Nein, das ist kein Crashkurs für angehende Zauberer und Hexer! Und auch kein Handbuch für erfolgreiche Cyber-Erpressungen – eher eine Warnung, wie man es nicht machen sollte. Keinesfalls sollte man sich mit Andrea anlegen, der lebenslustigen Mathematikprofessorin, die alle vermeintlichen und wirklichen Cyber-Spezialisten alt aussehen lässt. Ihr Bruder Ritchie Zahnstein steht ihr dabei zur Seite - mit Rat, Tat und seinem ebenso unverwüstlichen wie grenzwertigen Humor. Als Andrea ihren Gatten in ihrem trauten Kronberger Heim bewusstlos vorfindet, glaubt sie zunächst an einen Raubüberfall, dem er zufällig zum Opfer gefallen ist. Aber schon bald weist diese Theorie feine Risse auf. Und Andrea gibt nicht eher Ruhe, bis sie Licht ins Dunkel gebracht hat. Sie will nur eines: Ihren Mann rächen! Sehr ungewöhnlich für eine Frau, die sich gerade scheiden lassen will. Aber geht es nicht doch um etwas gänzlich anderes?
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Seitenzahl: 405
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Leo Walde
PURE MAGIE
Kriminalroman
Impressum:
Leo Walde, c/o Hans-Jürgen Waldmann, Comeniusstr. 38, 60389 Frankfurt am Main.
Copyright © 2023ISBN: 978-3-757567-21-7 Umschlaggestaltung: Leo Walde
Druck und Vertrieb: epubli – ein Service der Neopubli GmbH, BerlinDas Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Dass sie jetzt reich war, ja, das war schon ein gutes Gefühl! Eigentlich ein noch besseres als die Euphorie, die Umwelt gerettet zu haben. Und sie hatte mit ihrem Bruder geschlafen. Dazu der Champagner am Bett und der Blick aus dem Fenster der Hilton-Suite im Squaire… Na ja, so viel aus dem Fenster geguckt hatten sie nicht wirklich, aber der Blick wäre wahrscheinlich unwiderstehlich gewesen.
Ihr Bruder Richard! Gut, sie waren Adoptivgeschwister, da brauchte man kein schlechtes Gewissen zu haben. Aber was wäre schon dabei, wenn es sich anders verhielte? Wenn ihre Chromosomen gleicher und das Blut ähnlicher wäre? Wäre der Sex dann schlechter gewesen? Eine rhetorische Frage – müßig und völlig belanglos.
Andrea zog ihren Trolley langsam durch die große Drehtür am Ausgang und summte die Melodie eines alten Beatles-Songs vor sich hin, der ihr seit einer halben Stunde unablässig im Kopf herumgeisterte. Draußen wartete sie einen Moment, bis ihr Bruder zu ihr aufgeschlossen hatte, und drehte sich dann zu ihm um, immer noch summend.
»Schönes Lied.«
»Ich weiß auch nicht, warum mir dieser Schwachsinn nicht aus dem Kopf geht.«
»Reine Kompensation«, meinte Richard lächelnd. »Das Sinnvolle haben wir gerade hinter uns.«
Sie sah ihm tief in die Augen. »Wenn du das sagst.«
Andrea küsste ihn auf den Mund. Sie drehte sich um und schaute in die Richtung, aus der die Taxen kommen sollten. Aber es kamen keine Taxen an, und es standen auch keine in der kleinen Haltebucht, an der sie und Richard sich jetzt befanden, ihre Rollkoffer neben sich abgestellt. Schon komisch, dachte sie, normalerweise wimmelt es hier am Flughafen doch nur so vor Taxen. Aber vielleicht lag es daran, dass an einem Samstagabend Taxis nicht unbedingt auf Fahrgäste warten mussten, sondern mit Fahrten zu den Restaurants, Clubs und Bordellen dieser Stadt ausreichend beschäftigt waren.
»Wir hätten doch besser die Bahn genommen«, maulte sie.
»Kommt bestimmt gleich ein Wagen«, murmelte ihr Bruder und legte die Stirn in Falten. Das war jetzt nicht nur reiner Zweckoptimismus, denn als er das Hotelzimmer bezahlt hatte, hatte er auch gleich ein Taxi bestellt, und tatsächlich tauchte urplötzlich ein Scheinwerferpaar in der Dämmerung auf und der helle Mercedes, dem die Scheinwerfer gehörten, schoss heran und kam genau vor ihnen zum Stehen.
Der Fahrer riss die Tür auf, sprang aus dem Wagen und rief: »Für Weinstein?«
Richard machte sich nicht die Mühe, ihn zu korrigieren, sagte nur »Richtig!«, und er und Andrea legten ihre Trolleys und die Mäntel, die sie über dem Arm getragen hatten, in den geöffneten Kofferraum, und nahmen selbst auf dem Rücksitz Platz.
Andrea sagte: »Hast du den schon vom Zimmer aus bestellt? Oder woher wusste der, wie du heißt?«
»Wusste er doch gar nicht.«
»Na ja, aber fast ja schon, oder?«
»Knapp daneben ist auch vorbei«, meinte Richard und grinste Andrea an.
»Stimmt«, gab Andrea zu, »aber auch das muss man erst mal schaffen.«
»Ich bekenne mich schuldig«, sagte er in einer Weise, die keineswegs wie ein Schuldbekenntnis klang, »ich habe an der Rezeption Bescheid gesagt. Aber ich habe ›Für Zahnstein‹ gesagt. Keine Ahnung, warum manche Leute sich die einfachsten Namen nicht merken können.«
Richard Zahnstein also. Oder genauer: Dr. Richard Zahnstein. Das war der Name von Andreas Bruder. Wenn man ihn vor sich sah, verstand man das zunächst nicht. Denn die Zeiten, in denen männlicher Nachwuchs mit dem Namen ›Richard‹ bedacht wurde, waren inzwischen doch schon länger vorbei, und dieser Name erschien vielen Menschen äußerst unpassend im Vergleich zu Zahnsteins Erscheinung.
Ja, er sah tatsächlich nicht wie siebenundsechzig aus. Sondern erheblich jünger. Aber alles andere wäre auch berufsschädigend gewesen. Denn als Arzt für plastische Chirurgie darf man einfach nicht nach dem Alter aussehen, in dem man sich gerade befindet. Andernfalls kann man Patienten schlichtweg vergessen. Vor allem solche, die sich von dieser Fachrichtung ein irgendwie jugendliches Aussahen erwarten, und wenn nicht das, dann doch zumindest eines, mit dem man sein tatsächliches Alter geschickt zu kaschieren vermochte.
Momentan trug er einen dunkelgrauen Anzug und ein weißes Hemd, bei dem der oberste Knopf offenstand. Das lag daran, dass er zu dem geschäftlichen Termin, von dem er und seine Schwester vor ein paar Stunden zurückgekommen waren, keine anderen Kleidungsstücke mitgenommen hatte. Andrea hingegen hatte sich nach dem Zwischenstopp im Hilton in eine gelbe Baumwollhose und ein dunkelblaues Seidentop geworfen und ihr kariertes Wollkleid, das sie noch im Flieger trug, zu dem restlichen Reisegepäck gepackt. Denn im Unterschied zu Island, das sie am Vormittag mit Lufthansa verlassen hatten, war es heute hier in Frankfurt brütend heiß gewesen. Inzwischen hatte es zwar abgekühlt, aber es war auch jetzt, um neun Uhr abends, immer noch warm genug, um nach leichter Kleidung zu lechzen.
Andrea trug nicht den Namen ihres Bruders. Ihr Name war ›Reuter‹, Andrea Reuter also. Das lag nicht an ihrem Ehemann, zumindest nicht an ihrem aktuellen; es war der Name des Mannes ihrer ersten Ehe, den sie seinerzeit angenommen hatte und danach zu faul war zu ändern.
Und außerdem war es sich ja nicht so, dass ihr Name beliebig austauschbar gewesen wäre. Immerhin hatte sie sich dank ihrer Tätigkeit an der mathematischen Fakultät der Johann Wolfgang Goethe-Universität, an der sie eine Professur innehatte, sowie diverser einschlägiger Publikationen einen Namen gemacht – und der war nun mal Andrea Reuter, und nicht Andrea Wellerhoff, wie der zweite und aktuelle Gatte hieß. Und übrigens schon gar nicht »Schatzi«, wie dieser Gatte sie bisweilen zu nennen pflegte.
Sie hatte im Prinzip nichts gegen diesen Namen, der ja immerhin etwas Wert- und sogar Sehnsuchtsvolles ausdrückte. Jeder nannte seinen Ehepartner so. Oder sagen wir mal, fast jeder. Aber trotzdem hatte sie ihm verboten, ihn zu benutzen, wenn andere Menschen es mitbekommen konnten. Das war bisher nur ein einziges Mal passiert und damals war es ihr unsagbar peinlich gewesen – was dieser Gatte nachher zu Hause vehement zu spüren bekam.
Auch das Alter hatte sie mit Richard nicht gemein. Sie lagen auch nicht etwa nah beieinander. Ihre Adoptiveltern hatten sich eine Menge Zeit gelassen, bis sie ein zweites Mal zugeschlagen hatten – und plötzlich hatte sie einen zwölf Jahre älteren Bruder. Aber wie das damals so ohne Bruder gewesen war, und was damals überhaupt gewesen war, in der bruderlosen Zeit, daran konnte sie sich nicht mehr erinnern. Alles schien ihr so, als sei es immer schon so gewesen – mit Bruder eben.
»Schön war‘s«, stellte Richard lächelnd fest, als sie gerade das Tunnelgewirr unter dem Squaire verließen und auf die Auffahrt zur A3 fuhren. Er meinte damit keineswegs ihre Kindheit.
»Da möchte ich dir nicht wiedersprechen«, grinste Andrea.
»Endlich sind wir mal einer Meinung.«
»Na hör mal! So selten ist das nun auch wieder nicht!«
»Man könnte sich glatt dran gewöhnen.«
»Einer Meinung zu sein?«
»Das auch. Aber ich meine das, was wir eben getan haben.«
»Jetzt übertreib mal nicht, Ritchie!«
»Aha. Das wars also schon?«
»Das war was schon?«
»Na ja, die gleiche Meinung zu haben.«
»Quatsch… Nein… Ich meine… Na klar sind wir meistens einer Meinung! Aber man braucht auch nicht zu übertreiben!«
»Das nennst du übertreiben?«
»An was willst du dich denn gewöhnen, mein Lieber? Nur weil man mal zwei Stunden hemmungslosen Sex hatte, braucht man ja nicht gleich Gardinen zusammen auszusuchen.«
»Wie kommst du denn darauf, dass ich das will? Ich habe schon Gardinen!«
»Du weißt schon, was ich sagen will. Ich habe schließlich so was wie einen Ehemann zu Hause. Schon vergessen?«
»Hauptsache, du vergisst das nicht.«
»Keine Sorge, das tue ich schon nicht. Ich habe nur manchmal so was wie, äh, temporäre Erinnerungslücken. Wenn du verstehst, was ich meine.« Andrea lächelte und sah zu ihm hinüber.
»Klar verstehe ich das. Ich will nur sagen: Ich hätte nichts dagegen, wenn dein Gedächtnis wie ein, sagen wir, Nudelsieb wäre, und nicht wie ein Haarsieb.«
»Du meinst, eins mit größeren Löchern?«
»Genau das.«
»Hm.« Andrea dachte nach. »Ich denke, das lässt sich einrichten.«
»Dann sind wir ja doch einer Meinung.« Richard legte seine rechte Hand auf den linken Schenkel seiner Schwester. Ganz weit oben, und ziemlich weit innen.
»Hör auf«, sagte sie. »Aus dem Alter sind wir raus.«
»Wo raus?«
»Na, auf dem Rücksitz… du weißt schon…«
»Da ist man nie raus«, behauptete Dr. Zahnstein.
»Im Taxi schon.«
Er sah sie an und sagte: »Da hast du recht. Wir hätten doch die Bahn nehmen sollen.«
Sie lachten beide und der Taxifahrer schaute grimmig in den Rückspiegel.
»Willst du nicht doch das Taxi für Kronberg behalten?«, fragte Richard Zahnstein seine Schwester, als sie die Friedensbrücke passierten.
»Bist du verrückt? Weißt du, wieviel das kostet?«, sagte Andrea und sah ihn spöttisch an.
»Na ja, du hast ja gerade auch ein bisschen was verdient.«
»Du meinst den Coup in Island? Das stimmt zwar, aber ich habe nicht vor, plötzlich Geld aus dem Fenster zu werfen. Was meinst du wohl, warum die Lottomillionäre alle verarmen?«
»Weil sie mal mit dem Taxi gefahren sind?«
»Unter anderem. Und weil sie ihr Geld verprassen, anstatt es zusammenzuhalten.«
»Du hörst dich an wie Vati.«
»Na und? Wo er recht hatte, hatte er recht.«
»Das sind ja ganz neue Töne.«
»Und außerdem habe ich von dem Geld noch nichts gesehen.«
»Jetzt lenk nicht ab. Du siehst es schon noch.«
»Dein Wort in Gottes Gehörgang. Es bleibt dabei: Ich steige am Bahnhof aus!«
»Von mir aus«, sagte Zahnstein und atmete theatralisch aus. »Da will man mal einen guten Rat geben…«
»Danke vielmals. Aber leider kosten deine guten Ratschläge jedes Mal eine Mange Geld.«
»Guter Rat ist halt teuer; weißt du doch.«. Zahnstein lächelte schief.
»Das sagt man, wenn man nicht mehr weiter weiß«, belehrte ihn Andrea. »Aber ich weiß ja weiter. Meine S-Bahn geht in genau …« Sie schaute auf ihre Armbanduhr, »… elf Minuten.«
»Erst?«, rief ihr Bruder entsetzt. »Und was willst du die ganze Zeit machen?«
»Ich kann ja ein bisschen flippern«, grinste Andrea.
Das war jetzt das, was man gemeinhin einen Insiderwitz nannte. Denn sie spielte damit auf eine frühere Freizeitbeschäftigung ihres Bruders an. Wobei diese Vorliebe sich zu einer regelrechten Manie ausgewachsen hatte, die Zahnstein zwar einerseits zu einer ungeahnten Könnerschaft ausbaute, welche ihn zu einem unangefochtenen Großmeister in dieser Disziplin aufsteigen ließ, aber andererseits sein Leben derart dominierte, dass daneben für kaum etwas anderes nennenswert Zeit übrig blieb.
Das war inzwischen über vierzig Jahre her und fiel unter die Sünden des Studentenlebens, denen er ausgiebig frönte. Er tat dies zusammen mit anderen ›Sünden‹, die diesen Namen eher verdienten, und die ebenfalls dazu beitrugen, dass der eigentliche Zweck des Zahnsteinschen Studiums mehr oder weniger auf der Strecke blieb. Das war –damals schon – für jemanden, der sich ausgerechnet dem Studium der Medizin verschieben hatte, äußerst ungewöhnlich, aber andererseits galt damals jedes Studium – jedenfalls unter den Studenten - als hoffnungslos spießig, wenn man die dafür vorgesehene Zeit nicht mit anderen Dingen zubrachte. Dingen, die nicht im Verdacht eines irgendwie gearteten Strebertums standen.
Aber er schaffte seine Abschlüsse trotzdem. Das, was er unbedingt wissen musste, das brachte er sich schon bei – dafür ließen ihm die Flipperautomaten und die hübschen Kommilitoninnen gerade noch genügend Zeit. Dabei war es klar, dass er den hippokratischen Eid durchaus freizügig und keineswegs buchstabengetreu auslegen würde. Doch welcher Mediziner tut das schon? Nur schien es Zahnstein völlig verfehlt, sich damit zu schmücken oder gar damit anzugeben.
Also suchte er sich eine Sparte der medizinischen Heilkunst aus, in der er mit dem moralischen Überbau möglichst wenig zu tun hatte. Die Gerichtsmedizin wäre geeignet gewesen, denn bei der Beschäftigung mit den Toten konnte man sich den Firlefanz einer lebenserhaltenden Ethik sowieso getrost schenken. Aber, so nekrophil daherzukommen, das lag ihm nicht. Er war nicht der verklemmte Zyniker, der noch angesichts der verstümmelsten Leiche seine geschmacklosen Witze riss. Er war der lebensbejahende Typ, einer, der der Schönheit und den Sinnesfreuden frönte, und wenn es schon geschmacklose Witze sein mussten, dann wenigstens solche, über die man lachen konnte.
Und damit war seine Berufswahl folgerichtig. Auf dem Fachgebiet der plastischen Chirurgie kann man sich zwar den düsteren Aufgaben zur Korrektur von Entstellungen aller Art, hervorgerufen etwa durch schlimme Unfälle oder üble Erbkrankheiten, kaum entziehen, aber der hauptsächliche Gegenstand seiner Tätigkeit waren, wie er es nannte, ›Optimierungen‹. Wenn etwas am menschlichen Körper für dessen Funktionieren zwar völlig ausreichend war, aber in den Augen eines perfektionistischen Betrachters einen – wenn auch noch so kleinen – Mangel darstellte, dann trat Dr. Zahnstein auf den Plan. Man nannte es deshalb auch ästhetische Chirurgie – und wenn dieser Begriff bei einem durchaus beträchtlichen Teil der Menschheit auf Skepsis und Ablehnung trifft, so reißt es der andere Teil wieder heraus und ist durchaus bereit, genau dafür die Geldbörse zu öffnen oder das Sparschwein zu schlachten. Letztlich war es Zahnstein egal, was seine Patienten in dieser Hinsicht anstellten – denn seine Fertigkeiten waren gefragt, und auch hier entwickelte er eine wahre Meisterschaft. Die zweite im Leben des einstigen Flipperkönigs.
Andrea spielte mit ihrer Bemerkung also auf die alte Leidenschaft ihres Bruders an und wäre selbst nie auf die Idee verfallen, es ihm gleichzutun, selbst wenn die dafür erforderlichen Gerätschaften in heutigen Bahnhofshallen noch herumgestanden hätten. Jedenfalls war die Schnapsidee, sich mit dem Taxi in ihr Haus in Kronberg kutschieren zu lassen, erst einmal vom Tisch. Sie wunderte sich nicht, dass ihr Bruder auf solche Ideen kam, denn Geld war für ihn weniger das Thema – dem Herumgeschnippel an den vielen menschlichen Körpern sei Dank!
»Macht Achtunddreißig-Fünfzig«, sagte der Taxifahrer, nachdem er vor dem Frankfurter Hauptbahnhof angehalten hatte.
»Es geht noch weiter«, sagte Zahnstein. »Nur meine Schwester steigt hier aus.«
»Na dann mach‘s gut, Ritchie.« Andrea drehte ihren Kopf in Richtung ihres Bruders, und da dieser das Gleiche tat, nur spiegelverkehrt, setzte sie ihren Abschiedskuss der Einfachheit halber direkt auf Zahnsteins Mund. Und da sie schon mal dabei war, kam auch die Zunge ins Spiel.
Als sie sich lösten, sah sie ihn mit einem Lächeln an und berührte leicht seine Wange. Dann drehte sie sich abrupt um, griff an die Tür und stieg aus. Sie ging zum Kofferraum, den der Fahrer mittels Fernbedienung geöffnet hatte, nahm ihrem Trolley heraus und zog ihn klappernd zum Bahnhofsgebäude, wo sie ohne sich umzudrehen noch einmal winkte und dann darin verschwand.
Als sie am Bahnsteig im S-Bahn-Tunnel ankam, musste sie noch drei Minuten warten, dann kam der Zug. Er war nur mäßig belegt, und sie hatte eine Sitznische für sich allein. Kurz nachdem sie losgefahren waren, verließ der Zug schon den Tunnel, und Andrea konnte aus dem Fenster die Gleise sehen, die aus dem Hauptbahnhof herausführten, und die Züge, die hineinfuhren. Nun, vielleicht verhielt es sich auch genau umgekehrt.
Es dämmerte bereits, und wenn sie in Kronberg angekommen sein würden, wäre es bereits vollständig dunkel. Anfang August war das in Deutschland um halb zehn nun mal so. In Island würde es noch eine Weile dauern, aber dafür hatten sie – ausgleichende Gerechtigkeit - im Winter nicht so viel Tageslicht.
Ob das die zukünftigen Siedler aus Deutschland stören würde? Eigentlich konnte das Andrea egal sein. Es würde noch ein bisschen dauern, bis es hier so heiß geworden wäre, dass die Leute es nicht mehr im Freien aushielten. Wahrscheinlich würden das von denen, die heute lebten, nur die ganz jungen mitbekommen, wenn überhaupt. Aber dass es soweit kommen würde, daran glaubte Andrea durchaus. Wenn man bereit war, so viel Geld zu investieren, wie das manche Regierungen und Private-Equity-Gesellschaften taten, dann musste da was dran sein.
Ritchie hatte sich ganz schön in das Thema reingefuchst. War in Reykjavik gewesen, in Berlin, hatte mit dem BND zu tun gehabt und auch mit einer amerikanischen Kakerlake. Nee… Heuschrecke hieß das, genau, Heuschrecke! Na ja, man sollte nicht schlecht über Heuschrecken reden, zumindest nicht, wenn es einem gelang, sie übers Ohr zu hauen. Und das war ihnen ja gelungen! Ritchie dachte wahrscheinlich, das wäre alles nur sein Verdienst, aber was wäre er schon ohne seine Schwester? Wer hatte ihn denn immer wieder aufgerichtet, wenn er down war? Also… den Ritchie – und seinen kleinen Freund letzten Endes auch!
Aber das war nur… ein Ausrutscher? Vielleicht war es gemein, das so zu sehen, aber andererseits sollte man den Abstecher ins Hilton auch nicht überbewerten. Andrea hatte ja ihren Christian!
»… an der Backe«, hätte Ritchie jetzt wahrscheinlich geunkt, das alte Lästermaul. Aber, seinen wir mal ehrlich, da war ja auch etwas dran! Denn dass das mit Christian schon lange nicht mehr das Gelbe vom Ei war, das ließ sich nicht von der Hand weisen. Aber deshalb gleich ein Verhältnis eingehen? Und dann noch eins mit dem eigenen Bruder?
Okay, sie waren beide adoptiert, da kann man eigentlich nicht von einem Geschwisterpaar sprechen. Aber für alle Welt waren sie das - und es fühlte sich auch so an. Lassen wir es mal lieber so, wie es ist, dachte Andrea, und mit Ritchie eine Beziehung einzugehen, das war eh nur was für vollständig Hirnverbrannte, die längst mit allem abgeschlossen hatten - zumindest, wenn man ihn so gut kannte, wie sie das tat.
Die S-Bahn hatte inzwischen Frankfurt hinter sich gelassen und glitt durch die Ausläufer des Taunus. Es war tatsächlich dunkel geworden, richtig schwarze Nacht, wenn man von dem schmalen grauen Streifen über dem Horizont einmal absah, der sich im Westen noch abzeichnete. Der Zug gab ein gleichförmiges Geräusch von sich und knarrte, wenn er über eine unebene Stelle in den Gleisen fuhr.
Andrea war zum Einschlafen zumute, und ihre Müdigkeit nahm immer mehr zu, je näher sie Kronberg kamen. Und damit ihrem adretten Häuschen im Neubaugebiet und ihrem Christian. Der Trip nach Island, der Auftritt im Parlamentsgebäude, die ›Nachbesprechung‹ mit Ritchie – das war ein Sterne-Menü, und was jetzt kam, das war Hausmannskost. Nichts gegen Hausmannskost, aber sie wusste, dass ihr heute jeder Bissen im Halse stecken bleiben würde.
Sie hatte Christian eine SMS geschrieben, dass ihr Flieger leider drei Stunden Verspätung hätte. Bei der Flugauskunft würde er schon nicht nachschauen. Wahrscheinlich war es ihm auch egal, warum sie ein paar Stunden später nach Hause kam als angekündigt, aber es war immer besser, auf blöde Nachfragen vorbereitet zu sein. Vom Taxi aus hatte sie dann versucht, ihn anzurufen und ihm zu sagen, dass sie mit ihrem Bruder noch was gegessen hätte, aber jetzt gleich ankomme. Doch er war nicht drangegangen.
Der Zug kam mit einem Ruck zum Stehen und sie schreckte hoch. Auf einem Schild am Bahnhof stand ›Kronberg‹. Da wollte sie doch hin, oder? Sie stieg aus dem Zug und zog ihren Trolley über den Bahnsteig, jetzt erheblich langsamer als noch in Frankfurt. Fast schien es so, als wolle sie ihre Ankunft im trauten Heim hinauszögern. Wenn sie jedoch gewusst hätte, was sie dort erwartete, wäre sie wahrscheinlich alles andere als zögerlich gewesen. Sie hätte sich stehenden Fußes umgedreht und schreiend Reißaus genommen. Man glaubt nicht, wie schnell sich die Erwartung einer zwar langweiligen, aber auch behaglichen Kleinstadtidylle in ihr schieres Gegenteil verwandeln kann.
In Christians Arbeitszimmer brannte Licht; das hatte sie schon von der Straße aus gesehen. Die zehn Minuten, die Andrea vom Bahnhof gebraucht hatte, fühlten sich wie zehn Stunden an, und sie verfluchte ihren Sparsamkeitswahn, der nicht mal ein Kronberger Taxi erlaubte. Aber jetzt öffnete sie endlich das Gartentörchen und zog ihren Rollkoffer über den Plattenweg, hin zum seitlichen Eingang mit den zwei Stufen vor der Haustür.
Es war ein schnuckeliges Häuschen, in dem sie da wohnte. Wobei sich das ›schnuckelig‹ auf den Baustil bezog, nicht jedoch auf die Abmessungen des Gebäudes. Denn die waren durchaus großzügig und hätten auch gut und gerne drei Familien ein Dach überm Kopf geboten. Schnuckelig dagegen war das heruntergezogene Dach, die kleinen Gauben und die teilweise mit Efeu umrankte Fassade. Also all das, was man von außen und von der Straße aus wahrnahm. Drinnen war eher Großzügigkeit angesagt. Großes Wohnzimmer, großes Esszimmer, große Glasfront zum Garten hin, große Terrasse. Nichts für ›short people‹.
Na ja, man konnte es sich leisten. Eine Mathe-Professorin, die nebenbei ein paar populärwissenschaftliche Bestseller herausgegeben hatte und ab und zu darüber hinaus lukrative Vorträge in Unternehmen hielt, die sich mit wissenschaftlichem Brimborium schmücken wollten, nagte nicht gerade am Hungertuch, und Christians Firma trug einen noch größeren Anteil am Haushaltseinkommen bei, wobei Andrea allerdings keinen genauen Einblick in die Finanzoperationen dieser Firma hatte. Wieso auch? Geld war immer genug da.
Sie kramte ihren Schlüssel aus der Handtasche und schloss auf. Der Hausflur lag im Dunkeln, aber das Wohnzimmer war hell erleuchtet. Offenbar war dort die Deckenlampe eingeschaltet, was eigentlich nur vorgesehen war, wenn Gäste da waren. Aber das war heute nicht der Fall. Man hörte keine gedämpften Stimmen, nicht einmal solche aus dem Fernseher. Alles war still.
»Ich bin da-ha!«, rief sie, während sie ihren Mantel, den sie über dem Arm getragen hatte, an die Garderobenstange hing und ihre Handtasche auf die Mahagoni-Kommode stellte. Dann ging sie auf den hellen Raum zu und schritt durch die Tür.
Der Anblick, der sich ihr bot, versetzte ihr einen Schrecken, der wie ein Blitz einschlug. Okay, sie hatte nicht damit gerechnet, Christian in aller Gemütsruhe, womöglich eine Meerschaumpfeife rauchend, vor dem Fernseher sitzend vorzufinden, nicht, nachdem sie das grelle Licht aus der offenen Tür hatte herausfluten sehen und so gar nichts von einem fernsehtypischen Geräusch gehört hatte. Aber so, wie sich das Wohnzimmer ihr jetzt darbot, hatte das rein gar nichts mehr mit der Schöner-Wohnen-Idylle zu tun, an die sie sich so gewöhnt hatte. Am Auffälligsten war, dass das große Sofa nach hinten umgekippt war, und der schwarze Stoff der Unterseite, der nun direkt in ihrem Blickfeld lag, einen großen Riss aufwies, hinter dem die Stahlfedern für die Sitzfläche metallisch glänzten.
Das danebenstehende kleinere Sofa und der Sessel befanden sich dagegen noch auf ihren Beinen, wobei allerdings zwei dieser Beine doch recht ungewohnt zur Seite abstanden und ein Riss auch hier nicht fehlte. Genaugenommen waren es zwei Risse, für Sofa und Sessel jeweils einer, und die gingen durch die Polster der Sitzfläche, aus denen weiße Federn und beiger Stoff herausquollen. Der Couchtisch lag auf der Seite; daneben ein paar Tulpen und Scherben der weißen Porzellanvase. Das Wasser, das sich einmal in ihr befunden hatte, war offenbar für den dunklen Fleck in dem orientalisch gemusterten Teppich verantwortlich.
Aus den Augenwinkeln bekam Andrea mit, dass alle Türen der großen Schrankwand offenstanden und dass dort, wo sich Bücherfächer befanden, die Bücher davor auf dem Boden lagen. Aber das war nicht das, was ihre Aufmerksamkeit am meisten erregte. Denn zwischen Couchgarnitur und Schrankwand lag ein menschlicher Körper und es fiel ihr nicht schwer zu erkennen, dass es Christian war.
Er lag auf der Seite und befand sich in einem zusammengekrümmten Zustand. Auf seinem Gesicht schimmerte es an der ihr zugewandten Seite rötlich und sie zweifelte keinen Moment daran, dass es Blut war, das diesen Schimmer hervorrief. Viel konnte man von seinem Gesicht allerdings nicht sehen, denn er hatte den oberen Teil hinter seinem linken Arm verborgen, und ob er die Augen offen oder geschlossen hatte, war von Andreas Perspektive aus nicht zu erkennen.
Sie lief zu ihm hin und schob den Arm von seinem Gesicht. Die Augen waren geschlossen, und das beruhigte sie etwas. Immerhin waren da keine offenen, starren Augen, die eine vorübergehende Ohnmacht so radikal ausgeschlossen hätten. Sie hob seinen Kopf etwas an, und er stöhnte leise.
Sie traute sich nicht, den Körper zu bewegen. Was man in einem solchen Fall mit einem Verletzten tat, das hatte sie vor vielen Jahren einmal in einem Sanitätskursus erzählt bekommen, aber schon damals nur mit halbem Ohr zugehört, und inzwischen auch die andere Hälfte wieder vergessen. Lediglich, dass man nicht zu viel bewegen sollte und die weiteren Maßnahmen geschultem Personal überlassen sollte, das war bei ihr hängen geblieben - aber auch nur dank der vielen Krimis im Fernsehen. Und genau das tat sie jetzt.
Sie versicherte sich, dass Christian noch atmete, und sich nicht etwa kurz vor dem Ersticken befand, aber das war offenbar nicht der Fall. Dann rannte sie zurück in den Hausflur, wo sie ihre Handtasche abgestellt hatte, und zog ihr Handy heraus. Sie wählte die Notrufnummer und tatsächlich bekam sie sofort eine tiefe männlich Stimme zu hören.
Sie schilderte kurz die Situation, sprach von einer bewusstlosen und offenbar schwerverletzten Person und sagte, dass sie dringend Hilfe brauche. Die Stimme am anderen Ende der Leitung fragte sie nach ihrer Adresse und sagte, dass in zehn Minuten ein Sanitätswagen vorbeikommen würde.
Nachdem sie das Gespräch beendet hatte, lief sie zurück zu Christian und hob seinen Kopf leicht an. Sein Gesicht war vollständig mit Blut verschmiert, wobei es den Anschein hatte, dass der Großteil aus einer Verletzung an der linken Schläfe stammte. An einigen Stellen war das Blut bereits getrocknet, aber durchaus nicht überall, woraus Andrea schloss, dass der Angriff noch nicht so lange her sein konnte. Sein linkes Auge war geschwollen und geschlossen. Das rechte jedoch sah halbwegs normal aus und das öffnete er jetzt einen Spalt und sah Andrea an. Er bewegte seine Lippen, vermutlich um etwas zu sagen, doch er brachte nur ein leises Rasseln zustande. Andrea brachte ihr Ohr nah an seinen Mund und er startete einen neuen Versuch.
»Ich… ka… ni…« Er röchelte mehr, als dass er sprach. Das Sprechen bereitete ihm ganz offensichtlich starke Schmerzen.
»Ich weiß, dass du nicht sprechen kannst«, sagte Andrea und strich ihm etwas blutverkrustetes Haar aus der Stirn. »Du brauchst nichts zu sagen. Bleib ganz ruhig. Der Krankenwagen ist gleich da.«
Er schloss die Augen und er stöhnte leise. Dann öffnete er seine Augen wieder und röchelte:
»nichts dafür…«
»Du kannst nichts dafür?«, sagte Andrea verwundert. »Natürlich kannst du nichts dafür. Reg dich nicht auf. Mach dir keine…«
»Schweine«, brabbelte Christian, wobei er kaum die Lippen ausein-ander bekam. »Nich… getan«.
»Natürlich hast du nichts getan«, versuchte Andrea ihn zu beruhigen.
Christian atmete schwer und hatte die Augen wieder geschlossen. Er versuchte, noch etwas zu sagen, aber es fiel ihm schwer. Andrea hielt ihren Kopf näher an seinen Mund und drehte ihn so, dass ihr Ohr fast seinen Mund berührte.
Er flüsterte: »Doch.«
»Was, doch?«
Er hatte jetzt die Augen wieder geöffnet und starrte sie an.
»Ist egal«, sagte Andrea. »Sag nichts mehr. Ruh dich aus.«
Christian schloss wieder die Augen und atmete langsam. Das tat er eine ganze Weile, ohne etwas zu sagen. Andrea blickte sich in dem Zimmer um. Das Chaos war allumfassend. Es waren nicht nur die Sofas und die Schrankwand, die sie bearbeitet hatten. Auch die Bilder waren nicht mehr dort, wo sie hingehörten. Entweder lagen sie auf dem Boden, mit mindestens einer abgebrochenen Rahmenleiste, oder sie hingen schief an der Wand. Es war offensichtlich, dass die Einbrecher nach etwas hinter den Bildern gesucht hatten. Und das war natürlich das, was Einbrecher immer hinter Bildern vermuten, und natürlich hatten sie es auch gefunden. Das Bild, das normalerweise den kleinen Wandtresor verbarg, gehörte zu denen, die auf dem Boden lagen, und der nun wunderbar sichtbare Tresor stand offen.
Aber Andrea traute sich nicht, nachzuschauen, ob etwas fehlte. Auch wenn sie nicht genau wusste, wie man einen Schwerverletzten genau behandelte, wollte sie Christian keinesfalls allein lassen. Es war ohnehin klar, was mit dem Tresor war. Aufgefüllt worden war er mit Sicherheit nicht.
Nach weiteren drei Minuten hörte sie die Sirene des Rettungswagens und als diese erstarb, legte sie Christian vorsichtig ab und lief zur Haustür. Zwei Männer und eine Frau kamen gerade den Gartenweg entlanggestürmt und Andrea öffnete die Tür und zeigte stumm in Richtung Wohnzimmer.
Sie umringten Christian und es war die Frau, die die Kommandos gab, indem sie den Männern sagte, was diese zu tun hatten. Sie untersuchte ihn nur kurz und sagte dann:
»Auf die Trage mit ihm und dann in die Klinik!«
Sie stand auf und sagte zu Andrea: »Wir nehmen ihn mit. Es sieht nicht gut aus. Ich kann so nicht sagen, was er hat, aber es sieht nicht gut aus.«
Andrea wollte im Krankenwagen mitfahren, aber man sagte ihr, dass das nicht ginge, und dass sie mit ihrem eigenen Auto nachkommen solle. Aber es würde wahrscheinlich eine Weile dauern, bis man ihr im Krankenhaus etwas würde sagen können.
Sie schoben die Trage in den Krankenwagen und Andrea stand in der Haustür und schaute dabei zu. Einer der Männer und die Frau, ganz offensichtlich die Notärztin, stiegen ebenfalls hinten ein und der andere Mann lief zur Fahrertür, stellte die Sirene wieder an und der Wagen raste hektisch davon.
Nachdem Andrea die Haustür wieder geschlossen hatte, brauchte sie einen Moment, um sich zu sammeln. Sie stand einige Minuten einfach bewegungslos da, ging dann durch alle Räume des Hauses und eine Viertelstunde später saß sie in Christians SUV und fuhr aus der Einfahrt.
Es war Andrea klar, dass man ihr jetzt, nur eine halbe Stunde nachdem sie Christian abgeholt hatten, im Krankenhaus nichts sagen konnte. Wenn sie die Ärztin richtig verstanden hatte, würde er gleich unters Messer kommen, und seinem Zustand nach zu urteilen, hatten sie vermutlich eine Weile mit ihm zu tun. Vorausgesetzt, sie konnten überhaupt etwas tun. Denn, so schien es ihr, es war keineswegs sicher, dass er diesen Vorfall überleben würde.
Aber egal, was passieren würde, sie wollte in seiner Nähe sein. Das war sie ihm einfach schuldig. Und das war für sie ein völlig neuer Gedanke. Christian etwas schuldig zu sein. Immerhin hatte sie in den letzten drei Monaten alles darangesetzt, ihn gerade nicht mehr unbedingt neben sich auf dem Sofa sitzen zu haben. Was das Bett betraf, so hatte sie ihre Konsequenzen bereits gezogen und das Gästezimmer okkupiert. Nein, die Tür hatte sie nicht abgeschlossen, aber das war auch nicht notwendig gewesen. Christian hatte sich nicht hineingetraut. Die quälenden Gespräche, die in solchen Fällen nicht ausbleiben, fanden auf neutralem Boden statt. In der Küche und im Wohnzimmer.
Christian war von einer Trennung alles andere als begeistert gewesen, und Andrea musste erfahren, dass Männer keineswegs die Coolness gepachtet hatten. Bisher hatte sie tatsächlich geglaubt, dass übertriebene Anhänglichkeit eine Domäne der Frauenwelt wäre, eine Art weibliches Vorrecht, das sie selbst natürlich nie für sich in Anspruch nehmen würde, aber ihren Geschlechtsgenossinnen wie selbstverständlich als deren genuine Wesensart zu attestieren bereit war. Aber, man konnte sich mit den Geschlechterrollen schon mal täuschen! Andrea hatte sich jedenfalls gewaltig geirrt, indem sie Christian für einen Prototyp männlicher Beherrschtheit gehalten hatte, und so einfach, wie sie sich ›Schluss machen‹ vorgestellt hatte, war es dann leider doch nicht.
Denn einen Effekt hatte das Gewinsel ihres Mannes nämlich durchaus - es konnte ihr Mitleid erregen! Das war zwar die am wenigsten geeignete Strategie, vielleicht doch noch ein paar Punkte zu sammeln, und sein Verhalten steigerte nur ihren Wunsch, aus dieser Beziehung so schnell wie möglich herauszukommen. Aber dennoch war sie nicht völlig wirkungslos, und so wild entschlossen Andrea auch sein mochte, den Schlusspunkt endlich zu setzen, so rücksichtslos und schäbig kam sie sich nach jeder der erbarmungslosen ›Aussprachen‹ vor. Nur reichten ein paar miese Momente für einen Gesinnungswandel Andreas keineswegs aus. Never!
Aber sie musste vorsichtig sein. Denn bei allem Tatendrang in Hinblick auf ein ›neues Leben‹ wollte sie doch auch ein paar Dinge aus dem alten mit hinübernehmen. Und zwar das Haus, die Autos und das Boot! Das Boot? Quatsch, sie besaßen überhaupt kein Boot! Also nur Haus und Autos. Aber das war ja auch nicht zu verachten.
Aber man wusste ja, wie das so ist bei Trennungen, bei solchen, die einen gesetzlich besiegelten Zustand betreffen, allemal. Da kommt man ohne Blessuren nicht so leicht davon, und wenn man nicht nur die Blessuren vermeiden, sondern auch das bessere Ende ergattern wollte, dann konnte man sich so manche Spontanität einfach nicht erlauben. Wer wollte schon im Fall der Fälle plötzlich mit einem Haufen von Verfehlungen bei der Wahrung des Eheglücks dastehen und bei einer nicht auszuschließenden Aufrechnung schuldhaften Verhaltens beim Auseinanderdividieren des gemeinsamen Besitzstandes unter notarieller Aufsicht plötzlich die schlechteren Karten aufspielen müssen? Andrea jedenfalls nicht.
Das mit ihrem Bruder war etwas anderes. Der hielt eh nichts davon, jedes Techtelmechtel gleich an die große Glocke zu hängen. Da hätte er viel zu tun, der Gute. Also keine Gefahr, dass Christian etwas spitzkriegte, was er irgendwann mal gegen sie verwenden konnte.
Und auf Ritchie konnte sie sich auch verlassen. Sex-technisch sowieso, aber auch sonst, ganz allgemein. Vielleicht war das ja sogar das Wichtigste an ihrer Beziehung zu ihm. Jedenfalls wichtiger als das bisschen Herumgevögel im Hotel, und wahrscheinlich war es eher dieses Geborgenheitsgefühl, weshalb sie sich von ihm hatte verführen lassen, als dass sie endlich mal etwas gegen ihre aufkommende Frustration unternehmen wollte.
Ritchie war einfach in Ordnung, auch wenn er ein Chauvi war, wie er im Buche steht. Aber eben einer, auf den man sich verlassen konnte. Und außerdem war er ihr Bruder – auch wenn kein Blut im Spiel war.
Kein übler Kerl also, dachte sie, als sie auf die B8 einbog, um auf dieser Schnellstraße nach Höchst zu düsen. Denn dort hatten sie ihren Ehemann hingebracht. Und das war er schließlich noch, ihr Ehemann, und dass sie vorhatte, ihn bald als ihren Ex-Ehemann bezeichnen zu können, änderte nicht das Geringste daran, dass sie ihm jetzt zur Seite stehen musste. Weder sollte er sich auf diese Weise aus dem Staub machen können, noch wollte sie ihn sich selbst überlassen. Eine Ehe endet erst mit der Scheidung, das war ihr Credo.
Aber blöd war es ja schon, dass so ein Vorfall ausgerechnet jetzt passieren musste! Hätten diese Gangster nicht noch etwas warten können? Wenn sie erst mal ausgezogen gewesen wäre, dann hätte sie sich ihr Verantwortungsgefühl sparen können. Auch früher wäre besser gewesen. Damals, als sie und Christian noch ein Herz und eine Seele waren. Dann hätte sie wenigstens wirklich gelitten, und nicht das blöde Gefühl haben müssen, als würde sie nur jemanden einen Gefallen tun. Aber dieser Zeitpunkt, jetzt, wo alles in der Schwebe war… Sie hatte aber auch wirklich Pech!
Nein, nicht sie, sondern Christian war natürlich derjenige, der Pech hatte, korrigierte sie sich schnell. Erst eine abtrünnige Ehefrau, und dann das hier! Sie musste an den blöden Spruch denken, dass er zuerst kein Glück hatte und dann auch noch Pech dazukam. Er hatte sozusagen das, was man eine Strähne nennt.
Und das war ja noch nicht alles! Was hatte er ihr noch mal von seinem Büro erzählt? Hatte er nicht irgendwas von einer miesen Auftragslage gefaselt? Sie hatte nur mit halbem Ohr zugehört, aber wenn sie richtig verstanden hatte, lief der Laden ihres Mannes momentan sozusagen auf Reserve. Er stotterte richtiggehend. Christian verdiente seinen Lebensunterhalt nämlich mit einem Architekturbüro, und das war bisher eigentlich eine einzige Erfolgsgeschichte. Nichts besonders Großes, aber auch kein Ein-Mann-Betrieb, wie bei so manch anderen in dieser Branche. Immerhin fünf Angestellte, inklusive einer Sekretärin, und er der Chef des Ganzen. In den letzten zwölf Jahren, jedenfalls solange sie sich kannten, brauchte er sich über die Auftragslage seines Büros keinerlei Gedanken zu machen; es lief wie geschmiert, Aufträge noch und nöcher – und das, was dabei rumkam, machte ihn zum Spitzenreiter in der Wellerhoff-Reuter‘schen Zuverdienstgemeinschaft. Na ja, dachte Andrea, keine ganz so schwierige Aufgabe, wenn man sich mit einer armen W3-Professorin vergleichen musste.
Aber irgendwann ging es damit los, dass sich Gejammer unter die vielen Erfolgsstories mischte. Und jetzt herrschte Krise auf dem Baumarkt. Die Preise für Baumaterialien waren um ein Vielfaches gestiegen und die Handwerker und Bauunternehmer wollten da nicht zurückstehen. Also schlugen sie bei ihren Rechnungen ebenfalls kräftig zu und verschärften die Kostenlage zusätzlich. Aber so richtig am Arsch war derjenige, die sich sein Baugeld von den Banken leihen musste. Denn die Zeiten der niedrigen Zinsen waren inzwischen ebenfalls vorbei.
Wer kann denn da noch bauen? Oder renovieren und modernisieren? Folglich gibt’s für Architekten nichts mehr zu tun. Oder zumindest weniger. Wer sich gerade noch leisten kann, eine verranzte Bruchbude zu ergattern, kann sich in der Regel die Renovierung erst mal in die Haare schmieren. Und während es sich diese Leute in ihren neuen Rattenlöchern irgendwie gemütlich machen müssen, bleiben andere erst gleich ganz in ihren schmucken Plattenbauten zur Miete wohnen. Und wer guckt dabei in die Röhre? Leute wie Andreas Gatte – und für diese Spezies ist das mit den kleineren Brötchen eine besonders schwer auszuhaltende Zumutung.
Also Pech Nummer drei für den tapferen Christian. Er konnte wirklich froh sein, dass Andrea da war. Denn die dachte nicht im Traum daran, das alles so einfach geschehen zu lassen. Wobei die Betonung auf ›alles‹ lag. Denn gegen das mit der Auftragslage konnte sie auch nichts machen, und das mit der abtrünnigen Ehefrau – na ja, da war sie selbst der ›agent provocateur‹. Aber von Einbrechern ausgeraubt und brutal zusammengeschlagen zu werden – das ging entschieden zu weit!
Das alles ging Andrea durch den Kopf, während sie über die B8 raste und dann durch Unterliederbach zockelte. Oder ›durch ihr hübsches Köpfchen‹, wie ihr Bruder Richard sich ausgedrückt hätte. Dabei hätte er mit seinem Chauvi-Gehabe in diesem Fall gar nicht mal Unrecht gehabt. Jedenfalls zu einer anderen Zeit und unter anderen Umständen. Denn gut aussehend war Andrea tatsächlich und ein hübsches Gesicht hatte sie sowieso. Jedenfalls normalerweise, am Rednerpult in der Vorlesung, oder auf einem Empfang mit dem Sektglas in der Hand, nur jetzt nicht, als sie den SUV auf den Parkplatz der städtischen Klinik in Höchst lenkte. Jetzt wirkte sie erschöpft und hatte Sorgenfalten auf der Stirn. Bevor sie ausstieg, bliebt sie einen Moment hinter dem Lenkrad sitzen, aber dann sprang sie doch aus dem Wagen und ging zielstrebig auf den Eingang der Notaufnahme zu.
»Weißt du eigentlich, wie spät es ist?«
»Natürlich weiß ist das. Aber reg dich ab, du kannst morgen ja ausschlafen.«
»Heute, meinst du wohl. Es ist schon Sonntag! Und zwar genau seit, warte… drei Stunden und einundzwanzig Minuten!«
Es war einen Moment still in der Leitung. Dann senkte Richard Zahnstein seine Stimme und fuhr langsam fort:
»Du würdest nicht anrufen, wenn es nicht wichtig wäre, oder?«
»Davon kannst du ausgehen, du Blitzmerker«, sagte Andrea ruhig.
»Wo bist du?«
»In Höchst?« Sie meinte es nicht als Frage, sie sprach es nur so aus. Alle machten es so, wenn sie eingeschnappt waren.
»Was ist passiert?«
Andrea saß im SUV auf dem Parkplatz des Höchster Krankenhauses. Sie hatte fast drei Stunden in dem Gebäude zugebracht und war dann wieder zu ihrem Wagen gegangen. Dort hatte sie ihr Handy aus der Handtasche gekramt und ihren Bruder angerufen.
Sie berichtete ihm, was zu Hause passiert war und was sie ihr im Krankenhaus zu Christians Gesundheitszustand gesagt hatten. Seine Verletzungen machten es erforderlich, ihn ins künstliche Koma zu versetzen, und über das, was danach werden würde, hatten sie sich ausgeschwiegen.
»Wie lange wird er im Koma sein müssen?«, fragte Zahnstein.
»Konnten sie nicht sagen. So vier, fünf Tage vielleicht.«
»Hm.«
»Um mir das zu sagen, haben sie mich zwei Stunden auf dem Gang warten lassen.«
»Sie werden ihn wahrscheinlich so lange operiert haben. Verletzungen an Milz und Lunge, sagst du? Kann mir vorstellen, dass so was ´ne Weile dauert.«
»Wahrscheinlich hast du recht. Aber ich bin momentan etwas durch den Wind, sorry, mich nervt einfach alles.«
»Willst du herkommen? Oder soll ich zu dir kommen?«
»Nee, lass mal gut sein, Ritchie. Aber trotzdem danke! Ich brauche momentan nur jemanden zum Reden.«
»Deshalb habe ich gefragt.«
»Klar, aber wir leben im Zeitalter der Telekommunikation, weißt du? Macht vieles einfacher.«
»Wenn du meinst.«
Beide schwiegen ein paar Sekunden. Andrea dachte, dass es auch gut war, jemanden zum anschweigen zu haben. Und Zahnstein glaubte zu wissen, dass sie das dachte. Dann sagte sie:
»Ich mag gar nicht daran denken, was mich zu Hause erwartet.«
»Nach dem, was du mir erzählt hast, was sie da angestellt haben, kann ich mir das lebhaft vorstellen.«
»Ich hätte ja gerne noch ein bisschen aufgeräumt, bevor ich Christian hinterher bin, aber dann habe ich gedacht, scheiß…«
»Bist du wahnsinnig?!«, unterbrach Zahnstein sie. »Man darf nichts verändern, bevor die Spurensicherung da war!«
»Die Spurensicherung?«
»Die Polizei halt. Hast du da denn noch nicht Bescheid gesagt?«
»Nee. Hatte ich eigentlich auch nicht vor. Wieso sollte ich?«
»Wieso du solltest? Na hör mal! Man ruft doch die Polizei in solchen Fällen!«
»Die können auch nichts machen«, behauptete Andrea.
»Trotzdem«, beharrte Zahnstein. »Die müssen doch Bescheid wissen, wenn so was passiert! Hast du nicht gesagt, dass die Stereoanlage und der Fernseher weg sind?«
»Und mein Platinhalsband.«
»Na also.«
»Kann mir nicht vorstellen, dass die Diebe das bei der Polizei abgegeben haben.«
Zahnstein atmete hörbar aus. »Aber du willst doch was von der Versicherung, oder? Dann musst du den Einbruch auf alle Fälle bei den Bullen melden, sonst zahlen die nämlich nichts.«
»Meinst du?«
»Na klar! Und von der Versicherung mal abgesehen: Das ist deine verdammte Pflicht und Schuldigkeit als deutscher Staatsbürger!«
»Zur Polizei zu gehen?«
»Wenn bei dir eingebrochen wurde, dann musst du das melden! Das ist eine Staatsbürgerpflicht, oder wie das heißt.«
»Ich wusste gar nicht, dass du so gesetzestreu bist, Ritchie«, sagte Andrea ruhig. »Ich hab dich ganz anders in Erinnerung.«
»Wenn du auf Island anspielst…«
»Wenn‘s nur das wäre…«
Zahnstein war auf dem besten Wege gewesen, sich so richtig aufzuregen. Nach Andreas letzter Bemerkung aber hielt er inne und musste dann leise lachen.
»Das ist was Anderes«, sagte er. »Jedenfalls kann ich dir nur raten, mit dem Einbruch zur Polizei zu gehen. Kannst dir aussuchen, ob du das wegen der Versicherung oder von wegen Staatsbürgerpflicht tun willst.«
»Wie schön, wenn man die Wahl hat. Da fühlt man sich gleich besser.«
»Also ich würde es ja allein wegen der Versicherung machen. Wie sind die Typen eigentlich ins Haus gekommen?«
»Keine Ahnung. Frag mich mal was Leichtes.«
»Womöglich hat Christian sie selbst reingelassen.«
»Wieso sollte er?«
»Was weiß ich? Vielleicht haben sie ihn ausgetrickst. Oder war die Tür aufgebrochen?«
»Nee. Ich hab sie ja aufgeschlossen.«
»Ist jetzt auch egal. Vielleicht findet die Polizei ja was.«
»Spurensicherung, meinst du, oder?«
»Genau. Aber sag mal…« Zahnstein zögerte einen Moment.
»Ja?«
»Dein Schmuck.«
»Was ist damit?«
»Tja, das wollte ich eigentlich dich fragen. Du hast doch mehr als diese eine Halskette, oder?«
»Klar.«
»Und?«
»Den haben sie nicht.«
»Du meinst… Die eine Halskette hat ihnen gereicht?«
Jetzt musste Andrea lachen. »Keine Ahnung. Aber die anderen Sachen sind in unserem zweiten Safe. Wir haben nämlich zwei davon. Und den zweiten haben sie zum Glück nicht gefunden.«
»Ach was! Zwei Safes?« Zahnstein war überrascht.
»Was Christians Idee. Wenn wirklich mal eingebrochen wird, hat er gesagt, und die finden einen Safe, dann suchen sie nicht noch nach einem zweiten.«
»Na, ob Einbrecher wirklich so blöd sind?«
»Diese hier waren es jedenfalls. Der zweite Safe ist jedenfalls noch intakt. Und die Sachen sind noch drin. Hab schon nachgeguckt.«
»Hm«, machte Zahnstein, »und der erste Safe? Wurde der normal aufgeschlossen?«
»Ja, das wurde er. Der Schlüssel steckt noch.«
Zahnstein dachte nach. »Dann war das der Grund, warum sie Christian zusammengeschlagen haben. Sie wollten den Schlüssel zum Safe.«
»Und haben ihn auch bekommen. Aber das Versteck vom zweiten hat Christian schön für sich behalten.«
»Vielleicht, weil sie ihn nicht danach befragt haben.«
»Warum sollten sie auch?«
»Na ja… Es hätte ihnen ja komisch vorkommen können, dass es bei euch nur eine einzige Halskette gibt, und sonst nichts.«
»Keinen Schmuck, meinst du?«
»Ja, was sonst? Ich dachte immer, dass solche Typen auf Schmuck besonders scharf sind. Und diese hier finden eine läppische Halskette, und schon geben sie Ruhe.«
»Vielleicht stehen sie ja nicht so auf Schmuck und das eine Teil hat ihnen gereicht. So läppisch war die Kette übrigens nicht. Immerhin Platin. Und dass sie Ruhe gegeben hätten, kann man auch nicht gerade behaupten. So wie sie Christian zugerichtet haben…«
»Hm. Wahrscheinlich hast du recht. Wir wissen nicht, was da wirklich passiert ist. Da können wir nur hoffen, dass Christian bald aufwacht.« Zahnstein wirkte nachdenklich.
»Beziehungsweise, dass die Ärzte ihn bald wach kriegen«, meinte Andrea.
»Oder das.«
»Aber ich glaube, du hast recht. Ich sollte wirklich die Polizei verständigen. Vielleicht finden sie ja doch was raus. Mach ich am besten gleich, wenn ich zu Hause bin.«
»Du solltest damit rechnen, dass sie dann gleich vorbeikommen wollen.«
»Du meinst, jetzt gleich? Mitten in der Nacht?«
»Ehrlich gesagt, ich hab keine Ahnung. Aber ich würde es mal nicht ausschließen.«
»Hm. Von mir aus sollen sie ruhig kommen. Ich glaube eh nicht, dass ich schlafen kann.«
Zahnstein sagte langsam: »Und der zweite Tresor?«
»Was soll damit sein?«
»Der ist noch zu, oder?«
»Ja, wieder. Ich hab reingeguckt, ob noch alles da ist, und ihn dann wieder abgeschlossen.«
»Und das Bild wieder davorgehängt.«
»Ich kann mich gar nicht erinnern, dass ich dir gesagt habe, dass ein Bild davor hängt.«
»Vor jedem Tresor hängt ein Bild. Außer in den Banken vielleicht. Bei euch hängt doch ein Bild davor, oder?«
»Stimmt. Man merkt, du kennst dich aus in deutschen Wohnzimmern, Ritchie.«
»Wie? Ist der zweite Safe auch im Wohnzimmer?«
»Ne, natürlich nicht. Das war nur so’n Spruch. Der ist unten im Gästezimmer.«
»Schön, wenn man seinen Gästen vertrauen kann…«
»Was heißt vertrauen. Kann mir nicht vorstellen, dass einer das Ding ohne Schlüssel aufkriegen würde.«
»Und wo ist der Schlüssel?«
»Das ist geheim. Wozu willst du das wissen?«
»Nicht etwa in dem anderen Tresor?«
»Hältst du uns für blöd? Dann hätten sie ihn ja gesehen!«
»Ja, das wäre ziemlich dämlich.« Zahnstein machte eine Pause. »Aber wenn die Versicherung euch für dämlich halten würde, wäre das ja auch nicht so fürchterlich schlimm, oder?«
»Die Versicherung? Du meinst…«
»Na ja, wenn die euch für so bescheuert halten würde, dass ihr den Schlüssel für den zweiten Safe im ersten aufbewahren würdet, …« Er ließ den Satz unvollendet und begann einen neuen: »Sie würden sich wahrscheinlich tierisch aufregen, dass euer ganzer Schmuck weg ist.«
Andrea schwieg eine Weile und dachte nach. Dann sagte sie: »Du meinst, dass mein ganzer Schmuck weg ist.«
»Dann halt dein ganzer Schmuck«, antwortete Zahnstein.
»Ritchie, Ritchie! Du hast vielleicht Ideen!«
»Denk mal drüber nach!«
»Das werde ich. Aber ich sag‘s dir gleich: Ich bin eine anständige Frau.«
»Daran zweifele ich keine Sekunde.«
»Ich sag das nur, damit du dich nicht wunderst, wenn ich deinen Rat doch nicht befolge.«
»Welchen Rat denn? Ich denke, du wirst schon das Richtige tun.«
»Da bin ich mir nicht so sicher, Ritchie.«
Zahnstein stieß einen glucksenden Lacher aus. »Ich schon. Die Schwierigkeit besteht nur darin herauszufinden, was das Richtige ist.«
Andrea lachte auch. Dann sagte sie: »Das war jetzt aber ein schönes Wort zum Sonntag.«
Als sie zu Hause war, rief Andrea tatsächlich bei der Polizei an. Dass das sein musste, war ihr inzwischen klar. Es wäre halt so einfach gewesen! Aber dass sie der Meinung war, dass es auch ohne ginge, erschien ihr inzwischen völlig abwegig. Nur gut, dass sie mit ihrem Bruder telefoniert hatte. Manchmal war es einfach gut, sich mit jemandem auszutauschen. Und wenn das auch nur hilft, das Offensichtliche zu sehen.
Sie hatte auf der Rückfahrt intensiv darüber nachgedacht, was Zahnstein gesagt hatte. Und war zu dem Schluss gekommen, dass der Gute manchmal durchaus ein paar brauchbare Ideen hatte. Deshalb hatte sie sich ein bisschen Zeit gelassen, bevor sie den Anruf tätigte, und vorher noch ein paar Kleinigkeiten erledigt. Sie war nicht nur im Gästezimmer gewesen, sondern auch in Christians kleinen Arbeitszimmer und auch am zentralen Schauplatz des Geschehens, dem Wohnzimmer. Sie vergewisserte sich jetzt, ob nicht etwa eines der Fenster oder etwa die Terassentür beschädigt waren. Sie waren es nicht, und sie konnte auch nicht die kleinste Schramme an den Rahmen oder Beschlägen entdecken. Bis auf das Fenster im Gästeklo, das gekippt war, waren alle anderen verschlossen, einschließlich der Tür zur Terrasse. Also waren sie zur Haustür hereingekommen, es sei denn, die Terassentür war offen gewesen, und sie hatten sie hinter sich zugemacht, nachdem sie hereinmarschiert waren. Aber warum sollten sie das tun? Vielleicht, dachte Andrea, aus Lärmschutzgründen? Denn dass es ›etwas lauter‹ werden würde, damit hatten sie wahrscheinlich gerechnet.
Solange Christian im Koma lag, würde sie mit einer ganzen Menge dieser ›Vielleichts‹ und ›Wahrscheinlichs‹ zu tun haben. Außer, die Spurensicherung fand etwas heraus, was man mit bloßem Auge nicht sehen konnte. Andrea wusste zwar nicht, was das sein sollte, aber vielleicht – schon wieder ein vielleicht – brachte der Anruf bei den Ordnungshütern ja doch etwas.
Am Telefon sagte man ihr dann, dass »die Kollegen« gleich vorbekommen würden. Sie rechnete schon mit einem veritablen Überfallkommando und einer Horde von Männern in weißen Overalls und Kapuzen auf dem Kopf, die ihr den Teppich versauen und alles in eine noch größere Unordnung bringen würden. Man kennt sich ja aus in solchen Dingen, Tatort und