Puppenspiele - Marina Heib - E-Book

Puppenspiele E-Book

Marina Heib

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Beschreibung

Eine rote Narbe über dem Herzen und ein Spiegel in der Hand. Welche Botschaft steckt hinter der Inszenierung, die der Serienkiller mit seinen jungen Opfern veranstaltet? Christian Beyer und sein Team decken bei ihren Ermittlungen ein skrupelloses Spiel um Geld, Macht und Fortschritt auf, das jetzt seinen tödlichen Tribut fordert.

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PIPER DIGITAL

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Für Leserinnen und Leser, die wissen, was sie wollen.

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Für meinen Bruder Rainer

ISBN 978-3-492-98025-8

© für diese Ausgabe: Fahrenheitbooks, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2013 © Piper Verlag GmbH, München 2010 Covergestaltung: FAVORITBUERO, München Covermotiv: © Robyn Mackenzie, ilolab / alle Shutterstock.com Datenkonvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

4. Auflage 2011

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TEIL I

MACHTSPIELE

23. Februar 2009: Hamburg.

Kurz vor Mitternacht betrat Clarissa Wedekind die Bar »20up« des Hamburger »Riverside«-Hotels. Es war ein Montagabend und die Bar nicht so gut besucht wie an Wochenenden, an denen man einen Platz reservieren musste, um die spektakuläre Aussicht auf den Hafen zu genießen. Nicht mal ein Dutzend Gäste besetzten die Poleposition an der verglasten Frontseite.

Clarissa ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Sie würde sich nach links auf einen Barhocker an einem der Stehtische setzen, so weit weg von den anderen Gästen wie nur möglich. Das fröhliche Getue von Menschengruppen war Clarissa zuwider. Doch zuerst ging sie zur Fensterfront und warf einen Blick auf den Hafen in etwa neunzig Meter Tiefe. Schließlich hatte sie nur wegen des viel gerühmten Panoramas in diesem Hotel eingecheckt. Über die Zimmer ließ sich nichts Bemerkenswertes sagen, es sei denn, man wollte das Bemühen und gleichzeitige Scheitern der Innenarchitekten kommentieren. Der Blick von hier oben jedoch war tatsächlich beeindruckend. Ein großes Kreuzfahrtschiff wurde gerade mit unglaublicher Behutsamkeit in ein Dock eingefädelt. Das Dock war so schmal, dass dem Schiff auf beiden Seiten anscheinend nur wenige Zentimeter blieben, um nicht die Mauern zu touchieren. Vor allem die männlichen Gäste starrten wie gebannt auf das sich bietende Schauspiel und bestaunten die Fähigkeiten des Kapitäns mit angeberischem Halbwissen über Umkehrschub und Wendegetriebe.

Schlepper, Dickschiffe, Docks und Containerterminals waren beleuchtet von unzähligen weißen, orangefarbenen und roten Lichtern, deren Spiegelungen auf der dunklen, kaum bewegten Wasseroberfläche der Elbe sanft und glitzernd schaukelten.

Wenige Meter von Clarissa entfernt stand eine sehr hübsche, sehr junge, sehr blonde Frau eingehakt am Arm eines anscheinend gut situierten älteren Herrn, der vermutlich ihre Brillantohrringe bezahlt hatte. Sie betonte ihre jugendlich-romantische Seite, indem sie immer wieder aufstöhnte: »Mein Gott, ist das schön!« Clarissa war sich sicher, dass die junge Frau ihrem väterlichen Begleiter wenig später mit ähnlichen Worten einen Orgasmus vorspielen würde. »Schau doch, Hartmut, die vielen Lichter! Als würden Sterne im Wasser schwimmen«, ereiferte sich die Blondine in einem Anfall verbaler Sensitivität.

Clarissa wusste, dass empfindsame Gemüter bei derartigem Anblick in Verzücken gerieten. Für sie war das Glitzern jedoch nur eine Frage der Lichtbrechung und das Panorama lediglich ein beleuchteter Hafen, in dem sich tätowierte Kerle mit ölverschmierten Fingern rund um die Uhr die Knochen wund rieben. Clarissa hatte nichts übrig für die Poesie der Nacht. Sie nahm das Hamburger Postkartenmotiv mit interesselosem Wohlgefallen zur Kenntnis, wandte sich den Stehtischen zu und bestellte einen achtzehn Jahre alten schottischen Single Malt. Clarissa trank selten Alkohol, sie bevorzugte einen klaren Kopf. Doch heute gab es etwas zu feiern. Die letzte Runde der Fusionsverhandlungen mit dem konkurrierenden hanseatischen Unternehmen war zu ihrer vollen Zufriedenheit verlaufen. Sobald in einigen Wochen die Verträge unterzeichnet sein würden, konnte Clarissa mit ihrer Wahl zur Vorstandsvorsitzenden des global operierenden und börsennotierten Kosmetikkonzerns »Aglaia« rechnen, für den sie in Düsseldorf seit mehr als fünfzehn Jahren arbeitete – zuerst als Chemikerin in der Forschung, inzwischen in der Chefetage. Dann würde sie endlich da sein, wo sie von Anfang an hinwollte: ganz oben.

Der Single Malt schmeckte wunderbar nach trockenem, würzigem Küstenwhisky voller Seeluft und Torf, sodass Clarissa kurz geneigt war, wenigstens ihrer Zunge eine poetische Ader zuzugestehen. Sie hatte den Whisky noch nicht ausgetrunken, als ein junger Mann an ihren Stehtisch trat. Mit einem entschuldigenden Lächeln nahm er ihr Glas und schnupperte dezent daran.

»Ein schottischer Single Malt. Rauchig, salzig, sehr torfig. Ich vermute ein Talisker von der Isle of Skye oder ein Lagavulin von der Isle of Islay? Ja, es ist ein Lagavulin! Da kommen selbst Sherry-Fässer kaum gegen den kräftigen Grundton an.«

»Mussten Sie den Kellner bestechen, oder hat er Ihnen die Information freiwillig rausgerückt?«, fragte Clarissa halbwegs amüsiert. Mit einem kurzen Blick hatte sie festgestellt, dass der junge Mann nicht nur äußerst attraktiv war, sondern auch gepflegt bis in die Fingerspitzen. Er trug seinen maßgeschneiderten Anzug mit angenehmer Lässigkeit und einen edlen, aber nicht protzigen Chronograf.

»Ich habe lediglich zehn Euro investiert. Was für ein Idiot, dieser Kellner! Ein gutes Entrée bei einer Frau wie Ihnen ist unbezahlbar. Darf ich mich vorstellen?« Er deutete eine kleine Verbeugung an, die keineswegs aufgesetzt oder peinlich wirkte. »Stephan Wöhler, Atomphysiker auf 400-Euro-Basis.«

Clarissa lachte: »Dafür bekommen Sie nicht mal einen Ihrer Manschettenknöpfe.«

Sie bot Stephan einen Platz an. Er bedankte sich höflich und bestellte zwei Lagavulin.

»Was machen Sie hier, Herr Atomphysiker? Die Aussicht bewundern?«

Stephan deutete mit dem Kinn unauffällig auf die junge Frau an der Fensterfront: »Und in konvulsivische Zuckungen geraten wegen des bunten Geglitzers, das wie ein Sternenhimmel auf der Elbe liegt? Ich könnte der Dame etwas über Lichtbrechungen erzählen, aber ich fürchte, das interessiert sie nur in Bezug auf Diamanten. Nein, ich arbeite in Genf bei CERN, das ist eine geschlossene Anstalt für Wissenschaftler. Ich bin bis morgen in Hamburg, weil ich mit einem Kollegen bei DESY, ebenfalls eine geschlossene Anstalt, supersymmetrische Materiezustände diskutiert habe. DESY und CERN arbeiten gemeinsam am derzeit leistungsfähigsten Teilchenbeschleuniger der Welt, dem Large Hadron Collider oder kurz LHC. Aber ich will Sie nicht langweilen. Erzählen Sie bitte von sich, das ist weitaus interessanter!«

Clarissa hätte Stephan aufklären können, dass ihr sowohl CERN als auch DESY durchaus geläufig waren. Doch ihr stand nicht der Sinn nach wissenschaftlichem Austausch, zumal sich mit dem jungen Mann hervorragend flirten ließ. Nach fünfzehn Minuten war Clarissa äußerst angetan von Stephan und seiner auf hohem Niveau geführten Konversation. Nach einer weiteren Stunde nahm sie ihn mit aufs Zimmer. Ihr war sehr wohl bewusst, dass Stephan vermutlich Ende zwanzig und damit knappe dreißig Jahre jünger war als sie. Aber sie ging dank ihrer hervorragenden Kontakte zur Schönheitsindustrie noch gut als Mittvierzigerin durch. Außerdem zwang sie ihn schließlich zu nichts. Im Gegenteil: Stephan hatte ein beeindruckendes Spektrum an charmanter Verführungskunst aufgeboten, bis er sie so weit hatte. Nun wollte sie in vollen Zügen genießen.

Die Nummer war hart, schnell und mechanisch, doch Clarissa störte sich nicht daran. Bei einem so jungen Mann erwartete sie keine erotische Raffinesse noch obszöne Spielereien, mit denen sich so manch älterer Liebhaber über seine mangelnde Standfestigkeit hinwegtröstete. Stattdessen bekam sie junges, festes Fleisch und sorglose, um nicht zu sagen rücksichtslose Männlichkeit. Außerdem roch er gut.

Nach knappen zwanzig Minuten ging Clarissa ins Bad, um sich frisch zu machen. Entspannt betrachtete sie ihren nackten Körper im Spiegel. Das Hochgefühl, begehrt zu werden, hatte ihre durchtrainierte schmale Linie noch zusätzlich gestrafft. Sie lächelte, fühlte sich erhaben wie die Königin von Saba. Auf den erfolgreichen Tag war unverhofft eine aufregende Nacht gefolgt. Sie wusch sich, frisierte ihr Haar mit den Fingern, puderte ihre Nase, sprühte etwas Chanel auf ihr Dekolleté und ging zurück ins Zimmer. Ob sich die schnelle Nummer noch einmal wiederholen ließe?

Doch in den wenigen Minuten ihrer Abwesenheit war die Stimmung umgeschlagen. Alle Lampen brannten, ihr helles Licht zerstörte jegliche Intimität, die Zimmertemperatur schien sich durch einen unerklärlichen Temperatursturz halbiert zu haben. Stephan saß vollständig angezogen in einem der beiden Sessel und nippte an einem Whisky, den er sich offensichtlich aus der Minibar genehmigt hatte. Seine ganze Haltung drückte plötzliche Distanz aus. Zum Bett und zu Clarissa. Irritiert sah sie in seine Augen. Sie waren kalt. Der betörende Charme wie ausgeknipst.

Clarissa verstand. Wie konnte sie nur so blöd gewesen sein! Das Gefühl von Erhabenheit war in Sekunden zerplatzt, von Königin keine Spur mehr. Sie war nur noch eine Frau, die sich auf einen Schlag ihres Alters, ihrer Müdigkeit und ihrer Nacktheit bewusst wurde. Fröstelnd nahm sie den Bademantel, der auf dem Sessel neben Stephan lag, und zog ihn über.

»Ich vermute, du willst Geld?«, fragte sie kühl. Es war nicht das erste Mal, dass Clarissa mit einem Gigolo im Bett gewesen war. Doch normalerweise wurde mit offenen Karten gespielt. Eine eindeutige Geschäftsvereinbarung zu beiderseitigem Vorteil. Stephan jedoch hatte sie getäuscht. Und sie war auf ihre eigene Eitelkeit hereingefallen. Auf ihre Hoffnung, dass sie immer noch eine sehr attraktive Frau war, die selbst so junge Männer wie diesen hier in den Bann ziehen konnte. Dass sie mit ihrem erlesenen Stil, ihrer Intelligenz und Erfahrung jedem noch so hübschen Mäuschen aus irgendeiner Bar meilenweit überlegen war. Irrtümer. Wunschdenken. Clarissa riss sich zusammen. Wenn sie schon so unsanft aus ihrem dummen Ausflug in die Welt der Illusionen herauskatapultiert wurde, wollte sie wenigstens ihre Würde bewahren.

Ohne sich irgendeine Regung anmerken zu lassen, zog Clarissa ihr Krokodilleder-Portemonnaie aus ihrer Krokodilleder-Handtasche. »Wie viel?«

Stephan sah sie kalt lächelnd an. Der Temperatursturz musste mit diesem Lächeln zusammenhängen. »Eine Million.«

Clarissa lachte laut auf und steckte ihre Geldbörse wieder in die Handtasche: »Bist du verrückt? Für diese schäbige Nummer?«

Stephan faltete entspannt die Hände in seinem Schoß und schlug die Beine übereinander. »Du wirst mir die Million geben. Soll ich dir sagen, warum?«

»Ich bin gespannt«, gab Clarissa spöttisch zurück.

Er sagte es ihr.

Clarissa rannte ins Badezimmer und übergab sich. Entsetzliche Minuten später kam sie ins Zimmer zurück. Und überwies mit ihrem Laptop per Onlinebanking eine Million auf Stephans Schweizer Nummernkonto.

3. Februar 2009: Tübingen.

Der Wasserkessel auf dem Gasherd fing mit einem schrillen Ton an zu pfeifen. Als Elisabetha Stamminger, genannt Liesel, in die Wohnküche geschlurft kam, war das Fenster zum Hinterhof schon vollständig beschlagen. Mit einem selbst gehäkelten Topflappen zog Liesel den Kessel vom Feuer und öffnete das Fenster. Sie brühte sich einen Darjeeling auf und ließ am Tisch sitzend ihren Blick auf der Kanne ruhen, solange der Tee zog – fast wäre sie dabei eingenickt. Doch dann hörte sie Stimmen von unten. Sarah hatte wohl Besuch und ebenfalls das Fenster geöffnet. Durch den winzigen Hinterhof konnte man jedes Wort aus den anderen Wohnungen verstehen. Liesel empfand das nicht als Belästigung, sondern als unterhaltsames Hörspiel, das sie mit ihren vierundsiebzig Jahren in das Leben der jungen Menschen um sie herum einband.

Außer Liesel wohnten nur Studenten im Haus. Ihr gegenüber, ganz oben im dritten Stock, waren es die zwei hübschen Schwestern aus Speyer. Von denen bekam sie aber relativ wenig mit, weil ihre Zimmer nach vorne zur Straße lagen. Unten im Erdgeschoss lebte der Türke Memet, der Arzt werden wollte. Das Studium des weiblichen Körpers betrieb er auch privat höchst intensiv und an ständig wechselnden Fallbeispielen. Ein Mal in der Woche kam Memet zu Liesel, um ihren Blutdruck zu überprüfen. Ansonsten lebte Liesel eher zurückgezogen.

Überhaupt war es im letzten Jahrzehnt in der Studentenhochburg Tübingen ruhig geworden. Heutzutage lief keiner mehr hinter einem her und forderte mit strenger Stimme, aus der Kirche aus- und in den Spartakusbund einzutreten. Liesel gehörte nicht zu den Alten, die behaupteten, dass früher alles besser war. Aber bunter war es gewesen. Vor allem in den Sechzigern und Siebzigern. Auch wenn Liesel damals nicht mitmarschiert war. Sie kümmerte sich da schon mit ihrem – leider viel zu früh verstorbenen – Erwin um ihren kleinen Blumenladen in der Altstadt. Aber sie hatte es insgeheim aufregend gefunden, was um sie herum so passierte. Liesel mochte die jungen Leute. Auch heute noch. Obwohl ihr deren Dauerbeschäftigung mit den Computern fremd war. Sie las lieber Bücher. Am liebsten Krimis.

Direkt unter Liesel, da wohnte Sarah. Sarah war ihr Augenstern. Sie studierte Völkerkunde und war ein äußerst liebenswürdiges Mädchen von dreiundzwanzig Jahren. Sarah hatte Liesel sogar angeboten, die Wohnungen zu tauschen, damit Liesel nicht mehr in den dritten Stock hinaufsteigen musste. Aber Liesel hatte dankend abgelehnt. Sie wohnte nun schon dreiundvierzig Jahre in der Wohnung und war gewissermaßen mit jedem Kratzer im alten Porzellanspülbecken verwachsen.

Die Stimmen von unten aus Sarahs Wohnung wurden lauter. Sarah klang aufgeregt. Erst gestern hatte Sarah bei Liesel gesessen und sie um Rat gefragt. Ihr Freund, den sie erst seit sechs Wochen kannte, wollte sie heiraten und gemeinsame Kinder. Am liebsten sofort. Sarah war hin- und hergerissen. Einerseits hatte sie die Nase voll von den kurzlebigen Beziehungen ihrer letzten drei Jahre. Andererseits flößte ihr das Tempo des jungen Mannes Angst ein. Er hieß Frank und war erst vor wenigen Wochen in Tübingen aufgetaucht. Er wollte irgendeine Dozentur an der Uni übernehmen. Jedenfalls hatte sich dieser Frank Hals über Kopf in Sarah verliebt.

Das spontane Gefühl konnte Liesel gut verstehen. Das Drängen des jungen Mannes auf eine sofortige Familiengründung gefiel ihr aber nicht. Sarah war viel zu jung zum Heiraten. Liesel war insgeheim sogar überzeugt, dass Sarah viel zu jung war, um von »kurzlebigen Beziehungen« die Nase voll zu haben. Sie hatte Sarah geraten, sich Zeit zu lassen. Ihr Herz zu prüfen.

Sarah hatte sie ganz offen angeblickt und vermutet, dass Liesel etwas gegen Frank habe. Liesel hatte sich ein wenig ertappt gefühlt. Zweifellos, dieser Frank war ein Mann wie aus dem Bilderbuch. Hübsch wie der junge Hotte Buchholz. Aber die zwei, drei Mal, die Liesel ihm im Hausflur begegnet war, da war es ihr kalt den Rücken runtergelaufen, egal, wie warm er sie angelächelt hatte. Als sie das Sarah gestand, hatte Sarah mit ernstem Blick genickt. Als wüsste sie genau, wovon Liesel sprach.

Und jetzt stritt sich Sarah mit Frank. Heftig. Liesel konnte jedes Wort verstehen.

»Das geht mir zu schnell, Frank. Wir kennen uns kaum! Und ich finde es nicht okay, dass du mich unter Druck setzt!«

»Entweder man weiß, was man will, oder man weiß es nicht. Ich will ein Kind!«

»Du sagst das so … so wie … ›ich will Vanilleeis‹.«

»Weißt du denn, was du willst?« Auch Franks Ton war schärfer geworden.

»Ja … Nein! Nein, ich weiß es nicht! Lass uns doch erst mal sehen, wie sich unsere Gefühle füreinander entwickeln.«

»Gefühle! Wichtige Entscheidungen trifft man mit dem Kopf!«

Liesel hatte fast ein schlechtes Gewissen, weil Sarah anscheinend auf ihren Rat hörte und deswegen diesen Zwist vom Zaun brach.

Inzwischen schrie Sarah: »Dann trennen wir uns eben! Glaub bloß nicht, dass ich wegen dir heule! Du bist kalt wie ein Fisch – absolut herzlos!«

Franks Antwort kam so leise, dass Liesel sie kaum verstand. Dennoch erschrak sie über seinen Ton bis ins Mark.

»Das wirst du nie wieder zu mir sagen, hörst du? Nie wieder!«

Das Fenster unter Liesel wurde geschlossen. Sie hörte nur noch einen kurzen Wortwechsel, konnte aber nichts mehr verstehen. Dann war es still.

Liesel nippte an ihrem Tee und dachte an Erwin. Was hatte sie sich mit ihm gestritten! An die vielen nichtigen Gründe konnte sich Liesel nicht mehr erinnern. Nur an die Versöhnungen. Die waren noch intensiver als die Auseinandersetzungen gewesen.

Nach etwa einer halben Stunde hörte sie unten die Wohnungstür zuschlagen. Liesel stand auf und bereitete ihr Abendbrot zu. Nachdem sie gegessen hatte, überkam sie eine leichte Unruhe. Aus Sarahs Wohnung war nichts zu hören. Keine Musik, nichts. Vielleicht saß Sarah allein auf ihrem Sofa und weinte? Liesel wollte nicht aufdringlich sein. Doch nach einer weiteren Stunde ging sie hinunter und klingelte. Sarah machte nicht auf. Ob sie mit Frank zusammen weggegangen war? Liesel klingelte wieder. Und klopfte. Sarah war eine junge Frau, die noch schnell etwas einkaufen gegangen sein konnte. Oder mit ihrem Freund im Restaurant saß. Kein Grund zur Besorgnis. Doch Liesel war beunruhigt. Sie wusste nicht wieso. Sie stieg die Treppe hoch und holte Sarahs Wohnungsschlüssel. Liesel und Sarah hatten die Schlüssel schon vor einem knappen Jahr ausgetauscht. Zum Blumengießen während des Urlaubs und für den Fall der Fälle. Sie fühlte, dass dies der Fall der Fälle war.

Als sie vorsichtig rufend Sarahs Wohnung betrat, roch sie als Erstes den scharfen Geruch von Allzweckreiniger. Es war gerade geputzt worden. Alles sah sauber und aufgeräumt aus. Bis auf das Sofa im Wohnzimmer. Da lag Sarah. Ein großes Küchenmesser steckte in ihrer Brust.

Liesel wankte mit letzter Kraft nach oben in ihre Wohnung, nahm zitternd ihre Tropfen gegen Bluthochdruck. Dann rief sie die Polizei. Kurz darauf beschrieb sie den Beamten den jungen Mann, der aussah wie Hotte Buchholz aber Frank hieß und an der Uni als Dozent anfangen sollte. In den darauffolgenden Tagen stellte sich allerdings heraus, dass an keiner einzigen Tübinger Fakultät irgendein Frank eine Stelle antreten sollte. Es gab keine Spur von ihm. Nirgends. Als hätte es den jungen Mann nie gegeben.

15. August 2009: Hamburg.

Hauptkommissar Christian Beyer wuchtete den großen Koffer auf das Laufband. Wenige Minuten später hatten Anna und Pete für ihren Flug in die USA eingecheckt. Es blieb noch ausreichend Zeit für einen Kaffee oder ein Bier, bevor die beiden durch die Sicherheitskontrolle mussten und Christian in Hamburg zurückbleiben würde. Pete gab vor, einige Zeitschriften und Bücher für den langen Flug kaufen zu wollen und zog los, um Anna und Christian Abschied nehmen zu lassen. Es war ein Abschied für vier Wochen. Pete, ein ehemaliger Profiler vom FBI, hatte im Hauptsitz in Quantico einen Lehrauftrag für drei Monate bekommen. Anna ging vier Wochen mit, um ihrer Zusatzausbildung zur forensischen Psychologin den letzten Schliff zu verleihen. Offiziell begrüßte Christian die beruflichen Pläne seiner Lebensgefährtin. Schließlich hatte sie ihn bei den letzten drei Fällen schon mit großem Fachwissen und gutem Gespür unterstützt. Die Reise bekam lediglich einen heiklen Beigeschmack für ihn, wenn er daran dachte, dass Anna, bevor sie sich in ihn verliebt hatte, Petes Affäre gewesen war. Des smarten, attraktiven und den Frauen sehr zugeneigten Pete, der nun mit Anna für einen langen Monat in Quantico leben würde.

Als Christian vor einigen Jahren als Leiter der neu gegründeten Soko Bund einen Kindermörder jagte, hatte ihm das BKA den Profiler Pete Altmann aufs Auge gedrückt. Christian war von Anfang an gegen Pete gewesen. Das hatte vor allem an seiner heimlichen Eifersucht wegen dieser Psychologin Anna Maybach gelegen, die er Pete nicht gönnte. Seinen Kollegen gegenüber hatte Christian seine deutliche Antipathie jedoch damit begründet, Pete gewissermaßen als Aufpasser vom BKA ungern in sein eingespieltes Team einbinden zu wollen. Die erste Sonderkommission in Deutschland mit länderübergreifenden Kompetenzen galt damals als Experiment, um reisende Serienkiller nicht durch föderalistisches Gerangel und Kompetenzstreitigkeiten durch die Lappen gehen zu lassen. Inzwischen war Christians Truppe durch diverse spektakuläre Erfolge etabliert und stieß nur noch selten auf das zu Anfangszeiten deutliche Misstrauen bei den lokalen Mordkommissionen, denen die Soko Bund bei schwierigen Fällen vom BKA zur Unterstützung zugeteilt wurde. Längst war auch das Verhältnis zwischen Christian und Pete geklärt. Die beiden respektierten sich als Kollegen und waren sogar trotz aller charakterlichen Gegensätze fast so etwas wie Freunde geworden. Fast. Außerdem lag die Affäre zwischen Anna und Pete schon lange auf dem Dachboden der Vergangenheit und zerfiel dort zu dem Staub alter Erinnerungen.

Kein Grund, sich Sorgen zu machen, dachte Christian.

»Kein Grund, sich Sorgen zu machen«, sagte Anna lächelnd beim Kaffee und zwirbelte ihr halblanges braunes Haar auf dem Hinterkopf mit einem Gummi zusammen. Sie wusste, warum Christian so schweigsam war.

»Ich ärgere mich nur, dass ich jetzt keinen Profiler in der Truppe habe. Eine beschissene Planung! Weiß der Himmel, warum ich Pete drei Monate Sonderurlaub genehmigt habe!«

»Du bist früher sehr gut ohne Profiler ausgekommen. Wie hast du sie so gerne genannt? Nutzloses, arrogantes Pack, das nichts als bescheuerte Theorien von sich gibt und von der Praxis keine Ahnung hat?« Anna erlaubte Christian nur zu gerne, seine miese Stimmung auf beruflichen Unbill zurückzuführen. Auch sie war keine Freundin sentimentaler Abschiedsszenen.

Kurz darauf sah Christian zu, wie Anna mit Pete an ihrer Seite durch die Sicherheitskontrolle ging. Er wandte sich abrupt um, verließ das Flughafengebäude, stieg in den Dienstwagen, den er mit einem Einsatzschild direkt vor dem Terminal geparkt hatte, und fuhr für einen Hüter der Gesetze recht aggressiv nach Hause – zu Annas kleiner Stadtvilla im Generalsviertel, wo er seit knapp zwei Jahren mit ihr lebte.

Es war unnatürlich still. Selbst wenn Anna stumm auf dem Sofa gesessen und gelesen hätte, wäre es nicht so still gewesen. Christian wurde sich einmal mehr bewusst, dass Annas Anwesenheit die Luft immer zum Knistern brachte. Da gab es einen unhörbaren Grundton, eine kaum merkliche Schwingung, die ihn spüren ließ, dass er nicht allein war. So wie jetzt. Er würde sich wieder daran gewöhnen müssen, zumindest für vier Wochen. Bevor er Anna kennengelernt hatte, war er sehr lange allein gewesen. Daran hatten auch seine gelegentlichen Affären nichts geändert. Diese unverbindlichen Liebschaften während und nach seiner Ehe hatten ihm nur noch deutlicher vor Augen geführt, wie abgeschottet er innerlich war. Doch hatte es ihn damals nicht gestört. Im Gegenteil. Seine Einsamkeit war ein selbst gewählter Zustand gewesen, geboren aus einem unüberwindbaren Misstrauen der Liebe gegenüber. Erst Anna hatte diese Mauern in Schutt und Asche gelegt. Seitdem fühlte Christian sich als ein ganzer Mensch. Sie fehlte ihm jetzt schon.

Christian warf seine Cordjacke in die Ecke und ging in die Küche, um einen anständigen Nachschub an Bier kalt zu stellen. Sein bester Freund und langjähriger Kollege Volker Jung wollte zum wöchentlichen Schachspiel vorbeikommen. Christian hatte sich gerade eine Flasche geöffnet, als es klingelte. Vor der Tür stand allerdings nicht nur der glatzköpfige Volker in seiner ganzen Größe von knapp zwei Metern, sondern auch Eberhard Koch, der Tatortspezialist der Soko Bund.

»Skat spielt man zu dritt. Schach nur zu zweit«, sagte Christian zur Begrüßung.

»Ich freue mich auch, dich zu sehen«, erwiderte Eberhard, wegen seiner Kochkünste und des passenden Nachnamens nur »Herd« genannt. »Deine schlechte Laune wird gleich noch mieser, pass auf.«

»Wir spielen nämlich kein Schach. Und auch keinen Skat. Wir spielen Räuber und Gendarm. In Berlin«, fügte Volker hinzu.

Wenige Stunden zuvor: Berlin.

»Hey, Kalle, komm ma rüber, wir haben hier ’ne Lieferung!«

Kalle hob verwundert den Blick von seinen Exportlisten und schlurfte durch die Halle nach vorne zur Rampe. Dort stand sein Kollege, ein kleiner dunkelhaariger Mann mit wolligem Brusttoupet, in das sich eine Kette mit Goldkreuz eingenistet hatte. Er nannte sich Chico, weil er bei den Damen vom Kiez gegenüber gern als Latin Lover gelten wollte. Dabei war er waschechter Berliner, was man selbst hörte, wenn er noch so verbissen das R rollte.

»Wir kriegen heute keine Lieferung. Nix bestellt«, sagte Kalle unwirsch, wobei er sich auf seiner Eingangsliste vergewisserte. Bei Kalle hatte alles seine Ordnung.

Nichtsdestotrotz stand vor der Rampe ein Lieferwagen der weltweiten Post-Logistik samt uniformiertem Fahrer, der gerade eine große, hochkant stehende Kiste auf die Rampe wuchtete und wütende Blicke zu Kalle und Chico warf, die keine Anstalten machten, ihm zu helfen. Die Kiste war etwa anderthalb Meter hoch und einen Meter breit und aus massiven, vernagelten Holzlatten gezimmert.

»Da steht’s«, sagte der Fahrer und hielt Kalle einen zerknitterten Wisch mit Kaffeefleck unter die Nase. »Ne Wachsfigurenspende für Madame Tussauds Horrorkabinett. Könnt ihr mir jetzt endlich den Empfang quittieren?«

»Wir stellen unsere Figuren selbst her. Außerdem haben wir hier kein Horrorkabinett. Nur Stars aus Politik und Kultur. Merkel, Wowereit, Britney Spears, Michael Jackson, Tom Cruise …«

»Also doch ’n Horrorkabinett. Sogar ’n ganz finsteres.« Das Grinsen des Fahrers verschwand bei einem Blick auf die Uhr. »Jetzt unterschreib mal, ich hab heute noch jede Menge Touren vor mir.«

Kalle kratzte sich unschlüssig am Hinterkopf. »Das ist bestimmt für London. Die haben dort so ’ne Art Folterkammer.«

»Ruf doch ma oben an«, riet Chico. Kalle schlurfte zum Telefon. Er sprach kurz mit der Verwaltung und kam dann zur Rampe zurück. Die Kiste stand immer noch da, aber Lieferwagen und Fahrer waren weg.

»Hast du quittiert?«, fuhr Kalle seinen Kollegen scharf an.

»Mann, der Typ musste weg. Was hat der Chef denn gesagt? Nicht annehmen?«

»Annehmen. Gucken, was drin ist.«

»Na, also«, grinste Chico. »Alles richtig gemacht.«

»Eben nicht! Du hast kein Recht zu quittieren, das mach ich, klar?!«

Chico nickte devot. Immerhin war Kalle schon sechzehn Jahre in dem Laden. Chico hingegen war erst ein knappes Jahr da, hatte also ganz klar die Fresse zu halten. Er holte eine Sackkarre, mit der sie die große Kiste vorsichtig nach hinten in den Lagerraum brachten.

Kalle griff zu einem Brecheisen, Chico tat es ihm nach. Mit gewohnter Umsicht lösten sie die vordere Holzfront aus ihrer Vernagelung. Jede Menge Putzwolle kam ihnen entgegen. Sie nahmen das Dämmmaterial weg und besahen sich die in Klarsichtfolie eingepackte Figur, die zum Vorschein kam. Es war eine junge Frau in sitzender Stellung, mit feinen Drähten auf einen Stuhl fixiert. In ihrer linken Hand hielt sie eine Spiegelscherbe. Die Figur war komplett nackt, hatte keinerlei Körperbehaarung appliziert und trug auch keine Perücke. Das einzig Auffallende an ihr war eine große, wulstige rote Narbe in der Herzgegend mit schwarzen Fäden darin vom Zusammennähen. Ansonsten war sie weiß, ganz weiß, von Kopf bis Fuß mit Theaterschminke bedeckt. Sie sah unwirklich aus, nicht wie ein Mensch, sondern eher wie die einfallslose Vision eines Aliens aus einem zweitklassigen Hollywoodfilm.

»Die ist garantiert für London, so was brauchen wir hier nicht. Außerdem ist sie nicht gut gemacht. Sieht nicht echt aus. Die Haut ist viel zu kalkig. Und die Augen sind total glasig. Zeig ma den Lieferschein, wer schickt denn so ’n Mist?«, sagte Kalle. Chico reichte ihm den Zettel.

»Was ist das denn für ein Chaos?« Kalle schüttelte den Kopf. Das hatte er in sechzehn Jahren noch nicht erlebt. Kein Absender, nur ein Vermerk mit »Spende«. Kalle stand kopfschüttelnd vor der Figur und blickte sie ratlos an. »Was machen wa jetzt damit? Ich ruf ma den Chef runter.«

Auch Peter Jensen, der Verwaltungschef von Madame Tussauds, stand ratlos da, sowohl vor der Figur als auch vor dem Lieferschein. Er wollte schon wieder nach oben gehen, um London anzurufen und nachzufragen, als Chico innerhalb der Klarsichtfolie zu Füßen der Figur einen Umschlag entdeckte.

»Guck ma, Chef, da is noch ’n Lieferschein!« Gemeinsam mit Kalle entfernte er vorsichtig die Folie von der Figur. Die Folie knisterte, als würde man einen Blumenstrauß auswickeln. Kalle und Chico arbeiteten sich von oben nach unten vor. Aus der Folie waberte ein leichter Geruch von Konservierungsmittel.

Chico drehte angewidert den Kopf weg. »Was war ’n das für ’n Amateur? Die stinkt!«

Beim Auswickeln streifte Kalle mit seiner Hand den wächsernen Oberschenkel des gelieferten Ausstellungsstückes. Erschrocken fuhr er zurück. Weit zurück. Kalle fing an zu zittern.

Chico bemerkte das und beruhigte ihn sofort: »Hast nix kaputt gemacht, alles noch dran an der Puppe.«

Doch Kalle schüttelte den Kopf und starrte die Figur an. »Nee, Scheiße, Chico, halt die Fresse! Scheiße, Chef! Nee, nee! Scheiße! Die ist echt! Die Puppe ist echt! Das ist kein Wachs, ganz sicher nicht! Das is ’ne Leiche, Leute!«

Chico erblasste sichtlich unter seiner künstlich gezüchteten Bräune. Dem Impuls der Neugier folgend, streckte er die Hand aus. Seine Fingerspitzen näherten sich dem nackten Schenkel der Frau.

»Nicht anfassen!«, zischte Jensen entsetzt.

Diese Warnung war unnötig. Chicos Hand stoppte etwa drei Zentimeter bevor seine Fingerspitzen die Haut hätten berühren können. Seine Hand war wie in der Luft fixiert, ganz so als umgäbe eine Art Kraftfeld die Frau, das nicht zu durchdringen war. Die Aura des Todes. Chicos Hand fing leicht zu zittern an, und Kalle bemerkte, wie sich die schwarzen Haare auf Chicos Unterarm aufrichteten. Kalle legte beruhigend seine Hand auf Chicos ausgestreckten Arm. Erst jetzt konnte Chico ihn wieder senken.

»Bist du sicher, Kalle?«, flüsterte Jensen.

Kalle nickte nur. Jensen nahm sein Handy aus der Brusttasche seines Hemdes und rief die Polizei an. Eine halbe Stunde später wimmelte es in Kalles Hoheitsbereich von Beamten. Chico, Kalle und Jensen ließen ihre Personalien sowie erste Aussagen über das Geschehen von einer hübschen jungen Polizistin aufnehmen, die in Chico wieder alle Lebensgeister weckte. Andere Beamte sperrten das Gebiet um die Kiste samt Inhalt und die Rampe herum ab, sicherten die Spuren und machten Fotos. Inzwischen hatten sich fast alle Mitarbeiter von Madame Tussauds eingefunden. Die Ausstellung war geschlossen, und die Besucher zum Gehen aufgefordert worden. Einige der Mitarbeiter freuten sich über den verfrühten Feierabend und zogen sich ins Privatleben zurück. Die meisten jedoch standen hinter der Absperrung und versuchten, einen Blick in die Lagerhalle zu erhaschen. Sie wussten nur, dass eine Leiche aufgetaucht war, die genaueren Umstände waren nicht bekannt. Doch auch an Kalle oder Chico kamen sie nicht heran. Deswegen zerstreuten sich schließlich die Angestellten in der Hoffnung, morgen bei der ersten Kippenpause auf dem Hof en détail informiert zu werden.

Der Leiter der Berliner Mordbereitschaft, Hauptkommissar Dietmar Striebeck, traf kurz nach seinen Kollegen von der Spurensicherung ein. Grübelnd stand Striebeck vor der geöffneten Kiste, Auge in Auge mit der Leiche.

»Was für ein Mist!« Er stand kurz vor der Pensionierung und freute sich auf seine Datscha am Müritzsee, wo er mit seiner Frau Elena beim abendlichen Grillen von pommerschen Würstchen die Sonnenuntergänge genießen wollte. Weit weg von seinem ehemals so geliebten Berlin der Kodderschnauzen und Schrebergärten, das er in den letzten, von kosmopolitischem Getue geprägten Jahren nicht mehr wiedererkannte. Raus aus der Berliner Luft, die im Sommer nicht mehr nach Holzkohle roch und nach Fassbrause schmeckte, sondern nur nach Coffee to go mit Zimt oder Vanille und Fudge Brownies mit Macadamianüssen. Dietmar Striebeck war ein frustrierter und müder Mann, der seine Ruhe haben wollte. Ein kranker Killer passte nicht ins Konzept seiner bevorstehenden Zivilisationsflucht. Was er hier vor sich sah, war schmutzig, widerwärtig und pervers und würde demzufolge auch großes Interesse bei den Medien wecken.

Vorsichtig zog sich Striebeck seine Schutzhandschuhe über, griff in die Kiste und zog zu Füßen der Leiche den Umschlag hervor. Normalerweise hätte er die Kiste samt Inhalt unangetastet in die Rechtsmedizin bringen lassen, damit nicht das kleinste Hautschüppchen verloren ging. Aber in Striebeck keimte ein böser Verdacht, den er überprüfen wollte. Sofort. Striebeck öffnete den unbeschrifteten Umschlag und entnahm vorsichtig den Bogen Papier. Nur eine einzige Zeile stand darauf geschrieben:

Menschen! Das dritte Geschlecht ist in der Welt.

Er fluchte leise. Das hatte er befürchtet. Sorgfältig faltete er das Papier wieder zusammen, steckte es zurück in den Umschlag und diesen dann in die Papiertüte zur Beweissicherung, die ihm sein junger, ehrgeiziger Kollege Ali Cenkel reichte. Striebeck griff nach seinem Telefon und rief das BKA an. Als er aufgelegt hatte, fuhr Ali ihn an: »Was soll das? Wir schaffen das auch ohne Hilfe! Das ist unser Fall!«

Striebeck schüttelte den Kopf: »Ich habe keine Lust, diese Scheiße allein auszubaden. Die hier ist kein Einzelstück. Hast du nicht mitbekommen, was im April in München los war?«

Ali stutzte kurz und ärgerte sich, weil er den Zusammenhang nicht sofort erkannt hatte.

»Das hier ist ein Fall für Christian Beyer«, sagte Striebeck.

»Dieser Typ von der Soko Bund?« Ali hatte die Einrichtung der bundesweit operierenden Sonderkommission und ihre bisherigen Fälle mit großem Interesse verfolgt.

»Genau der.«

Ali überlegte. Sollte Striebeck doch am Müritzsee mit seiner Alten verschimmeln. Beyer und seine Soko – vielleicht war das gar nicht schlecht. Bundesweit. Ein bisschen wie das FBI. Und er konnte dabei sein. »Kennst du Beyer?«, fragte er Striebeck.

Striebeck nickte: »Vor Jahren mal mit ihm zu tun gehabt. Ein harter Hund. Falls du dich bei ihm einschleimen willst … Wenn er eintrifft und sich alles ansieht, schätzt er es sehr, wenn er sofort über den Stand der Dinge informiert wird.«

Während die Soko Bund auf dem Weg nach Berlin war, kümmerte sich Striebeck um den sauberen ersten Abschluss der Fundortsicherung, Zeugenbefragung und die sofortige Dokumentation des ersten Befundes. Er schickte zwei Beamte zur Zentrale der Post, um eventuell etwas über den Auftraggeber der Lieferung herauszufinden. Die Chancen waren gering. Striebeck ging nicht davon aus, dass der Mörder so blöd gewesen war, seinen Auftrag mit korrektem Absender zu versehen. Aber jede noch so unbedeutsam scheinende Information konnte wichtig sein. Und mit viel Glück erinnerte sich irgendjemand an den Mann mit der auffallend großen Holzkiste und konnte eine Beschreibung abgeben. Ali setzte er auf den Fahrer an, der die Kiste geliefert hatte. Er sollte ihn auftreiben und ohne Vorwarnung seine Fragen stellen. Eine gute Stunde später war Ali zurück. Aus dem geschockten Fahrer war keinerlei verwertbare Information herauszuholen gewesen. Er war lediglich mit dem Grauen beschäftigt, den halben Tag unwissentlich eine Frauenleiche in seinem Lieferwagen quer durch Berlin chauffiert zu haben, bis er sie laut Tourplan schließlich bei Madame Tussauds abgeliefert hatte.

Es war kurz nach neun Uhr abends, als Christian, Herd und Volker in Berlin eintrafen. Sie hatten den Zug genommen. Die Bahn war auf der Strecke Hamburg – Berlin schneller als jedes Auto, selbst wenn Verkehrsrowdy Volker am Steuer gesessen hätte. Am Lehrter Bahnhof trafen sie sich mit Karen Kretschmer, die sich wegen eines Ärztekongresses in der Hauptstadt befand. Karen, eine vierunddreißigjährige Hamburger Rechtsmedizinerin, arbeitete seit Jahren mit Christians Soko zusammen. Sie war am Institut für Rechtsmedizin der Hamburger Universitätsklinik angestellt, konnte sich aber je nach Bedarfslage von ihren alltäglichen Arbeiten befreien lassen, um ausschließlich Christian und seinen Spezialfällen zur Verfügung zu stehen. Die Soko schätzte Karens Arbeit über alle Maßen, denn sie war nicht nur eine extrem konzentrierte Medizinerin, der kein noch so winziges Detail entging. Sie hatte auch ein Gespür für – wie Karen es gerne nannte – die »Seele eines Verbrechens«, die sie aus den geschundenen Körpern der Opfer herauslas wie aus einem geöffneten Buch. Außerdem sah sie atemberaubend gut aus mit ihren hüftlangen goldblonden Haaren, der perfekten Figur und den ebenmäßigen Gesichtszügen einer klassischen Schönheit. Christian und sein Team amüsierten sich jedes Mal, wenn Kollegen aus einer anderen Stadt Karens Bekanntschaft machten und ihren ganzen Charme aufboten, um sie zu beeindrucken. Was stets gründlich schiefging. Karen ließ alle Bewerber unterkühlt abperlen oder machte sich einen Spaß daraus, sie mit ihrem grenzwertigen Pathologenhumor abzuschrecken. Manch junger Polizist war schon kotzend aus Karens gekacheltem Obduktionsraum gerannt, weil sie ihm plötzlich blutige Innereien unter die Nase gehalten hatte.

Zu viert zwängten sie sich in ein Taxi vom Lehrter Bahnhof zur Prachtallee Unter den Linden. Unterwegs informierte Volker Karen über die wenigen Details des Falles, die ihnen bislang bekannt waren. Als sie bei Madame Tussauds ankamen, ging gerade die Julisonne hinter dem Brandenburger Tor unter. Das Berliner Wahrzeichen leuchtete vor kobaltblauem Himmel. Die Quadriga, im Berliner Volksmund »Retourkutsche« genannt, wurde von der Westseite her rotgolden angestrahlt und wirkte von der Ostseite wie ein mächtiger Schattenriss von vergangenem Glanz und Gloria.

Ein Beamter nahm die Gruppe in Empfang und führte sie zum Ort des Geschehens, wo Striebeck müde auf sie wartete. Christian und er begrüßten sich wortkarg, aber respektvoll. Dann stellten beide ihre Mannschaft vor. Striebecks Spurensicherung unterbrach ihre Arbeit und zog sich bis auf Weiteres zur Zigarettenpause auf den Hof zurück, wo sich eine junge, noch unerfahrene Staatsanwältin übergab, die selbst erst vor einer halben Stunde am Fundort eingetroffen war.

Wie immer hielt sich Christian nicht lange mit Freundlichkeiten auf. Mit langsamen Schritten näherte er sich der Kiste. Die Leiche der jungen Frau war unangetastet. Die Klarsichtfolie lag zusammengeknittert wie achtlos aufgerissenes Geschenkpapier zu ihren Füßen. Christian nahm zuerst den Gesamteindruck des Bildes in sich auf und speicherte ihn ab, mitsamt den noch undefinierbaren Gefühlen, die das Arrangement hervorrief. Er hatte schon vieles in seinem Leben gesehen. Vergewaltigte und zerstückelte Frauen. Missbrauchte Kinder. Zu Tode Gefolterte. Viele seiner Kollegen ertrugen ihren Beruf nur, wenn sie die Leichen emotionslos als Spurenträger betrachteten. Er konnte das nicht. Er sah immer auch den Menschen. Hier und heute jedoch fiel ihm das schwer. Die Frau, die mit Drähten fixiert auf einem Stuhl vor ihm in der Kiste saß, war ihrer Menschlichkeit beraubt. Die gewalttätige Degradierung des Opfers zu einer Art Ausstellungsstück erweckte Abscheu in ihm. Er spürte, wie immer, wenn er vor einem Verbrechen stand, das Aufsteigen eines grimmigen Jagdinstinkts. Es begann stets mit einer gewissen Mattigkeit, als würde er vor der Krankheit der Welt kapitulieren müssen und steigerte sich dann in ein heißkaltes Fieber, in dem er keine Ruhe fand, bis er die Krankheit besiegt hatte. Bis zum nächsten Ausbruch.

Herd, Volker und Karen hielten sich abseits. Sie kannten Christian. Nicht so Ali. In dem Bemühen, keine Zeit zu verlieren und erste Punkte bei dem neuen Boss zu sammeln, stellte er sich neben ihn und fasste ihm präzise die bisherigen Erkenntnisse zusammen: die Aussagen von Kalle und Chico, die Auffindesituation, die Aussage des Lieferanten …

Christian würdigte Ali zuerst keines Blickes und versuchte, seine Konzentration bei der Leiche zu halten. Nachdem Ali ihn jedoch zwei Minuten mit verbalem Sperrfeuer belegt hatte, wandte Christian sich nach ihm um: »Halt endlich die Klappe. Ich arbeite.«

Christian wusste, dass er sich unkollegial verhielt. Seine Truppe würde mit den Berlinern mehr oder weniger Hand in Hand arbeiten müssen, und der junge Beamte hatte mit den besten Absichten gehandelt. Doch das war Christian jetzt egal. Für den ersten Kontakt mit einem Verbrechen brauchte er seine Ruhe, da interessierten ihn die Befindlichkeiten eines Kollegen herzlich wenig. Deswegen hatte er bei vielen Polizisten in Hamburg und darüber hinaus den Ruf eines arroganten Arschlochs. Nicht ganz zu Unrecht.

Beleidigt wich Ali ein paar Meter zurück und stellte sich zu Striebeck und den anderen.

»Christian hasst es, wenn man ihn bei der ersten Tuchfühlung stört. Aber das kannst du ja nicht wissen«, meinte Herd zu Ali.

Ali warf Striebeck einen wütenden Blick zu. Striebeck grinste nur.

Nach wenigen stillen Minuten kam Christian zurück zu seinen Leuten und nickte ihnen zu. Herd, Volker und Karen begannen mit ihrer Arbeit. Herd fotografierte und vollzog die bisherige Arbeit der Berliner Spurensicherung nach, denn er wusste, dass Christian sich ungern auf andere verließ. Auch das wirkte unkollegial auf Striebecks Team, das sich überprüft und gegängelt fühlte. Herd versuchte, die Berliner so gut es ging einzubinden und die Situation, die ihm aus anderen Städten nur allzu bekannt war, mit einigen Scherzen zu entschärfen. Es gelang ihm nicht vollständig. Volker ging mit Ali die Notizen der ersten Zeugenvernehmungen durch und wählte aus, welche zu einer zweiten Befragung ins Präsidium gebeten werden sollten. Karen besah sich die Leiche, bevor sie zur Obduktion abtransportiert wurde.

Striebeck reichte Christian ein Paar Handschuhe und die Beweismittelsicherungstüte, in der die Nachricht verpackt war.

»Weißt du, ob die in München eine ähnliche Botschaft bekommen haben?«, fragte Christian.

Striebeck nickte. »Ich kenne aber nicht den Wortlaut. Ich habe noch nicht mit den Kollegen dort gesprochen. Wollte dir Strategie und Zeitpunkt überlassen.«

Christian winkte Volker zu sich heran. »Wir zwei, auf nach München. Karen bleibt hier für die Obduktion. Wenn sie fertig ist und ein paar Stunden geschlafen hat, kommt sie auch nach München, um sich die Leiche dort anzusehen. Falls sie glaubt, dass sich das lohnt. Die Entscheidung liegt bei Karen. Herd bleibt ebenfalls hier, der Tatort in München ist kalt.«

»Deswegen wundere ich mich, dass du überhaupt hinwillst«, warf Striebeck ein. »Was soll das bringen?«

Christian zuckte mit den Schultern: »Vermutlich nichts. Man wird sehen. Ich verschaffe mir gerne einen persönlichen Eindruck.« Er wandte sich an Ali: »Kümmere dich bitte um die Tickets für Volker und mich. Volker sagt dir Genaueres.«

»Bin ich eure Sekretärin?«, gab Ali empört zurück.

»Sekretärin?« Christian zog nur die Augenbrauen hoch, wandte sich ab und überwachte mit Karen den Abtransport der Kiste.

Volker grinste Ali an: »Vorauszusetzen, dass ein Mensch, der Sekretariats- oder Assistenzaufgaben übernimmt, auf jeden Fall weiblich zu sein hat, ist sexistisch und frauenfeindlich. Wir aber sind eine Truppe, die Frauen liebt und verehrt. Nun zum Business: Ich fliege morgen früh mit der ersten Maschine nach München, brauche also hier in Berlin ein Hotel, um ein paar Stunden zu schlafen. Christian nimmt den nächsten Nachtzug, braucht also ein Schlafabteil. Kleiner Tipp: Frag ihn nicht, warum er nicht fliegen will.«

Damit wandte sich auch Volker von Ali ab und ging seiner Arbeit nach. Ali blickte ihm wütend hinterher. Er wusste jetzt, dass er nicht zu Beyers Truppe gehören würde.

München.

Die einzige City Night Line zwischen Berlin und München war schon um zwanzig nach zehn Uhr abends losgefahren. Da hatte Christian sich gerade die Leiche angesehen. Also saß er statt in einem Schlafwagen in einem normalen ICE und versuchte, seine knapp ein Meter neunzig so gut es ging auf dem Sitzplatz in der ersten Klasse zu verstauen und ein wenig Schlaf zu finden. Es gelang ihm leidlich. Er wurde alle anderthalb Stunden wach und dachte voller Neid an Volker, Herd und Karen, die in weichen Berliner Hotelbetten schlummerten. Christian verfluchte seine Flugangst. Doch wenn er sich vorstellte, am nächsten Morgen in einen dieser fliegenden Särge steigen zu müssen, versöhnte er sich mit seiner Entscheidung für die Bahn. Und schlief eine weitere Stunde.

Als der Zug nach einer gefühlten Ewigkeit in München eintraf, taten Christian alle Knochen weh, und sein Nacken spannte schmerzhaft. Seine Laune war auf dem Nullpunkt. Das einzig Erfreuliche war eine SMS von Anna, die ihn liebevoll informierte, nach einem ruhigen Flug gut in Washington gelandet zu sein. Sie arbeitete immer noch subtil daran, seine Flugangst zu beschwichtigen. Wie oft hatte sie schon versucht, ihn zu einem dieser »Wir erklären euch wie ein Flugzeug funktioniert, und – schwupps! – ist die Angst verflogen«-Kurse bei der Lufthansa zu überreden. Doch Christian zeigte sich stur. Für ihn waren diese Kurse nichts als Gehirnwäsche durch Industrie-Schamanen, die nur eins zum Ziel hatten: ihm etwas auszureden, was er für äußerst vernünftig und höchst natürlich hielt. Der Mensch war nicht zum Fliegen geschaffen, sonst hätte die Natur ihm Flügel gegeben. Annas Argument, dass nach dieser Logik der Mensch auch nicht zum Fahren geschaffen war, sonst hätte er Räder und womöglich eine Gangschaltung, wischte der begeisterte Fahrradfahrer Christian als spitzfindig vom Tisch. Seitdem ließen sie das Thema.

Christian verließ innerlich und äußerlich zerknittert den Zug und setzte sich in das Bahnhofscafé, in dem er sich mit Volker verabredet hatte. Volker würde in etwa einer halben Stunde mit der S8 vom Flughafen am Hauptbahnhof eintreffen. Der Kaffee schmeckte nach Spülmittel mit Bitterstoffen und hob Christians Laune keineswegs. So war er denn auch extrem ungehalten, als Volker mit erheblicher Verspätung auftauchte.

»Hast du noch ’ne Stewardess gepoppt?«, knurrte Christian.

»Drei.« Volker ließ sich niemals aus der Ruhe bringen.

Übermüdet verzichtete Christian auf weitere Unhöflichkeiten und zahlte sein Spülwasser. Mit einem Taxi fuhren sie zum Polizeipräsidium in der Ettstraße. So wenig wie Christian gestern einen Blick für das Brandenburger Tor im Abendrot gehabt hatte, so wenig interessierte ihn nun die nahe gelegene Frauenkirche im Licht der Morgensonne.

Sie wurden von Hauptkommissar Udo Zeiner empfangen, einem etwa sechzigjährigen Mann mit schütterem Haar, gedrungenem Körper und feinen roten Verästelungen auf den Nasenflügeln. Zeiner begrüßte seine Gäste knapp und bot ihnen Platz an. »Ihr interessiert euch für den Fall bei Zirkus Krone im April? Mein Kollege, mit dem ihr telefoniert habt, meinte, letzte Nacht wäre in Berlin eine ähnliche Leiche aufgetaucht.«

Volker griff in seine Laptoptasche und zog einen USB-Stick hervor, den er Zeiner reichte: »Hier sind Fotos vom Fundort und von der Leiche sowie die erste Zusammenfassung der bisher bekannten Fakten.«

Zeiner überflog das Material und nickte. »Sieht in der Tat so aus, als suchten wir den Gleichen.« Er klickte ein paarmal auf der Tastatur seines Laptops herum und drehte den Bildschirm so, dass seine Besucher daraufsehen konnten. Die Leiche einer Frau, etwa Mitte zwanzig, stand in einer großen Holzkiste. Sie war nackt, weiß geschminkt und völlig haarlos. In der Herzgegend befand sich eine schlecht zusammengenähte Narbe. Ihre Glieder waren mit Drähten an den Innenseiten der Kiste fixiert, sodass sie nicht umkippen oder beim Bewegen der Kiste herausfallen konnte. Ihr linker Arm war ebenfalls mit Draht in eine erhobene, angewinkelte Stellung gebracht worden. In der Hand hielt sie einen kleinen Spiegel. Der Kopf neigte sich dem Spiegel zu. Die Augen waren geöffnet.

»Künstlerisch ambitioniert wie die Körperwelten von Gunther von Hagen. Und genauso krank, falls euch meine Meinung interessiert«, kommentierte Zeiner.

»Wie ist der Stand der Ermittlungen?«, wollte Christian wissen. Diskussionen über Ästhetik interessierten ihn nicht.

»Nicht anders als im April. Nur um ein paar Akten fetter.« Zeiner wirkte verbittert. »Wir haben nichts herausgefunden. Nichts über den Täter. Das Opfer hieß Mira Weininger, 25 Jahre alt, Jura-Studentin. Sie wurde betäubt, aufgeschnitten, konserviert. Keine sexuellen Übergriffe, die sich nachweisen ließen. Abgesehen vom Ausbluten und der Entnahme des Herzens, keine Zeichen von Gewaltausübung. Die Leiche wirkte, wie unser Rechtsmediziner sagte, recht pfleglich behandelt. Das war keine Tat im Affekt. Alles war akribisch geplant. Den Rest erseht ihr aus den Akten.«

»Bevor wir uns da durchwühlen … Gab es einen Brief in der Kiste?«, fragte Volker.

Zeiner stutzte: »Dann darf ich annehmen, dass die in Berlin auch eine Nachricht haben?« Er klickte wieder auf der Tastatur herum. »Wir haben die Details aus ermittlungstechnischen Erwägungen nicht an die Presse gegeben.«

»Genauso werden wir es weiter halten. Auch in Berlin«, versicherte Christian.

Zeiner zeigte auf den Bildschirm. Zu sehen war ein Scan der Nachricht, wie in Berlin mit unauffälliger Typo auf einem normalen DIN-A4-Bogen ausgedruckt:

Verstopft euch die Ohren, damit ihr den Schrei nicht hört!

»Was haltet ihr davon?«, fragte Christian.

Zeiner zuckte mit den Schultern. »Wir haben über Mögliches und Unmögliches nachgedacht. Aber es bleibt alles im Bereich reiner Spekulation. Vielleicht ist es besser, ihr sucht nach eurem eigenen Ansatz.«

»Könnt ihr bitte alle Dateien und Unterlagen zu unserem Büro in Hamburg schicken? Oder mailen.«

»Das meiste haben wir im Computer erfasst, auch Fotos von den Asservaten.« Er wandte sich an Volker: »Ich kann alles Verfügbare sofort auf dein Laptop senden. Den Rest bekommt ihr kopiert nach Hamburg.«

Volker gab ihm seine Mailadresse.

Christian wandte sich ebenfalls an Volker: »Die Fakten aus Berlin können auch schon mal nach Hamburg zu Daniel.«

»Ist erledigt. Habe ich heute Nacht schon vom Hotel in Berlin aus geschickt.«

Christian nickte zufrieden. Daniel arbeitete als Rechercheur der Soko Bund. Der ehemalige Hacker war zwar kein Kriminalist, noch mochte er auf Tuchfühlung mit Verbrechen und Verbrechern gehen, aber er kam an alle Informationen heran, die irgendwo durch das World Wide Web sausten oder auf Computern gespeichert waren. Dass er dabei nicht immer nur legale Pfade beschritt, akzeptierten seine Kollegen stillschweigend und ergebnisorientiert.

»Ich würde gerne mit der Mutter des Opfers sprechen«, sagte Christian zu Zeiner.

»Würde mich wundern, wenn ihr mehr erfahrt als das, was schon in den Akten steht. Aber bitte. Unsere Sekretärin wird euch die Adresse geben und einen Termin machen.« Zeiner wirkte leicht verschnupft.

Volker versuchte, ihn zu beschwichtigen: »Manchmal ist der persönliche Eindruck hilfreich.«

Zeiner reagierte mit kühlem Blick, sah auf die Uhr, erhob sich und komplimentierte seine Gäste hinaus. »Ihr habt euch sicher mehr von eurem Besuch hier versprochen. Tut mir leid. Wenn ihr mich jetzt bitte entschuldigen wollt? Ich habe gleich eine Konferenz wegen eines anderen Falles. Wir bleiben selbstverständlich in Kontakt und tauschen unsere Erkenntnisse aus.«

»Vielleicht gelingt es uns ja gemeinsam, den Kerl zu fassen.« Auch Christian hatte die plötzliche Spannung bemerkt.

Pünktlich zur Teestunde waren Christian und Volker in der Villa Weininger am Starnberger See geladen. Über München hatte sich ein Unwetter zusammengebraut. Es entlud sich in Starkregen, Blitz und Donner, als sie aus dem Taxi stiegen. Nach den zwanzig Metern Kiesauffahrt zum Hauseingang waren sie komplett durchnässt. Auf ihr Klingeln öffnete eine elegante Dame von gepflegten Anfang siebzig.

»Sie sind nass«, konstatierte sie vorwurfsvoll, als hätten die beiden sich böswillig verschworen, das Parkett der Weininger-Villa aufzuweichen. »Würden Sie bitte Ihre Schuhe ausziehen?«

Brav bückten sie sich und kamen der Aufforderung nach. Christian bemerkte, dass sein linker großer Zeh die Socke durchbohrt hatte. Verstohlen blickte er nach Volkers Fußbekleidung. Einwandfrei.

Frau Weininger bat ihren Besuch in den Salon. Wohlerzogen warteten Christian und Volker, bis ihnen Platz angeboten wurde und die Dame des Hauses den ihren eingenommen hatte. Nach einer kleinen Vorstellungsrunde eröffnete Martha Weininger mit hochmütigem Ton die Konversation: »Wie Sie sich denken können, bin ich die Großmutter von Mira. Sie verzeihen, wenn meine Tochter Sybille nicht anwesend ist. Aber seit Miras Tod ist sie psychisch sehr angeschlagen. Aufregung ist kontraproduktiv. Sie müssen mit mir vorliebnehmen.«

»Wir sind Ihnen sehr dankbar, dass Sie uns Ihre Zeit opfern«, erwiderte Christian.

»Zwei Hamburger Kommissare. Gehe ich recht in der Annahme, dass wieder etwas passiert ist?«

Christian nickte. »Wir vermuten, dass zwischen dem Tod Ihrer Enkelin und einem erneuten Leichenfund ein Zusammenhang besteht.«

»Woraus schließen Sie das?«

»Frau Weininger, mir wäre es erheblich lieber, wenn wir die Fragen stellen könnten.«

Die Frau ließ sich abgesehen von einem schmallippigen Zucken um die Mundwinkel keinerlei Regung anmerken. »Tun Sie das.«

Christian lehnte sich zurück und warf Volker einen auffordernden Blick zu. Ihm war diese Frau zu sperrig und zu arrogant. Christian wusste, wenn er das Gespräch weiterführte, würde es unweigerlich konfrontativ werden.

»Was war Mira für ein Mensch?«, begann Volker mit sanfter Stimme.

Die Frau schien sich sofort zu entspannen. Sie faltete die Hände im Schoß und blickte durch das Fenster zum Garten hinaus. »Sie war einfach wunderbar. Hübsch, wohlerzogen, äußerst klug und liebenswert.«

»Wieso hatte sie dann keinen Freund? Zumindest steht das so in den Akten«, warf Christian ein. Volker sah ihn sofort warnend an. Christian gab ihm insgeheim recht. Auch wenn die Frau ihm auf die Nerven ging, war es unklug, sie zu provozieren. Es verhärtete die Fronten, statt die Zeugin zu öffnen.

Entsprechend pikiert fiel die Antwort von Martha Weininger aus: »Wenn Sie glauben, dass erst ein Sexualpartner das Leben einer Frau vervollkommnet, dann mag das an Ihrer androzentristischen Mentalität liegen. Wir hingegen haben Mira zu einer selbstbewussten und unabhängigen jungen Frau erzogen!«

Christian wollte etwas antworten, doch Volkers eisiger Blick hielt ihn davon ab. Er lenkte Frau Weiningers Aufmerksamkeit wieder auf sich. »Die Münchner Kollegen haben keine Anhaltspunkte gefunden, warum ausgerechnet Ihre Enkelin dem Täter zum Opfer fiel. Sie hatte keine Feinde, war überall beliebt, pflegte nur den besten Umgang. Haben Sie vielleicht eine Idee, wieso Mira ins Visier geraten ist? Vor allem, wenn man die grauenvollen Umstände der Tat bedenkt.«

»Sie meinen, weil Mira als Lieferung für eine nicht existierende Freakshow beim Zirkus deklariert wurde?«

Volker nickte.

»Der Täter, zweifelsohne ein Mann, muss sehr gestört sein. An Mira war nichts, was eine solche Tat auch nur im Entferntesten begründen könnte, nicht mal bei einem sehr kranken Gehirn. Es ist absolut ausgeschlossen, dass die Tat irgendetwas mit Mira zu tun hatte. Meine Tochter und ich sind überzeugt, dass sie zufällig gewählt wurde.«

»Wie sieht das der Vater von Mira?«, mischte sich Christian erneut ein, obwohl er aus den Akten wusste, dass Sybille Weininger unverheiratet war.

Martha Weiningers Lippen wurden wieder von säuerlicher Abschätzigkeit gekräuselt. »Meine Tochter ist nicht verheiratet und war es auch nie.«

»Das ist keine Antwort auf meine Frage«, insistierte Christian unterkühlt.

»In diesem Haushalt werden Männer nicht benötigt. Und das ist gut so.«

»Dann hat Ihre Tochter Mira gewissermaßen alleine großgezogen?« Volker versuchte die Wogen mit sanfter Stimme wieder zu glätten.

»Mich übersehen Sie dabei wohl, junger Mann!«

Plötzlich ging die Tür zum Salon auf. Eine unscheinbare, um nicht zu sagen unattraktive, kleine Frau mit birnenförmiger Figur kam mit bleicher Miene herein. Sie stellte sich schüchtern als Sybille Weininger vor. Sybille hatte absolut nichts von der gestrafften Grandezza ihrer Mutter, sondern wirkte eher wie die graue, gramgebeugte Zugehfrau der Hausherrin.

Genauso sprach Martha Weininger auch mit ihrer Tochter: »Was machst du hier unten? Ich habe dir gesagt, du sollst dich ausruhen!«

Sybille Weininger gab den Besuchern eine schlaffe und kalte Hand. »Sie haben über Mira gesprochen?«

Christian wollte Sybille Weininger über den Grund ihres Besuchs aufklären, doch da erhob sich Martha Weininger und schritt ein: »Meine Tochter ist absolut nicht in der Verfassung, diese schrecklichen Ereignisse zu repetieren. Wenn ich Sie also bitten dürfte!«

Martha Weiningers auffordernde Kopfbewegung wies zur Tür. Christian beherrschte sich nur mit Mühe und wandte sich, Martha ignorierend, an Sybille Weininger: »Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn wir ein paar Worte mit Ihnen wechseln könnten.«

Doch Sybille erwies sich folgsam wie ein Kleinkind: »Meine Mutter hat recht. Ich gehe lieber wieder auf mein Zimmer.«

Mit dem gleichen kraftlosen Gang, mit dem sie den Salon betreten hatte, schlurfte Sybille Weininger wieder hinaus und verschmolz im Flur mit dem Schatten, den die dunkel getäfelten Wände auf die Eichendielen warfen. Martha Weininger blickte ihre Gäste mit leichtem Triumph an. Denen blieb nichts anderes übrig, als Sybille auf den Flur zu folgen, wieder in die durchnässten Schuhe zu steigen und sich einigermaßen höflich zu verabschieden.