermessinstrument. Es speicherte alles, was in ihrem Körper vorging, und im Moment produzierte er ausschließlich Extremwerte. Sie trug keine Fesseln mehr, besaß aber eine intensive Erinnerung an die enge Umklammerung an ihren Handgelenken. Alle Sicherungen waren weg, nur die Schläuche des Overalls verbanden sie noch mit der Maschine. Mit einem einzigen Schlag ihres Unterarms löste sie die Verbindung. Wer hatte sie aufgeweckt und befreit?
Sie befand sich in einem riesigen Labor, das in viele gläserne Module unterteilt war. Auch in den anderen Abteilungen standen Röhren wie ihre, und alle waren leer. Es gab andere wie sie, das wusste sie, auch wenn sie noch nie direkten Kontakt zu ihnen gehabt hatte. Wo waren sie hin? Wurden sie ebenfalls befreit? Anscheinend hatte man ihren Behälter zuletzt geöffnet.
Niemand war da, um ihr den Weg in die Freiheit zu zeigen. Sie musste aus diesem Labor heraus, fühlte sich aber noch schwach. Schwer atmend stützte sie sich gegen die durchsichtige Trennwand. Brandfest, strahlenundurchlässig und vor allem bruchsicher.
Am Eingang zum Labor sah sie bewaffnete Männer und Frauen hereindrängen. Gleichzeitig öffneten sich die Module, indem sich ein einzelnes Glaspaneel in den Boden absenkte. Was zuvor ihr Gefängnis gewesen war, hätte ihr nun als Schutzraum dienen können, wenn die Bewaffneten nicht den Schlüssel zu allen Modulen besessen hätten. Als sie ihr Ziel ausmachten, schossen sie sofort. Das durchsichtige Material hielt der ersten Salve stand, verwandelte sich aber in ein Meer aus Spinnennetzen. Die Eindringlinge verteilten sich. Das waren nicht die regulären Sicherheitskräfte, die Unbefugte am Betreten der Labore hindern sollten. Diese Leute hatten eine andere Aufgabe. Sie sollten verhindern, dass jemand das Labor verließ, und sie waren spezialisiert auf solche Tätigkeiten.
Namenlos wusste das, ohne sagen zu können, woher ihr Wissen stammte. Das galt auch für die ganzen anderen Informationen, die unaufhörlich auf sie einprasselten. Sie nahm alles wahr, was um sie herum geschah. Doch das war noch nicht alles, denn sie konnte es auch augenblicklich einordnen und interpretieren.
Die zweite Salve ließ die komplette Trennwand einstürzen, doch Namenlos war längst aus ihrem Modul heraus und bemühte sich, so viele andere wie möglich zwischen sich und die Schützen zu bringen. Sie erreichte eine gläserne Außenwand des Gebäudes und warf einen Blick nach draußen. Sofort erkannte sie ihren Standort, schätzte ihre Höhe anhand der umstehenden Gebäude ein und rief sich den Umgebungsplan ins Gedächtnis. Sie sah nur einen Weg nach draußen, und der führte durch die Fenster.
Die Bewaffneten, deren Name irgendwas mit einer Schildkröte zu tun hatte, bewegten sich immer schneller zwischen den Modulen hindurch. Sie ahnten, was ihre Zielperson beabsichtigte, auch wenn es ein völlig wahnwitziges Vorhaben war.
Namenlos wandte sich nach links und rannte auf die Fenster zu, die nach Osten führten. Sie hatte berechnet, wie weit sie sich bei ihrem Sprung vom Gebäude entfernen musste, um nicht unten auf der gepflasterten Promenade aufzuschlagen. Was sie nicht berechnen konnte, war der Widerstand, den die Fensterscheibe leisten würde. Es handelte sich bestimmt um Sicherheitsglas. Sie legte alle verfügbare Kraft in den Anlauf, während die Bewaffneten auf sie feuerten. Die sündhaft teure Laboreinrichtung wurde nicht geschont. So wichtig war es ihnen, sie aufzuhalten.
Im Laufen griff sie einen schweren Schreibtischstuhl an der Lehne und schleuderte ihn mit dem schweren Metallgestell der Rollen voraus gegen die Scheibe. Das Glas brach zwar nicht, bekam aber lange Risse. Ihr blieb keine Gelegenheit für einen zweiten Versuch. Wenn die Scheibe nicht nachgab, würden ihre Verfolger sie zusammenschießen, bevor sie ein zweites Mal Anlauf nehmen konnte.
Namenlos warf sich mit gekreuzten Armen vorwärts, das Glas gab nach, und sie befand sich in einem Splitterregen im Freien, weit oberhalb der Uferpromenade. Rasend schnell ging es nach unten, wo die Elbe gegen die Bruchsteinmauer stieß. Da endlich fiel ihr wieder ein, wie ihr Name lautete.
»Es hat ein Feuergefecht gegeben. Mit Toten. Vielen Toten. Flieg rüber und klär die Sache. Die Geier sind schon unterwegs.« Mit diesen Worten beendete sein Vorgesetzter das Gespräch und ließ Jesko Rudolph mit dem Problem allein.
Er hörte bereits den Quadrocopter, der sich dem Dach des Wohnturms näherte, um ihn aufzunehmen. Jesko zog seine Arbeitskleidung an und verließ seine Wohneinheit, die sich automatisch versiegelte. Die Sensoren des Aufzugs registrierten seine Annäherung und riefen eine Kabine auf das Stockwerk. Nach einer kurzen Beschleunigung aufwärts öffneten sich die Lifttüren, und Jesko trat auf dem Dach in den übelriechenden Nieselregen hinaus. Er hatte Glück mit dem Wetter, da es beinahe windstill war. Normalerweise kam einem in dieser Höhe der Regen waagerecht entgegen.
Der mattschwarze Quadrocopter mit der chromgelben Beschriftung schwebte einen halben Meter über der Landemarkierung und erwartete ihn. Jesko hielt seinen imprägnierten Regenmantel vorne mit einer Hand zusammen und eilte mit gesenktem Kopf auf die Einstiegsluke zu.
»Moin, Jesko«, grüßte der Pilot. Peety war knapp unter mittelgroß, besaß einen lockigen Haarkranz aus feuerrotem Haar und einen buschigen Schnauzbart, der so altmodisch war, dass ihn niemand historisch einzuordnen vermochte. Ihn einen Piloten zu nennen, wurde seinen Funktionen und Fähigkeiten nicht einmal annähernd gerecht. Der autonome Quadrocopter brauchte im Grunde niemanden, der ihn lenkte, aber dieses unscheinbare Männlein war in der Lage, ihn während des Fluges vollständig auseinanderzunehmen und wieder zusammenzusetzen, während er Verbesserungsvorschläge für die nächste Modellreihe entwickelte.
Jesko nahm Platz, und die Gurtautomatik schloss sich. Augenblicklich stiegen sie auf und schwenkten von dem Wohnturm weg. Peety beschleunigte und verließ das Stadtgebiet von Bremerhaven. Sie überflogen das Niemandsland zwischen den Stadtgrenzen und erreichten die ersten Kontrollpunkte für den Großraum Hamburg.
Autonome Transporter und Gleiter bevölkerten den Himmel, darunter kamen die Hochbahnen und schließlich die Straßenbahnen und Busse. Einzelfahrzeuge waren größtenteils aus dem Stadtverkehr verbannt, aus dem einfachen Grund, weil es keinen Platz mehr für sie gab. Je weniger Geld jemand besaß, desto dichter musste man sich am Boden bewegen. Das günstigste Verkehrsmittel blieb die U-Bahn.
Sieben Minuten später näherten sie sich dem Tatort aus der Luft, eine Rauchsäule wies ihnen den Weg. Es machte den Eindruck, als befänden sie sich im Anflug auf ein Kriegsgebiet, aber tatsächlich handelte es sich um die Innenstadt von Hamburg.
Jesko hatte bereits während des Fluges sichergestellt, dass die Straße und die umliegenden Häuser wegen ungesicherter Sprengsätze geräumt wurden. Er konnte nicht mehr sagen, wie oft sie diesen Vorwand in der Vergangenheit schon benutzt hatten. Aber da es täglich überall auf der Welt Bombenanschläge gab, musste man bei einer solchen Sachlage nicht lange diskutieren. Niemand hielt es heutzutage für abwegig, dass zwei Straßengangs, die sich eine Schießerei lieferten, auch Sprengsätze mit sich führten. Laut der verbreiteten Tarngeschichte hatte eine Straßengang, wahrscheinlich die HH-Hools oder kurz H3, ein Drogenlabor oder einen Unterschlupf einer konkurrierenden Gang angegriffen. Unbestätigten Gerüchten zufolge eine norwegische Bande, die in der hiesigen Branche Fuß fassen wollte. Das mochte beim ersten Hören merkwürdig klingen, würde aber die Geier für eine Weile mit Recherchen zu den Expansionsbestrebungen skandinavischer Straßengangs beschäftigen. Mehr brauchte Jesko nicht.
Der Quadrocopter setzte ihn am Rand der Absperrung ab. Er hatte sich aus der Luft einen Überblick von der Umgebung verschafft. Die Schießerei war auf einen Straßenzug begrenzt geblieben, was auf jeden Fall ein Vorteil war, aber keine Selbstverständlichkeit bei einem Turtle Shield-Einsatz. Augenzeugen dürfte es wenige geben, denn in den heutigen Zeiten eilten die Menschen bei Schüssen nicht ans Fenster, um nachzuschauen, was vorging, sondern warfen sich auf den Boden und blieben dort, bis jemand Entwarnung gab. Außerdem besaßen viele Gebäudetroniken eine automatische Sicherheitsvorkehrung, die die verstärkten Rollläden an den Fenstern zum Herabfahren veranlasste, sobald die Sensoren Gefahr meldeten.
Jesko überzeugte sich davon, dass die eintreffenden Medien von ihrem Standplatz aus nichts erkennen konnten. Die City-Police hatte den Straßenzug an beiden Enden abgeriegelt und große Sichtschutzschirme aufgestellt. Mehr durften sie kaum noch tun, bevor Leute wie Jesko übernahmen. Entsprechend frustriert waren die Männer und Frauen in Uniform. Wenn sie Glück hatten, bekamen sie Gelegenheit, eine Spähdrohne der Medien-Geier abzuschießen, die unberechtigt in den gesperrten Luftraum eindrang. Aber solche Vergnügen waren selten geworden, weil der Verlust einer Drohne für die Geier einen hohen Kostenfaktor darstellte. Das Gejammer über fehlende Pressefreiheit mochte gerechtfertigt sein, aber Jeskos Arbeit hatten die Abschüsse fraglos erleichtert.
Er näherte sich an einer unauffälligen Stelle der Absperrung. Ein Stadtpolizist trat ihm mit erhobener Hand entgegen: »Na, was kann ich für dich tun, Kumpel?«
Jesko hielt ihm seinen Mitarbeiterausweis unter die Nase, während er vorüberging. »Jesko Rudolph, LupoTek.«
Sofort verfinsterte sich die Mine des Polizisten noch um einiges mehr. Es war offensichtlich, was den Mann so gegen ihn einnahm. Jesko hatte als Privatmann eine höhere Sicherheitseinstufung als er selbst. Diese Reaktion kannte Jesko zur Genüge und hatte längst aufgehört, ihr entgegenzuwirken.
Er war erfolgreicher Problemlöser eines multinationalen Großkonzerns, aber er gab zu, dass er nicht unbedingt der landläufigen Vorstellung eines solchen Spezialisten entsprach. Er war afrikanischer Abstammung, ohne ebensolche Wurzeln, litt milde an seinem Übergewicht und trainierte seit seinem achten Lebensjahr täglich Aikido, weil eine sportliche Betätigung im Leben wichtig war und man als dickes schwarzes Kind keine leichte Schulzeit hatte. Darüber hinaus pflege Jesko eine gewisse Schlampigkeit im Äußeren und penible Korrektheit bei seiner Arbeit. Wobei sein Erscheinungsbild eigentlich keine Rolle spielte, denn sein Mitarbeiterausweis sicherte ihm in weiten Teilen der Welt die Unterstützung von Konzernmitarbeitern und verlieh ihm innerhalb von Hamburg sogar Halbgottstatus.
Das Ablenkungsmanöver für die Geier von der Presse war sofort nach seiner Benachrichtigung gestartet worden. Die Problemlöser von LupoTek verfügten über feste Einsatzkonzepte für ihre Einsätze. Ein Basisprotokoll, das sofort umgesetzt wurde, damit man Zeit gewann, um individuelle Begebenheiten zu ermitteln und sich darauf einzustellen.
Schritt 1: Sie verhängten eine Nachrichtensperre, um weitere Schaulustige abzuhalten, anschließend kümmerten sie sich um die Geier, die schon auf dem Weg waren. Eine Tarngeschichte wurde verbreitet und jede davon abweichende Version sofort dementiert oder als Falschmeldung bezeichnet. Das entmutigte einen Großteil der Meute und ließ sie sich auf die Suche nach einer anderen Sensation machen.
Schritt 2: Eine andere Sensation wurde lanciert. Quasi als Trostpreis. Jeskos Abteilung hatte solche vermeintlichen Knüller immer in der Schublade und konnte sie bei Bedarf einsetzen. Er und seine Kollegen ließen Informationen durchsickern, die einen viel größeren Nachrichtenwert besaßen. Zu diesem Zweck bezahlten sie einige Schläfer, die sich rund um die Uhr für eine solche Ablenkung bereithielten. Sie standen unter anderem auch als Augenzeugen zur Verfügung, die brav ihre Texte aufsagten. Diejenigen Geier, die noch zum ersten Tatort unterwegs waren, würden daraufhin die Richtung ändern und der falschen Fährte folgen.
Schritt 3: Die Geier, die bereits am Tatort eingetroffen waren, wurden so lange außer Sichtweite hingehalten, bis sie die Lust verloren oder es tatsächlich nichts mehr zu sehen gab. Sie würden natürlich wissen, dass etwas vertuscht wurde, aber sie hatten keine Ahnung was, von wem oder weshalb. Über Com-Funk sprach man ausschließlich über die Tarngeschichte, in diesem Fall eine Schießerei zwischen zwei verfeindeten Gangs. Solche Ergebnisse waren an der Tagesordnung und deshalb für die mediale Berichterstattung nicht mehr besonders interessant.
Jesko rückte die Strickmütze auf seinem Kopf zurecht und schlug seinen Regenmantel an der Hüfte zurück wie ein Revolverheld. Nur, dass er anstelle einer Waffe eine kleine Umhängetasche unter dem Mantel nach vorne zog.
Er war so früh am Ort des Geschehens, dass er noch einen Blick auf die abrückende Einheit von Turtle Shield werfen konnte, die Sondereingreiftruppe von LupoTek. Alles Menschen, die aussahen, als würden sie ihr ganzes Leben nichts anderes tun, als zu kämpfen und für den Kampf zu trainieren. Musterbeispiele für toxische Männlichkeit, selbst die weiblichen Mitglieder.
An der Spitze Sparkle Darstein. Annähernd zwei Meter groß, braungebrannt und komplett ohne Körperfett. Dazu ein wirklich sympathisches, grellweißes Lächeln, das man überhaupt nicht bei ihm vermutet hätte und das sofort verschwand, als er Jesko erblickte. Sie legten beide keinen Wert auf eine Begegnung und sahen gleichzeitig in entgegengesetzte Richtungen. Die Abneigung zwischen ihren Abteilungen hatte eine jahrzehntelange Tradition.
Jesko wandte sich dem Tatort zu. Er blinzelte etwas länger und schaltete damit seine Kontaktlinse in den Aufnahmemodus. Alle Bilder wanderten sofort in den internen Speicher der UCL (Universal Contact Lenses). Gewissenhaft dokumentierte er den Schaden, der in der Straße entstanden war. Zu seinem Aufgabenbereich gehörte die Rekonstruktion eines Tathergangs und falls nötig dessen Manipulation. Die Entschädigung der Betroffenen übernahmen die Schadensregulierer von LupoTek, damit hatte er nichts zu tun.
Hauseingang und erster Stock hatten ziemlich gelitten. Teilweise waren faustgroße Löcher in die Hauswand gesprengt. Kaum ein Fenster war noch unversehrt. Der Denkmalschutz für dieses Viertel war längst aufgehoben worden. Damals hatte man die Gebäude bereitwillig dem Verfall überlassen, also war es zwei Jahrzehnte zu spät, um den Verlust der historischen Fassaden zu beweinen.
Sparkle hatte wieder Spezialmunition verwendet. Deren Einsatz war wegen der hohen Durchschlagskraft innerhalb von Wohngebieten untersagt. Zumindest in Deutschland und anderen finanzstarken Ländern. Das Letzte, was der Konzern wollte, war, potenzielle Käufer zu verletzen. Darsteins Verstöße gegen diese Vorschrift nahmen ein komplettes Unterkapitel in seiner Personalakte ein. So betrachtet, handelte es sich bei diesem Schlachtfeld um einen ganz gewöhnlichen Einsatzort von Turtle Shield.
Kopfschüttelnd betrachtete Jesko den Hauseingang, der mit einem Blaster herausgesprengt worden war. Dabei gab es eine Tür, und die war wahrscheinlich unverschlossen gewesen. Es konnte doch nicht schneller gehen, eine Tür zu sprengen, als ihren Griff zu benutzen? Ihn ärgerten diese unnötigen Schäden, aber noch schlimmer fand er, mit welcher Bedenkenlosigkeit die Wohnungen und persönlichen Gegenstände anderer Menschen zerstört wurden. Nicht alles konnte man durch eine Entschädigung wiedergutmachen.
Das ausgehobene Versteck war eine Drei-Zimmer-Wohnung, die keinerlei persönliche Note besaß. Die Einrichtung war schlicht und rein funktional, besaß kaum mehr Flair als eine Gefängniszelle. Wer immer sich dort aufgehalten hatte, konnte das nicht lange getan haben. Vier Reisetaschen in einer Ecke stellten den gesamten Besitz der Toten dar. Sie hatten ihre Sachen nicht einmal ausgepackt.
Er tippte an die Com-Verbindung an seinem Ohr. »Like?«
»Chef?«
»Wie viele waren es diesmal?«
»Zwei.«
Überrascht drehte sich Jesko zu ihr um. »Nur zwei? Was ist denn mit Darstein los? Wird er altersmilde?«
»Es gab nur zwei Zielpersonen.«
Jesko lachte bitter auf. »Als wäre das jemals ein Hinderungsgrund gewesen. Wer waren sie?«
»Mitglieder einer Terrorgruppe«, berichtete seine Mitarbeiterin. »Anscheinend planten sie Anschläge auf mehrere LupoTek-Filialen. Wohl als Konsumkritik. Keine Ahnung, wieso wir da eine Tarngeschichte brauchen. Terroristen mir Anschlagplänen sind doch ein legitimes Ziel für Turtle Shield.«
»Die Öffentlichkeit könnte sich fragen, was diese Leute gegen einen freundlichen Konzern wie LupoTek haben. So was kann am Image kratzen«, sagte Jesko und inspizierte die Stellen, an denen die Leichen gelegen hatten. Man musste kein Forensiker sein, um zu erkennen, dass die Schusswinkel nicht zueinanderpassten. Die Blutspritzer an den Wänden konnten nur dann entstanden sein, wenn der Getroffene zu diesem Zeitpunkt gekniet hatte. Das Ganze erinnerte mehr an eine Hinrichtung als an eine wilde Schießerei. Die Schäden im Treppenhaus verrieten ihm, dass Turtle Shield ein paar veraltete Sturmgewehre benutzt hatte, um Gegenwehr vorzutäuschen. Waffen, die sich eine kleine Straßengang gerade so leisten konnte. Darstein und seine Leute waren also mit dem festen Vorsatz angereist, vor Ort eine falsche Fährte zu legen. Selbstverständlich nur für den Fall, dass die Geier vor dem Putzdienst ankamen.
Der Kugelhagel der angeblichen Terrorzelle auf die Straße hinaus war gut sichtbar platziert. Jeder Treffer an den Mauern und Fahrzeugen leicht wiederzufinden. So, wie ihm der Vorfall geschildert wurde, erschien Jesko dieses Bild viel zu ordentlich. Den Geiern würde es ähnlich gehen, wenn sie das zu Gesicht bekamen. Aber Jesko war ja dort, um genau das zu verhindern.
Sein Team stand bereit, um die Nachbereitung zu übernehmen. Die wichtigste Arbeit war getan, der Skandal abgewendet und die Ablenkung installiert. Jesko musste die ganze Geschichte nur noch überzeugend verankern und belastende Spuren verwischen.
Er entdeckte ihre mobile Einsatzzentrale, die in einer kleinen Gasse innerhalb der Absperrung gelandet war. Der Daredevil war eine Mischung aus Gleiter und Wohnmobil und verfügte über alle technischen Raffinessen. Like steuerte die Kiste, und bei längeren Einsätzen wohnte sie sogar darin. Sie winkte Jesko von der Seitentür aus zu, und er erwiderte den Gruß.
Like war eine finster aussehende Fitnessverrückte, muskulös und sehnig wie die Shaolin-Mönche in alten Kung-Fu-Filmen. Sie betrachtete Jeskos Körper immer mit diesem mitleidigen Blick, aber sie verkniff es sich, ihn missionieren zu wollen und zu mehr Training anzuhalten, wofür er dankbar war. Wahrscheinlich hielt sie ihn für einen hoffnungslosen Fall.
»Renitente?«, fragte er beim Näherkommen.
»Bisher noch nicht.«
Als Renitente bezeichneten sie diejenigen Beteiligten, die sich weder überreden noch kaufen ließen und wahrscheinlich Ärger machten. Also Menschen mit Überzeugungen und Prinzipien, oder lästige Störenfriede, wie er sie nannte. In der Regel kosteten sie nur mehr Aufmerksamkeit, bis man sie dort hatte, wo man sie haben wollte.
Da bisher alles so reibungslos verlaufen war und es kaum Störungen von außen gegeben hatte, fand Jesko früh Zeit, sich um die Ungereimtheiten zu kümmern, die ihm aufgefallen waren. Das ganze Szenario war schlecht inszeniert und wenig überzeugend. Was natürlich daran lag, dass sich Turtle Shield um solche Dinge nicht scherte.
»Warum hat man uns nicht vor dem Zugriff informiert?«, fragte Jesko wütend. »Wir hätten Vorbereitungen treffen können.«
»Wir können froh sein, dass wir nicht erst aus den Medien davon erfahren haben. Von Darstein stammte die Info jedenfalls nicht. Er hat einen Tipp bekommen, wo sich eine Zielperson aufhält, und ist losgestürmt. So wie immer. Und er hat bekommen, was er wollte. Alles andere war ihm egal.«
»Auch wie immer«, sagte Jesko resignierend. »Eigentlich sollen wir LupoTek auf diskrete Weise schützen, stattdessen werden wir immer mehr zu Tatortreinigern, die hinter den Cowboys aufräumen.«
»Das sind die Fünfziger. Subtilität ist nicht mehr gefragt, stattdessen zählt nur noch Feuerkraft.«
»Fantastisch. Bist du bewaffnet? Ich nämlich nicht.« Er seufzte. »Wo sind die Leichen?«
»Die wurden bereits fortgeschafft«, berichtete Like.
»Von wem?«
»Turtle Shield hat sie mitgenommen«, erklärte sie.
Nun war Jesko noch überraschter als ohnehin schon. Für gewöhnlich ließ Turtle Shield beim Abrücken alles stehen und liegen. Sparkle Darstein und seine Leute benahmen sich wie schlecht erzogene Kinder, die sich weigerten, ihr Zimmer aufzuräumen.
»Versuch herauszufinden, wohin man die Leichen gebracht hat. Etwas stört mich an der Geschichte, die sie uns hier verkaufen wollen.«
»Die wir verkaufen sollen«, verbesserte Like ihn.
»Schon deshalb sollten wir den Fake News nicht hinterherlaufen müssen.«
»Du glaubst an eine Tarngeschichte hinter der Tarngeschichte?«, fragte Like.
»Finden wir es heraus!«
Like salutierte ironisch und verschwand im Daredevil.
Die Abschleppwagen rückten an und schafften die beschädigten Fahrzeuge weg, die von Kugeln getroffen worden waren. Ein Reinigungswagen kam vorbei. Er spülte Blut und Glasscherben von der Straße. Unzählige kleine Wichtel, die diesen Ort wieder in den Urzustand versetzten, bevor jemand erkennen konnte, was hier eigentlich vorgefallen war. Und Jesko Rudolph war ihr Meister.
Die Nachrichtensperre würde den Eindruck vermitteln, dass die City Police eine Auseinandersetzung zwischen zwei Banden vertuschen wollte. Damit es keine weitere Diskussion darüber gab, wie hilflos die Polizei der ausufernden Gang-Kriminalität gegenüberstand. Sie wurde also ein weiteres Mal von LupoTek als Sündenbock benutzt. Im Gegenzug erhielt die chronisch pleite Behörde dringend benötigte finanzielle und materielle Spenden. Für die Moral innerhalb der Truppe war es allerdings pures Gift.
Jesko stand unter dem ausfahrbaren Dach des Daredevil und wartete darauf, dass der Nieselregen endete. Er trug stets Kleidung, die den meisten Menschen keinen zweiten Blick wert war und hielt sich im Hintergrund. Er achtete darauf, nicht gefilmt zu werden. Diese Vorsichtsmaßnahme minderte das Risiko, dass man auf ihn aufmerksam wurde. Einem gründlichen Geier könnte auffallen, dass Jesko oft bei solchen Vorfällen erschien, und über Gesichtserkennungssoftware ließ sich das Bildmaterial von Tatorten schnell miteinander abgleichen, um auf ihn zu stoßen. Doch bisher hatte noch kein Geier Jesko auf dem Schirm.
Nach der Reinigung hieß es abwarten. Like behielt die Berichterstattung im Netz im Auge. Mehrere Programme durchforsteten Feeds, Tweets und Blogeinträge in schriftlicher und sprachlicher Form nach Erwähnungen bestimmter Reizwörter, die Like in einem Katalog zusammengefasst hatte und permanent ergänzte. Selbst wenn jemand nur die Adresse des Tatorts im digitalen Stadtplan suchte, würde ihr das nicht entgehen. Sie konnten das nicht verhindern, und es war auch nicht ihre Absicht, aber sobald eine bestimmte Anzahl an Suchanfragen erreicht war, wussten sie, dass die Nachricht durchgesickert war und ihnen keine Zeit mehr blieb. Sie wollten nicht vertuschen, sondern lenken. Wenn die Zahl derjenigen, die die Straßengang-Geschichte nicht schluckten, zu groß wurde, würde Like diverse dienstbare Geister bei LupoTek hinzuziehen.
Like erschien in der Tür des Daredevil. »Ich habe die Leichen gefunden, oder das, was von ihnen übrig ist«, meldete Like.
»Soll heißen?«
»Die Körper wurden bereits eingeäschert.«
»Wer hat das veranlasst?«
»Allem Anschein nach unser guter Freund Sparkle.«
»Da stimmt etwas nicht. Darstein kümmert sich nie um so was.«
Like sagte nichts.
»Was ist?«, fragte Jesko.
»Die Zentrale hat uns angewiesen, hier abzubrechen, sobald alles aufgeräumt ist. Der Auftrag wurde offiziell für beendet erklärt.«
»Eigentlich ist es meine Aufgabe, einen Auftrag für abgeschlossen zu erklären.«
Like zuckte mit den Schultern. »Die Anweisung kam direkt von Bickelbach. Willst du mit ihm reden?«
Jesko schüttelte den Kopf. Das wäre sinnlos. Wenn ihr Vorgesetzter eine solche Entscheidung traf, dann war klar, dass er sie ebenfalls von oben erhalten hatte. Sehr wahrscheinlich kannte auch er die Gründe dafür nicht und wenn doch, dann würde er sie ihm nicht verraten. Jesko musste sich sein Wissen anders beschaffen. Aber wollte er es überhaupt wissen? Wenn er zu viele schmutzige Geheimnisse von LupoTek kannte, würde er irgendwann als potenzielle Gefahr eingestuft und entsorgt werden. Wahrscheinlich von seinem eigenen Nachfolger.
Der Auftrag war offiziell erledigt, sein Vorgesetzter zufrieden. Es gab also keinen Grund, die Angelegenheit nicht auf sich beruhen zu lassen. Jesko konnte sich zurückziehen, ohne von den meisten Anwesenden bemerkt worden zu sein. So, wie er es schätzte.
Bei seiner Rückkehr in den Wohnturm sehnte sich Jesko nach einer Erfrischung. Sein Job hatte sehr ungewöhnliche und auch sehr unregelmäßige Arbeitszeiten. Keine fünf Minuten später trieb er in dem übermäßig gechlorten Wasser des Pools. Das gab ihm Gelegenheit, seine Muskeln etwas zu entlasten. Er machte ein paar träge Schwimmbewegungen und trieb zur anderen Beckenseite. Fest entschlossen, so lange im Wasser zu bleiben, bis seine Haut aufgeweicht war. Danach würde er essen gehen oder etwas bestellen und sich anschließend vielleicht einen Film in einem der Holo-Kinos ansehen. Das Beste daran war, er konnte das alles tun, ohne das Gebäude zu verlassen. Es hatte unbestritten seine Vorteile, wenn man im Wohnturm über einem Einkaufszentrum wohnte. Er lächelte versonnen, dann stieß er mit dem Kopf gegen die Beckenwand.
»Jesko?«
Er schlug die Augen auf und sah ein paar blasse Waden über sich. Sein Blick glitt über die kräftigen Oberschenkel, das ausladende Becken, die breiten Hüften, die gewaltigen Brüste bis hinauf zu dem breiten Gesicht, das ihn besorgt ansah. Eine Rubensgestalt, die vor fünfzehn Jahren eine kurzzeitige Renaissance als Schönheitsideal erfahren hatte.
»Hi, Zina«, grüßte er in Rückenlage.
Sie war das Nachbarmädchen, siebzehn Jahre alt, und sie verstanden sich prächtig. Jesko stellte, so vermutete er wenigstens, eine Art Vaterersatz für sie dar, weil ihr alter Herr so ein Mistkerl war, mit dem man kein vernünftiges Wort reden konnte. Nicht, dass Jesko es jemals versucht hatte. Er verließ sich da ganz auf Zinas Einschätzung.
»Was gibt’s?«, fragte er.
»Ich will dich ja nicht stören, aber heute ist Freitag.«
Sofort war er hellwach. Er drehte sich zum Beckenrand und kletterte aus dem Pool. »Danke«, rief er über die Schulter, raffte seine Kleidung zusammen und schlug sich in die Büsche, die die einzelnen Parzellen auf dem Dach des Einkaufszentrums voneinander abtrennten. Er flankte über eine hüfthohe Backsteinmauer und landete flach auf dem Bauch. Keine Sekunde zu früh, denn schon konnte er die Stimme von Arthur Holsten donnern hören.
»War dieser Penner etwa wieder in meinem Pool? Wenn ich ihn dabei erwische, werde ich ihn eigenhändig darin ertränken. Das ist ein Versprechen.«
»Das ist doch nicht so schlimm«, versuchte ihn Zina zu beruhigen. Eine schallende Ohrfeige schnitt ihr das Wort ab.
Jesko verzog das Gesicht. Er hatte ihr schon oft gesagt, sie solle sich bei ihrem Vater nicht für ihn einsetzen, doch sie tat es immer wieder. Natürlich könnte er jetzt aus seinem Versteck stürmen und dem Mistkerl eine verpassen, aber das würde nur Jesko etwas Genugtuung verschaffen, und Zina musste es anschließend doppelt und dreifach büßen.
»Nicht schlimm? Jedes Mal muss ich danach das Wasser wechseln lassen. Man weiß ja nie, was man sich holen kann.«
Jesko bezog diese Aussage nicht auf seine Hautfarbe, sondern wusste, dass es noch viel persönlicher gemeint war. Außerdem praktizierte sein Nachbar keinen Rassismus, sondern hing nur der Sehnsucht nach der guten alten Zeit nach, als alles seine Ordnung hatte. Wann auch immer das gewesen sein sollte. Wahrscheinlich, als das Stadtbild weniger bunt gewesen war. Zu seinen Lebzeiten konnte das aber nicht mehr der Fall gewesen sein.
Jesko schlich sich davon, weil er keine Lust hatte, dabei zuzuhören, wie Holsten seine Tochter beschimpfte. Manche Menschen verdienten einfach keine Kinder. Seine eigenen Eltern hatten alles richtig gemacht, außer beim Einbruch des Eurotunnels 2046 zu sterben. Geboren wurde Jesko 2021 auf der Air Force Basis Ramstein, während der Ersten Pandemie. Heute, im Jahr 2059, hatte er es gerade mal bis ans andere Ende von Deutschland geschafft. Ein Weltenbummler war etwas anderes. Wobei er anmerken musste, dass er zwar nicht viel von der Welt gesehen, dafür aber einmal dreizehn Monate auf der dunklen Seite des Mondes verbracht hatte. Das war keine Umschreibung für eine unattraktive Gegend dieses Landes, gemeint war tatsächlich die erdabgewandte Seite von Luna.
Beim Betreten seiner Wohnung aktivierte Jesko die Geräuschunterdrückung in den Wänden, und augenblicklich verstummten seine streitenden Nachbarn. Der Nieselregen hatte bereits auf dem Rückflug geendet. Jesko hängte seinen Mantel in die Reinigungskammer, wo er chemisch von allen Schadstoffen befreit wurde, die der Regen an schlechten Tagen transportierte. Der Wetterbericht kündigte eine kleine Sensation an: Möglicherweise würde an diesem Abend kurz die Sonne herauskommen.
Jesko bestellte einige Speisen bei dem bulgarischen Restaurant im Einkaufszentrum und erledigte sein Aikido-Training für diesen Tag, während er auf die Lieferung wartete. Aikido war Entspannung für Geist und Körper. Es besänftigte seine düsteren Gedanken und entspannte seinen geschundenen Körper. Außerdem war es die Art von Kampfsport, die zu seiner Mentalität passte: nicht offensiv, sondern die Aggressivität des Angreifers nutzend.
Nach dem Essen verzichtete er auf den Abstecher ins Kino und ließ sich stattdessen auf dem Balkon nieder. Seine Wohnung lag zwei Stockwerke über der der Holstens. Trotz üppigem Gehalt von LupoTek hatte es nicht zu einer Poolwohnung gereicht, denn dafür waren auch noch Einfluss, Beziehungen und Geduld notwendig. Die begehrten Objekte wurden nur beim Tod eines Mieters frei. Denn niemand zog freiwillig von dort weg.
Jesko stand nackt bis auf gelbe Shorts auf seinem Balkon, nippte an seinem zweiten Bier und blickte sehnsüchtig nach unten auf die gläserne Überdachung der Pools. Ein Dutzend von ihnen gab es auf dem Dach des Einkaufszentrums. An den seltenen Sonnentagen war Jeskos Sehnsucht besonders stark. An einem solchen Tag hatten auch seine Besuche bei den Holstens begonnen.
Als kurz darauf tatsächlich die schleimig-graue Wolkendecke aufriss und die rote Abendsonne wie eine blutige Wunde erschien, fuhren überall am Gebäude die gläsernen Abdeckungen zurück.
Jesko betrachtete die Gebäude auf der anderen Seite der künstlichen Bucht. Links von ihm hatte bis vor wenigen Jahren ein echtes U-Boot als Touristenattraktion vor Anker gelegen. Doch als immer weniger Leute wussten, was es mit diesem Gefährt auf sich hatte, wurde es irgendwann verkauft und verschrottet. Für Nostalgie fehlte heute den meisten Menschen sowohl die Zeit als auch das Geld.
Mit einem dritten Bier ließ er sich in seinem Liegesessel nieder. Er war zufrieden mit seinem jetzigen Leben. Er brauchte niemanden, mit dem er zusammenleben und reden konnte. Da er außerhalb der Arbeit kaum soziale Kontakte pflegte, gab es auch niemanden, dem gegenüber er sich rechtfertigen musste. Die ruhigen Abende auf seinem Balkon waren schon alles, was er brauchte. Wenn er etwas hätte ändern dürfen, dann wäre es das Damoklesschwert der tödlichen Erkrankung, das permanent über ihm schwebte.
Aus dem Pool unter ihm kamen Geräusche, als würde Zina dort hart arbeiten. Dann ein erlösender Seufzer, als sie es auf die Luftmatratze geschafft hatte. Sie war ebenfalls allein, aber sie mochte es nicht. Das sanfte Plätschern, das sie beim Umhertreiben verursachte, lullte Jesko ein. Ich darf meine Ration nicht vergessen, dachte er noch, und schon trieb er dem Reich der Träume entgegen.
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Die Schmerzen weckten ihn auf brutale Weise. Vom Nacken bis zu den Zehen setzten Krämpfe ein, die sich gegenseitig zu übertreffen versuchten. Sie kamen sehr pünktlich, sodass man die einsetzenden Folgen leicht vermeiden konnte. Aber heute hatte er den Zeitpunkt verpasst und seine Ration vergessen. Es war noch hell, viel Zeit konnte also seit dem Einschlafen nicht vergangen sein.
Jesko hielt sich nicht für besonders zimperlich, aber er fragte sich in solchen Momenten, wie es die Leute aushielten, die keine Medikamente zur Verfügung hatten. Ihre Tage mussten die Hölle sein und einzig darin bestehen, die Schmerzen zu verdrängen oder zu ertragen. Undenkbar, dass sie in diesem Zustand einer Arbeit nachgehen konnten. Wahrscheinlich betäubten sie sich mit irgendwelchen billigen Drogen, um nicht die Wände hochzugehen. Aber es war schon kein Vergnügen, bloß von ihnen geweckt zu werden.
Zina kannte sein Problem, seit sie ihn einmal als zitterndes Bündel im Parkhaus gefunden hatte. Damals hielt sie ihn für einen Junkie, obwohl das auch gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt war. Jesko war schon lange abhängig von seiner Medizin. Zina hatte ihm in seine Wohnung geholfen und war seitdem die einzige andere Person, die sich darin aufgehalten hatte und den Türcode kannte.
Die Beschwerden, mit denen sich Menschen wie Jesko seit ihrer Arbeit im All und auf dem Mond herumplagen mussten, kamen durch den langen Aufenthalt in der Schwerelosigkeit. Deshalb erhielten sie Medikamente, die eigens dafür entwickelt worden waren. Sie dämpften die schlimmsten Symptome. Jeder von ihnen litt unter den Folgen. Die einen mehr, die anderen weniger. Jesko befand sich im Mittelfeld. Und dank seiner Arbeit für LupoTek besaß er einen Vorteil, den die wenigsten seiner ehemaligen Kollegen vorweisen konnten: Er bekam weiter seine Medikamente. Jesko wusste nicht, was er ohne sie tun würde, und wollte es auch gar nicht erfahren.
Ein weiterer Schub ließ ihn verkrampfen. Er bog seinen Rücken in dem Liegesessel durch und wäre um ein Haar herausgefallen. Die Schmerzen fielen wesentlich heftiger aus als gewöhnlich, dabei war er gar nicht weit über die Zeit. Sein Com-Gerät befand sich natürlich außer Reichweite, ebenso wie die rettende Ration des Medikaments, das er im Schlafzimmer aufbewahrte. Er musste dorthin kriechen, sonst würde er bald in einen Stupor verfallen, der nach einigen Stunden zum Tod führte. Niemand würde kommen, um ihn zu retten, und bis ihn in der Firma jemand vermisste, würde zu viel Zeit vergehen.
Seine Finger krallten sich um die halbvolle Bierflasche, die er neben sich stehen hatte. Eine der wenigen Marken, die noch in Glasflaschen verkauft wurden. Für gutverdienende Nostalgiker wie ihn. Jesko schleuderte sie über den Balkon hinaus und hoffte, dass sie seinem rettenden Engel nicht den Schädel einschlagen würde. Er hörte die Flasche mit einem lauten Knall auf den Steinplatten neben dem Pool zerplatzen, dann erfolgte eine schwarze Blende.
Als er die Augen wieder öffnete, waren die Schmerzen verschwunden und sein Hinterkopf ruhte entspannt auf den nachgiebigen Oberschenkeln von Zina.
»Das war verdammt knapp, Jesko. Wie kann man nur so verantwortungslos sein?« Sie schüttelte vorwurfsvoll den Kopf, während sie mit ihrer Hand über sein raspelkurzes Haar strich.
»Ich kann es mir ehrlich gesagt nicht erklären. Ich bin zwar spät dran, aber so heftig hätte die Reaktion nicht ausfallen dürfen.« Das stimmte, es hatte ihn tatsächlich kalt erwischt, und Zina sah ihm das an.
»Du meinst, es verschlimmert sich?«, fragte sie besorgt.
Es ausgesprochen zu hören, verstärkte seine Sorge noch. »Das wäre eine Katastrophe.«
Jesko hatte die Dosis schon einige Male anpassen müssen, um die Schmerzen vollständig zu unterdrücken. Aber die Vorstellung, die Wirkung des Medikaments könnte eines Tages nicht mehr ausreichen, versetzte ihn augenblicklich in Panik. Er stand auf und dehnte vorsichtig seinen strapazierten Körper.
»Seltsames Hobby für einen erwachsenen Mann«, sagte Zina, die an seinem Wandregal entlangging, in dem er auf einem Dutzend Etagen Actionfiguren aller Art sammelte. Nicht nur LupoTek-Produkte, sondern auch andere Franchise aus Gegenwart und Vergangenheit. Einige Figuren waren noch originalverpackt und konnten als Wertanlage gelten, auch wenn Jesko nicht vorhatte, sich von ihnen zu trennen. Er hatte die Sammlung als Kind begonnen, und sie war eine der wenigen Konstanten in seinem Leben. Besser als jedes Tagebuch, denn er konnte immer noch sagen, wann und wo er welche Figur gekauft hatte.
»Die meisten Charaktere kenne ich gar nicht«, sagte Zina.
»Du bist halt zu jung«, antwortete Jesko knapp, der sich nicht für die Figuren rechtfertigen wollte. Außerdem wusste er, dass Zina ihn nicht wirklich dafür verurteilte. Sie hielt es bestenfalls für einen amüsanten Spleen.
Viele seiner Kollegen hatten eine Sammelleidenschaft für Actionfiguren entwickelt, was daran liegen mochte, dass sie alle nerdige Einzelgänger waren. Manche lagerten ihre Figuren originalverpackt ein, aus rein finanziellen Gründen, andere sammelten ausschließlich weibliche Figuren, aus Gründen, über die Jesko lieber nicht nachdenken wollte. Er selbst war schlicht ein Fan der Vorlagen und bewunderte schlicht die Kunstfertigkeit, mit der die Figuren geschaffen wurden.
»Geht es wieder?«, erkundigte sich Zina.
Er nickte und bedankte sich noch einmal, aber sie winkte ab. Sie schuldeten sich nichts. Ihre Hilfe beruhte auf Gegenseitigkeit. Immerhin bot er ihr regelmäßig Unterschlupf, wenn ihr Vater besonders üble Laune hatte und Zina deren Dauer nicht im Einkaufszentrum verbringen wollte.
Sie verabschiedete sich, bevor ihr Vater ihr Verschwinden und die Glasscherben neben seinem Pool bemerken konnte. Sie hatte ihm zum zweiten Mal das Leben gerettet. Es wurde Zeit, sich zu revanchieren. Selbst wenn es nur darum ging, ihr den Alltag etwas zu erleichtern.
Jesko verzichtete auf ein weiteres Bier und machte sich stattdessen einen Kaffee. Mit der dampfenden Tasse in der Hand kehrte er auf den Balkon zurück und blickte unwillkürlich zum Mond hinauf.
Heutige Bergarbeiter wurden viel besser auf die Arbeit im All vorbereitet. Es gab kürzere Schichten, und sie erhielten das Medikament in stark abgeschwächter Dosierung bereits zur Vorbeugung, sodass bei ihnen nie eine lebenslange Behandlung notwendig wurde. Schon seit Längerem gab es Gerüchte, die menschlichen Bergarbeiter sollten komplett ersetzt werden. Jesko hoffte, dass es sich dabei nur um ein Gerücht handelte. Aus völlig eigennützigen Gründen, denn ohne Menschen im All müsste niemand mehr das Medikament herstellen. Was sollten dann die ganzen Leute machen, die so lange wie er dort draußen gewesen waren?
Drei Jahre war der absolute Rekord, länger hatte niemand auf dem Mond durchgehalten. Der Mann, der diesen Rekord aufgestellt hatte, war kurz darauf bei einem Amoklauf erschossen worden. Er war selbst der Amokläufer gewesen. Seitdem hatte man die Tätigkeit auf dreizehn Monate begrenzt. Bei Frauen auf zehn, und ihnen wurde davon abgeraten, anschließend noch Kinder zu bekommen. Auch diese reduzierte Dauer reichte völlig aus, um einen Menschen zu ruinieren. Körperlich wie geistig. Doch damals gab es keine Alternative, denn die Lösung vieler irdischer Probleme lag im All. Dort gab es die Rohstoffe, die auf der Erde so gut wie aufgebraucht waren, aber weiterhin dringend benötigt wurden.
Der Megakonzern Europe Central stellte sein eigenes Raumfahrtprogramm auf die Beine, indem er die Vorarbeiten der NASA und anderer Institutionen nutzte, die selbst nie über ausreichende finanzielle Mittel verfügt hatten, um wirklich erfolgreich sein zu können. Der Konzern ließ es sich zu Beginn des Programms eine Menge kosten, um die besten Spezialisten für diese Aufgabe zu bekommen. Später, als alle Abläufe fest etabliert waren und andere Konzerne nachzogen, wurden die Spezialisten abgeworben und durch wesentlich günstigere Mitarbeiter ersetzt. Leute wie Jesko.
Die Beinahe-Katastrophe, die sein Leben veränderte, ereignete sich ausgerechnet in seinem dreizehnten Monat auf der dunklen Seite des Mondes. Wer weiß, wo er heute ohne diesen Vorfall wäre? Ganz sicher nicht in den Diensten von LupoTek.
Damals. Auf dem Mond
Jesko saß oben im Kontrollturm über der Bohranlage. Wie ein Leuchtturmwärter oder ein Kranführer in früheren Zeiten. Hier gab es nur die Rechner und die Bildschirme. Und den Com-Verkehr unter ihm, der aus den Lautsprechern drang.
Die Verbindung zur Erde war nie konstant. Manchmal konnten sie tagelang keinen Kontakt herstellen, aber auf dem Mond waren sie ohnehin völlig auf sich allein gestellt. Wenn etwas passierte, konnte man ihnen nicht mal eben schnell Hilfe heraufschicken. Aber sie hatten gelernt, damit umzugehen. So reizlos die Umgebung auf dem Erdtrabanten auch sein möchte, so friedlich war das Leben dort. Verglichen mit den Nachrichten, die man von Zuhause hörte.
Die Supermächte Indien, China und Russland rieben sich in kleineren Scharmützeln auf und in Stellvertreterkriegen zwischen Ländern, die bis dahin völlig unbekannt gewesen waren. Diplomatie existierte nur noch als Begriff. Die Situation war für alle Beteiligten ziemlich verzwickt, um einmal gewaltig zu untertreiben. Während sie vor einem drohenden Konflikt zurückwichen, stolperten sie rückwärts in einen anderen hinein.
Doch der Kampf um die wenigen verbliebenen Rohstoffe auf der Erde fand längst nicht mehr zwischen einzelnen Ländern statt. Die Regierungen hatten sich durch unzählige Abkommen und Verträge in die Handlungsunfähigkeit manövriert. Dies galt im Übrigen auch für die Zusammenschlüsse von Ländern wie die UNO oder die EU.
Die wichtigen Entscheidungen wurden von länderübergreifenden Wirtschaftskonsortien getroffen. Deren Ziele lagen einzig und allein in der Gewinnmaximierung, und deshalb agierten sie ungehemmt und zügellos. Sie trugen keine Verantwortung und mussten die Bevölkerung auf ihrem Weg nicht mitnehmen. Die einzige Rücksichtnahme wurde den eigenen Geschäftspartnern gewährt und auch nur dort, wo es zum gegenseitigen Vorteil war.
Auch LupoTek griff nur dann in bestehende Konflikte ein, wenn der Konzern seine Interessen gefährdet sah. In erster Linie, wenn bei Kämpfen wertvolle Ressourcen zerstört werden konnten oder in falsche Hände zu fallen drohten, wie beispielsweise die Hände der Einheimischen.
Die Rollen von Jeskos Schreibtischstuhl bewegten sich stockend über den Gitterboden. Stahlträger, die über und diagonal neben ihm verliefen, verstärkten den Eindruck eines Käfigs. Unzählige Kabel, zu dicken Schläuchen zusammengebunden, waren an Decke und Wänden befestigt oder baumelten im Weg herum. Kein gemütlicher Platz, an dem man sich wohlfühlen konnte, und er hockte nun schon seit über zwölf Monaten dort.
Bergarbeiter auf dem Mond zu sein, hatte bei kleinen Jungs den Astronauten als Traumberuf abgelöst. Es schien sich dabei um das Beste beider Welten zu handeln: Man befand sich im All wie ein Astronaut und durfte auch noch extrem große Maschinen bedienen. Spätestens in einem zweistelligen Alter erkannte der Nachwuchs dann, dass diese Arbeit auch Schattenseiten besaß.
Zwei Dinge machten den Menschen bei einem längeren Aufenthalt im All am meisten zu schaffen: die Schwerelosigkeit und die kosmische Strahlung. Aber es gab natürlich noch zahlreiche andere Faktoren, die die Lebensqualität empfindlich minderten. Genannt seien hier nur der Mangel an frischer Nahrung, die eingeschränkte Bewegungsfreiheit und die Ausdünstungen der Kollegen. Doch zurück zu den beiden Hauptproblemen. Die Umstellung auf die Schwerelosigkeit war in den ersten Tagen für jeden unangenehm. Man fühlte sich quasi die ganze Zeit über seekrank, musste sich sogar übergeben und litt an wirklich üblen Kopfschmerzen. In dieser Zeit blieben einem Außeneinsätze erspart. Es war schon auf der Erde kein Vergnügen, in seinen Helm zu kotzen, aber in der Schwerelosigkeit bekam es noch einen zusätzlichen Grad an Widerwärtigkeit.
Die Eingewöhnungszeit ging vorüber, dafür kamen die Folgen eines dauerhaften Aufenthaltes in der Schwerelosigkeit. Schon nach kurzer Zeit verringerte sich die Zahl der roten Blutkörperchen, und ein Verlust an Blutplasma und zellulärer Flüssigkeit wurde nachweisbar. Muskeln, Herz und Skelett, die es gewohnt waren, gegen die Schwerkraft anzukämpfen, wurden schwächer. Der Gleichgewichtssinn war lange Zeit völlig durcheinander. Die Symptome klangen wie vom Beipackzettel eines Medikamentes, das man auf keinen Fall nehmen sollte.
Ein noch größeres Übel stellte die kosmische Strahlung dar. Die Zahlen, die auf der Mondstation die meiste Beachtung erfuhren, wurden nicht in Einheiten wie Euro oder Grad Celsius angegeben, sondern in Gray und Sievert. Bei dem ersten Wert handelte es sich um die Einheit der Strahlendosis, die der Körper aufnahm, mit dem zweiten wurden deren Auswirkungen auf den Organismus gemessen. Regelmäßig wurden die Strahlendosen innerhalb und außerhalb der Station mithilfe des Matroshka-Experimentes kontrolliert, das man in früheren Jahren auch auf der internationalen Raumstation ISS verwendet hatte. Damals wurde allerdings noch eine siebzig Kilogramm schwere Puppe benutzt, deren Sensoren die Strahlenbelastung eines Durchschnittskörpers messen konnten. Auf der Erde wirkte die Atmosphäre wie ein Schutzschild gegen die hochenergetischen Partikel. Aber im Weltall war man den Protonen, Elektronen und Heliumkernen schutzlos ausgeliefert, die im menschlichen Körper gehörigen Schaden anrichteten.
Die Faustregel besagte, je höher die Strahlendosis, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass ionisierende Strahlung die Zellen eines Körpers schädigte. Das war fast eine Garantie für Krebs. Und auch die Wahrscheinlichkeit für Grauer Star und Arteriosklerose stiegen um ein Vielfaches. Alles Alte-Leute-Erkrankungen, die junge Draufgänger wenig beeindruckten, wenn man ihnen mit einem Packen Geld vor der Nase herumwedelte.
Geld war die Antwort auf die Frage, weshalb jemand solche Risiken auf sich nehmen sollte. Viele Menschen behaupteten, ihre Arbeit wäre erträglich, aber man würde nicht reich davon. Hier war es genau umgekehrt. Von dieser Arbeit wurde man sehr reich. Das Gehalt für ein Jahr auf dem Mond entsprach dem durchschnittlichen Verdienst von fünfzehn Erdenjahren. Pfiffige Kerle mochten sich denken, dass sie nur drei, vier Jahre richtig ranklotzen mussten und dann bis zum Ende ihres Lebens ausgesorgt hatten. Diese Überlegung war rechnerisch richtig, nur ließ wegen der oben genannten Gründe das Ende ihres Lebens meist nicht mehr lange auf sich warten.
Zum Glück half der Konzern in dieser Beziehung gerne aus, indem er alle negativen Studien anzweifelte, sich über jede mahnende Stimmen lustig machte und die Risiken verharmloste. LupoTek stellte die Arbeit auf dem Mond als Mutprobe für echte Kerle dar und deklarierte damit alle anderen zu Weicheiern und Memmen. Das funktionierte selbst im fortgeschrittenen 21. Jahrhundert noch ganz wunderbar.
»Wir haben steigende Werte in den Bereichen 17 und 23.«
Jeskos Kollege im Kontrollturm hörte auf den Namen Brian.
Er besaß ein durchschnittliches, aber angenehm anzusehendes Äußeres. Durchschnittliches Gesicht, durchschnittliche Größe und durchschnittliche Figur. Der perfekte Jedermann. Und er war nicht menschlich. Als Android hatte Brian 24-Stunden-Schichten.
Die Zusammenarbeit zwischen ihnen war gewöhnungsbedürftig, denn Brian konnte stundenlang schweigen, wenn es nichts zu sagen gab, und fast bewegungslos seine Arbeit verrichten. Manchmal vergaß Jesko seine Anwesenheit und zuckte dann zusammen, wenn der Android plötzlich etwas sagte.
»Kannst du die Ursache ermitteln?«, fragte Jesko.
Brians Hände schwebten über Bedienelemente. Obwohl er mit der Geschwindigkeit eines hyperaktiven Klavierspielers arbeitete, wirkte er nie hektisch. Das war eine Fähigkeit seines künstlichen Kollegen, die Jesko schätzte. Nicht die einzige übrigens. Allerdings musste man fairerweise eingestehen, dass ein so hohes Tempo nur sehr selten notwendig war. Man konnte diese Tätigkeit auch sehr gut in einem eher gemächlichen Tempo ausführen.
Jesko wischte sich den Schweiß von der Stirn, während er die Anzeigen studierte. Sie zeigten schon den ganzen Tag über leicht erhöhte Werte an, doch alle Überprüfungen waren bisher ohne nennenswerten Befund verlaufen. Inzwischen waren sie besorgniserregend. Irgendetwas lief gefährlich schief, aber er konnte nicht erkennen, was es war.
Bergbau auf dem Mond unterschied sich nicht sehr von dem auf der Erde. Man durfte es sich nicht so vorstellen, dass Leute in Raumanzügen den Pickel schwangen. Die Arbeiter konnten ohne Atemschutzgeräte arbeiten, weil man ihren Einsatzbereich hermetisch abriegelte und anschließend mit Sauerstoff vollpumpte.
Jesko thronte über allem und musste für einen reibungslosen Ablauf sorgen, wie der Dirigent eines Orchesters. Die meisten Prozesse liefen vollautomatisch ab, und er war lediglich dafür da, diese zu überwachen und bei unvorhergesehenen Zwischenfällen einzugreifen. Bei seiner Einstellung hatte er sich nicht um einen solch verantwortungsvollen Posten gerissen, aber man erkannte schnell, dass er ein Händchen für diese Aufgabe besaß.
Neben allen Vergünstigungen köderten sie ihn vor allem mit dem Argument, dass es doch sinnvoll und gleichzeitig auch beruhigend sei, wenn derjenige den Job erledigte, der am besten dafür geeignet war. Die Frage, ob er sich im Ernstfall untertage auf die Fähigkeiten eines weit weniger qualifizierten Menschen verlassen wollte, konnte er nicht überzeugend mit Ja beantworten, also willigte er ein.
»Die Turbinen in diesen Bereichen sind überhitzt. Die Kühlung versagt bei 23. Bei 17 und 8 droht sie demnächst auszufallen.« Die ruhige und sachliche Stimme des Androiden täuschte über das wahre Ausmaß der Bedrohung hinweg. Sie hatten es mit einer ausgewachsenen Krise zu tun, die sich zur Katastrophe steigern konnte.
Die Turbinen überhitzten häufiger, was zum einen an der Dauerbelastung lag und zum anderen an der fehlenden Wartung, denn dafür hätte man die Produktion anhalten müssen. Wenn allerdings die Kühlung ausfiel, dann stand schnell die gesamte Anlage auf dem Spiel. Eine Abschaltung des Systems wäre die einfachste Lösung, aber dafür brauchte man im Nachhinein immer eine sehr gute Begründung und wehe, es war die falsche Entscheidung gewesen. Das Hochfahren dauerte sehr lange, und jeder Stillstand kostete Geld. Deshalb wurde diese Maßnahme stets so lange wie möglich hinausgezögert, in der Hoffnung, das Problem würde sich von allein lösen.
In diesem Fall konnten sie nicht mit einem solchen Wunder rechnen.