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Lilou kann es nicht fassen: Ihre Eltern wollen an Weihnachten nach Thailand verreisen. Sonne und Strand an Heiligabend? Für Lilou kommt das nicht in Frage. Und den traditionellen Kartoffelsalat gibt es dort bestimmt auch nicht. Also bucht sie spontan eine Single-Ski-Reise nach Ischgl. Doch am Abreisetag sitzt Lilou nicht mit einer Gruppe junger, gutaussehender Singles im Bus - sondern mit einer Horde Rentnerpärchen! Irgendwas muss bei der Buchung schiefgelaufen sein. Und statt nach Ischgl fährt der Bus in ein kleines verschlafenes Dorf in den Schweizer Alpen. Doch als Lilou dort auf den zurückhaltenden aber attraktiven Ski-Lehrer Luca trifft, scheint ihr Weihnachtswunder doch noch zum Greifen nah ...
Alle Romane dieser Reihe sind in sich abgeschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden. Wir haben die Geschichten sorgsam für dich ausgewählt, damit sie dir an kalten Wintertagen das Herz erwärmen und dich beim Lesen in Weihnachtsstimmung versetzen.
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Seitenzahl: 352
Veröffentlichungsjahr: 2023
Cover
Grußwort des Verlags
Über dieses Buch
Titel
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Über die Autorin
Impressum
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Lilou kann es nicht fassen: Ihre Eltern wollen an Weihnachten nach Thailand verreisen. Sonne und Strand an Heiligabend? Für Lilou kommt das nicht in Frage. Und den traditionellen Kartoffelsalat gibt es dort bestimmt auch nicht. Also bucht sie spontan eine Single-Ski-Reise nach Ischgl. Doch am Abreisetag sitzt Lilou nicht mit einer Gruppe junger, gutaussehender Singles im Bus – sondern mit einer Horde Rentnerpärchen! Irgendwas muss bei der Buchung schiefgelaufen sein. Und statt nach Ischgl fährt der Bus in ein kleines verschlafenes Dorf in den Schweizer Alpen. Doch als Lilou dort auf den zurückhaltenden aber attraktiven Ski-Lehrer Luca trifft, scheint ihr Weihnachtswunder doch noch zum Greifen nah ...
Kira Hof
Pulverschneeherzen
Durften sie so was? Gab es kein Gesetz, das Eltern zwang, ihre Kinder – ja, auch die volljährigen – an Weihnachten nicht allein zu lassen? Wenigstens nicht ohne schriftliches Einverständnis. Thailand? Als ob es hier in Nordhessen nicht genauso schön war. Nasser vielleicht und ein bisschen kälter um diese Jahreszeit, aber dennoch schön. Außerdem war es eine Tradition, mit allem, was dazugehörte. Mit Kirche, Kochwurst und Kartoffelsalat. Mit Bescherung, »Drei Haselnüsse für Aschenbrödel«, Glühwein und Plätzchen. So war es die letzten neunundzwanzig Jahre gewesen, so mochte ich es, und so sollte es sein.
Jetzt saß ich im Wohnzimmer meiner Eltern auf der vertrauten blaugrauen Couch und stellte mir mein diesjähriges Weihnachtsfest vor.
»Ach, Lilou, Schatz. Nun schau nicht wie drei Tage Regenwetter.« Mama seufzte.
»Tu ich nicht. Ich freue mich doch für euch.«
»Du weißt, davon träumen dein Vater und ich schon lange. Und worauf warten? Frau Bornemann hat immer davon gesprochen, was sie noch alles erleben wollte. Und schwups liegt sie unter der Erde. Das soll uns nicht passieren.«
»Ihr braucht euch nicht zu rechtfertigen, ich komme klar.«
Das schlechte Gewissen in Mamas Gesicht sorgte auch bei mir für eines. Natürlich sollten sie fahren. Mein in mancher Hinsicht verkorkstes Wesen durfte kein Grund sein, sie von ihrem Traum abzuhalten. Was so oder so nicht mehr möglich war. Sie hatten sich entschieden und die Reise gebucht, bevor sie mich eingeweiht hatten. Ziemlich schlau und ein wenig hinterhältig. Hätte ich ihnen gar nicht zugetraut.
Andererseits war es natürlich nicht so, als könnte man mich nicht allein lassen. Ich führte ein eigenständiges Leben, verdiente mein eigenes Geld und wohnte einzig aus dem Grund zu Hause, weil es sich um ein Zweifamilienhaus handelte. Wenn man es genau nahm, hatte ich also auch eine eigene Wohnung. Alles ganz normal für Leute in meinem Alter. Wäre da nicht diese klitzekleine Macke: Ich hasste Veränderungen. Hauptsächlich die, auf die ich keinen Einfluss hatte. Was in meinem Alltag zu einer Menge Ritualen, immer gleichen Abläufen und durchorganisierter Planung führte. Unvorhersehbare Ereignisse waren für mich schlimmer als das Umstyling für die Mädchen bei »Germany's Next Topmodel«.
Allerdings handelte es sich bei dem Thailand-Urlaub meiner Eltern nicht um ein komplett unvorhersehbares Ereignis. Sie hatten es des Öfteren erwähnt. Und ich hatte es genauso oft verdrängt. Dennoch brachte es meine Routine jetzt völlig durcheinander.
»Du kannst Lisa und Stefan fragen, ob du einen Weihnachtstag bei ihnen verbringen kannst«, schlug Mama vor.
Die beiden gehörten zu den wenigen Menschen, die ich meine Freunde nannte. Lisa und ich waren in derselben Straße aufgewachsen und kannten uns daher seit Kindertagen. Sie hatte meine Zurückhaltung anderen Menschen gegenüber nie als Hindernis betrachtet, mich besser kennenzulernen. Schnell war eine Vertrautheit entstanden, die uns bis heute eng miteinander verband. Auch Stefan hatte ich sofort gemocht, als er vor vier Jahren Lisas Herz erobert hatte. »Soweit ich weiß, feiern sie dieses Jahr Weihnachten bei Stefans Schwester in Frankfurt. Und bevor du fragst, Chrissy ist mit Robert im Urlaub.«
Chrissy, mit bürgerlichem Name Christina, war all das, was ich nicht war. Spontan, selbstsicher, abenteuerlustig. Aber Gegensätze zogen sich bekanntlich an. Sie war mit ihrem Freund Robert vor ein paar Jahren in die Doppelhaushälfte neben uns eingezogen. Mit ihrem großen Herz hatte sie mich schnell auf ihre Seite gezogen.
Ich konnte sehen, wie es im Kopf meiner Mutter arbeitete. »Mit einem Mann an deiner Seite müsstest du Weihnachten jetzt nicht allein sein«, legte sie los. »Dann wärst du vielleicht auch mit ihm im Urlaub, oder ihr würdet als kleine Familie zusammen sein. Ach ja, Enkelkinder, die aufgeregt um den Weihnachtsbaum flitzen ...« Sie verstummte und schaute versonnen vor sich hin.
Ich erwiderte nichts. Eine Reaktion erwartete meine Mutter schon lange nicht mehr. Sie fiel sowieso jedes Mal gleich aus. Trotzdem wurde sie nicht müde, das Thema zu erwähnen.
Ohne Partner und Kinder, die spontan vom Himmel fielen, waren meine Alternativen allerdings erschöpft. Familie gab es so gut wie keine. Meine Eltern waren beide Einzelkinder, ich auch. Also galt es jetzt, einen Plan für die Feiertage festzulegen.
»Wir hätten es besser gemeinsam besprechen sollen, statt über deinen Kopf hinweg zu entscheiden.«
Ich stand vom Sofa auf und drückte meiner Mutter, die aussah, als würde sie überlegen, wie sie mich ins Handgepäck schmuggeln konnte.
»Ich werde es mir hier einfach richtig gemütlich machen. Vielleicht schneit es endlich mal. Ich werde wunderbar zurechtkommen. Und um mich versöhnlich zu stimmen, wäre es ganz zauberhaft, wenn du mich bis zu eurer Abreise mit Essen verwöhnst.« Ich grinste sie an.
Der letzte Satz verursachte auf den Gesichtern meiner Eltern ein Lächeln. Mein innerer Monk lächelte ebenfalls. Er durfte sich an einer Weihnachtsliste austoben.
Weihnachtsliste
So verbringe ich meinen Heiligabend:
9:30
Aufstehen
Anschließend duschen
Dann Frühstück (mehr Zeit als sonst eingeplant, da ich auf einen Weihnachtsbaum und das Schmücken verzichte)
11:00
Pellkartoffeln kochen für Kartoffelsalat (Tradition ist Tradition)
Gewürzgurken in Würfel schneiden
Dressing mixen
11:45 – 12:30
Ich gönne mir eine Folge »Lucifer«. In der Zeit können die Kartoffeln
abkühlen.
12:30
Kartoffeln pellen und alles andere vorbereiten
13:00
Kleinigkeit essen (wahrscheinlich einen Toast)
13:30
Jogginghose gegen Jeans tauschen
14:00
»Aschenbrödel« gucken
17:00
Kirche (noch zu prüfen, da allein, aber Tradition und so)
18:30
Abendessen
Anschließend Tag ausklingen lassen (mindestens zwei Folgen »Lucifer«)
Die Liste hing sichtbar an meiner Pinnwand. Ich hatte sie in den vergangenen Wochen das ein oder andere Mal überarbeitet. Der Punkt »Kirche« war weiterhin mit einem Fragezeichen versehen. Das gefiel mir nicht. Ich musste dringend darüber nachdenken. Bis Heiligabend waren es schließlich nur noch vierzehn Tage. Um es nicht länger aufzuschieben, speicherte ich mir für morgen früh um elf einen Termin ins Handy. Jetzt brauchte ich einen freien Kopf, um den Artikel über die nächste Wunderdiät zu redigieren. Am liebsten würde ich jedes Mal darunterschreiben: Leute, glaubt diesen Mist nicht.
Aber Job war Job, und grundsätzlich gefiel er mir. Ob ich bis ins Rentenalter für die Online-Redaktion eines Frauenmagazins arbeiten würde, bezweifelte ich jedoch stark. Seufzend klappte ich den Laptop auf, stellte den Timer auf sechzig Minuten und begann mit der Arbeit.
Mit dem ersten Durchgang war ich vor Ablauf der Zeit fertig. Trotzdem wartete ich geduldig auf das Alarmzeichen, erst dann stellte ich den Timer aus.
Inzwischen war es dunkel geworden. Nur mein Schreibtisch wurde vom Lichtkegel der kleinen Stehlampe erhellt. Ich ließ die Schultern kreisen und massierte mit den Fingern meine verspannte Nackenmuskulatur. Vielleicht sollte ich mir zu Weihnachten selbst ein Geschenk machen und mir ein paar Massagen gönnen. Ja, die Idee war es wert, ihr einen weiteren Gedanken zu widmen. Ich zog ein Post-it aus der Schublade, schrieb das Wort »Massage« darauf und pinnte es an die Magnettafel an der Wand. Dabei fiel mein Blick auf einen anderen Klebezettel, der dort haftete und mir mit seiner neonpinken Signalfarbe förmlich entgegensprang. Es standen gleich mehrere Wörter drauf. Klein, aber lesbar. Was eigentlich egal war, ich kannte sie auswendig. Ich atmete hörbar aus und löschte gleichzeitig das Licht. Es dauerte einen Moment, bis meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten und erste Umrisse erkennbar wurden. Ich ging langsam zur Tür und in die Küche. Aus dem Kühlschrank holte ich den fertig angerichteten Salat, vermengte und schmeckte ihn ein letztes Mal ab. Mit der Schüssel im Gepäck klopfte ich kurz bei meinen Eltern.
»Ich bin jetzt weg«, rief ich Richtung Wohnzimmer.
»Okay«, kam es von drinnen, »viel Spaß. Grüß lieb von uns.«
»Mach ich, danke.«
Ich trat auf den Bürgersteig, nur um gleich wieder im nächsten Hauseingang zu verschwinden. Die beste Freundin als Nachbarin zu haben war einfach durch nichts zu toppen.
»Pünktlich auf die Minute«, begrüßte Chrissy mich.
Ich zuckte mit den Schultern; was sollte ich sagen? Wir hatten alle unsere Macken. Chrissy konnte zum Beispiel an keinem Stand mit Sonnenbrillen vorbeigehen, ohne danach mindestens eine davon zu ihrem Besitz zu zählen. Sie hatte gefühlt einhundert Stück, die sogar ihren eigenen Schrank besaßen.
Ich folgte ihr durch Flur und Wohnbereich in den dahinterliegenden Wintergarten. Dieser reichte über die gesamte Hausbreite. Eine große Flügeltür führte in den Garten, wo Robert gerade am Grill stand und das Fleisch wendete. Um ihn zu begrüßen, stellte ich den Salat ab, öffnete eine der Türen und rief ihm ein »Hallo« zu. Lächelnd winkte er mir mit der Grillzange in der Hand.
»Stell einen Mann an den Grill und er erfüllt dir jeden Wunsch.« Chrissy stand hinter mir, den Blick auf ihren Freund gerichtet.
»Und?«
»Und was?« Sie grinste breit. »Ich habe möglicherweise vorhin erwähnt, wie glücklich ich wäre, wenn wir endlich das Badezimmer renovieren könnten.«
»So bescheiden.«
»Hey, du findest es auch furchtbar.«
»Senfgelb ist wieder total in.«
»Mmh.« Chrissy funkelte mich an. »So schade, dass du schon gehen musst. Dabei bist du grad erst gekommen.«
Ich streckte ihr lachend die Zunge raus und plumpste in einen der Sessel. »Hast du was gesagt? Ich konnte dich nicht hören.«
Die Klingel unterbrach unsere Frotzelei. Chrissy ließ mich kurz allein, um zu öffnen. Mein Blick glitt zu Roberts selbst gebauter Theke aus Paletten, hinüber zu Chrissys neuestem Werk, einem Makramee-Traumfänger. Die beiden waren handwerklich begabt und hatten im Haus fast alles in Eigenarbeit renoviert. So, wie es aussah, stand das nächste Projekt schon in den Startlöchern. Meine Freundin machte selbst vor dem Fliesenlegen keinen Halt.
Mut. Vor meinem inneren Auge tauchte der neonpinke Klebezettel auf. Ich schüttelte den Kopf, in der Hoffnung, die Gedanken würden sich neu sortieren wie Würfel in einem Würfelbecher.
Zum Glück wurden in diesem Moment die Stimmen lauter, die sich aus dem Haus näherten. Chrissy tauchte mit Ludmilla und Eugen im Schlepptau auf. Den beiden gehörte der andere Teil der Doppelhaushälfte.
»Lilou, wie schön. Endlich klappt es mal wieder.« Ludmillas glockenklare Stimme, mit der sie am Staatstheater Solos schmetterte, erfüllte den Raum.
Ich lächelte und stand auf. »Ja, ich freu mich auch.«
Wir umarmten uns. Danach drückte mich Eugen an sich, der körperlich so ziemlich das genaue Gegenteil von seiner zierlichen Ehefrau war. Ein Schrank von Mann mit einem Gesicht eines knuffigen Teddybären. Er besaß eine eigene Dachdeckerfirma und packte gern selbst tatkräftig mit an. Im ersten Moment ein skurriles Paar, aber herzensgute Menschen.
»Das Fleisch müsste eigentlich gleich so weit sein«, bemerkte Chrissy mit einem Blick nach draußen.
»Ich werde mich davon kurz überzeugen«, sagte Eugen grinsend und ging durch den beleuchteten Garten zu Robert. Um die Äste der beiden halbhohen Apfelbäume rankten Lichterketten bis in die Kronen hinauf. Über einem ausladenden Holunderbusch war ein Netz gespannt, dessen winzige Glühbirnen eine glitzernde Decke bildeten. Auf der gegenüberliegenden Seite standen zwei Sterne aus gebogenem Draht, deren Schein ebenfalls die tiefschwarze Nacht erhellte. Jetzt fehlt nur noch der Schnee, dachte ich und spürte zum ersten Mal in dieser Adventszeit einen Hauch von Weihnachtsstimmung in mir aufkommen.
Wir Frauen öffneten die erste Flasche Sekt und stießen auf einen gemütlichen Abend an.
Unser Wintergrillen war seit zwei Jahren ein fester Bestandteil in unseren Terminkalendern. Dank Ludmilla mussten unsere Treffen im Voraus oft langfristig geplant werden, was ich sehr zu schätzen wusste.
»Wer hat Hunger?«, fragte Robert, der mit einer Platte voller Leckereien im Wintergarten auftauchte.
Als Antwort klingelte es erneut an der Tür. Diesmal waren es Lisa und Stefan.
»Das nenne ich Timing«, kommentierte Robert ihr Eintreffen und winkte mit der Fleischgabel.
Lachend und plappernd begrüßten wir einander, setzten uns dann an den Tisch und ließen es uns schmecken. Es gab Würstchen und Steaks, gegrilltes Gemüse, drei verschiedene Salate und Kräuterbaguette. Ständig wurde irgendetwas davon über den Tisch hin und her gereicht. Es war faszinierend, welche Lautstärke sieben Personen verursachen konnten. Zum Nachtisch gab es noch Ludmillas unfassbar leckeren russischen Honigkuchen.
Ich legte die Gabel auf dem Teller ab, lehnte mich zurück und rieb mir den vollen Bauch. »Hilfe, Leute, ich platze.«
»Ich auch«, stimmte Chrissy mit ein.
»Und ich erst«, stöhnte Stefan.
Eugen lachte mit seiner tiefen Baritonstimme. »Dann wird es Zeit für den Schnaps.« Er stand auf und verschwand im Haus, das zwar nicht seins war, in dem er sich aber, wenn es um Alkohol ging, nicht weniger gut auskannte.
Die klare Flüssigkeit brannte sich ihren Weg in meinen Magen. Ich hustete zweimal und schüttelte mich. Es blieb mir ein Rätsel, wie man Gefallen daran finden konnte. Noch während ich diesen Gedanken zu Ende dachte, füllte Eugen die Gläser erneut. Ich stöhnte auf, brachte es schnell hinter mich und mein Glas in Sicherheit. Mit einem großen Schluck Sekt spülte ich nach.
»Ach, Ludmilla«, meinte Chrissy freudig, »dein Tipp mit dem Sportladen war übrigens hervorragend. Ich habe mir einen megatollen neuen Skianzug gekauft. Ein echtes Schnäppchen.«
»Oh, das freut mich. Ihr fahrt auch am Freitag, richtig?«
»Ja, wir hatten an vier Uhr morgens gedacht. Mal schauen. Ich kann es kaum erwarten. Endlich Schnee!«
Die beiden vertieften ihr Gespräch über Skiurlaube, die neuesten Trends und das Für und Wider von Après-Ski-Partys. Irgendwann beteiligten sich auch die anderen und gaben Anekdoten zum Besten. Ich hörte zu, denn mein erster und einziger Kontakt zu diesem Sport hatte in der achten Klasse stattgefunden. Definitiv kein Thema zum Vertiefen.
»Lilou, weißt du noch ... Berchtesgaden? Unsere erste gemeinsame Klassenfahrt? Hilfe!!« Lisa schlug lachend die Hände vors Gesicht.
Hilfe war das richtige Wort. »Oh ja ... lange her.«
»Egal, ich kann mich noch sehr gut erinnern. Wir hatten riesigen Spaß.«
Ich schaute Lisa mit gesenktem Kopf fragend an. »Bist du sicher, dass wir dieselbe Fahrt meinen? Die ...«
»... auf der du unserem Skilehrer mit dem Kopf voran in die Eier gefahren bist? Genau die«, unterbrach Lisa mich und prustete los.
»Hey, du hast geschworen, nie wieder darüber zu sprechen.«
»Tut mir leid«, gluckste sie und wischte sich die Lachtränen aus den Augenwinkeln. »Ich sehe es grad deutlich vor mir. Du warst so unsicher auf den Brettern und konntest einfach nicht bremsen. Warum hast du dich eigentlich vorgebeugt? Wolltest du unter ihm durchtauchen?« Ein weiterer Lachanfall schüttelte ihren Körper.
Inzwischen kicherten auch die anderen. Selbst ich konnte nicht länger ernst bleiben. »Ich hasse dich«, brachte ich heraus, bevor ich in ihr Lachen einstimmte.
Kurz vor ein Uhr nachts öffnete ich die Tür zu meiner Wohnung und streifte die Schuhe von den Füßen. Vorsorglich ging ich in der Küche an meine Schublade mit Medikamenten. Ein Aspirin konnte nach einem feuchtfröhlichen Abend wie diesem nie schaden. Nicht, dass ich betrunken wäre. Maximal ein bisschen. Was an dem blöden Schnaps liegen dürfte. Sekt vertrug ich nämlich hervorragend.
Nachdem die Tablette sich aufgelöst und ich das milchige Gebräu hinuntergeschluckt hatte, füllte ich mein Glas mit Leitungswasser auf und setzte mich auf die Couch.
Es war ein wunderbarer Abend gewesen. Ich grinste vor mich hin, als ich an unseren Lachflash zurückdachte. Dann wurde ich urplötzlich ernst. Solche Geschichten entstanden nicht, indem man allein auf der Couch saß. Chrissy und Robert hatten Dutzende witzige Momente in petto, genau wie Ludmilla und Eugen oder Lisa und Stefan. In einer Woche fuhren vier von ihnen in den Urlaub und kehrten mit weiteren Erinnerungen zurück. Während ich – na, was wohl? – auf der Couch saß. Weil Urlaub ein unvorhersehbares Ereignis war, und ich mochte unvorhersehbare Ereignisse nicht. Weil es niemanden an meiner Seite gab, der die Ereignisse mit mir teilte, der gemeinsam mit mir Erinnerungen schuf. Ein paar Mal hatte jemand neben mir auf der Couch gesessen. Aber nie sehr lang. Mal hatte er mich nicht so toll gefunden wie gedacht, mal ich ihn nicht. Große Gefühle kannte ich nicht. Was ich schade fand. Es wäre schön, einen Partner zu haben, der mich liebte, der mich akzeptierte, wie ich war, mit dem ich reden und lachen konnte. Oft schon hatte ich mich gefragt, was mit mir nicht stimmte. Andererseits – musste ich mir die Frage überhaupt stellen? Stimmte mit mir was nicht, nur weil ich solo durchs Leben ging? Ich fühlte mich deswegen manchmal unvollkommen. Was nicht nur an meinen eigenen Sehnsüchten lag. Vielmehr war es die Gesellschaft, die mir einen Stempel aufdrückte. Die Mitmenschen um mich herum, die einem dieses Gefühl vermittelten.
Meine Mutter zum Beispiel konnte das in Perfektion. Sobald sie entschieden hatte, dass sie bereit dazu war, Oma zu werden, war ich plötzlich im gebärfähigen Alter. Ohne Schwiegersohn so eine Sache. Also waren mir ab dem Moment immer wieder kleine Erinnerungspfeile um die Ohren geflogen. Und wehe, im Bekannten- oder Freundeskreis fielen die Worte Heirat oder Schwangerschaft. Es war weniger ein versteckter Vorwurf als ein Wunsch. Den Druck spürte ich dennoch, und zwar ziemlich. Ob ich wollte oder nicht. Die Bürde eines Einzelkindes. Sonst hätte ich wenigstens einen Teil des Drucks abgeben können. Tja, man bekam nicht immer das, was man sich wünschte.
Was nicht hieß, dass man seinem Glück nicht auf die Sprünge helfen konnte. Warum sollte ich nicht das nächste Mal diejenige sein, die von ihrem Urlaub erzählte. Es lag allein an mir, das zu ändern. Ich war erwachsen und in der Lage, eigene Entscheidungen zu treffen.
Entschlossen legte ich den Laptop auf meinen Oberschenkeln ab und klappte ihn auf. Wohin soll es gehen? Ich könnte es meinen Eltern gleichtun und ins Warme flüchten. Oder dorthin fahren, wo der Winter seinen Namen noch verdient hatte. Vielleicht war es nicht nur an der Zeit, allein in den Urlaub zu fahren. Vielleicht wurde es Zeit, dem Gespenst der Vergangenheit entgegenzutreten und mich wieder auf Skier zu stellen. Warum nicht? Die Idee gefiel mir von Sekunde zu Sekunde besser. Ich tippte »Single« und »Winterurlaub« in das Suchfeld ein und scrollte mich durch die Ergebnisse. Ein Link führte mich auf die Seite eines lokalen Busreiseunternehmens.
Singlereise ab 18 Jahren – 11 Tage Ischgl – HP – inkl. Skikurs und Ausrüstung – Termin 17. bis 27. Dezember
Genau danach hatte ich gesucht. Perfekt. Los, Lilou, auf geht's, motivierte ich mich. Kein Problem, ich musste bloß meine Daten eingeben, fertig. Statt genau das zu tun, klappte ich den Laptop wieder zu.
Der 17. Dezember, war ich irre? Der war schon in einer Woche. Ich konnte niemals in einer Woche verreisen. So was brauchte Vorlaufzeit, Planung. Ohne mich schlaugemacht zu haben, konnte ich nicht mal eben mit irgendeinem Busunternehmen nach Ischgl, in ein fremdes Hotel reisen. Wem machte ich hier etwas vor?
Frustriert ging ich in die Küche. Im Kühlschrank fand ich eine angebrochene Flasche Sekt, im Kühlfach eine Schachtel Stracciatella-Eis.
Damit bewaffnet hockte ich wenig später wieder auf der Couch. Mein innerer Monk spielte Gedanken-Ping-Pong mit der angetrunkenen Lilou. Du bist nicht bereit. Es ist viel zu kurzfristig, hörte ich den Monk sagen. Denk an den neonpinken Zettel, erwiderte die betrunkene Lilou in meinem Kopf. Die Zeit ist gekommen, um die leeren Begriffe mit Taten zu füllen. Jetzt hielt sie mir den Zettel direkt vor die Augen. »Mut« stand dort, »Spontaneität«, »Lockerheit« und »Sex«. Okay, wann hatte ich denn Punkt vier hinzugefügt? Vergessen! Ist ja schon 'ne Weile her. Na ja, grundsätzlich kein schlechter Vorsatz. Nur darum ging es jetzt nicht.
Unentschlossen trommelte ich mit den Fingern auf die glatte schwarze Oberfläche des Computers. »Ach, verdammt«, platzte es aus mir heraus. Ich nahm einen großen Schluck Sekt und öffnete das blöde Ding wieder.
Der Alkohol zeigte seine Wirkung, ich blinzelte ein paarmal, weil die kleinen Buchstaben vor meinen Augen verschwammen. Ungeschickt vertippte ich mich und musste die Seite erneut aufrufen.
Keine Ausreden mehr, Lilou, meinte die Stimme energisch.
Also konzentrierte ich mich, füllte die erforderlichen Felder aus und drückte ohne Zögern den Button, auf dem »kostenpflichtig bestellen« stand.
Bevor die Panik von mir Besitz ergreifen konnte, schloss ich die Seite und klappte den Laptop endgültig zu.
Oh Scheiße, habe ich echt gerade einen Skiurlaub nach Österreich gebucht? Mir wurde heiß und kalt im Wechsel. »Das ist alles deine Schuld«, beschimpfte ich die vor mir stehende Sektflasche. »Ich muss ins Bett.«
Was ich dann auch tat.
In meinem Traum war ich wieder vierzehn Jahre alt und fuhr meinem Skilehrer mit Vollgas zwischen die Beine.
Checkliste Urlaub
Stadtplan von Ischgl ausdrucken und studieren
Packliste schreiben
Meine Eltern einweihen
Schneeanzug und lange Unterwäsche kaufen
Informationen über Busunternehmen einholen
(oder besser Augen zu und durch?)
Neonpinken Zettel vernichten
(das habe ich jetzt von »Mut« und »Spontaneität«)
Punkt 4 (Sex!) des pinken Zettels im Hinterkopf behalten
Versuchen, nicht auszurasten
Fünf! So viele Tage waren es noch bis zur Abfahrt, wenn ich den heutigen großzügig mitrechnete. Es war Viertel nach sieben. Wirklich was übrig vom Tag war nicht. Dafür konnte ich einen Punkt von der Liste streichen. Ich lud die beiden gefüllten Tüten in den Kofferraum meines schwarzen Seats. Darin befanden sich der Skianzug, Handschuhe, Mütze, Skibrille, lange Unterwäsche, Socken, also gefühlt ein Drittel meines Monatsgehalts. Zusätzliche Euros steckten in der zweiten Tüte: eine mittelgroße Reiseapotheke, ein Reiseführer von Ischgl, ein Ratgeber über Busreisen sowie einer zum Thema Skifahren.
Ich starrte auf die Tüten und konnte nicht glauben, auf was ich mich da eingelassen hatte. Das alles war so fernab meiner Komfortzone. Ein Rückzieher kam dennoch nicht infrage. Nicht nur, weil das Geld dann futsch war. Ich wollte es allen anderen und mir beweisen. Na ja, und wenn ich ehrlich war, war da neben der ganzen Panik auch eine gewisse Vorfreude. Ein richtiger Urlaub war in meinem Wortschatz schon länger nicht vorgekommen. Dafür sprach die Staubschicht auf meinem Koffer. Bis auf wenige Kleinigkeiten beinhaltete dieser, nachdem ich die neu erworbenen Sachen dazugepackt hatte, die vollständige Packliste. Diese Tatsache gab mir ein befriedigendes Gefühl.
Es klopfte an der Vordertür. Ich stand auf und ging über den Flur, um aufzuschließen.
»Seit wann sperrst du ab, wenn du zu Hause bist? Hast du Besuch?«, fragte meine Mutter neugierig.
»Ich habe keinen Mann versteckt, falls du darauf hinauswillst.«
»Ach, Lilou, du weißt, wie ich es meine.«
»Ja, weiß ich. Sorry, war nur Spaß. Was gibt's denn?«
»Hast du vielleicht eine Sonnenbrille, die du mir borgen kannst? Ich wollte eigentlich keine mitnehmen, aber dein Vater meint, es wäre besser. Sonst muss ich noch mal los und mir eine kaufen.«
»Ich habe zwei, eine davon passt bestimmt. Warte kurz.«
Ich ging zurück in mein Schlafzimmer, wo der geöffnete Koffer mitten auf dem Bett lag.
»Sortierst du Sachen aus?« Meine Mutter war mir in die Wohnung gefolgt und spähte durch die halb offene Tür.
Ich hatte überlegt, wie ich es ihnen erzählte und wann. Das Problem hatte sich nun von allein gelöst. »Hier sind die beiden Brillen. Ist Papa da? Dann komme ich kurz mit runter. Meine Pläne für die Feiertage haben sich etwas geändert.‟
Zusammen gingen wir nach unten. Meine Mutter stellte den Fernseher auf stumm und brachte meinen Vater mit einer Handbewegung zum Schweigen, bevor er Protest einlegen konnte.
»Lilou hat uns etwas zu sagen.«
»Ja, und das wird euch überraschen. Ich werde verreisen, in fünf Tagen, um genau zu sein. Also bin ich über Weihnachten auch nicht zu Hause.«
»Du verreist? Wohin? Seit wann weißt du das?« Meine Mutter hatte ich mit der Information völlig überrumpelt.
»Gebucht habe ich erst vor zwei Tagen. Eine spontane Idee.« Ich wusste selbst, wie sich das aus meinem Mund anhörte. »Es geht nach Österreich zum Skifahren, mit einer Busreisegruppe. Ich dachte mir, ich versuche es noch mal und geben dem Wintersport eine zweite Chance.«
»Eine Reisegruppe?« Das hatte sie sofort herausgefiltert. »Junge Leute?«
»Ja, eine Singlereise.«
Die Augen meiner Mutter begannen zu leuchten. »Wie toll. Eine sehr gute Idee, mein Schatz. Das wird bestimmt großartig. Mach dir keine Sorgen, um das Haus. Ingrid kann nach dem Rechten sehen.« Sie strahlte übers ganze Gesicht.
Es könnte mich amüsieren, wenn ich nicht den Druck spüren würde, der sich zwischen den Zeilen befand. »Super, sie kann sich den Haustürschlüssel bei mir holen, oder ich bringe ihn ihr vorbei.«
»Ich rufe sie gleich an und kläre das.«
Wo ich schon dabei war, meine Pläne zu offenbaren, machte ich gleich bei Chrissy und Lisa weiter. Ich suchte die beiden nacheinander zu Hause auf und erzählte ihnen, was ich getan hatte. Sprachloser als in diesem Moment hatte ich meine beiden Freundinnen noch nie gesehen. Das zeigte mir abermals, wie ungewöhnlich ich mich verhielt. Nachdem Chrissy die Neuigkeiten verdaut hatte, sprang sie mir überschwänglich in die Arme und nannte es eine geniale Idee. Ähnlich reagierte Lisa.
»Dich Weihnachten nicht allein zu wissen, macht mich froh. Ich hatte schon überlegt, hierzubleiben.«
»Wegen mir? Das ist so lieb von dir. Aber jetzt kannst du beruhigt nach Frankfurt fahren.«
»Ja, und du machst dir eine mega Zeit im Schnee. So cool. Ich hätte es mich nicht getraut.«
»Ich glaube es auch erst, wenn ich im Bus sitze.«
Zwei Tage später konnte ich einen weiteren Punkt abhaken: meine Eltern zum Bahnhof fahren. Sie nahmen den Zug nach Frankfurt, und von dort ging ihr Flieger nach Thailand. Für ganze drei Wochen.
Ich gönnte es ihnen von Herzen. Die Aufregung und Freude darüber, dass sich ihr Traum nun endlich erfüllte, stand meiner Mutter ins Gesicht geschrieben. In den vergangenen Tagen war sie zu beschäftigt gewesen, um die Emotionen an sich heranzulassen. Jetzt brach es aus ihr heraus.
»Ich kann es nicht glauben, es geht wirklich los. Oh, ich bin so furchtbar aufgeregt. Hoffentlich geht alles gut. Es ist ein langer Flug.«
Mein Vater fand sofort beruhigende Worte. Er hatte die Lage im Griff. Ich konnte die beiden entspannt fahren lassen. »Ich wünsche euch eine traumhaft schöne Zeit. Genießt Thailand und lasst von euch hören. Wir sehen uns im neuen Jahr.«
»Wir wünschen dir auch einen schönen Urlaub. Verletz dich nicht und sei offen für neue Bekanntschaften. Schließlich ist Weihnachten das Fest der Liebe.«
Mein Vater nahm mich in den Arm. »Wir sind stolz auf dich. Es ist ein großer Schritt, allein in den Urlaub zu fahren. Du bekommst das hin. Hab Spaß.«
»Ich gebe mir Mühe.«
Zum Glück kam in diesem Moment die Durchsage, dass der ICE einfuhr. Sonst hätte ich noch zu heulen angefangen. Die Worte meines Vaters berührten mich. Meine Eltern wussten, für mich war dieser Schritt mehr als außergewöhnlich. Wir drückten uns ein letztes Mal. Ich blieb am Gleis stehen, bis der Zug sich wieder in Bewegung setzte, dann machte ich mich auf den Heimweg.
Allmählich wurde es für mich ebenfalls ernst. Mamas beste Freundin kam und holte den Hausschlüssel. Ich hakte den letzten Punkt meiner Packliste ab und schloss am Freitag frühmorgens endgültig den Reißverschluss meines Koffers. Mit einem Puls von fünfhundert setzte ich mich in das bereitstehende Taxi, das mich zum Busparkplatz des Reiseunternehmens bringen würde, welches nach eingehender Prüfung von mir als absolut vertrauenerweckend eingestuft worden war.
Beim Anblick der vielen Menschen rebellierte mein Magen und ich rief mir die Geldsumme vor Augen, die von meinem Konto abgebucht worden war.
Mit Rucksack und Rollkoffer kam ich näher und stutzte. Verwirrt schaute ich mich um, denn das Bild, das sich mir bot, entsprach so gar nicht dem in meiner Vorstellung.
Die Altersklasse vor mir hatte nichts mit der Reisebeschreibung auf der Homepage gemein. Na gut, über achtzehn waren die hier alle. Sie sahen aber eher nach gemütlicher Kaffeefahrt aus. Skifahren würde ich dem ein oder anderen ganz sicher nicht mehr empfehlen. War ich doch am falschen Treffpunkt gelandet?
Ich bog mein verrutschtes Lächeln wieder gerade und suchte nach einer Person, die mir weiterhelfen konnte. »Hallo, Entschuldigung, ich bin Lilou Rosenthal.«
»Ah, haaaallo, Frau Rosenthaaaal.« Die Dame mit Klemmbrett mir gegenüber dehnte die Begrüßung, als hätte ich bei ihr aus Versehen die Zeitlupentaste aktiviert. Was mich wiederum in meiner Sorge bekräftigte, dass hier etwas nicht stimmte.
»Wo ist denn der Bus nach Ischgl?«, fragte ich und war erstaunt, wie unaufgeregt ich klingen konnte, obwohl innerlich längst das Höllenfeuer ausgebrochen war.
»Ischgl? Der ist vor einer Stunde losgefahren.« Sie schaute mich bedauernd an. »Dieser hier fährt in die Schweiz.«
»Schön, aber ich habe die Singlereise nach Ischgl gebucht.« Okay, jetzt war die Panik auch in meiner Stimme angekommen. »Da muss ein Fehler vorliegen.«
»Ihre Anmeldung habe ich hier. Für diese Reise. Sehen Sie!« Sie zeigte mir die Buchungsbestätigung. »Haben Sie denn keine E-Mail erhalten?«
»Natürlich, sonst wüsste ich ja nicht, wo und wann es losgeht. Moment!« Ich zog das Handy hervor, scrollte durch die Mails, bis ich die richtige gefunden hatte. »Hier steht alles. Abfahrt am 17. Dezember um sechs Uhr. Treffpunkt Parkplatz, Reisebüro Wittich.«
»Und die Bezeichnung der Reise?«
»Na, was ich sagte. Sing...« Ich stockte und las kaum hörbar weiter. »Seniorenreise, zehn Nächte Saas-Fee, Schweizer Kanton Wallis.«
Das war unmöglich. Niemals hatte ich diesen Urlaub gebucht. Solche Fehler unterliefen vielleicht anderen, aber nicht mir. Ich schloss die Augen und stöhnte. Außer ich hatte es meinem betrunkenen Ich überlassen, auf die Tasten zu drücken. Hui, mir war schlecht. Ein Albtraum. Spontaneität. Drauf geschissen. Brachte einem bloß Ärger ein, wenn man sich keine Zeit nahm, um in Ruhe über die Dinge nachzudenken. Mein innerer Monk lief Amok.
»Was mache ich denn jetzt?«
»Erst mal setzen. Kommen Sie, Frau Rosenthal, Sie sind ganz blass. Kippen Sie mir nicht um!« Sie schob mich zum Bus und drückte mich auf die Ladefläche des Gepäckraumes. »Ich organisiere Ihnen ein Glas Wasser.«
»Ach Quatsch, Wasser. Das Mädel braucht einen Schnaps«, kam es von irgendwoher.
Während ich mich auf meine Atmung konzentrierte, drückte mir tatsächlich jemand einen Kümmerling in die Hand.
»Na hopp, weg mit dem Zeug!«
Ich dachte an den Grillabend, auf dem das Dilemma seinen Anfang genommen hatte. Es beginnt mit Schnaps, es endet mit Schnaps, dachte ich mir im Stillen und setzte die Flasche an. Hustend blickte ich in die Runde. Lächelnde Gesichter, besorgte Gesichter, ziemlich verwirrte Gesichter.
»Was mache ich denn jetzt?«, wiederholte ich meine Worte von eben. Sogar den weinerlichen Tonfall bekam ich fast exakt so wieder hin.
»Was ist denn das für eine Frage?«, meinte ein älterer Herr in kariertem Sakko. »Sie setzen sich jetzt mit uns in den Bus, Kindchen. Wäre ja noch schöner, wenn wegen eines kleinen Fauxpas Ihr Urlaub gestrichen werden müsste.«
Von überall folgte zustimmendes Nicken.
Nur ich schüttelte vehement den Kopf. »Das geht nicht. So war das nicht geplant.«
»Pläne sind dazu da, um sie über den Haufen zu werfen«, kam es nun von einer kleinen Frau mit großem Busen, die sich direkt vor mich stellte. »Wir sind zwar alle nicht mehr unbedingt in deinem Alter, aber tot sind wir noch lange nicht. Du wirst sehen, es wird wunderbar. Und Saas-Fee wirst du lieben, glaub mir.«
Sie hatten ja alle keine Ahnung. Meine Pläne waren nicht dazu da, um sie über den Haufen zu werfen. Einer mit dieser Tragweite schon gar nicht. Wie hatte mir das bloß passieren können? Mir, der Königin der Listen. Ich hatte sogar eine Liste über meine Listen. Natürlich konnte ich es dem Alkohol zuschreiben. Der mochte an der fehlerhaften Buchung schuld sein. Die Mails jedoch hatten lang genug in meinem Postfach gelegen, damit mein nüchternes Ich sie hätte kontrollieren können. Stattdessen hatte ich sie ignoriert ... bis zum Schluss. Bescheuert, es hatte mich schließlich keiner zu dieser Reise gezwungen. Höchstens ich mich selbst, und das war so untypisch gewesen, dass es mich schlichtweg überfordert hatte.
Es spielte keine Rolle. Ich musste hier und jetzt eine Entscheidung treffen. Nahm ich die Herausforderung an? Stieg ich in diesen Bus, ohne zu wissen, wohin es ging und was mich erwartete? Oder fuhr ich nach Hause, ließ das Geld verpuffen und beichtete allen meine Unfähigkeit.
Ich klatschte mit den Handflächen auf meine Oberschenkel und stand auf. »Alles klar, fahren wir in die Schweiz.«
»So ist es recht, Liebes. Komm mit, hinter uns die Reihe ist noch frei. Ich bin Ilse, das ist Herrmann.«
Beim Betreten des Busses fühlte ich mich wie Neil Armstrong, der zum ersten Mal einen Fuß auf unbekanntes Gebiet setzte. Auch er hatte nicht gewusst, was ihn erwartete. Nur mein Satz lautete eher: Es ist ein kleiner Schritt für die Menschheit, aber ein großer für einen einzelnen, nämlich mich.
Ich folgte Ilse und Herrmann und nahm meinen Platz ein. Nach und nach füllten sich die Reihen. Der Geräuschpegel wurde lauter. Ich schüttelte Hände, hörte Namen, die ich wieder vergaß, und stellte mich allen möglichen Leuten vor.
Unruhig rutschte ich auf meinem Sitz mit dem blau karierten Muster hin und her. Dann schlossen sich die Türen, und der anspringende Motor ließ den Bus vibrieren. Wenn sich Armstrong ins Weltall schießen lassen konnte, konnte ich auch mit einem Bus voller Rentner in die Schweiz fahren.
Ich lehnte mich im Sitz zurück und schaute aus dem Fenster dabei zu, wie sich der Bus seinen Weg durch die Stadt bahnte. Noch waren mir die Straßen und Gebäude vertraut. In wenigen Minuten würde sich auch das ändern. In meinem Herzklopfen schwang Ungewissheit mit, vor allem aber war es Stolz, den ich spürte. Ich war so weit gekommen – allein! –, Startschwierigkeiten hin oder her. Vielleicht wurde der Urlaub mit diesen Senioren nicht sonderlich aufregend. Was aber nicht hieß, dass es nicht schön werden konnte. Ich war bereit, mich darauf einzulassen.
Gedankliche Checkliste
Buche niemals einen Urlaub, wenn du Alkohol getrunken hast.
Trinke am besten gar keinen Alkohol mehr.
Lese immer deine E-Mails!
Checklisten bringen nichts, wenn du in den falschen Bus steigst.
Spontaneität ist scheiße.
Wo zum Teufel liegt Saas-Fee?
»Sehr geehrte Damen und Herren, ich heiße Sie alle herzlich willkommen auf Ihrer Reise in die schöne Schweiz. Ich bin Werner, Ihr Busfahrer. Ein paar Kleinigkeiten zum Ablauf.«
Der Busfahrer teilte uns eine Reihe von Informationen mit, bevor er das Radio wieder anstellte.
Neben mir klirrte es, und ich wendete meinen Blick vom Fenster ab. Der groß gewachsene Herr mit dem karierten Sakko hielt tatsächlich eine Packung Kümmerling im ausgestreckten Arm.
»Nehmen Sie sich ein Fläschchen. Wir wollen auf einen guten Start anstoßen.«
»Das ist nett, aber lieber nicht. Ich hatte ja schon einen.«
»Deswegen doch. Auf einem Bein kann man bekanntlich nicht gut stehen.«
Hatte ich richtig gehört? Perplex schaute ich vom Schnaps zu ihm.
Er nickte auffordernd.
»Ach, ihr Männer mit diesem Kräuterzeug«, kam es nun aus dem Sitz vor mir.
Ilse, holte ich mir ihren Namen ins Gedächtnis zurück.
»Der ist besser, hier, Eierlikör, selbst gemacht.«
Bevor ich wiederholt ablehnen konnte oder sich die cremig gelbe Flüssigkeit über mir ergoss, hielt ich einen kleinen, durchsichtigen Plastikbecher in der Hand. »Prost, auf einen schönen Urlaub, gutes Essen und jede Menge Schnee.«
»Und auf neue Bekanntschaften.« Der Sakkomann zwinkerte mir zu.
Oje, auf solche Leute war ich nicht vorbereitet. Bei der Buchung der Reise hatte ich sehr wohl an einen netten Flirt gedacht. In meiner Fantasie hatte der Typ allerdings mehr ausgesehen wie Zac Efron oder Chris Hemsworth und nicht wie ein gealterter Tom Hanks. Mit der Situation überfordert, nuschelte ich ebenfalls ein »Prost« und kippte meinen Eierlikör hinunter. Er schmeckte wirklich lecker. »Der ist gut«, gab ich zu.
»Noch einen?«
Ich nickte. Warum nicht?
Nachdem der Inhalt des kleinen Bechers zum dritten Mal in meinem Magen gelandet war, wurde es höchste Zeit für eine Pause. Bei dem Tempo würde ich sonst das Ziel unter meinem Sitz liegend erreichen. Entspannt war ich, das stand außer Frage. Und müde. Mit einem Nickerchen würde ich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Ich umging die nächste Schnapsrunde und tankte neue Energie. In meinem Kopf setzte ich hinter beide Punkte ein Häkchen und lehnte mich lächelnd zurück. Unter dem monotonen Brummen des Motors und den sanften Tönen heimeliger Weihnachtsmusik, die aus dem CD-Player des Busses dudelte, schloss ich die Lider.
Irgendwann ließen mich andere Geräusche die Augen wieder öffnen. Der Bus hatte angehalten. Um mich herum war Hektik ausgebrochen. Für einen kurzen Moment überkam mich neue Panik. Brannte es? Hatten wir einen Unfall? Warum weckte mich keiner? Ich richtete mich auf.
»Ah, perfektes Timing«, flötete Ilse und lächelte. »Wobei, in deinem Alter hält die Blase noch, was sie verspricht. Aber ein wenig die Beine zu vertreten, schadet nie.«
Nun schaute ich aus dem Fenster und sah eine Schar Rentner, die sich auf den Eingang der Raststätte zubewegte. Mein Puls beruhigte sich. Was blieb, war ein flaues Gefühl. Ein typisches Zeichen, wenn mir klar wurde, dass mir die Kontrolle fehlte. Blöde Spontaneität, ich verfluche dich! Was hatte ich erwartet? Ich saß in einem Bus, den ich nicht selbst steuerte. Mit Dutzenden Menschen, die in ihrem Alltag alle ohne irgendwelche Listen und Abläufe zurechtkamen. Niemand kannte mich. Noch wusste ich nicht, ob dieser Umstand gut oder schlecht für mich war. So oder so, ich war hier, und frische Luft konnte ich gut gebrauchen.
Ich trat in den Gang und streckte mich. Hinter den anderen verließ ich als Letzte den Bus. Sofort griff der Wind nach meiner Jacke und zerzauste mir das Haar. Der Himmel hatte sich zugezogen, bestand inzwischen aus einer einzigen dicken Wolkenschicht. Einzelne kleine Schneeflocken wirbelten durch die Luft. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und überlegte, ob sich der Gang zur Toilette lohnen würde.
»Warte noch zehn Minuten, falls du das vorhast, was ich denke.« Eine Frau trat lächelnd auf mich zu. Sie gehörte zur Reisegruppe. Bisher hatte ich sie nur aus dem Augenwinkel wahrgenommen. Ungefähr eins siebzig groß, schlank, schicke Kurzhaarfrisur und vom Alter her schwer einzuschätzen.
»Gute Idee.« Ich lächelte zurück.
»Ich bin übrigens die Rosi. Bereust du deine Entscheidung schon?« Sie zwinkerte. »War heute Morgen sicher ein Schock.«
»Hallo Rosi, ich heiße Lilou«, stellte ich mich vor, obwohl ich bezweifelte, dass mein Name noch nicht die Runde gemacht hatte. Ich war schließlich so was wie die Zirkusattraktion hier. »Na ja, so schlimm war es nicht«, flunkerte ich. Was sollte ich erwidern? Rosis Blick sprach allerdings nicht von einer überzeugten Darbietung. »Vielleicht ein bisschen schlimm. Im ersten Moment. Aber das Geld in den Wind zu schießen und zu Hause zu bleiben war keine Option«, gab ich deshalb zu.
»Gut gemacht. Ich spreche aus Erfahrung, wenn ich sage, dass Seniorenreisen nicht automatisch mit Langeweile und Kaffeekränzchen verbunden sind. Wobei Zweiteres deutlich häufiger vorkommt.«
»Trinkfest ist hier der ein oder andere auf jeden Fall.«
»Ja, das ist mir nicht entgangen. Wenn du flüchten willst, neben mir der Platz ist frei.«
»Danke, gut zu wissen.« Ich grinste und fragte mich gleichzeitig, warum sie wohl allein unterwegs war. Die Frage laut zu stellen traute ich mich nicht. Ging mich auch nichts an. Zumal sie mich ebenfalls bisher nicht nach meinen Beweggründen gefragt hatte. Vielleicht ergab es sich in weiteren Gesprächen. Rosi war mir auf Anhieb sympathisch. Ich konnte mir gut vorstellen, sie näher kennenzulernen.
Fest stand jedenfalls, dass ich schon jetzt meine Komfortzone verlassen hatte und es mir leichter fiel, mich zu öffnen, als ich es für möglich gehalten hätte. Was durchaus dem Umstand geschuldet sein könnte, dass ich mich mit diesen Menschen über mehrere Stunden auf engstem Raum aufhielt. Und ich hatte nicht das Gefühl, mich beweisen oder jemandem gefallen zu müssen. Ich war ich, und das war gut so. Ohne Konkurrenzkampf, schräge Blicke und verzweifelte Flirtversuche. Die entspannte Atmosphäre war längst auf mich übergeschwappt.
Die ersten Toilettengänger trudelten wieder am Bus ein. Ich entschied mich dazu, meine Blase nicht überzustrapazieren, und lief zur Raststätte.
Ilse empfing mich winkend, als ich zurückkam. »Lilou, da bist du. Hier, iss. Ihr jungen Leute habt doch meistens nichts Richtiges dabei.«
»Sie wird schon essen, wenn sie Hunger hat.« Herrmann schaute seine Frau vorwurfsvoll an.
»Papperlapapp, sie kann genauso gut gleich was essen.« Ilse drückte mir ein mit reichlich Wurst und Käse belegtes Brötchen in die Hand. Als ich kurz zögerte, fügte sie erschrocken hinzu: »Sag nicht, du gehörst den Vegetariern an?«
»Ilse«, mahnte Herrmann abermals.
Ich schmunzelte. Klang, als wäre es eine Sekte. »Nein, ich esse ganz gern Fleisch. Danke.«
»Gut so.« Sie nickte zufrieden und biss selbst genüsslich in ihr Brötchen. »Essen ist was Herrliches. Im Alter fast besser als Sex.«
Einen Atemzug lang stellte ich das Kauen ein. Das wurde hier ja immer besser. Vielleicht sollte ich für den Rest der Fahrt den Alkohol verstecken. Jetzt zwinkerte mir Heinz – ich hatte Namen geübt – wieder zu, auch das noch. Allerdings tat er dann etwas Unvorhersehbares: Er gab Wolfgang einen Klaps auf den Hintern. »Aber nur fast«, fügte er noch hinzu.
Die beiden waren ein Paar? Damit hatte ich definitiv nicht gerechnet. Oder hatte ich das Offensichtliche nur nicht gesehen? Ich war überzeugt gewesen, die beiden wären Kumpels, verwitwet oder so. Es war süß und zugleich erleichternd. So hatten seine kleinen Zwinkermomente außer Nettigkeit wenigstens keine andere Bedeutung. Puh!