Psychologie der Massen - Gustave Le Bon - E-Book

Psychologie der Massen E-Book

Gustave Le Bon

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Beschreibung

Gustave Le Bon (1841 - 1931) analysiert in seinem 1895 erstmals erschienenen Buch "Psychologie der Massen" zeitlos, und daher bis heute aktuell, die Verhaltensweisen der Massen. Seine Erkenntnisse sind hervorragend geeignet, heutige politische und gesellschaftliche Entwicklungen in ihren Zusammenhängen zu beleuchten und zu verstehen .

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© 2021 Holger Schulz

Verlag und Druck:

treditìon GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN

 

Paperback:

978-3-347-38049-3

Hardcover:

978-3-347-38050-9

e-Book:

978-3-347-38051-6

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Der französische Originaltext Gustave Le Bons erscheint 1895 unter dem Titel „Psychologie des Foules“. Die deutsche Übersetzung von Dr. Rudolf Eisler veröffentlicht der Verlag Dr. Werner Klinkhardt in Leipzig im Jahr 1908.

Der Text des vorliegenden Buches folgt der autorisierten Übersetzung der 2. Auflage. Die Originalübersetzung habe ich bearbeitet, sehr behutsam, indem ich die Orthografie den aktuellen Regeln der deutschen Rechtschreibung angepasst habe.

Holger Schulz (Hg.)

Titelbild: Gerd Altmann Pixabay lizenzfrei

Umschlaggestaltung: Simona Jekabsons

Gustave Le Bon

Psychologie der Massen

Gustave Le Bon, ca. 1900

Wikimedia Commons Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Inhaltsverzeichnis

Vorwort des Herausgebers

Vorwort

Einleitung

Die Ära der Massen

Erstes Buch

Die Massenseele

1. Kapitel

Allgemeine Charakteristik der Massen

2. Kapitel

Gefühlsleben und Sittlichkeit der Massen

3. Kapitel

Ideen, Schlussvermögen und Einbildungskraft der Massen

4. Kapitel

Die religiösen Formen der kollektiven Überzeugungen

Zweites Buch

Anschauungen und Überzeugungen der Massen

1. Kapitel

Entfernte Faktoren der Anschauungen und Überzeugungen der Massen

2. Kapitel

Direkte F aktoren der Anschauungen der Massen

3. Kapitel

Die Führer der Massen und ihre Überzeugungsmittel

4. Kapitel

Grenzen der Veränderlichkeit der Anschauungen und Überzeugungen der Massen

Drittes Buch

Klassifikation und Einteilung der Massenformen

1. Kapitel

Klassifikation der Massen

2. Kapitel

Die sogenannten kriminellen Massen

3. Kapitel

Die Geschworenen bei den Assisengerichten

4. Kapitel

Die Wählermassen

5. Kapitel

Die Parlamentsversammlungen

Nachwort des Herausgebers

Vorwort des Herausgebers

Gustave Le Bon (1841 - 1931) ist eine herausragende Gestalt in der Geschichte der Psychologie und der Soziologie, und er beeinflusst wesentlich die französische Politik, das intellektuelle Leben und die Entwicklung der französischen Gesellschaft zur Zeit Ende des 19. Jahrhunderts und Anfang des 20. Jahrhunderts.

Le Bons größte Makel, die vor allem heute, 90 Jahre nach seinem Tod, gerne erwähnt werden, seien hier gleich vorweg herausgestellt: Er ist zum einen ein unabhängiger Denker, der sich nicht scheut, sich im Widerspruch zu breiten gesellschaftlichen Strömungen oder Institutionen, so zum Sozialismus oder zur katholischen Kirche, deutlich zu äußern. Unabhängiges Denken und unkonformistische Meinungen sind (damals und heute) Ausnahmen, die von den an den herrschenden Geist Angepassten nicht geduldet und vehement bekämpft werden.1

Zum anderen fehlen in kaum einem Essay oder einer Biografie über Le Bon negativ wertende Feststellungen über seinen Einfluss auf Tyrannen im 20. Jahrhundert.Jedoch: Die Hinweise heutiger Moralisten und Besserwisser, dass manche totalitären Gestalten in der Politik, auch Diktatoren übelster Art, so Mussolini, Hitler, Stalin und Mao, dass diese Protagonisten des Schreckens sich von Le Bon haben inspirieren lassen, dürfte ein unvoreingenommener Beobachter nicht Le Bon zuschreiben, der wahrlich nicht für ungezählte Gräuel im 20. Jahrhundert verantwortlich gemacht werden kann. Le Bon ist der nüchterne Analytiker, der vor Diktaturen, rechten wie linken, warnt.

Le Bon hat als promovierter Arzt, Anthropologe und Soziologe seine besondere Aufmerksamkeit dem Verhalten der Menschen gewidmet. In seinem literarischen Schaffen, 43 Werke veröffentlicht er im Laufe seines langen Lebens, nimmt daher die Psychologie einen breiten Raum ein. Zahlreiche Bücher veröffentlicht er unter dem Leitwort „Psychologie“.2

Le Bon beeinflusst nicht nur die Wissenschaften sondern auch das gesellschaftliche und politische Leben in Frankreich. Zusammen mit dem Psychologen und PhilosophenThéodule Ribot begründet Le Bon die wöchentlichen „Déjeuners du Mercredi“, Zusammenkünfte verschiedener Intellektueller zum Gedankenaustausch. Einflussreiche Gestalten der damaligen Zeit, wie Raymond Poincaré (mehrfach Ministerpräsident, später Staatspräsident in Frankreich), Paul Valéry (Philosoph), Aristide Briand (mehrfach Ministerpräsident), folgen den Einladungen zum Déjeuner.

Drei zentrale Ereignisse in Frankreich mögen die Sensibilität Le Bons für gesellschaftliche Entwicklungen geschärft haben: Die französische Niederlage im deutsch-französischen Krieg 1870/71 mit dem anschließenden Aufstand der Pariser Kommune, der Aufstieg und die Popularität Georges Boulangers („Général Revanche“), der als Kriegsminister unermüdlich Revanche für den verlorenen Krieg propagiert und die Dreyfus-Affaire, dem politischen (und rassistischen) Skandal, in dessen Verlauf der Offizier Alfred Dreyfus fälschlicherweise des Verrats militärischer Geheimnisse beschuldigt und verurteilt wird. Diese Ereignisse dominieren die französische Politik jahrzehntelang.

Das bekannteste Buch Gustave Le Bons ist das im Jahr 1895 in Paris veröffentlichte Werk „Psychologie der Massen“ („La Psychologie des Foules“), das, in viele Sprachen übersetzt, bis heute immer wieder in neuenAuflagen verbreitet wird.3 Es ist ein Standardwerk, von dem zahlreiche Sozialwissenschaftler gezehrt haben und manche auch aktuell noch zehren. Die französische Zeitung „Le Monde“ hat im Jahr 2009 die „Psychologie der Massen“ zu den zwanzig Büchern gezählt, die die Welt verändert haben. Das Buch sei ein herausragendes Geschichtsdokument. NebenLe Bon stehen auf der Liste der Weltveränderer u.a. Darwin, Einstein, Freud, Voltaire, Rousseau, Marx, Engels, Smith und von Clausewitz.

In linken Gesellschafts- und Soziologenkreisen ist Le Bon nicht wohl gelitten, ein Umstand, der weniger an seinen Erkenntnissen in seinem Buch „Psychologie der Massen“ liegen dürfte, sondern eher in seinem in den Jahren 1898 und 1902 (in überarbeiteter Form) erschienenenWerk „Psychologie des Sozialismus“, in dem er kritisch den Sozialismus analysiert.

„Man kann kein Sozialist sein, ohne jemanden oder etwas zu hassen. Sozialisten hassen die momentane Gesellschaft, aber sie hassen sich selbst viel mehr“, schreibt Le Bon und fährt fort: „Knechtschaft, Elend und Caesarismus sind die unvermeidlichen Abgründe, zu denen alle sozialistischen Wege führen.“4 Le Bon schließt seine umfangreiche Analyse des Sozialismus und der mit ihm verbundenen Gefahren mit dem Hinweis ab, wie der Sozialismus bekämpft werden könne: „Es ist Aufgabe der Schriftsteller, so gering ihr Einfluss auch sein mag, eine solche Katastrophe im eigenen Land abzuwenden.“ Le Bon ist durch die geschichtliche Entwicklung in den rund 120 Jahren nach der Veröffentlichung seiner beiden Hauptwerke bestätigt worden. Der Sozialismus hat weltweit Unheil gebracht, der Sozialismus wird immer Unheil bringen.

Das hier vorliegende Buch Le Bons, die „Psychologie der Massen“, besticht durch die klare, stringente Darstellung eines Soziologen, der, im Gegensatz zu einigen, oder besser vielen Wissenschaftlern seiner Zunft, seine Sprache so wählt, dass die Leser seiner Darstellung auch ohne soziologische Vorbildung folgen können.Le Bon ist verständlich und wird verstanden. Er benennt ohne mäandrierende Umschweife klar, kraftvoll und intellektuell beeindruckend seine Positionen, ohne die heute weit verbreitete Angst, bei empfindlichen Geistern mit seinen Äußerungen auf Missfallen zu stoßen.

Daher ist Le Bon heute „umstritten“ („une personalité controversée“, französische Wikipedia), so wie missliebige Personen, die nicht den aktuell herrschenden politischen Stereotypen entsprechen, gerne bezeichnet werden. Ein Individualist, Gegner des Egalitarismus und des Kollektivismus, der über Massen schreibt, der die Gefährlichkeit der Massen erkennt, die den Untergang einer Zivilisation befördern, dieser Mensch, der selber friedlich in Ruhe und Ordnung lebt, ist heute bei Vielen verpönt.

Am Rathaus in Marnes-la-Coquette, dem Ort, in dem Le Bon viele Jahre seines Lebens verbracht hat, ist vor längerer Zeit noch, wann, ist nicht mehr zu ermitteln, eine Tafel angebracht worden, auf der Le Bon als Offizier der Ehrenlegion, als Philosoph, Soziologe, Arzt und sogar als Förderer der Atomwissenschaft geehrt wird.5In der französischen Wikipedia wird Le Bon nunmehr statt als Wissenschaftler als Amateurwissenschaftler herabgestuft, Philosoph ist er auch nicht mehr, und er wird als rassistischer Theoretiker gebrandmarkt. Und die Frage, ob er tatsächlich Arzt ist oder eher ein Gesundheitsbeamter, dient auch dazu, Le Bon herabzuwürdigen.

Die Stadt Paris hat eine knapp einhundert Meter lange Straße, trist, eng mit Mietskasernen bebaut, mit lediglich einem Baum, keinem Strauch, nach Le Bon benannt. Dies ist schäbig. Zu einer angemessenen Ehrung Le Bons hat die Pariser Stadtverwaltung sich nicht überwinden können.

Bereits einen Tag nach seinem Tod wird das Bild Le Bons in der Presse verfälscht. Er habe an die Zukunft des Sozialismus geglaubt, schreibt der „Figaro“ am 15. Dezember 1931 in einem Nachruf, dabei ignorierend, dass Le Bon mit seinem Werk „Psychologie des Sozialismus“ eine mehrere hundert Seiten umfassende Untersuchung vorgelegt hat, in der er unter anderem die Konflikte zwischen der Demokratie und dem Sozialismus sowie die Unvereinbarkeit von erfolgreicher Wirtschaft und Sozialismus dargelegt hat.6 Das letzte Kapitel des Buchesträgt übrigens die Überschrift: „Wie der Sozialismus bekämpft werden kann.“

Allerdings ist der Nachruf im „Figaro“ insofern kryptisch, als geschrieben steht, Le Bon habe fest an die Zukunft des Sozialismus geglaubt. Dabei vergisst die Zeitung zu erwähnen, dass er diese Zukunft als trostlos und bedrückend ansieht.

Auch noch Jahrzehnte nach der Veröffentlichung der „Psychologie des Sozialismus“, 1898, ist Le Bon davon überzeugt, dass der Sozialismus mit seinem Bestreben nach Gleichheit ein Trugschluss ist: „Der Durst nach Ungleichheit scheint ein nicht nachlassendes Bedürfnis der menschlichen Natur zu sein. Wir wissen, mit welchem Eifer die Konventsmitglieder, die der Guillotine entkamen, Napoleon um Adelstitel ersuchten. Der egalitäre Traum, der sie zu so vielen Massakern geführt hatte, war daher in Wirklichkeit nur ein heftiger Wunsch nach Ungleichheit zu ihrem Vorteil. Darüber hinaus hat die Geschichte übrigens noch kein Land hervorgebracht, in dem Gleichheit herrschte.“7

Bei der Lektüre seines Buches „Psychologie der Massen“ werden die Leser immer wieder auf den BegriffRasse stoßen. In einem Abschnitt des Buches (Zweites Buch, I. § 1)) identifiziert Le Bon unter anderen Faktoren auch die Rasse als Charakteristikum für die Anschauungen und Überzeugungen der Massen und widmet der Rasse dort ein eigenes Kapitel.

Für manche der heutigen Leser dürfte der Begriff der Rasse verstörend wirken. Es erscheint mir wichtig, schon im Vorwort darauf hinzuweisen, dass Le Bon die Rasse nicht als anthropologisches Kennzeichen sieht, sondern unter einer Rasse die jeweils prägenden Elemente einer Masse, ihren Glauben, ihr Verhalten, versteht. Äußerlich zeigten sich die Charakteristika einer Rasse in ihren Glaubenssätzen, ihren Institutionen, ihrer Kunst. Le Bon hat in mehreren seiner Werke umfangreiche Abhandlungen über die Rassen veröffentlicht und dort seine Definition der Rasse ausführlich erläutert.8

In seinem Buch „Psychologie des Sozialismus“ erläutert Le Bon ausführlich seine Auffassung über Rassen: „Den Begriff der Rasse verstehe ich überhaupt nicht im anthropologischen Sinne, da seit langem, außer bei Naturvölkern, reine Rassen fast verschwunden sind. Bei zivilisierten Völkern gibt es jetzt nur noch das, was ich an anderer Stelle als ‚historische Rasse‘ bezeichnet habe, also jene Rasse, die vollständig durch historische Ereignisse geprägt ist. Solche Rassen entstehen, wenn ein Volk, das manchmal aus Menschen sehr unterschiedlicher Herkunft besteht, seit Jahrhunderten ähnliche Lebensbedingungen und Lebensweisen, gemeinsame Institutionen und Überzeugungen sowie eine einheitliche Bildung tradierte. Solange die beteiligten Bevölkerungsgruppen nicht zu unterschiedliche Ursprünge haben (…) verschmelzen sie und erhalten eine nationale Seele, das heißt ähnliche Gefühle, Interessen und Denkweisen.“9

Die heutige Sekundärliteratur kommt in der Regel nicht ohne Schmähung Le Bons aus. Nicht nur Rassismus wird ihm vorgeworfen, sondern in zeitgemäßerAbsonderlichkeit auch gleich Sexismus und Antisemitismus.10

Wer auch immer den Gedenkstein für Gustave Le Bon auf dem Pariser Friedhof Père-Lachaise mit roter Farbe und der Aufschrift „Founder of Racist Theories“ und einem eingeritzten Hakenkreuz (als Hakenkreuz in der Darstellung des Jainismus aus dem 5. Jahrhundert vor Christus, nicht des Nationalsozialismus) beschmiert hat, derjenige zeigt, dass er, so er Le Bon überhaupt gelesen, nicht verstanden hat. Le Bon wird mit den Schmierereien unrecht getan.

Le Bons „Psychologie der Massen“, hat nach meiner Auffassung vor allem deshalb über viele Jahrzehnte seine herausragende Bedeutung bewahrt, weil Le Bon Hauptströmungen der gesellschaftlichen Entwicklungen bis heute treffend vorausgesehen hat. Er prophezeit in der Einleitung seines Buches, man werde mit einer neuenMacht, „mit der Macht der Massen (…) zu rechnen haben.“ Und die Massen haben Macht.

Le Bon unterstreicht seine Erkenntnisse im Wesentlichen mit Verweisen auf Entwicklungen in Frankreich während und nach der Revolution 1789, dem napoleonischen Zeitalter und den Revolutionen in den Jahren 1830 und 1848 sowie auf Ereignisse der Pariser Kommune 1871.

Um dem heutigen Leser die Zeitlosigkeit der Überlegungen Le Bons zu demonstrieren, habe ich im Anhang zu seinem Werk einzelne Passagen des Buches herausgegriffen und mit heutigen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Beziehung gebracht. Ich hoffe, damit die Aktualität Le Bons deutlich machen zu können.

Eine abschließende Anmerkung in diesem Vorwort gilt der deutschen Übersetzung des vorliegenden Buches von Rudolf Eisler. Diese Übersetzung aus dem Jahr 1908 ist dank der ausgefeilten Sprache auch heute noch frisch, unverbraucht und verständlich. Ich habe den Text lediglich nach den Regeln der neueren deutschen Rechtschreibung angepasst und die früher übliche „e“-Endung der maskulinen und neutralen Substantive entfernt. Letzteres ist mir bei manchen Sätzen schwergefallen, wenn die Sprachmelodie ohne „e“-Endung beeinträchtigtwird. Jedoch wirkt der Text nunmehr uns Heutigen zeitgemäßer.

Bemerkenswert erscheint mir, dass die Sprache in dieser Übersetzung nach mehr als einhundert Jahren immer noch aktuell und ansprechend ist. Um den eleganten Sprachstil dieses Buches zu wahren, werde ich, so wie in diesem Vorwort und dem umfangreicheren Nachwort, nicht „gendern“, denn damit wird die Sprache schwerfällig, umständlich und vor allem in den unsäglichen Auswüchsen ihrer Redundanz und Doppelformen unverständlich. „Gendern“ ist nicht nur hässlich, sondern auch eine Zumutung für den Leser.

Ich werde immer versuchen, der Verhunzung der Sprache entgegenzuwirken.

September 2021

Holger Schulz

1 „He thinks too much, such men are dangerous“, sagt Caesar über Cassius (Er denkt zu viel, solche Männer sind gefährlich). William Shakespeare, „Julius Caesar“, 1. Akt, 2. Szene.

2 Die Psychologie ist Le Bons Hauptthema, während mehrerer Jahrzehnte veröffentlicht Le Bon Bücher zu diesem Thema: „Die psychologischen Grundgesetze der Völkerentwicklung“ (1894), „Psychologie des Sozialismus“ (1898), „Psychologie der Erziehung“ (1902), „Psychologie der Politik“ (1910), „Psychologische Lehren des europäischen Krieges“ (1915), „Psychologie der neuen Zeit“ (1920) und das hier vorliegende Buch „Psychologie der Massen“ (1895).

3 Le Bons Hauptwerk, die „Psychologie der Massen“ ist auf Deutsch zuerst im Jahr 1908 veröffentlicht worden. Die Übersetzung stammt von Rudolf Eisler, dem österreichischen Philosophen, der als Rudolphe Eisler jahrelang in Paris gelebt hat. Eislers Übersetzung der „Psychologie des Foules“ als „Psychologie der Massen“ erscheint mir, vielleicht auch nur aus heutiger Sicht, als nicht treffend, weil der Begriff Masse eine bestimmte Assoziation hervorruft, die die Masse als eine amorphe, also ungeordnete, unstrukturierte, ungeformte Menschenmenge determiniert, der gerade nicht psychologische Erkenntnisse und Eigenschaften zugeordnet werden können. Der Begriff Menge erschiene mir wesentlich treffender, weil in der Menge die individuellen Interessen ihrer einzelnen Elemente abgebildet werden und dadurch die Verhaltensweise der Menge prägen. Le Bon verwendet nicht den Begriff „Masses“, sondern „Foules“, also Menschenmenge. Jedoch hat sich für das französische „Foule“ der Begriff Masse durchgesetzt.

4 Gustave Le Bon: „Psychologie des Sozialismus“, Hamburg 2019, S. 364 f.

5 „HOMMAGE AU DOCTEUR GUSTVE LE BON, GRAND OFFICIER DE LA LEGION D´HONNEUR, NE A NOGENT LE ROTROU LE 7 MAI 1841, PHILOSOPHE, SOCIOLOGUE, PHYSICIEN, PROMOTEUR DE LA SCIENCE ATOMIQUE. IL A PASSE A MARNES-LA COQUETTE LES PLUS LONGUES ANNEES DE SA VIE, OU IL EST MORT LE 14 DECEMBRE 1931.“

6 „Le Figaro“: „Gustave Le Bon est mort“, 15. Dezember 1931: „Il croyait beaucoup à l´avenir du socialisme.“

7 Gustave Le Bon: „Les Incertitudes de l´heure présente“, Paris 1923, S. 29 Die Sammlung von Aphorismen hat Le Bon seinem Freund Aristide Briand gewidmet.

8 In einem seiner Bücher („Lois psychologiques de l´évolution des peubles“, Paris 1895, 2e édition revue) klassifiziert Le Bon die Menschen nach Rassen, allerdings ausschließlich nach psychologischen Kriterien (primitive, niedere, mittlere, höhere Rassen).

Das Leben der Völker werde von wenigen unveränderlichen psychologischen Faktoren beherrscht. Die Intelligenz und das Wissen nähmen zu, aber dennoch würden die Gefühle, Leidenschaften und Illusionen, Hass, Liebe, Ehrgeiz, Habgier und Dünkel unveränderlich seit der Zeit der Höhlenmenschen bleiben. Nur wenig von der Intelligenz beeinflusst, würden die Völker, sagt Le Bon, vor allem von ihrem Rassencharakter geleitet. Der Rassencharakter zeige sich in erblichen Eigenschaften, den Gefühlen, Bedürfnissen, Gewohnheiten und Überlieferungen.

9 „Psychologie des Sozialismus“, a.a.O., S. 123.

10 Beispiele: „Rassentheorie, geschlechtsspezifische Charakterisierung sowie Zuschreibung psychologischer Volksmerkmale sind vom späteren Standpunkt aus pseudowissenschaftlich und für ein tatsächliches Verständnis der psychologischen Abläufe in Massenbewegungen denkbar ungeeignet.“ Le Bons Aussagen „sind zweifelsfrei als rassistisch und sexistisch zu klassifizieren.“ (Simone Bigeard: „Ernst Toller - Facetten eines schriftstellerischen Werks zwischen den Weltkriegen“, Diss. Karlsruhe 2018, S. 266).

„Modern mob rule, its emotions fed by an irresponsible ‚yellow journalism‘, also played a role in some psychological studies, which saw in anti-Semitsm a special aspect of Gustave le Bon´s ‚Psychologie des foules‘“ (Dik van Arke: „The Drawing of the Mark of Cain“, Amsterdam 2009, S. 29).

 

Th. Ribot

freundlichst gewidmet.

Gustave Le Bon

Vorwort

Meine frühere Arbeit war der Schilderung der Rassenseele gewidmet. Nunmehr wollen wir die Massenseele studieren.

Der Inbegriff der gemeinsamen Merkmale, welche allen Mitgliedern einer Rasse durch Vererbung zuteil wurden, macht die Seele dieser Rasse aus. Es zeigt sich aber, dass, wenn eine gewisse Anzahl dieser Individuen sich massenweise zum Handeln vereinigt, aus dieser Zusammenkunft als solcher gewisse neue psychologische Eigentümlichkeiten sich ergeben, die zu den Rassenmerkmalen hinzukommen und sich von ihnen zuweilen erheblich unterscheiden.

Zu allen Zeiten haben die organisierten Massen eine wichtige Rolle im Völkerleben gespielt, niemals aber in so hohem Maße wie heutzutage. Die an die Stelle der bewussten Aktivität der Individuen tretende unbewusste Massenwirksamkeit bildet ein wesentliches Kennzeichen der Gegenwart.

Ich habe versucht, das schwierige Problem der Massen in streng wissenschaftlicher Weise zu bearbeiten, also methodisch und unbekümmert um Meinungen, Theorien und Doktrinen. Nur so, glaube ich, kommt man zur Auffindung von Wahrheitselementen, besonders wenn es sich, wie hier, um eine die Geister lebhaft erregende Frage handelt. Der um die Festlegung eines Phänomens bekümmerte Forscher hat sich um die Interessen, die durch seine Feststellungen tangiert werden können, nicht zu sorgen. Ein ausgezeichneter Denker, Goblet d’Alviela, hat in einer seiner Schriften bemerkt, „ich gehöre keiner zeitgenössischen Richtung an und gerate zuweilen in Gegensatz zu gewissen Folgerungen aller dieser Schulen.“ Hoffentlich verdient die vorliegende Arbeit das gleiche Urteil. Zu einer Schule gehören heißt, deren Vorurteile und Standpunkte annehmen müssen.

Ich muss jedoch dem Leser erklären, warum er mich aus meinen Studien wird Schlüsse ziehen finden, die von denen abweichen, welche auf den ersten Anblick daraus resultieren, indem ich z. B. den außerordentlichen geistigen Tiefstand der Massen konstatiere und dabei doch behaupte, es sei ungeachtet dieses Tiefstandes gefährlich, die Organisation der Massen anzutasten.

Eine aufmerksame Beobachtung der geschichtlichen Tatsachen hat mir nämlich stets gezeigt, dass, da die sozialen Organismen ebenso kompliziert als die anderen Organismen sind, es ganz und gar nicht in unserer Macht steht, sie in brüsker Weise tief gehenden Umwandlungen zu unterwerfen. Nicht selten ist die Natur radikal, aber nicht so, wie wir es verstehen; daher gibt es nichts Traurigeres für ein Volk als die Manie der großen Reformen, so vortrefflich diese Reformen theoretisch erscheinen können. Nützlich wären sie nur dann, wenn es möglich wäre, die Volksseelen plötzlich zu ändern. Die Zeit allein hat diese Macht. Die Menschen werden von Ideen, Gefühlen und Sitten geleitet, von Dingen, die in uns selbst sind. Die Institutionen und Gesetze sind die Offenbarung unserer Seele, der Ausdruck ihrer Bedürfnisse. Von dieser Seele ausgehend, können Institutionen und Gesetze sie nicht ändern.

Das Studium der sozialen Erscheinungen lässt sich nicht von dem der Völker, bei denen sie sich vollzogen haben, trennen. Philosophisch betrachtet, können diese Erscheinungen einen absoluten Wert haben, praktisch aber sind sie nur von relativem Wert.

Man muss demnach bei dem Studium einer sozialen Erscheinung dasselbe Ding nacheinander von zwei sehr verschiedenen Gesichtspunkten betrachten. Wir sehen also, dass die Unterweisungen der reinen Vernunft sehr oft denen der praktischen Vernunft entgegengesetzt sind. Es gibt keine Tatsachen, auch nicht auf physischem Gebiet, worauf diese Unterscheidung sich nicht anwenden ließe. Vom Gesichtspunkt der absoluten Wahrheit sind ein Würfel, ein Kreis unveränderliche geometrische Figuren, welche mittels bestimmter Formeln streng definiert werden. Für den Gesichtssinn können diese geometrischen Gestalten sehr mannigfache Formen annehmen. Die Perspektive kann in Wirklichkeit den Würfel in eine Pyramide oder in ein Quadrat, den Kreis in eine Ellipse oder Gerade verwandeln. Und diese fiktiven Formen sind von viel größerer Bedeutung als die realen Formen, denn es sind die einzigen, welche wir sehen und welche photographisch oder zeichnerisch sich reproduzieren lassen. Das Irreale ist in gewissen Fällen wahrer als das Reale. Es hieße die Natur deformieren und unkenntlich machen, wollte man die Dinge in ihren exakt geometrischen Formen vorstellen. In einer Welt, deren Bewohner die Dinge nur, ohne sie berühren zu können, zu kopieren oder zu photographieren vermöchten, würde man nur sehr schwer zu einer exakten Vorstellung ihrer Form gelangen. Und die Kenntnis dieser Form, die nur einer geringen Anzahl von Gelehrten zugänglich wäre, würde nur ein sehr schwaches Interesse erwecken.

Der Philosoph, der die sozialen Erscheinungen studiert, muss sich vor Augen halten, dass dieselben neben ihrem theoretischen auch einen praktischen Wert haben und dass der letztere vom Gesichtspunkte der Kulturentwicklung der einzig bedeutsame ist. Dies muss ihn gegenüber den Folgerungen, welche die Logik ihm zunächst darzubieten scheint, sehr auf der Hut sein lassen.

Zu solcher Reserve veranlassen ihn noch andere Beweggründe. Die Kompliziertheit der sozialen Tatsachen ist eine solche, dass man sie nicht in ihrer Gesamtheit umfassen und die Wirkungen ihrer wechselseitigen Beeinflussung voraussagen kann. Auch scheinen sich hinter den sichtbaren Tatsachen oft tausende unsichtbare Ursachen zu verbergen. Die sichtbaren sozialen Tatsachen scheinen die Resultante einer riesigen unbewussten Arbeit zu sein, die nur zu oft unserer Analyse unzugänglich ist. Die wahrnehmbaren Phänomene lassen sich den Wogen vergleichen, welche der Oberfläche des Ozeans die unterirdischen Erschütterungen mitteilen, deren Sitz er ist und die wir nicht kennen. In der Mehrzahl ihrer Handlungen bekunden die Massen zumeist eine absonderlich niedrige Geistigkeit; aber in anderen Handlungen scheinen sie von jenen geheimnisvollen Kräften geleitet, welche die Alten Schicksal, Natur, Vorsehung hießen, die wir die Stimmen der Toten nennen und deren Macht wir nicht verkennen können, so unbekannt uns auch ihr Wesen ist. Oft scheint es, als ob im Schoß der Völker latente Kräfte stecken, die sie leiten. Was gibt es z. B. Komplizierteres, Logischeres, Wunderbareres als eine Sprache? Und woher anders entspringt dennoch dieses so wohl organisierte und subtile Ding als aus der unbewussten Massenseele? Die gelehrtesten Akademien registrieren nur sorgfältig die Gesetze dieser Sprachen, konnten sie aber nicht schaffen. Selbst die genialen Ideen der großen Männer, wissen wir sicher, ob sie ausschließlich deren Werk sind? Gewiss sind sie stets Produkte einzelner Geister, aber die tausenden Staubkörner, welche den Boden zur Keimung dieser Ideen bilden, hat nicht die Massenseele sie erzeugt?

Ohne Zweifel sind die Massen stets unbewusst; aber dieses Unbewusste selbst ist vielleicht eines der Geheimnisse ihrer Kraft. In der Natur vollbringen die nur aus Instinkt wirkenden Wesen Handlungen, deren wunderbare Kompliziertheit uns staunen lässt. Die Vernunft ist für die Menschheit noch zu neu und unvollkommen, um uns die Gesetze des Unbewussten zu enthüllen und besonders um dieses zu ersetzen. In allen unseren Handlungen ist der Anteil des Unbewussten ungeheuer, der der Vernunft sehr klein. Das Unbewusste wirkt wie eine noch unbekannte Kraft.

Wollen wir uns also in den engen, aber sicheren Grenzen der wissenschaftlich erkennbaren Dinge halten und nicht auf dem Feld vager Vermutungen und nichtiger Hypothesen umherirren, dann müssen wir einfach die uns zugänglichen Phänomene feststellen und uns damit begnügen. Alle aus unseren Beobachtungen gezogene Folgerung ist meist vorzeitig, denn hinter den wahrgenommenen Erscheinungen gibt es solche, die wir schlecht sehen und vielleicht hinter den letzteren noch andere, die wir überhaupt nicht gewahren.

Einleitung

Die Ära der Massen

Die großen Erschütterungen, welche, wie der Fall des Römischen Reiches und die Begründung der arabischen Herrschaft, den Kulturveränderungen vorangehen, scheinen auf den ersten Anblick besonders durch bedeutsame politische Veränderungen bestimmt zu sein: durch Völkerinvasionen oder durch Sturz von Dynastien. Eine genauere Untersuchung dieser Ereignisse zeigt aber, dass sich zumeist hinter deren augenfälligen Ursachen als wirkliche Ursache eine tiefgehende Modifikation in den Ideen der Völker findet. Nicht jene, die uns durch ihre Größe und Heftigkeit verwundern, sind die wahren historischen Erschütterungen.

Die einzigen Veränderungen von Bedeutung, jene, aus welchen die Erneuerung der Kulturen fließt, vollziehen sich auf dem Gebiet der Ideen, der Gedanken und Glaubensinhalte. Die bemerkenswerten Ereignisse der Geschichte sind die sichtbaren Wirkungen der unsichtbaren Veränderungen des menschlichen Denkens. Wenn diese großen Ereignisse so selten stattfinden, so hat das seinen Grund darin, dass es nichts Stabileres in einer Rasse gibt, als das Erbgut ihrer Gedanken.

Das gegenwärtige Zeitalter bedeutet einen jener kritischen Momente, in denen das menschliche Denken sich umzubilden im Begriff ist.

Dieser Umwandlung liegen zwei Hauptfaktoren zugrunde. Erstens die Zerstörung der religiösen, politischen und sozialen Überzeugungen, aus denen alle Elemente unserer Zivilisation entspringen. Zweitens die Schaffung völlig neuer Existenz- und Denkbedingungen infolge der neuen Entdeckungen der Wissenschaft und der Industrie.

Da die Ideen der Vergangenheit, obwohl halb zerstört, noch sehr mächtig sind, und die Ideen, die sie ersetzen sollen, erst in der Bildung begriffen sind, so stellt die moderne Zeit eine Periode des Überganges und der Anarchie dar.

Was aus dieser notgedrungen etwas chaotischen Periode einmal entspringen wird, ist nicht leicht zu sagen. Auf welchen Grundideen werden sich die künftigen Gesellschaften aufbauen? Wir wissen es noch nicht. Schon jetzt aber sehen wir, dass sie bei ihrer Organisation mit einer neuen Macht, der letzten Herrscherin der Gegenwart, zu rechnen haben werden: mit der Macht der Massen. Auf den Ruinen so vieler einst für wahr gehaltener und jetzt toter Ideen, so vieler Mächte, die durch Revolutionen nach und nach gebrochen worden sind, hat diese Macht allein sich erhoben und scheint bald die anderen absorbieren zu wollen.

Während alle unsere alten Glaubenssatzungen schwanken und verschwinden und die alten Gesellschaftsstützen eine nach der anderen einstürzen, ist die Macht der Massen die einzige Kraft, die durch nichts bedroht wird und deren Ansehen nur wächst. Das Zeitalter, in das wir eintreten, wird in Wahrheit die Ära der Massen sein.

Vor kaum einem Säkulum bestanden die Hauptfaktoren der Ereignisse in der traditionellen Politik der Staaten und in den Rivalitäten der Fürsten. Die Meinung der Massen zählte wenig oder meist gar nicht. Heute zählen die politischen Traditionen, die individuellen Tendenzen der Herrscher und deren Rivalitäten nichts mehr, während im Gegenteil die Volksstimme das Übergewicht erlangt hat. Sie diktiert den Königen ihr Verhalten, und sie ist es, die diese zu vernehmen streben. Nicht mehr in den Fürstenberatungen, sondern in den Seelen der Massen bereiten sich die Völkerschicksale vor.

Der Eintritt der Volksklassen in das politische Leben, das heißt in Wahrheit ihre progressive Umwandlung zu leitenden Klassen, ist eines der einschneidendsten Kennzeichen der Übergangszeit. Dieser Eintritt wurde nicht durch das allgemeine Stimmrecht, das lange Zeit so wenig einflussreich und anfangs so leicht zu lenken war, markiert.

Die progressive Geburt der Massenmacht entstand zuerst durch die Verbreitung gewisser Ideen, die langsam von den Geistern Besitz ergriffen, dann durch die allmähliche Assoziation der Individuen zur Verwirklichung der theoretischen Anschauungen. Die Assoziation ist es, wodurch die Massen sich, wenn auch nicht sehr richtige, so doch wenigstens sehr bestimmte Ideen von ihren Interessen gebildet und das Bewusstsein ihrer Kraft erlangt haben.

Sie gründen Syndikate, vor welchen der Reihe nach alle Machtfaktoren kapitulieren, Arbeitsbörsen, die, allen Wirtschaftsgesetzen zum Trotz, die Bedingungen der Arbeit und des Lohnes zu regeln suchen. Sie entsenden in die Parlamente Abgeordnete, denen alle Initiative, alle Unabhängigkeit fehlt und die oft nur die Wortführer der Ausschüsse sind, von denen sie gewählt wurden.

Heute werden die Ansprüche der Massen immer deutlicher und laufen auf nichts Geringeres hinaus, als auf den gänzlichen Umsturz der gegenwärtigen Gesellschaft, um sie jenem primitiven Kommunismus zuzuführen, der vor dem Beginn der Zivilisation der normale Zustand aller menschlichen Gruppen war.

Begrenzung der Arbeitszeit, Expropriation der Minen, Eisenbahnen, Fabriken und des Bodens, gleiche Verteilung aller Produkte, Ausmerzung aller oberen Klassen zugunsten der Volksklassen usw. - das sind diese Ansprüche.

Die Massen sind für das Räsonnieren wenig, desto mehr aber für das Handeln geeignet. Durch ihre Organisation ist ihre Kraft ins Ungeheure gestiegen. Die Dogmen, die wir auftauchen sehen, werden bald die Macht der alten Dogmen besitzen, das heißt die tyrannische und herrische Kraft, welche sich aller Diskussion entzieht. Das göttliche Recht der Massen wird das göttliche Recht der Könige ersetzen.

Die Lieblingsschriftsteller unserer jetzigen Bourgeoisie, jene, welche am besten deren ein wenig beschränkte Ideen, deren etwas kurzsichtige Ansichten, deren etwas summarischen Skeptizismus und oft exzessiven Egoismus darstellen, geraten völlig vor der neuen Macht, die sie heranwachsen sehen, in Verwirrung und richten, um die Verwirrung der Geister zu bekämpfen, einen verzweifelten Appell an die sittlichen Kräfte der Kirche, die sie einst so gering schätzten. Sie sprechen vom Bankrott der Wissenschaft und erinnern uns, als reuige Büßer aus Rom kommend, an die Lehren der geoffenbarten Wahrheiten. Aber diese Neubekehrten vergessen, dass es zu spät ist. Hat die Gnade sie wirklich berührt, so hat sie doch nicht die gleiche Macht über die Seelen, die sich um die Besorgnisse, welche diese neuen Frommen quälen, nicht bekümmern. Die Massen wollen heute nicht die Götter, welche jene selbst gestern nicht mochten und zu deren Fall sie beigetragen haben. Es liegt nicht in der Macht der Götter oder der Menschen, die Flüsse zu ihren Quellen zurückfließen zu lassen.

Die Wissenschaft hat mitnichten Bankrott gemacht und hat nichts mit der gegenwärtigen Anarchie der Geister oder mit der neuen Macht, die in deren Schoß emporwächst, zu tun. Sie hat uns die Wahrheit oder wenigstens die Erkenntnis der unserer Intelligenz zugänglichen Beziehungen verheißen, nie aber Frieden und Glück. Mit souveräner Gleichgültigkeit gegenüber unseren Gefühlen, hört sie nicht unsere Klagen. An uns ist es, mit ihr zu leben zu suchen, da nichts die Illusionen wiederbringen kann, die sie verjagt hat.

Allgemeine Symptome, die bei allen Nationen ersichtlich sind, zeigen uns das rapide Anwachsen der Macht der Massen und verbieten uns die Annahme, diese Macht werde bald aufhören zu wachsen. Was sie auch bringe, wir werden es ertragen müssen. Alles Gerede dagegen ist nur leerer Wortschwall. Gewiss, vielleicht bedeutet das Heraufkommen der Massen eine der letzten Etappen der Zivilisationen des Okzidents, die völlige Rückkehr zu jenen Perioden verworrener Anarchie, die allezeit dem Aufsteigen einer neuen Gesellschaft voranzugehen scheinen; aber wie wollen wir es hindern?

Bisher haben diese großen Zerstörungen der zu alten Zivilisationen die klarste Rolle der Massen ausgemacht. Nicht bloß heutzutage tritt diese Rolle in der Welt auf. Die Geschichte lehrt uns, dass in dem Augenblick, da die moralischen Kräfte, auf denen eine Zivilisation beruhte, ihre Herrschaft verloren haben, die letzte Auflösung von jenen unbewussten und rohen Massen, welche recht gut als Barbaren gekennzeichnet werden, bewerkstelligt wird. Bisher wurden die Zivilisationen stets nur von einer kleinen intellektuellen Aristokratie geschaffen und geleitet, niemals von den Massen. Die Massen haben nur Kraft zur Zerstörung. Ihre Herrschaft bedeutet stets eine Phase der Barbarei. Eine Zivilisation setzt feste Regeln, eine Disziplin, den Übergang des Instinktiven zum Vernunftmäßigen, die Voraussicht der Zukunft, einen hohen Kulturgrad voraus, Bedingungen, welchen die sich selbst überlassenen Massen niemals zu entsprechen vermochten. Vermöge ihrer bloß zerstörerischen Macht wirken sie gleich jenen Mikroben, welche die Auflösung der geschwächten Körper oder der Leichname zu Ende führen. Ist das Gebäude einer Zivilisation wurmstichig geworden, so sind es stets die Massen, welche dessen Zusammensturz herbeiführen. Jetzt tritt ihre Hauptfunktion zutage, und die Philosophie der Menge erscheint für einen Augenblick als die einzige Philosophie der Geschichte.

Wird es mit unserer Zivilisation sich ebenso verhalten? Wir können es befürchten, aber noch nicht wissen.

Wie immer es sein mag, wir müssen uns bescheiden, die Herrschaft der Massen zu ertragen, da der Voraussicht bare Hände allmählich alle Schranken, die sie zurückhalten konnten, umgestürzt haben.

Wir kennen diese Massen, von denen man jetzt so viel spricht, sehr wenig. Die Psychologen von Fach, welche entfernt von ihnen lebten, haben sie stets ignoriert und sich mit ihnen dann nur in Bezug auf die Verbrechen, zu denen sie fähig sind, beschäftigt. Zweifellos gibt es kriminelle Massen, aber auch tugendhafte, heroische und andere Massen. Die Massenverbrechen bilden nur einen Sonderfall ihrer Psychologie, und wenn man bloß die Verbrechen der Massen studiert, so kennt man deren geistige Beschaffenheit nicht besser, als jene eines Individuums, dessen Laster man bloß studiert.

Seien wir aber gerecht: Alle Herren der Erde, alle Religions- und Reichsstifter, die Apostel aller Glaubensrichtungen, die hervorragenden Staatsmänner und, in einer bescheideneren Sphäre, die einfachen Häupter kleiner menschlicher Gemeinschaften waren stets unbewusste Psychologen mit einer instruktiven und oft sehr sicheren Kenntnis der Massenseele; weil sie diese gut kannten, wurden sie so leicht die Herren. Napoleon erfasste wunderbar das Seelenleben der Massen des Landes, das er beherrschte, aber er verkannte oft völlig die Seele der fremden Rassen angehörenden Massen,11 und deshalb unternahm er - in Spanien und in Russland namentlich - Kriege, in denen seine Macht Stöße erlitt, durch die sie bald niedergehen sollte.

Die Kenntnis der Massenpsychologie ist heute die letzte Zuflucht des Staatsmannes, der nicht etwa sie regieren, - das ist zu schwierig geworden - aber wenigstens nicht zu sehr von ihnen regiert werden will.

Nur mittelst einer Vertiefung der Massenpsychologie versteht man, wie wenig Einfluss Gesetze und Institutionen auf die Massen haben, wie unfähig sie zu Meinungen außer jenen, die ihnen eingeflößt wurden, sind; dass man sie nicht mit Regeln, welche auf rein theoretischer Billigkeit beruhen, sondern nur mittelst dessen, was auf sie Eindruck macht und sie verführt, leitet.