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Herzklopfen und Meeresrauschen
Luise träumt von der großen weiten Welt, doch stattdessen führt sie mit ihrer Mutter einen kleinen Blumenladen in Heiligenhafen. Ihre eigenen Wünsche stellt sie hinten an und fühlt sich zunehmend eingeengt - bis plötzlich Noah in ihrem Leben auftaucht.
Noah verkörpert all das, wonach Luise sich sehnt: Freiheit, Unabhängigkeit, ein Leben ohne feste Verpflichtungen. Doch während sie sich von seiner Abenteuerlust angezogen fühlt, sucht er nach etwas, das er nie hatte - ein Zuhause. Heiligenhafen könnte genau dieser Ort sein.
Als Luises Mutter plötzlich ihre eigenen Pläne schmiedet und ihr Leben umkrempelt, wird Luise klar, dass sie sich längst in ihren eigenen Fesseln verheddert hat. Und als sie Noah schließlich aufgrund falscher Verdächtigungen von sich stößt, droht sie nicht nur ihn, sondern auch sich selbst zu verlieren.
Wird Luise ihr Glück zwischen Heimat und Fernweh finden? Und wird Noah ihr verzeihen?
Ein gefühlvoller Roman über Freiheit, Heimat und die Frage, wo das Glück wirklich liegt.
Band 2 der Ostsee-Liebesroman-Reihe von Kira Hof.
eBooks von beHEARTBEAT - Herzklopfen garantiert.
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Seitenzahl: 345
Veröffentlichungsjahr: 2025
Cover
Grußwort des Verlags
Über dieses Buch
Titel
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Epilog
Über die Autorin
Weitere Titel der Autorin
Impressum
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Luise träumt von der großen weiten Welt, doch stattdessen führt sie mit ihrer Mutter einen kleinen Blumenladen in Heiligenhafen. Ihre eigenen Wünsche stellt sie hinten an und fühlt sich zunehmend eingeengt – bis plötzlich Noah in ihrem Leben auftaucht.
Noah verkörpert all das, wonach Luise sich sehnt: Freiheit, Unabhängigkeit, ein Leben ohne feste Verpflichtungen. Doch während sie sich von seiner Abenteuerlust angezogen fühlt, sucht er nach etwas, das er nie hatte – ein Zuhause. Heiligenhafen könnte genau dieser Ort sein.
Als Luises Mutter plötzlich ihre eigenen Pläne schmiedet und ihr Leben umkrempelt, wird Luise klar, dass sie sich längst in ihren eigenen Fesseln verheddert hat. Und als sie Noah schließlich aufgrund falscher Verdächtigungen von sich stößt, droht sie nicht nur ihn, sondern auch sich selbst zu verlieren.
Wird Luise ihr Glück zwischen Heimat und Fernweh finden? Und wird Noah ihr verzeihen?
Kira Hof
Mondscheinküsse am Meer
Ein stechender Schmerz jagte durch meine Fingerkuppe. Fluchend zog ich meine Hand zurück und betrachtete den größer werdenden Blutstropfen. Schnell legte ich meine Lippen um die kleine Wunde an meinem Daumen und blickte grimmig auf den Dorn, der sich durch meine Haut gebohrt hatte. Ich hatte geahnt, dass so was passieren würde. Mit Rosen stand ich immer auf Kriegsfuß. Genervt kramte ich in der Schublade nach einem Pflaster und wickelte es um den Finger. Die Woche fing gut an. Ich konnte nur hoffen, dies würde nicht einer dieser Tage, an denen man sich wünschte, im Bett geblieben zu sein. Doch es half nichts, in einer halben Stunde kam der Bestatter und holte den Kranz ab. Blutige Finger hin oder her.
Das Schicksal war gnädig zu mir. Ich beendete den Auftrag ohne weitere Vorkommnisse. Wie üblich öffnete ich den Laden um zehn Uhr. Die hineinströmende warme Luft war angereichert mit dem salzigen Geschmack des Meeres und dem Geruch nach frischem Fisch, den die Kutter mit in den Hafen brachten. Denn der lag unweit des schmalen Backsteinhauses, in dessen Erdgeschoss sich unser Blumenladen befand. Das Obergeschoss bewohnte ich gemeinsam mit meiner Mutter. Wir teilten uns sechzig Quadratmeter, was mir durch die vielen Dachschrägen manchmal wesentlich weniger vorkam. Andererseits war ich eh viel lieber an der frischen Luft oder saß in der geräumigen Küche meiner Freundin Alex.
Ich rollte den drehbaren Postkartenständer nach draußen und blieb einen Moment in der geöffneten Tür stehen. Gegenüber dekorierte Frau Lechner gerade das Schaufenster ihres Bekleidungsgeschäftes neu. Wir winkten uns zu. Anschließend holte ich zwei Gartenstühle und verschiedene Holzkisten, stellte alles auf die andere Seite des Eingangs und dekorierte die Sachen mit kleinen und großen begrünten Pflanzschalen. Daneben platzierte ich zwei Kübelpflanzen und hing die Blumenampel an ihren Haken. Zurück hinter dem Tresen öffnete ich den Laptop. Für heute stand nur eine weitere Bestellung auf dem Plan. Ich kontrollierte die vorrätigen Blumen. Es war genug von allem da. Zudem rechnete ich kaum mit einer Invasion von Kaufwütigen.
Wie ich geahnt hatte, zog sich der restliche Vormittag. Ein paar Touristen verirrten sich in den Laden, die wollten jedoch meist keine Blumen. Natürlich waren wir darauf vorbereitet. Wir hatten auch Dekokram und typische Ostsee-Souvenirs, aber ich stand nicht so auf Krimskrams und tat mich immer schwer mit der Auswahl. Das überließ ich in der Regel meiner Mutter. Sie liebte neben Blumen alles an Nippes. Auf diese Weise konnte sie solche Sachen kaufen, ohne unsere kleine Wohnung damit vollzustellen, und was viel wichtiger war, sie fühlte sich nützlich. Damit war uns beiden geholfen. Da fiel mir ein, wir wollten heute Abend noch ein paar neue Bestellungen besprechen.
Inzwischen war es zehn nach zwei. Ich betrachtete den üppigen Blumenstrauß, dessen zukünftiger Besitzer sich mit dem Abholen ziemlich Zeit ließ. Wehe, der kam nicht, das Ding war fünfundsiebzig Euro wert. Außerdem war ich zum Kaffee mit Alex verabredet. Ich war im Hinterzimmer, als ich endlich das kleine Glöckchen über dem Eingang bimmeln hörte.
»Oh, Gott sei Dank, Sie sind noch da. Ich hatte schon befürchtet, ich komme zu spät.«
»Kein Problem, ich hatte sowieso zu tun«, log ich und lächelte geschäftsmäßig. »Ich hoffe, der Strauß ist so geworden, wie Sie es sich vorgestellt haben.«
»Viel besser. Meine Frau wird ihn lieben. Wie viel hatten wir gesagt?«
»Fünfundsiebzig.«
»Hier, machen Sie achtzig. Der Rest ist für Ihre Geduld.«
»Das ist nett, danke. Ich wünsche Ihrer Frau viel Freude mit den Blumen.«
Nach einer weiteren Entschuldigung für seine Unpünktlichkeit verschwand der Typ, und ich schloss den Laden zu. So große Freundlichkeit kam leider immer seltener vor. Im Augenwinkel nahm ich plötzlich eine Bewegung wahr.
»Captain, du kleiner Stinker.« Ich ging in die Hocke und streichelte den schwarz-weißen Kater, der hier im Hafen schon zum Inventar gehörte. Einen offiziellen Besitzer gab es nicht. Jeder kümmerte sich um den Vierbeiner. »Fast hätte ich dich eingesperrt.« Er folgte mir nach hinten, wo ich das Katzenfutter aufbewahrte. »Nur eine Kleinigkeit, du hast ordentlich zugelegt, mein flauschiger Freund.« Ich legte ihm ein paar Krümel Trockenfutter vor den Laden, die er schnurrend auffraß. Lächelnd schloss ich hinter ihm ab, ging nach oben, zog mich um und schaute kurz bei Mama rein.
»Hey, alles klar bei dir? Brauchst du irgendwas?«
»Nein, mir geht's gut. Willst du weg?«
»Ich bin mit Alex verabredet.«
»Grüß sie lieb von mir.«
»Mach ich.«
Ich verließ das Haus und lief Richtung Marktplatz. Hier war ein ziemliches Gewusel an Menschen. Also ein ganz normaler Sommertag in Heiligenhafen. Im Eingang des Kaufhauses war ein stetiges Kommen und Gehen. Zwei Häuser weiter, auf der Terrasse des Irish Pubs, war kaum mehr ein Tisch frei. Pärchen, Familien, Rentner, Teenager, Leute mit Hund, alle waren sie vertreten. In der nächsten Straße wurde es ruhiger. Vor dem Haus meiner besten Freundin blieb ich stehen und klingelte. Durch die milchige Glasscheibe konnte ich erkennen, dass etwas Kleines auf die Tür zurannte. Ich hockte mich hin und breitete die Arme aus. Sekunden später sprang Mats hinein.
»Hey, Spatz. Mittagsschlaf schon beendet?«
»Ich bin groß, ich mache keinen Mittagsschlaf mehr«, antwortete er inbrünstig.
»Da freut sich die Mama bestimmt ganz doll drüber, oder?«
Mats nickte eifrig und rannte zurück. Ich folgte ihm und fand die beiden in der Küche. Alex hatte ein Blech mit Kuchen vor sich und schnitt gerade kleine quadratische Stücke zurecht. Mats saß auf einer Decke auf dem Fliesenboden und versuchte sich an einem Legoturm.
»Mmh, lecker. Ich liebe Schmandkuchen.«
»Ach, was ein Zufall.« Alex zwinkerte mir zu. Dann legte sie das Messer zur Seite und begrüßte mich mit einer Umarmung. Wobei das allmählich schwierig wurde, so kugelrund wie sie inzwischen war. Der errechnete Geburtstermin war in acht Wochen. Ich konnte manchmal kaum glauben, dass sie bald zweifache Mutter sein würde. Wir hatten doch eben noch nebeneinander auf der Schulbank gesessen. Andererseits war sie seit dieser Zeit nicht nur mit mir befreundet, sondern auch mit Beene zusammen. Sie war nie müde geworden zu erwähnen, dass er der Vater ihrer Kinder werden würde. Recht hatte sie damals bereits gern gehabt.
»Na, Mats hat entschieden, er ist zu groß für Mittagsschlaf?« Mein Blick wanderte zu ihm. Konzentriert stapelte er die Bausteine aufeinander.
Alex verdrehte die Augen. »Wir sind noch am Verhandeln, aber es sieht schlecht aus für mich.«
Ich grinste. »Deswegen ein ganzes Blech Kuchen?«
»Sehr witzig. Nein, wir bringen später Papa und den Jungs was zum Hafen.«
»Den Jungs? Mehrzahl?«
»Beene hat über den Sommer zur Unterstützung für sich und seinen Mitarbeiter Henning zusätzlich jemanden eingestellt, der ihnen unter die Arme greift. Noah heißt er, netter Kerl.«
»Aha, und wo kommt er so plötzlich her, dieser Noah?«
»Soweit ich weiß, hat er keinen festen Wohnsitz. Es zieht ihn mal hierhin und mal dorthin. Und da, wo es ihm gefällt, bleibt er ein paar Wochen oder Monate, sucht sich Arbeit und zieht irgendwann weiter. Furchtbare Vorstellung, ich würde verrückt.«
»Ich finde, es klingt spannend.«
»War ja klar.«
»Du kennst meine Einstellung zu dem Thema.«
»Kein Kommentar. Lass uns Kuchen essen.« Alex legte jedem ein großes Stück auf einen Teller und ging hinüber zum Esstisch. Danach schnappte sie sich ihren Sohn und platzierte ihn in seinem Hochstuhl.
Seufzend setzte ich mich zu den beiden. Alex und ich waren schon ewig befreundet, hatten viel gemeinsam, konnten über die gleichen Witze lachen, verstanden uns oft blind, nur in dieser einen Sache kamen wir nicht zusammen. Sie liebte ihr Leben und lebte für ihren Mann und ihre Kinder. Eine Familie gründen, zusammen ein Haus kaufen, diese Pläne begleiteten sie, seit sie sich damals in Beene verliebt hatte. Genau das Gleiche wünschte sie sich für mich. Doch allein die Vorstellung, mich zu binden, hier für immer festzustecken, ließ mich panisch werden. Die Welt war riesig, es gab so viel zu entdecken. Warum sollte ich das für andere aufgeben? Nein, meine Vorstellung vom Leben sah anders aus. Im Moment mochte ich feststecken, aber ich war gerade sechsundzwanzig. Meine Zeit würde kommen. Alex wurde nicht müde, mich vom Gegenteil zu überzeugen. Zum Glück hatte sie heute anscheinend keine Lust dazu.
»Wie geht's Marieke?«, fragte Alex.
»Soweit okay, zumindest körperlich. Sie hat die Physiotherapeutin gewechselt. Die scheint ihren Job sehr gut zu machen. Ich soll dich lieb grüßen.«
»Danke. Vielleicht geht sie ja bald wieder öfter raus.«
»Hoffentlich. Mir ist es ein Rätsel, dass sie noch nicht ausgeflippt ist. Ständig in dieser kleinen Wohnung herumlungern, bei diesen traumhaften Temperaturen. Kein Wunder, dass ihre Stimmung in den Keller sinkt.«
»Ja, sehr schade. Aber wer weiß, wie wir damit umgehen würden?«
»Es ist kein Todesurteil, die Lebenserwartung bei einem mittelschweren Verlauf ist sogar sehr hoch.«
»Ich glaube, es ist nur eine Phase. Hab Geduld mit ihr.«
»Habe ich immer.« Ich schüttete mir O-Saft nach und trank einen Schluck.
»Weiß ich doch.« Alex griff nach meiner Hand und drückte sie. »Übrigens hat Beene endlich die Tapete im zukünftigen Kinderzimmer entfernt. Allerdings weigert er sich, neue anzubringen. Er meinte, ihm ist völlig egal in welcher Farbe, aber die Wände werden definitiv gestrichen.«
»Dein Mann arbeitet eben lieber an der frischen Luft.«
Wir lachten beide. Alex hob Mats aus dem Hochstuhl und der flitzte sofort zurück zu seinem Legoturm. Ich war froh über den Themenwechsel. Mamas Krankheit nahm reichlich Raum in unserem Alltag ein. Ab und an tat es gut, nicht daran denken zu müssen.
Mit dreiundvierzig hatte sie die Diagnose Multiple Sklerose erhalten, das war sechs Jahre her. Vorweggegangen war eine Vielzahl an Arztbesuchen, bis wir endgültig wussten, woran wir waren. Die Zeit der Ungewissheit war nervenaufreibend gewesen. Das Ergebnis nicht weniger niederschmetternd. In der Anfangsphase hatte Mama ein paar schwerere Schübe erlitten, die zwar dazu beitrugen, dass die Krankheit diagnostiziert werden konnte, die jedoch unwiderruflich zu Einschränkungen führten. Zuerst war es die Kraft in den Beinen gewesen, die Probleme bereitete. Langes Stehen funktionierte plötzlich nicht mehr. In der Hoffnung, nur vorübergehende Schwierigkeiten zu haben, gönnte sie sich öfter Pausen oder arbeitete im Sitzen.
Panik kam auf, als die Motorik und Griffkraft der Hände nachließ. Wie sollte eine Floristin arbeiten, ohne sich auf ihre Hände verlassen zu können? Es war das erste Mal, dass ich mich mit der Krankheit MS näher auseinandersetzte. Die Monate danach konnte man in einem Wort zusammenfassen: Scheiße. Sie bestanden aus Arztbesuchen, Medikamenten, Therapien. Ich war zu dem Zeitpunkt frisch mit dem Abitur fertig, hatte mich für ein Jahr Work and Travel entschieden. Schweren Herzens cancelte ich meine Pläne, half meiner Mutter, wo ich nur konnte, und machte eine Ausbildung zur Floristin. Mir war es schon immer leichtgefallen, Sträuße und Kränze zu gestalten, aber ich hatte nie das Interesse verspürt, in Mamas Fußstapfen zu treten. Doch der kleine Blumenladen war ihr Lebenstraum und unsere finanzielle Basis. Mir blieb keine Wahl, als diesen Weg zu wählen. Inzwischen hatten wir uns in unserem neuen Alltag eingefunden. Trotzdem gab es gute und schlechte Tage, emotionale Aufs und Abs. Eine Phase eben, wie Alex gesagt hatte, die ging vorbei.
»Hey Spatz, was meinst du, besuchen wir Papa?« Alex hatte eine Box mit Kuchen gepackt und eine frische Kanne Kaffee befüllt.
»Jaaa!« Das musste Mats sich nicht zweimal fragen lassen. Er sprang auf und rannte, so schnell seine kleinen Beine ihn trugen, in den Flur.
»Ach ja, würde er nur immer so hören.«
»Bei mir hört er immer«, ich grinste.
»Du bist seine Patentante, da gelten andere Regeln.«
Ich half Mats beim Anziehen der Schuhe und klemmte mir die winzige Softshelljacke unter den Arm. Zu dritt machten wir uns auf den Weg zum Hafen. Wir liefen am Blumenladen vorbei und bogen in die Hafenpassage ein. Man konnte auch einen anderen Weg wählen, aber Mats bestand jedes Mal darauf. Draußen vor dem Souvenirshop hingen die Windspiele, die er so mochte. Die feinen Metallröhren tanzten hin und her, stießen aneinander und ihre Klänge wehten durch die Luft, gemeinsam mit dem herzhaften Lachen eines kleinen, glücklichen Jungen. Begeistert beobachtete er die an einer Kordel aufgefädelten Möwen, deren Schwänze wie ein Propeller gestaltet waren, die der Wind kräftig im Kreis drehte. Längst hatte ich ihm eins davon zum letzten Geburtstag geschenkt.
Nach ein paar Minuten schafften wir es, Mats vom Laden loszureißen. Jetzt marschierte er vornweg. Am Hafen entlang, vorbei an der Fischhalle und am historischen Speicher, bis die Bootswerft seines Papas in Sicht kam. Hier nahm Alex ihn an die Hand. Wir gingen um das Gebäude herum, in dem sich Büro und Lagerhalle befanden. Vorn am Wasser waren Beene und die beiden anderen damit beschäftigt, ein Boot auf der Slipanlage an Land zu ziehen. Wir machten kurz auf uns aufmerksam und betraten dann das Büro. Im hinteren Bereich gab es einen Aufenthaltsraum mit einer Essecke und einer kleinen Küchenzeile. Alex stellte den mitgebrachten Kuchen und die Kaffeekanne auf den Tisch und holte Teller und Gabeln aus dem Schrank. Ich stand am Fenster und versuchte, einen Blick auf den Neuen zu werfen. Wie war jemand, der von Ort zu Ort zog? Sah man es ihm an? War er offener zu Fremden als andere?
»Na, Noah schon entdeckt?« Alex stellte sich grinsend zu mir.
»Ich habe bloß die Möwen beobachtet«, flunkerte ich, doch meine Mundwinkel zuckten verdächtig.
»Ist klar.«
Im nächsten Moment ging die Tür auf und die drei Männer betraten den Raum. Beene wurde sofort von Mats in Beschlag genommen. »Dann übernehme ich die Frauen«, Henning lachte und drückte uns nacheinander. Er war neununddreißig und arbeitete schon länger hier als sein Chef Beene, der die Werft erst vor zwei Jahren übernommen hatte, nachdem der vorherige Besitzer sie aus Altersgründen verkauft hatte. Die beiden waren nicht nur beruflich ein eingespieltes Team. Henning und seine Frau zählten inzwischen zu unseren engsten Freunden. Mein Blick glitt zur Tür. Das war dann wohl Noah. Weder Beene noch Henning waren klein, aber dieser Kerl passte grad so durch den Türrahmen, was Höhe und Breite anging. Ziemlich angsteinflößend, wenn da nicht dieser warmherzige Ausdruck in seinen Augen gelegen hätte, die von meiner Position aus übrigens eine nicht zu definierende Farbe besaßen.
»Hey, ich bin Noah«, begrüßte er mich und entblößte zwei Reihen perfekter Zähne. Seine Stimme war angenehm tief, mit einem weichen Timbre.
Ein merkwürdiges Flattern waberte durch meinen Magen. Irritiert hielt ich in der Bewegung inne, bevor ich mich wieder fing und die Hand ausstreckte. »Ich bin Luise, willkommen in Heiligenhafen.«
Alex schaute mich komisch an. Hatte sie was bemerkt? Es würde mich nicht wundern. Für meine emotionalen Schwingungen hatte sie ein Gespür. Wir setzten uns an den Tisch, und ich wich ihrem Blick aus, konzentrierte mich auf das Stück Kuchen auf meinem Teller. Ich konnte mir selbst nicht erklären, was da losgewesen war. Okay, Noah war heiß, keine Frage. Aber er war nicht der erste heiße Typ, der mir über den Weg lief.
Wie sich herausstellte, war er zudem ziemlich schweigsam. Von sich aus redete er so gut wie gar nicht, und ich wollte nicht neugierig erscheinen und ihn mit Fragen löchern. Ein paarmal erwischte er mich dabei, wie ich ihn beobachtete. Verdammt, so kannte ich mich gar nicht. Was Männer betraf, war ich eigentlich nicht kontaktscheu. Ein bisschen vorsichtig vielleicht, aber aus gutem Grund.
Mein Traum war es, die Welt zu bereisen. An einer festen Beziehung hatte ich daher kein Interesse. Wenn es endlich so weit war, sollte mich nichts hier festhalten, schon gar kein Mann. Dafür war ich einer kurzen Affäre oder einem One-Night-Stand gegenüber nicht abgeneigt. Was ich vorher deutlich kommunizierte, um Missverständnisse zu vermeiden.
Nach Kaffee und Kuchen gingen die Männer zurück zum Boot. Beene nahm Mats für einen Moment mit nach draußen. Alex und ich spülten das Geschirr ab.
»Er gefällt dir, oder?«, fragte sie, kaum dass die Tür zugefallen war.
»Ganz okay.«
»Mehr nicht? Nur okay?« Sie wippte mit den Augenbrauen. »Er ist groß, hat eindeutig ein paar Muskeln, schöne Augen und schöne Hände. Hast du dir seine Hände angesehen? Dafür, dass er viel mit ihnen arbeitet, wirken sie sehr gepflegt.«
Jetzt war ich es, die die Augenbrauen nach oben zog. »Alex«, ich grinste sie an. »Du schwärmst ja richtig.«
»Quatsch, ich habe ganz neutral einige Details aufgezählt, die mir aufgefallen sind. Es ist schwierig, nicht hinzusehen. Noah nimmt den ganzen Raum ein, sobald er ihn betritt.«
»Das stimmt, wie groß ist er? Bestimmt fast zwei Meter.«
»Auf jeden Fall.« Alex stupste mich von der Seite an. »Was meinst du, ist er gut im Bett?«
»Was ist denn mit dir heute los? Sind das die Schwangerschaftshormone oder muss ich mir Sorgen machen?«
»Frag Beene, es sind definitiv die Hormone.«
»Nein, danke. Ich verzichte auf Details.« Ich nahm sie in den Arm. »Hauptsache, du bist glücklich, mehr will ich gar nicht.«
Alex streichelte sich über ihren Babybauch. »Ich war nie glücklicher.«
Wir drückten uns noch einmal und gingen nach draußen zu den anderen. Mats winkte uns freudig vom Arm seines Papas aus zu. Die beiden standen auf einem der Boote, die am Steg vertäut waren. Von Noah und Henning war nichts zu sehen.
»Lass mich raten, da will jemand eine Runde Boot fahren.« Alex seufzte.
»Wir warten nur auf dein Okay.«
»Wer kommt mit? Du kannst schlecht allein auf ihn aufpassen. Mir ist heute nicht danach.«
»Noah wollte mit. Der ist sicher noch in der Werkstatt.« Beene erntete einen skeptischen Blick. »Was ist mit dir, Lu? Würdest du uns begleiten?«
»Bin dabei«, kamen die Worte wie aus der Pistole geschossen aus meinem Mund, was Alex zu einer Art Grunzer veranlasste.
»Beruhigt, mein Schatz?« Beene legte den Kopf schief und beobachtete seine Frau.
»Ich bin erst beruhigt, wenn Mats wieder festen Boden unter den Füßen hat.« Sie war zwar am Meer aufgewachsen, aber seit sie Mutter war, hatte sie Ängste entwickelt, die sie sich oft selbst nicht erklären konnte.
»Ihm passiert nichts«, versprach ich Alex. »Ich passe auf ihn auf.«
»Ich weiß. Wie soll das bitte erst mit zwei Kindern werden?«
Lachend strich ich ihr über den Arm. »Du bist eine starke Frau, du schaffst das. Außerdem hast du die beste Patentante der Welt an deiner Seite.«
»Okay, beste Patentante der Welt, dann hopp aufs Boot zu meinem Jungen. Ich hole Noah.«
Ich salutierte grinsend. Mats sprang mir aufgeregt in die Arme. Er plapperte ununterbrochen, wobei ich nur die Hälfte verstand, bei der Geschwindigkeit, die er an den Tag legte. Als ich aufblickte, kam Alex mit Noah im Schlepptau zurück. Erneut verspürte ich dieses auffällige Flattern in der Magengegend.
»Komm her, Kleiner. Lass mal schauen, ob die Schwimmweste richtig geschlossen ist.« Ich hatte schließlich die Verantwortung für einen Dreijährigen und war nicht hier, um einen (wirklich verdammt heißen) Typen anzuschmachten.
Beene ließ den Motor an und entlockte Mats ein Jauchzen. Wir lachten alle. Dabei blieb Noahs Blick an mir hängen. Ich dachte schon, er würde sich neben mich setzen, doch er blieb vorn bei Beene. In gemütlicher Geschwindigkeit tuckerten wir hinaus auf die Ostsee. Die zurückgelassene Alex wurde kleiner und kleiner. Die See war friedlich, nur leicht schwappten die Wellen gegen den Rumpf unseres Bootes. Ich brachte Mats vorsichtig zu den Männern, damit er seine kleinen Hände um den Griff am Steuerrad legen konnte. Seine Augen strahlten mit der Sonne um die Wette. Plötzlich setzte sich Noah doch noch zu mir. Er lehnte sich zurück und schwieg, während mein Herz einen Takt schneller schlug.
»Du ziehst also von Ort zu Ort«, durchbrach ich die Stille zwischen uns.
»Ja.«
»Machst du das schon länger?«
»Eine Weile.«
»Also gefällt es dir, so zu leben?«
»Ja.«
Wow, da hatte ich mit Captain, dem Kater, intensivere Gespräche. Noah war ein harter Brocken. »Du redest nicht sehr viel, oder?«
»Kommt drauf an«, gab er schmunzelnd zurück.
»Auf was?«
»Ob mein Gegenüber es wert ist.«
»Und ich bin es nicht wert?«
»Weiß ich nicht, wir kennen uns nicht.«
»Das ist auch schwierig, wenn du in Einwortsätzen antwortest.«
Noah beugte sich lachend vor und drehte den Kopf, sodass er mir direkt in die Augen schaute. Seine waren grün, stellte ich fest. »Gut gekontert.«
»Danke.«
»Ich lebe seit ein paar Jahren auf diese Art. So habe ich schon einiges von der Welt gesehen. Arbeit und einen Schlafplatz gibt es immer irgendwo, man darf bloß nicht zu wählerisch sein. Ich bleibe, bis es keinen Job mehr für mich gibt oder es mich weiterzieht.« Er lehnte sich wieder zurück. »Besser?«
»Für den Anfang.« Mit der Hand schirmte ich meine Augen vor der Sonne ab. »Wie hat es dich ausgerechnet nach Heiligenhafen verschlagen?«
Wieder dieses Schmunzeln. »Ich komme gerade aus Dänemark. War für einen Zwischenstopp auf Fehmarn und dachte mir, Heiligenhafen klingt nett, da könnte ich mal vorbeischauen.«
»Und dann ist dir Beene über den Weg gelaufen.«
»So ungefähr, ja.«
»Aha.« Ich schloss für einen Moment die Augen, genoss das leichte Schaukeln und die friedvolle Stille.
»Was, das war's? Keine Fragen mehr?«
»Jede Menge, aber die musst du mir nicht alle heute beantworten.«
»Aber morgen habe ich vielleicht keine Lust mehr dazu.«
»Übermorgen geht auch.« Ich öffnete ein Auge und sah zur Seite. Amüsiert schüttelte Noah den Kopf. So schwierig war es eigentlich gar nicht, sich mit ihm zu unterhalten, und Spaß machte es ebenfalls.
»Was ist mit dir? Was machst du, wenn du dich nicht grad auf dem Boot über die Ostsee schippern lässt?«
»Meine Mutter und ich besitzen einen Blumenladen.«
»Du klingst nicht begeistert. Läuft das Geschäft nicht?«
»Doch, also es reicht zum Leben. Das passt schon.«
»Aber?«
»Dafür, dass du erst keine beantworten wolltest, stellst du selbst ziemlich viele Fragen.«
»Entschuldige, ich will dich nicht aushorchen.«
»Tust du nicht. Es ist bloß ... kompliziert.«
»Verstehe. Wenn du mal Hilfe benötigst, du weißt jetzt, wo du mich findest.«
»Das ist lieb, vielen Dank.« Noah war mehr als in Ordnung. Ich begriff, warum Beene ihn eingestellt hatte. »Drehen wir allmählich um?«, rief ich unserem Vater-Sohn-Duo zu. »Sonst haltet ihr mich bald für einen Hummer und werft mich ins Meer.«
»Würde ich nie tun«, kam es von Beene. »Hummer gehören in den Kochtopf und anschließend auf den Teller.«
»Haha, wie witzig du bist.« Ich verdrehte die Augen.
»Immer wieder gern«, lachend wendete er das Boot und brachte uns langsam zurück zur Werft.
Ich holte Mats zu mir, während Noah noch einmal Beene Gesellschaft leistete. An Land erwartete uns bereits Alex. Sie konnte es kaum erwarten, ihren Sohn in die Arme zu nehmen.
»Hey, mein Schatz. Hattest du Spaß?« Mats plapperte in Warpgeschwindigkeit drauflos, nur Alex konnte ihm folgen und strich ihm über das blonde Haar. »Und wie hat es der weltbesten Patentante gefallen?«, richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf mich.
»Es war nett.« Noah ging vorbei und lächelte.
»Nur nett, also.«
»Sehr nett.«
»Na, dann sind ja alle glücklich und zufrieden, und wir können gehen.«
Mats war gar nicht damit einverstanden und protestierte lautstark. Allerdings brachte das Wort Schlumpfeis seinen Widerstand enorm ins Wanken, und er gab schlussendlich auf. Wir verabschiedeten uns von den drei Männern und machten uns auf den Weg in Heiligenhafens malerische Altstadt mit ihrem mittelalterlichen Charme, vorbei an der imposanten Stadtkirche aus dem 13. Jahrhundert. Das Kopfsteinpflaster glänzte im Schein der Sonne. Die sich aneinanderreihenden roten Backsteinhäuser beherbergten kleine Souvenirläden, Bekleidungsgeschäfte und Cafés und natürlich die versprochene Eisdiele. Nach dem kurzen Zwischenstopp dort, liefen wir weiter. Der Trubel in den kleinen, verwinkelten Gassen hatte kein Stück nachgelassen.
»So, ihr beiden. Es war ein wunderbarer Nachmittag. Ich muss noch an den Computer und mit Mama ein paar Bestellungen durchgehen. Mal schauen, ob ihre Laune besser ist als heute Morgen.«
»Grüß sie lieb von mir.« Alex gab mir einen Kuss auf die Wange. »Halt durch.«
»Mach ich.« Ich ging in die Knie. »Tschüss, mein Großer, am Wochenende gehen wir an den Strand, okay?«
»Jaaa!« Mats hüpfte auf und ab.
»Schätze, wir sind uns einig.« Winkend machte ich mich auf den Nachhauseweg.
Zuerst ging ich in den Laden und holte meinen Laptop. Anschließend betrat ich das Wohnzimmer. Weil ich meine Mutter dort nicht antraf, klopfte ich an ihrer Schlafzimmertür und öffnete sie einen Spalt. Sie schlief tief und fest. Ich seufzte innerlich. Na gut, dann würde ich mich eben allein um die Bestellungen kümmern.
Es belastete mich, sie so niedergeschlagen zu sehen. Ich versuchte mein Bestes, fragte sie um ihren Rat, band sie mit ein, wo ich konnte. Bisher hatte das gut funktioniert. Derart niedergeschlagen war sie lange nicht gewesen. Ich konnte nicht sagen, woran es lag. Ihr Zustand war schon eine ganze Weile stabil, aber sie zog sich mehr und mehr zurück. Es fühlte sich an, als würde ich sie verlieren, ohne dass sie starb. Ich wusste nicht, wer mehr litt, sie oder ich. Und ich konnte nur hoffen, Alex behielt recht und es war bloß eine Phase.
Vertieft in die Arbeit, bekam ich nicht mit, dass Mama aufgestanden und in der Tür stehen geblieben war. »Du hättest mich wecken können.«
Erschrocken löste ich den Blick ruckartig vom Bildschirm. Blass und auf ihren Stock gestützt schaute sie mich an. »Du hast erschöpft gewirkt, da dachte ich, es ist besser, dich schlafen zu lassen.« Ich klopfte auf den Platz neben mir. »Komm her, wir können alles in Ruhe zusammen durchgehen. Soll ich dir einen Tee machen?«
»Das wäre sehr lieb von dir. Gib mir den Laptop in der Zeit, ich schaue schon mal drüber.«
In der Küche stellte ich den Wasserkocher an, lehnte mich gegen die Arbeitsplatte und fuhr mir mit den Fingern durchs Haar. »Hatte ich es mir eingebildet oder war da ein vorwurfsvoller Unterton in ihrer Stimme mitgeschwungen? Im Grunde spielte es keine Rolle. Hätte ich sie geweckt, wäre es genauso falsch gewesen wie sie nicht zu wecken. Im Moment war es schwierig, irgendetwas richtig zu machen. Ich würde die Bestellung gleich abschicken und dann kurz zu Lars in den Laden laufen, um ihn daran zu erinnern, mir morgen seinen Lieferwagen zu leihen. Es klang selbst in meinen Ohren furchtbar und unsensibel, aber ich musste hier raus. Mit dem Tee in der Hand ging ich zurück ins Wohnzimmer. Mama hatte den Laptop auf den Tisch gestellt, die Arme vor der Brust verschränkt.
»Sieht gut aus«, erklärte sie, nachdem ich mich gesetzt hatte. »Kannst du so fertig machen. Gut, dass du mich nicht geweckt hast, du hättest mich gar nicht gebraucht. Inzwischen ist meine Hilfe nicht mehr notwendig.« Sie versuchte sich an einem Lächeln, was völlig verrutschte und mehr einer hässlichen Fratze ähnelte.
Ich klappte den Laptop mit extra viel Schwung zu. »Hervorragend, genau das wollte ich hören.« Schnell stand ich auf, bevor ich etwas sagte, was mir am Ende leidtat. Verständnis für jemanden aufbringen war manchmal verdammt schwer. »Ich geh zu Lars«, erklärte ich knapp und beeilte mich, aus der Wohnung zu kommen.
Lars war der Besitzer des Lebensmittelgeschäfts um die Ecke. Er besaß einen Transporter, den ich mir leihen durfte, wenn ich frische Blumen kaufen fuhr. In meinem kleinen Twingo wäre das ein sinnloses Unterfangen.
Auf dem Weg zum Geschäft grummelte ich missmutig vor mich hin. Hoffentlich hatte sie wenigstens bemerkt, wie unangebracht und doof ihr Gerede gewesen war. Tränen traten mir in die Augen, weniger aus Wut, vielmehr aus Verzweiflung. Es gab keine Heilung für Multiple Sklerose und ja, ich konnte verstehen, wie furchtbar es war, seine Pläne und Träume nicht mehr verfolgen zu können. Ich selbst hatte meine Pläne und Träume für meine Mutter aufgegeben, war bei ihr geblieben, statt die Welt zu bereisen. Niemand garantierte mir, dass ich meine Chance bekommen würde. Ich hoffte es, daran hielt ich mich fest. Aber zwischen jetzt und irgendwann lagen vielleicht viele Jahre. Wie sollte es weitergehen, wenn sie sich aufgab? Das war nicht fair, ich tat das alles für sie. Ich kämpfte für sie. Ich behielt den Laden nur ihretwegen, weil Blumen sie glücklich machten. Die Tränen liefen nun ungehindert meine Wangen hinab. Ich wollte sie endlich wieder lächeln sehen, es fehlte mir so sehr.
Im Schatten einer Hauswand blieb ich stehen, beruhigte mich und ließ die Tränen von der Sonne trocknen. Halbwegs gefasst betrat ich den Laden, begrüßte Frau Post hinter der Kasse, die gefühlt schon hier gearbeitet hatte, als das Farbfernsehen noch für einen Mythos gehalten worden war, und hielt Ausschau nach Lars.
»Luise, schön, dich zu sehen.« Er schob die letzte Dose Katzenfutter ins Regal und erhob sich dann, um mich zu umarmen. »Brauchst du was Bestimmtes?«
»Dein Auto«, antwortete ich lachend. Lars strahlte so viel positive Energie aus, dass er meine schlechte Laune innerhalb von Sekunden absorbierte.
»Hast du dir Sorgen gemacht, ich könnte dich vergessen?«
»Nicht wirklich, ich wollte bloß auf Nummer sicher gehen und außerdem ein bisschen frische Luft schnappen.«
»Alles okay zu Hause?«
Ich zuckte mit den Schultern und betrachtete die Katzenbilder auf den einzelnen Verpackungen. »Mama ist echt schlecht drauf zurzeit.«
»Immer noch? Geht sie zur Therapie?«
»Nur Physio. Der einzige Termin, für den sie das Haus verlässt.«
Lars sah mich bedauernd an. »Tut mir leid, aber das wird wieder. Ich habe da ein gutes Gefühl.«
»Ich glaube dir gern.«
»Magst du den Schlüssel für den Transporter gleich mitnehmen, wo du nun eh hier bist?« Winkend forderte er mich auf, ihm ins Büro zu folgen.
»Ist hier jemand eingebrochen?«, fragte ich stirnrunzelnd bei dem Chaos, das sich mir präsentierte. Ein paar Ordner standen im Regal, der Großteil lag allerdings auf der Erde davor und auf dem Schreibtisch. Dort befanden sich zudem zwei Stapel Papiere, die dem nächsten Windstoß nicht standhalten würden. Mehrere leere Wasserflaschen umrahmten den Boden um den Schreibtisch. Der Mülleimer quoll über.
»Nein, ich hinke ein wenig hinterher mit dem Papierkram«, meinte er kleinlaut. »So schlimm sieht es sonst nicht aus, ehrlich.«
»Warum stellst du niemanden ein?«
»Noch ein Gehalt, das ich zahlen soll? Keine Chance.«
Ich nickte verständnisvoll. Ihm ging es wie allen anderen. »Danke für das Auto. Ich denke, ich bin gegen elf zurück.«
»Lass dir Zeit, ich muss morgen nirgendwo hin. Und grüß Marieke von mir.«
Gemeinsam gingen wir nach vorn. Frau Post war in ein Gespräch mit einer anderen Dame vertieft. Bestimmt wurden der neueste Klatsch und Tratsch ausgetauscht. Dafür war ein Lebensmittelgeschäft der perfekte Ort, und Frau Post die ideale Ansprechpartnerin, wenn es darum ging, Dinge zu erfahren oder verbreiten zu lassen. Vielleicht alterte sie deswegen irgendwie langsamer. Es war ihr Lebenselixier. Geheimnisse sollte man ihr jedenfalls nicht anvertrauen, wenn sie für andere Ohren nicht bestimmt waren.
Ich verabschiedete mich von Lars und ging zurück, langsamer als notwendig, noch nicht bereit, meiner Mutter wieder gegenüberzutreten. Leichte Kopfschmerzen stellten sich ein und zogen meinen Nacken hinauf. Ich schloss die Augen und ließ meine Schultern kreisen. Die Sonne wärmte meine Haut. Mit tiefen Atemzügen versuchte ich, innerlich zur Ruhe zu kommen. Es half schließlich nichts, die Wut brachte mich nicht weiter. Ein oder zwei Wochen gab ich meiner Mutter, sollte sich bis dahin ihre Stimmung nicht zum Positiven gewendet haben, würde ich etwas unternehmen, wie auch immer dieses Etwas aussehen würde.
Im Haus legte ich den Schlüssel von Lars zu meinem in die kleine Holzschale im Flur und betrat anschließend das Wohnzimmer. Der Fernseher lief. Mama lag in ihrem Sessel, die Wolldecke über den Beinen, trotz annähernd fünfundzwanzig Grad im Raum. Sie schaute kurz auf, widmete sich aber schnell wieder dem Bildschirm.
»Grüße von Lars«, richtete ich ihr aus.
»Danke, nett von ihm. Geht es ihm gut?«
»An sich schon. Er scheint ein wenig überfordert mit seiner Büroarbeit. Es sah aus, als hätte eine Granate eingeschlagen, kurz habe ich gedacht, bei ihm sei eingebrochen worden.«
»Der Arme.« Für ungefähr eine Millisekunde umspielte ein winziges Schmunzeln Mamas Lippen. Hätte ich sie nicht so intensiv betrachtet, wäre es mir entgangen. »Kann er niemanden einstellen?«
»Zu teuer.«
»Mmh.«
Ich wartete kurz. Würde sie noch was sagen? Die Aktion mit den Bestellungen aufgreifen? Nach weiteren fünf Minuten sagte ich ihr Gute Nacht und verschwand auf mein Zimmer. Bei weit geöffnetem Fenster legte ich mich aufs Bett und starrte zur Zimmerdecke. Von nebenan hörte ich das undeutliche Gemurmel des Fernsehers, irgendwo draußen hupte ein Auto, vereinzelt vernahm ich Stimmen von Passanten, die die Straße entlangliefen. Wahrscheinlich Touristen, die einen Verdauungsspaziergang zum Hafen oder zum Strand unternahmen. Alles wie immer. Tag ein, Tag aus. Kaum Veränderungen. Eigentlich hatte ich mich mit diesem Zustand abgefunden. Im Augenblick nervte so ziemlich alles daran. Seufzend setzte ich mich auf, schaltete den Fernseher ein und suchte nach einem Actionfilm, bei dem ich nicht groß über die Handlung nachdenken musste. Kurz vor halb neun war er zu Ende, und ich entschied, heute früh schlafen zu gehen.
Leider fühlte ich mich am nächsten Morgen kein bisschen ausgeschlafen. Ich hatte viel geträumt. Zusammenhangloses Zeug, an das ich mich nicht erinnerte. Dennoch hatte es zu einer inneren Unruhe beigetragen, die in mir nachhallte. Ich duschte ausgiebig, in der Hoffnung, damit meine Lebensgeister zu wecken. Anschließend versuchte ich mich an einem gesunden Frühstück mit Haferflocken und Obst. Mama schlief noch oder lag wach im Bett. Sie stand eigentlich immer erst auf, wenn ich bereits unten im Laden war. Insofern nichts Außergewöhnliches, die Wohnung um diese Uhrzeit für mich zu haben. Heute erwischte ich mich jedoch bei dem Gedanken, froh darüber zu sein, und fühlte mich augenblicklich schlecht. Ich wollte nicht so denken, wir hatten nur uns beide. Leise räumte ich das benutzte Geschirr in die Spülmaschine, schnappte mir die Schlüssel und zog die Tür ins Schloss. Zum Glück musste ich den Laden erst um vierzehn Uhr öffnen. Stattdessen ging es heute Vormittag aufs Blumenfeld. Frische Luft und die bunten Farben würden helfen, meine Stimmung zu heben.
Ich holte den Transporter bei Lars ab und lud die Boxen ein. Vor unserem Haus gab es keine Parkmöglichkeiten, aber wenigstens durfte man ein- und ausladen. Danach machte ich mich auf den Weg. Auf keinem Sender im Radio lief hörenswerte Musik, also drückte ich auf den CD-Knopf und wartete neugierig. Ich erkannte schon an den ersten Klängen, worum es sich handelte. Meine Mutter liebte die Bee Gees. Lars also auch, wie es schien. Auf der halbstündigen Fahrt entspannte ich mehr und mehr. Neben mir auf dem Beifahrersitz lag die ausgedruckte Liste mit den Schnittblumen, die ich kaufen wollte. Zwei, drei sommerliche Arrangements würde ich für das Tagesgeschäft anfertigen, dazu kam ein Probegesteck für eine Hochzeit und ein paar einzelne Blumen blieben für spontane Käufer.
Ich bog von der Hauptstraße ab und folgte dem Weg, bis die ersten Hofgebäude in Sicht kamen. Auf den Feldern streckten unzählige Blumen ihre Köpfe der Sonne entgegen. Ich parkte den Wagen am Ende einer Reihe von vier anderen Autos und meldete mich an. Mit Handschuhen und einem Messer ausgestattet begann ich, den ersten Punkt auf meiner Liste abzuhaken. Trotz der frühen Uhrzeit kam ich schnell ins Schwitzen. Am strahlend blauen Himmel schob sich die Sonne erbarmungslos höher und höher und trieb mir kleine Schweißperlen auf die Nase. Nach einer Weile meldete sich auch mein Rücken, aber ich liebte diesen Teil meiner Arbeit viel zu sehr, um mich zu beschweren. Jede einzelne Blume wurde mit Bedacht ausgewählt, wobei die Qualität hier auf dem Hof sehr hoch war, und ich schnell vorankam. Zu wissen, dass ich in der Lage war, am Ende daraus ein kleines Kunstwerk entstehen zu lassen, erfüllte mich mit Stolz. Ich hatte diese Momente, in denen ich mehr in meiner Arbeit sah als Geld verdienen. Meistens jedoch konnte ich nur sehen, was ich nicht besaß, und das war die Freiheit, die ich mir damals gewünscht hatte.
Demonstrativ stand ich auf und schüttelte leicht den Kopf. Nein, nicht jetzt und hier. Ich wollte zwischen all der Schönheit keine schlechte Stimmung aufkommen lassen. Die wartete zu Hause auf mich. Einen Moment schloss ich die Augen, neigte mein Gesicht der Sonne entgegen und entspannte meinen Rücken, bevor ich ein letztes Mal in die Hocke ging. Die Messerklinge glitt durch einen weiteren Stängel. Vorsichtig legte ich die Blume zu den anderen. Allmählich füllte sich auch der letzte Korb. Zufrieden betrachtete ich meine Ausbeute. Ich hatte jeden Punkt auf meiner Liste abgehakt. Es gab unter anderem rosafarbene Verbenen, orangene und sattgelbe Calendula, Schmetterlingsflieder und Astern in Violett, blauen Rittersporn, weiße Strohblumen. Nachdem ich bezahlt hatte, lud ich eine herrlich duftende Farbexplosion in den Transporter und machte mich auf den Rückweg. Das hatte ich zumindest vor. Leider schien der gute Teil des Tages bereits vorbei zu sein, denn ich kam nicht weit. Ein quietschendes Geräusch erfüllte den Wagen, gleichzeitig ging das Radio aus und die Lenkung funktionierte nicht mehr richtig. Ich rollte mit Warnblinklicht an den Straßenrand und zog die Handbremse an. In der Tasche kramte ich nach meinem Handy, wenigstens hatte es Empfang.
Zuerst versuchte ich es bei Lars, ließ es eine halbe Ewigkeit klingeln. Der wirbelte wahrscheinlich in seinem Laden herum, oder das Telefon war unter den Papierbergen im Büro verschollen. Ich konnte den Pannendienst anrufen, was Geld kosten würde und Zeit, die ich nicht hatte. Beziehungsweise die frisch geschnittenen Blumen hatten keine. Auf Dauer wurde es viel zu heiß im Laderaum. Die nächste Nummer, die ich wählte, gehörte Beene. Er konnte alles reparieren, dazu musste es nicht schwimmen können.
»Sie sprechen mit dem weltbesten Ehemann und Vater, was kann ich für Sie tun?«, alberte Beene am anderen Ende der Leitung herum.
»Ich brauche den weltbesten Mechaniker.«
»Hey Lu, was ist passiert?«
»Ich bin mit dem Transporter von Lars liegengeblieben. Er macht komische Geräusche, ich traue mich nicht weiterzufahren, aber ich habe Blumen, die dringend ins Wasser müssen. Kannst du mir helfen?«
»Grundsätzlich wäre ich schon auf dem Weg zu dir, aber ich habe gleich einen Termin, den ich nicht verschieben kann. Ich kläre das mit den Jungs, einer der beiden kommt dich holen. Schick mir deinen Standort.«
»Super, ich danke dir. Du bist nebenbei auch der weltbeste Freund.«
»Bekomme ich das schriftlich?«
»Ich schenk dir ein T-Shirt mit Aufdruck.«
»Oh ja«, freute er sich.
Wir legten auf, und ich machte mich zur Sicherheit auf die Suche nach einem Warndreieck. Zwar war es ein übersichtlicher und gut einsehbarer Straßenabschnitt, darauf verlassen wollte ich mich nicht. Neben dem Warndreieck fand ich eine alte, rot karierte Wolldecke, die ich mir unter den Arm klemmte und mit genügend Abstand zur Fahrbahn auf der Wiese ausbreitete.
Tatsächlich musste ich nicht lang warten, bis Beenes alter Kombi auftauchte. Noch bevor er ausstieg, wusste ich, dass es sich bei meinem Retter nicht um Henning handelte. Die Gestalt hinter dem Steuer wirkte riesig. Kaum hatte ich Noah wahrgenommen, meldete sich mein Herz und geriet vor Freude ins Stolpern. Ich benahm mich wie ein verliebter Esel. Dabei kannte ich ihn wie lange? Nicht mal vierundzwanzig Stunden?
Ich stand auf, faltete die Decke zusammen und ging zu Noah, der sich mit dem Rücken an den Transporter lehnte und wartete. Er trug einen fleckigen Blaumann, auch auf seiner Wange war ein Schmutzstreifen gelandet. Nur mit Mühe unterdrückte ich das Bedürfnis, ihn wegzuwischen.
»Hey, du musst gerettet werden, habe ich gehört.«
»Nicht ich, die Blumen im Kofferraum«, erwiderte ich mit Nachdruck. Er sollte bloß nicht denken, ich könnte mir nicht selbst helfen. Das konnte ich, nur eben nicht auf die Schnelle. Ohne mein wertvolles Gut hätte ich Beene nie angerufen.
Ob Noah meinen Tonfall wahrgenommen hatte, ließ sich nicht sagen. »Ich schaue mir das kurz an.«
»Gut, ich lade die Blumen in der Zeit in den Kombi.« Ich klappte die Rücksitze um und holte den ersten Korb. Als ich mich umdrehte, um den nächsten umzuladen, stand Noah hinter mir, und ich erschrak. »Himmel, schleichst du dich immer so an?«
»Habe ich nicht, ich habe dich zweimal gerufen.«
»Ernsthaft?«
»Ernsthaft.«
»Hast du herausgefunden, was er hat?«
»Sieht nach einem gerissenen Keilriemen aus. Damit kannst du nicht weiterfahren. Der muss erst ersetzt werden.«
»Okay.«
»Ist nicht deiner, oder?«
»Nein.«
»Dann ist es nicht dein Problem.«
Noah schien ziemlich pragmatisch. »Was jetzt?«
»Ich rufe den Abschleppdienst an und warte hier. Du kannst mit dem Kombi zurückfahren und deine Blumen in Sicherheit bringen.«
»Machst du dich darüber lustig?«
»Worüber?«