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Dieses Buch knüpft an "Freud und die Psychoanalyse" sowie "Psychoanalyse in den Jahren nach Freud" an und zeigt, wie sich die Psychoanalyse weiterentwickelt hat. Über die Ich- und Objektbeziehungspsychologie hinaus rückt sie heute die Bedeutung aktueller Beziehungen in den Fokus - mit tiefgreifenden Auswirkungen auf die Behandlungspraxis. Viele traditionelle Konzepte wurden hinterfragt, modifiziert oder aufgegeben. Zugewandtheit, Authentizität und kontrollierte Offenheit prägen zunehmend die therapeutische Begegnung. Das Buch beleuchtet Ursprung, Chancen und Risiken dieser Entwicklungen und stellt sie in den Kontext aktueller psychischer Störungen und therapeutischer Herausforderungen. Für die 4. Auflage wurde das Werk umfassend aktualisiert, an die fachlichen Entwicklungen der letzten zehn Jahre angepasst und um eine aktuelle Perspektive erweitert.
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Seitenzahl: 150
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Cover
Titelei
Vorwort
1. Vorlesung Psychoanalyse nach 1975
Anknüpfung
Das Erbe Sigmund Freuds
Psychoanalyse in den Jahren nach Freud (1940 – 75)
Der Verlust des Common Ground im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts
Vom Psychoboom zum Freud-Bashing
Die Diversifizierung psychoanalytischer Theorien und Konzepte
Die Sorge um den Verlust der verbindenden Basis
Spezielle Entwicklungen in Deutschland
Die Spuren der NS-Zeit
Die 1968er Bewegung und ihre Folgen
Die Normalisierung der psychoanalytischen Landschaft
Wissenschaftliche Entwicklungen
Blick auf die Gegenwart 2025
2. Vorlesung Selbstpsychologie und Narzissmus
Selbst und Selbstpsychologie
Kohuts Beitrag zur Psychoanalyse
Behandlung
Bewertung von Kohuts Werk
Integration von Ich- und Objektbeziehungs-Psychologie
Kernbergs integratives Modell
Kernbergs Narzissmuskonzept
Behandlung
Bewertung
3. Vorlesung Intersubjektivität – das neue Paradigma
Was ist Intersubjektivität?
Das intersubjektive Paradigma in der Behandlung
Intersubjektivismus in der Psychoanalyse
Kritik am Intersubjektivismus
Einführung in die relationale Psychoanalyse
Vorläufer in der interpersonellen Theorie
Das relationale Modell von Steven A. Mitchell
Behandlung
Bewertung
Intersubjektive Ansätze in Deutschland
Übertragung als zirkulärer Prozess
Szenisches Verstehen und Handlungsdialog
Dialektisch-emanzipatorische Beziehungsanalyse
4. Vorlesung Neue Einsichten in die Frühentwicklung
Die klassische Auffassung
Säuglingsforschung
René Spitz
Margaret Mahler
Daniel N. Stern
Der kompetente Säugling
Bindungstheorie
Bowlby und Ainsworth, die »Eltern« der Bindungstheorie
Befunde zur Bindungstheorie
Folgerungen für die Psychoanalyse
Die Gestaltung der analytischen Situation
Der Umgang mit der therapeutischen Beziehung
5. Vorlesung Am Beginn des dritten Jahrtausends
Aktuelle Themen in der Psychoanalyse
Ein Blick in die Gedächtnisforschung
Ein kurzer Blick in Richtung Neurobiologie
Mentalisierung und psychisches Funktionieren
Sterns »Now Moments«
Psychoanalyse am Beginn des 21. Jahrhunderts
Die Attraktivität der Psychoanalyse im 21. Jahrhundert
Anhang
Abkürzungen
Literaturempfehlungen
Literatur
Stichwortverzeichnis
Personenverzeichnis
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Cover
Inhaltsverzeichnis
Titelseite
Impressum
Inhaltsbeginn
Lindauer Beiträge zur Psychotherapie und Psychosomatik
Herausgegeben von Michael Ermann und Dorothea Huber
Michael Ermann, Prof. Dr. med. habil., ist Psychoanalytiker in Berlin und em. Professor für Psychotherapie und Psychosomatik an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Dorothea Huber, Professor Dr. med. Dr. phil., war bis 2018 Chefärztin der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der München Klinik. Sie ist Professorin an der Internationalen Psychoanalytischen Universität, IPU Berlin, und in der wissenschaftlichen Leitung der Lindauer Psychotherapiewochen tätig.
Eine Übersicht aller lieferbaren und im Buchhandel angekündigten Bände der Reihe finden Sie unter:
https://shop.kohlhammer.de/lindauer-beitraege
4., erweiterte und aktualisierte Auflage
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4., erweiterte und aktualisierte Auflage 2025
Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Heßbrühlstr. 69, 70565 [email protected]
Print:ISBN 978-3-17-044153-8
E-Book-Formate:pdf:ISBN 978-3-17-044154-5epub:ISBN 978-3-17-044155-2
Den Hörern meiner Lindauer Vorlesungengewidmet,denen ich wichtige Anregungen für die Publikation verdanke.
Dieses Buch schließt an die Bände »Freud und die Psychoanalyse«1 und »Psychoanalyse in den Jahren nach Freud«2 an, die aus meinen Vorlesungen bei den Lindauer Psychotherapiewochen entstanden sind. Alle drei Bände stellen psychoanalytische Entwicklungen und Konzepte vor dem Hintergrund der Wissenschaftsgeschichte und persönlicher Biografien dar. Sie richten sich an Psychotherapeuten in Ausbildung und Praxis, die eine Einführung in die Entwicklung der Psychoanalyse von den Anfängen bis heute suchen oder ihr Wissen auffrischen wollen.
Dieser Band schildert, wie die Psychoanalyse über die Ich- und Objektbeziehungs-Psychologie hinausgewachsen ist und jetzt mehr und mehr auf ein Denken in gegenwärtigen Beziehungen Bezug nimmt. Damit ist eine fundamentale Änderung der Behandlungspraxis verbunden. Viele Grundhaltungen und Überzeugungen wurden in Frage gestellt, modifiziert oder aufgegeben. Zuwendung, Authentizität und kontrollierte Offenheit bestimmen heute die Begegnung.
Das Buch erörtert Ursprung, Chancen und Gefahren dieser neuen Orientierung, speziell auch mit Blick auf die zeitgenössischen Störungen und Aufgaben, und endet mit einem Blick in die Nachbarwissenschaften und in die gegenwärtige Praxis der psychoanalytischen Behandlungen.
Ich bin meinen Hörern bei den Lindauer Psychotherapiewochen dankbar, die meine Vorlesungen in den Veranstaltungspausen und in anschließenden Seminaren diskutiert haben und mir wichtige Hinweise für die Bearbeitung gegeben haben. Ihnen widme ich diesen Band. Ebenso bedanke ich mich beim Kohlhammer-Verlag für die verlegerische Betreuung der Publikation.
Berlin, im Frühjahr 2025Michael Ermann
1Ermann M (2008b); im Folgenden zitiert als Trilogie I
2Ermann M (2009b); im Folgenden zitiert als Trilogie II
Sigmund Freud starb im September 1939, wenige Tage nach Beginn des Zweiten Weltkrieges, im Alter von 83 Jahren im Exil in London. Bis zu seinem Tod war er die unbestrittene Leitfigur und Autorität der Psychoanalyse, unermüdlich in seinem Wirken und Schaffen. Noch in den letzten Lebenstagen arbeitete er an der Vollendung seines Werkes. Dieses umfasste bei seinem Tod ein Corpus von grundlegenden Konzepten, welche vor allem die psychische Tiefendimension des menschlichen Seelenlebens erklärte, d. h. die Motivationen im Hintergrund des Erlebens und Verhaltens. In ihrem Zentrum steht das Konzept des Unbewussten. Es ist das fundamental Neue des Freud'schen Denkens und der Kern der Psychoanalyse.3
Freud hat das Konzept des Unbewussten, dem er in verschiedenen psychischen und sozialen Zusammenhängen nachgespürt hat, auf verschiedene Bereiche angewandt:
auf die Normalpsychologie, d. h. auf die normale Entwicklung und die Funktionen der gesunden Seele,
auf die Psychopathologie, d. h. auf krankhaft veränderte seelische Vorgänge und die Entstehung von seelisch begründeten Erkrankungen,
auf die Psychotherapie, d. h. auf die Behandlung seelischer Erkrankungen durch Aufklärung der verborgenen Krankheitsprozesse in Gesprächen
und auf die Sozial- und Kulturtheorie, d. h. auf die Erklärung gesellschaftlicher und kultureller Prozesse.
Freud entwickelte die Psychoanalyse zwischen 1890 und 1925 in verschiedenen Stufen. Dabei gab er seinen Konzepten, vor allem dem Konzept des Unbewussten, verschiedene Fassungen. So stellt das Werk, das er nach seinem Tode hinterließ, kein in sich völlig geschlossenes und widerspruchsfreies Gesamtsystem dar. Es vermittelt aber bedeutende Einsichten und Erkenntnisse in wesentliche Phänomene des Erlebens und Verhaltens in Gesundheit und Krankheit, im Individuellen und im Zwischenmenschlichen, die bis heute gültig sind. Damit hat er wie kaum ein anderer am kulturellen Fortschritt des 20. Jahrhunderts mitgewirkt.
Indem Freuds Autorität zu seinen Lebzeiten die Psychoanalyse völlig beherrschte und er auch wenig Widerspruch duldete, stellte sie bei seinem Tode ein relativ einheitliches Theoriegebäude dar, das von einer ganz auf ihn ausgerichteten Anhängerschaft getragen wurde. Abweichende Auffassungen verstummten, wobei die Einheit der psychoanalytischen Lehre und ihrer Anhängerschaft, der »psychoanalytischen Bewegung«, durch Ausgrenzungen, Abspaltungen und Dissidenz gewahrt wurde. Carl Gustav Jung und Alfred Adler sind die bekanntesten frühen »Dissidenten«, an denen diese Tendenz sich zeigte.
Das änderte sich, als Freuds Autorität nach seinem Tod und mit der Ächtung seiner Lehre in ihrem bisherigen Kerngebiet in Mitteleuropa in der Zeit des Nationalsozialismus verblasste. Der größte Teil der Psychoanalytiker, die meisten unter ihnen jüdischer Abstammung, emigrierte. Die Emigranten gründeten vor allem in den USA und in London neue Zentren, die sich nun an den dortigen Gegebenheiten orientierten und sich zunehmend unabhängig von der Wiener Lehre, aber auch unabhängig voneinander entwickelten. So entstanden in den USA die Neopsychoanalyse und die amerikanische Ich-Psychologie und in London die Objektbeziehungstheorie. Beide waren später für die weiteren Entwicklungen hin zu einem psychoanalytischen »Mainstream« maßgeblich. Frankreich blieb von diesen Entwicklungen lange unberührt und entwickelte mit der Strukturalen Psychoanalyse eine ganz eigene Richtung. In Deutschland und Österreich kam es im »Dritten Reich« zu einem weitgehenden Verstummen, während in der politisch neutralen Schweiz starke eigenständige Strömungen bestanden, vor allem die Analytische Psychologie von C. G. Jung und die Daseinsanalyse, die auf Ludwig Binswanger zurückgeht.
Die Kriegs- und Nachkriegsjahre waren über Jahre und Jahrzehnte durch einen geistig-kulturellen Nachholbedarf geprägt, an dem auch die Psychoanalyse partizipierte und der ihr zugleich einen bedeutenden Platz in Forschung und Gesellschaft eröffnete. Psychoanalytiker beteiligten sich an der Bearbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit. Sie halfen bei der Neuordnung des Bildungs- und Sozialsystems. Mit der dynamischen Psychiatrie wurde die analytisch orientierte Behandlung von Psychosen zu einem festen Bestandteil der Gesundheitssysteme. Die Psychosomatik analytischer Provenienz bereicherte das Verständnis der »neuen« Erkrankungen, die seit dem Zweiten Weltkrieg im Zunehmen begriffen waren. Durch systematische Erfolgsuntersuchungen gelang es, der analytischen Psychotherapie öffentliche Anerkennung zu verschaffen. In Deutschland wurde sie 1967 als Pflichtleistung im öffentlichen Gesundheitssystem verankert.
Der Aufwärtstrend gipfelte schließlich in einer überraschenden Resonanz für die »Botschaften« der Psychoanalyse im Zusammenhang mit den Revolten und Umbrüchen der sog. 1968er Jahre. Sie wurde plötzlich zu einem der Referenzpunkte für die kritische Generation der Studenten und Intellektuellen. In der Folge gelangte die Psychoanalyse zu einer beachtlichen Blüte. In den kulturellen Zentren boomte das Interesse an psychoanalytischer Literatur. Freud und Wilhelm Reich5 hatten Konjunktur. In Paris wurde Jaques Lacan zu einem Idol der 68er Bewegung.6 Psychoanalytisches Gedankengut fand in den öffentlichen Diskursen Niederschlag und befruchtete fast alle Bereiche des öffentlichen Lebens. Das analysefreundliche Klima bestimmte die Gesundheits-, Hochschul- und Wissenschaftspolitik und bewirkte, dass die Psychoanalyse sich in Gesellschaft und Institutionen fest etablierte.
Diese Blüte währte etwa zwei Jahrzehnte, erfasste mit unterschiedlichen Schwerpunkten die meisten westlichen Länder und führte zu einer erheblichen Vermehrung der Psychotherapeuten, welche diverse Ausbildungen absolvierten, und zu einer deutlichen Verbesserung der Versorgungslage. Dann stellte sich eine Wende ein, mit der sich der Wind gegen die Psychoanalyse richtete. Plötzlich galt sie als ineffektiv und in intellektuellen Kreisen als veraltet und rückständig. Wissenschaftstheoretiker wie Karl Popper, Thomas S. Kuhn und Adolf Grünbaum bezweifelten sogar ihren Status als Wissenschaft.7 Es entstand ein regelrechtes Freud-Bashing, das sich in regelmäßigen Auslassungen in den Journalen und Magazinen wie dem Spiegel, der Zeit oder Newsweek Ausdruck verschaffte.
Erst eine gewisse Anerkennung durch die Neurowissenschaften in den 1990er Jahren, zu der der US-amerikanische Nobelpreisträger Eric Kandel beitrug,8 und eine regelrechte Medienkampagne anlässlich von Freuds 150. Geburtstag bewirkten wieder eine Neubesinnung auf Freuds Verdienste und ließen sein Erbe und die Weiterentwicklungen in einem freundlichen Licht erscheinen.
Abb. 1.1:Freud-Bashing. In den 1980er und 1990er Jahren erschienen regelmäßig kritische und z. T. unsachlich abwertende Artikel gegen die Psychoanalyse, die sich allerdings überwiegend auf damals bereits überholte Teile der Freud'schen Lehre bezogen und die modernen Entwicklungen nicht hinreichend berücksichtigten. Hier: »Zweifel an Freud« im Spiegel 52/1984 (© Michael M. Prechtl/DER SPIEGEL)
Die Popularisierung durch die 1968er Bewegung erschien für die Psychoanalyse zunächst förderlich, auch wenn hier und da eine gewisse Entfremdung von ihren Zielen und Methoden zu erkennen war. Sie ging allerdings weniger auf das Konto der Psychoanalytiker selbst. Sie war vielmehr einer unzureichenden Durchdringung ihrer Ideen durch »Laien« geschuldet, die sich ihrer vermehrt bedienten.
Andererseits zeigt sich seit etwa 1975 ein zunehmender Pluralismus der Konzepte, Methoden und Therapieverfahren, die ihr Profil nachhaltig veränderten. Beide Phänomene bestanden nach meiner Auffassung unabhängig voneinander. Die zunehmende Vervielfältigung und Auflösung eines einheitlichen Profils als Wissenschaft und Praxis hängen vor allem mit den folgenden Faktoren zusammen:
Freuds leitende Konzepte, vor allem die Triebtheorie, die zu seinen Lebzeiten die Grundlage psychoanalytischen Denkens darstellte, vermochte die zunehmende Breite von Indikationen und klinischen Erfahrungen auf Dauer nicht mehr ausreichend abzudecken. Mit der Hinwendung zu neuen Indikationsgebieten, insbesondere mit der Erschließung der frühen und schweren Pathologien, der strukturellen und Persönlichkeitsstörungen, wurde das Gebäude der psychoanalytischen Theorie brüchig.
Diese Entwicklung wurde durch das Verblassen der Präsenz von Freud eingeläutet, der die Einheit der Psychoanalyse als politisches Ziel mit all seiner Autorität verfolgt hatte. Zudem hatte die Entwicklung in den USA mit ihrer eigenwilligen kulturoptimistischen Interpretation Freuds nicht nur die Neopsychoanalyse hervorgebracht, sondern von Anfang an eine gewisse Distanz zu Freuds genuinem Denken, seiner Libidotheorie und anthropologischen Schriften bewahrt.
Ein weiterer Grund für die wachsende Pluralität waren die eigenständigen Entwicklungen regionaler Strömungen und autonomer Schulrichtungen in den verschiedenen neuen Zentren der Psychoanalyse, die wegen des Zweiten Weltkrieges lange kaum in Kontakt miteinander standen.
Es fehlte zudem eine überragende einigende Persönlichkeit. So entwickelten sich die britische Objektbeziehungstheorie und die amerikanische Ich-Psychologie weitgehend unabhängig voneinander, und selbst innerhalb der USA entstanden keine tragfähigen Verbindungen zwischen neueren Richtungen wie der interpersonalen Neopsychoanalyse Sullivans und dem Mainstream der dortigen Entwicklung.
So entstand ein zunehmender Pluralismus. Der gemeinsame Grund zwischen Freudianern und Neopsychoanalytikern, Objektbeziehungspsychologen, Ich-Psychologen und Selbstpsychologen schien sich immer stärker aufzulösen. Das geschah erkennbar ab etwa 1950, als die Psychoanalyse sich vom intrapsychischen zum objektbeziehungstheoretischen Paradigma oder – wie der ungarisch-englische Psychoanalytiker Michael Balint9 es nannte – von der Ein- zur »Zwei-Personen-Psychologie« wandelte. Diese Wende war mit der Erkenntnis verbunden, dass es neben Triebwünschen weitere Grundbedürfnisse des Menschen gibt, sie sich als Beziehungswünsche zusammenfassen lassen: Wünsche nach Bezogenheit, Sicherheit, Anerkennung und andere objektbezogene Bedürfnisse.
Kasten 1.1: Paradigmen in der Psychoanalyse
Bis 1950: Einpersonales intrapsychisches Modell, Dominanz der Triebpsychologie: Psychische Prozesse als Reaktion auf den biologisch determinierten Trieb
Um 1950: Wende von der Ein- zur Zwei-Personen-Psychologie: Entdeckung der Beziehung als Entwicklungsrahmen
Ab 1970: Interpersonale Wende: Intersubjektivität als Matrix der subjektiven Psyche
Seit den 1970er Jahren wurde der gemeinsame Bezug der Psychoanalytiker auf Freuds Metapsychologie immer stärker in Frage gestellt. Es entstanden völlig neue Denkmodelle, die heute unter dem Begriff der intersubjektivenAnsätze zusammengefasst werden. Sie lösten sich mehr und mehr von Freuds naturwissenschaftlich-positivistischer Grundposition. Sie suchten den Sinn des menschlichen Verhaltens in unbewussten Bedeutungen unabhängig von jeder biologischen Grundlage. Diese Richtungen verstanden die Psychoanalyse als eine rein psychologische, hermeneutische Wissenschaft.10 Sie betrachteten die Intersubjektivität, d. h. die zwischenmenschliche Beziehung und Bezogenheit als die Matrix der subjektiven Psyche. Das Selbst wurde nun zunehmend als eine Konstruktion aus der Beziehung heraus verstanden. Damit entstanden auch die ersten rein interpersonellen bzw. intersubjektivistischen Modelle des psychoanalytischen Prozesses.
Veränderungen so grundsätzlicher Art sind im Allgemeinen schmerzhaft. Sie sind mit untergründigen Loyalitätskonflikten behaftet, bedeuten sie doch Verlust und Abschied von der Führungspersönlichkeit und im Unbewussten vielleicht sogar Vatermord. Hier sei an Freuds frühe kulturtheoretische Schrift Totem und Tabu11 von 1912 erinnert, in der er den Vatermord als zentrales Motiv des Kulturprozesses beschrieben hat. In Deutschland und Österreich war der Abschied von Freud als Vater der Psychoanalyse zudem durch die reale Schuld durch die Vertreibung der Juden belastet, für die auch Freud stand.
Solch grundsätzliche Veränderungen wie die Relativierung der Triebpsychologie und der Paradigmenwechsel von der Ein- zur Zwei-Personen-Psychologie und schließlich hin zu den interpersonellen Ansätzen stellen das Integrations- und Orientierungsvermögen der Beteiligten auf eine harte Probe. Folgerichtig verbreitete sich in der Psychoanalyse, die sich über Jahrzehnte in besonderer Treue zu Freud befunden hatte, eine zunehmende Krisenstimmung. Die Theoriekrise weitete sich aus zu einer Krise der psychoanalytischen Identität. Was war, was ist Psychoanalyse?
Um 1980 entstand eine ernsthafte Sorge um den Verlust der gemeinsamen Basis. Auf der Höhe dieser Krise stellte Robert Wallerstein in seiner berühmten Eröffnungsrede zum Internationalen Psychoanalytischen Kongress in Montreal 1987 besorgt die Frage, was die Psychoanalytiker denn noch zusammenhält. Wallersteins Antwort war der Bezug auf das, was er (mit George Klein) die »klinische Theorie« nannte: Trotz aller Vielfalt der Konzepte vereint die Psychoanalytiker danach die Konzentration auf die klinischen Interaktionen im Behandlungszimmer, also die Gegenwart des Unbewussten im Hier und Jetzt.12 Wenn man diese Basis