Purzelbaum und Liebesbrief - Maj Bylock - E-Book

Purzelbaum und Liebesbrief E-Book

Maj Bylock

5,0

Beschreibung

Schweden in den 1940er Jahren: Kajsa ist neun Jahre alt. Ihr Vater ist Tierarzt und ihr Großvater kann mit seinem Gebiss richtige Ständchen klappern. Es ist herrlich! Doch Kajsas ganzer Stolz ist ihr geliebter "Roter Blitz", ein knallrotes, fast neues Fahrrad. Kajsa ist etwas pummelig und wächst in einem kleinen Ort auf. Sie nimmt den Leser mit in ihr Leben, verrät, dass sie einmal für das Kettenkarrussel 29 Fahrscheine gekauft hat und ihr am Ende ganz schwindelig wurde. Und sie erzählt von Lasse, ihrer ersten großen Liebe. Er ist ein guter Freund und sie trifft sich oft mit ihm im Baumhaus. Das Leben von Kajsa ist eigentlich gar nicht so schlecht – wenn da nicht die Schule wäre. Hier schlägt Kajsa vor allem das Purzelbaumschlagen auf den Magen. REZENSIONEN "Maj Bylock berichtet in diesem Buch mit Humor und großer Wärme von ihrer abenteuerlichen Kindheit auf Gotland und den ersten Jahren in Karlstad." – www.varmlandslitteratur.se AUTORENPORTRÄT Maj Bylock wurde 1931 geboren und ist eine schwedische Schriftstellerin. Sie veröffentliche unter anderem Lehrbücher zu Geschichte und Religion. Ihr erstes Kinderbuch erschien 1969 in Schweden. Bislang veröffentlichte die Schwedin rund 20 Kinder- und Jugendbücher, die sich meist um Geschichten drehen, die im Mittelalter spielen. Maj Bylock wurde außerdem mit dem schwedischen Astrid-Lindgren-Preis für Kinderliteratur ausgezeichnet.

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Maj Bylock

Purzelbaum und Liebesbrief

Aus dem Schwedischenvon Birgitta Kicherer

Saga

Der Rote Blitz

Ich lauschte mit angehaltenem Atem. Nein, noch war es draußen auf der Treppe still.

»Am besten, ich klettere runter und schau mal nach«, dachte ich und schlich zum Fenster. »Sonst sterbe ich auf der Stelle!«

Fröstelnd kletterte ich aufs Dach hinaus, zur Feuerleiter rüber, die gleich vor meinem Fenster anfing. Die Leiter ächzte bedrohlich, ich war nämlich ziemlich mollig. Aber die Leiter war die beste Möglichkeit, um ungesehen aus meinem Zimmer zukommen. Und außerdem endete sie sehr praktisch hinter dem großen Birnbaum.

Heute wollte ich nicht ganz runter auf den Hof, heute war mein Ziel die Küche im zweiten Stock. Noch drei Sprossen, dann stand ich direkt vor dem Fenster.

In der Küche war Mama damit beschäftigt, mein Geburtstagstablett herzurichten. Die Torte stand schon bereit. Gestern abend hatte ich mir in der Speisekammer eine Kostprobe genehmigt. Schließlich gehörte die Torte ja mir, Kajsa 9 Jahre war mit grünem Gelee auf die Buttercreme gespritzt.

Aber ich hatte nicht mein Leben riskiert, um die Torte noch einmal zu sehen. Nein, ich hoffte auf etwas ganz anderes. Etwas, das ich mir mehr als alles andere wünschte. Ich preßte mir die Nase platt an der Fensterscheibe.

Da hörte ich einen Aufschrei – und dann ein Krachen. Als das Küchenfenster endlich aufgerissen wurde, befand ich mich bereits wieder in meinem Bett in Sicherheit. Aber ich war enttäuscht. Das, was ich zu sehen gehofft hatte, war nicht zu entdecken gewesen.

Schon seit langer Zeit durfte ich mir Mamas Fahrrad leihen, wenn ich irgendwohin wollte. Es war schwarz mit extra dicken Reifen, Ballonreifen.

Im Schaufenster des Fahrradgeschäfts hatte ich das Fahrrad gesehen, von dem ich träumte: rot, glänzend und wunderschön. Vorn auf dem Schutzblech saß ein silberner Vogel, von dem das Fahrrad seinen Namen erhalten hatte: Schwalbe – ein schöner Name für ein Fahrrad, fand ich. Eine Schwalbe fliegt ja wie ein Pfeil durch die Luft.

Jetzt waren Schritte auf der Treppe zu hören. Die Tür flog auf. Der erste Gratulant kam hereingetaumelt, fröhlich bellend und mit dem Bart voller Creme. Peggy! Sie landete geradewegs auf meinem Bett und schüttelte den Kopf. Die Creme flog in alle Richtungen.

»Viel Glück und viel Segen

auf all deinen Wegen ...«

Da standen sie alle um mich herum. Mein Herz klopfte wie wild. Gustav, mein großer Bruder, hatte mir Bälle gekauft. Er wußte, daß ich neue brauchte, die alten hatte Peggy nämlich alle zerkaut.

Papa zog feierlich einen kleinen weißen Umschlag hervor, wie jedes Jahr. Ich wußte genau, was darin lag: ein Zweikronenstück mit der jeweiligen Jahreszahl. Dieses Jahr stand 1940 darauf.

Ich schloß die Augen und versuchte auszurechnen, für wieviel Eis zwei Kronen reichen würden. Mindestens für zwanzig Eis am Stiel mit Birnengeschmack.

Aber Papa nahm das Zweikronenstück wieder an sich. Es wurde im Schreibtisch eingeschlossen, bis ich groß war. Dann würde es sehr viel mehr wert sein als jetzt, davon war Papa überzeugt.

Großvater holte sein altes braunes Portemonnaie hervor und angelte ein Fünfzigörestück heraus.

»Dafür darfst du dir kaufen, was du willst«, sagte er. »Und möglichst heute noch.«

Mamas roter Rock hatte eigenartige dunkle Flecken. Und die Torte, wo blieb die Torte?

»Vorhin hab ich draußen vor dem Küchenfenster ein Gespenst gesehen.« Mama seufzte. »Und mit ihm ist die Torte im hohen Bogen durch die Luft gesegelt.«

Peggy mit ihrem Cremebart schnarchte zufrieden auf meinen Füßen.

Die Torte ... Ich wußte, daß Mama keine neue backen konnte. Draußen in der Welt war Krieg, und die Lebensmittel waren rationiert. Eier, Zucker und andere Zutaten für Torten gab es nur in begrenzten Mengen.

Die Torte war mir nicht so wichtig. Aber das Fahrrad? Wahrscheinlich hatte Papa es sich nicht leisten können, das Fahrrad zu kaufen. Erst vor kurzem hatte er einen Treibgasgenerator fürs Auto anschaffen müssen. Das war eine Art Ofen, der hinten am Auto befestigt und mit Kohle beheizt wurde. So konnte man ohne Benzin Auto fahren, und das war ein Glück, denn das Benzin war ebenfalls rationiert. Draußen im Meer wimmelte es von Minen, und daher konnten die Tankschiffe die Küsten von Schweden nicht erreichen.

Da hob Papa mich plötzlich in die Luft und lief dann mit mir die Treppe hinunter. »Schau mal!« sagte er und zeigte auf etwas, das am Birnbaum lehnte: ein glänzendes rotes Fahrrad! Und dennoch brannten heiße Tränen in meinen Augen. Ich sah sofort, daß es Mamas altes Fahrrad war, rot angestrichen.

Papa umarmte mich und flüsterte: »Ein neues können wir uns im Augenblick nicht leisten. Aber Großvater hat es doch sehr schön hingekriegt. Sieh mal! Er hat gelbe Streifen auf den Rahmen gemalt.«

Ich schluckte die Tränen runter. Immerhin gehörte das Fahrrad nun mir! Mit einem eigenen Fahrrad stand mir die Welt offen.

Gustav sah, daß ich ein wenig traurig war, und sagte: »Wer so pummelig ist wie du, braucht Ballonreifen. Die tragen dich sicher durchs Leben.«

So nett war er sonst fast nie. Nein, meistens behauptete er, er wolle mich als Riesendame im Zirkus vorführen.

Ich zwickte ihn in den Arm. Er wußte ganz genau, daß ich lieber gefährlich auf den schmalen Rädern der Schwalbe gelebt hätte, als sicher auf Mamas Ballonreifen durchs Leben zu fahren. Aber ich beschloß, mein Fahrrad ab jetzt gern zu haben. Und einen Namen gab ich ihm auch. Ich taufte es Der Rote Blitz.

Dann hörte ich Hufe klappern.

»Schnell rein in die Kleider«, sagte Papa. »Ich brauche Hilfe.«

Papa war Tierarzt. Wenn irgendwo Tiere krank wurden, machte er Krankenbesuche auf den Höfen, wo die Tiere lebten. Und dabei durfte ich ihn oft begleiten. Manchmal kamen die Tiere auch zu uns, und das war meistens morgens, bevor Papa sich auf seine Besuchsrunde begab.

Er hatte eine Praxis im Haus, wo er kleine Tiere wie Hunde, Katzen, Schildkröten und Vögel behandelte. Hier konnte er ihnen Spritzen geben und sie operieren. Pferde und Kühe mußten draußen auf der Straße bleiben, dann brachte Papa seine Behandlungsinstrumente zu ihnen hinaus.

Manchmal brauchte er Hilfe. Es kam vor, daß die Besitzer der Tiere bei der Behandlung nicht zuschauen konnten. Dann mußte jemand aus der Familie helfen. Wenn ich gerade keine Schule hatte, war das meistens ich. Schon als kleines Kind hatte ich damit angefangen und war es daher gewohnt.

Heute war der Patient ein Pferd, das hinkte, weil ihm ein Huf weh tat. Jedesmal, wenn es auf diesen Huf trat, nickte es traurig mit dem Kopf. Der Bauer mußte das Pferd anbinden und den kranken Huf hochhalten.

Papa befühlte den Huf vorsichtig und nahm die Zange. »Ein rostiger Nagel!«

Dann schnitt er die entzündete Stelle mit einem krummen Messer aus und reinigte die Wunde. Ich hielt die Schüssel mit dem sauberen Wasser. Anschließend erhielt das Pferd einen weißen Verband, der mit Teer eingerieben wurde, um ihn dicht und haltbar zu machen.

Nach dem kranken Pferd kam ein Reitpferd, das allerdings ganz gesund war. Stolz und schön stand es da, und das schwarze Fell glänzte in der Morgensonne. Das Pferd sollte verkauft werden, und sein Besitzer brauchte ein Attest, daß es gesund war.

»Oh, darf ich bitte reiten?« bettelte ich.

Der Besitzer war freundlich und hob mich auf das Pferd hinauf. Mir verschlug es den Atem, so herrlich war es, dort oben zu sitzen.

Aber mein Spazierritt sollte nicht lange dauern. Ein hellgelber Blitz schoß über die Straße. Peggy! Sie glaubte, der Mann wolle mich entführen, und packte ihn an der Hose. Erst als ich wieder neben ihr auf dem Boden stand, ließ sie sein Hosenbein los.

Papa ärgerte sich kein bißchen über Peggy, sondern lobte sie, weil sie so gut auf seine Tochter aufpaßte. Ich dagegen machte ein enttäuschtes Gesicht.

»Los, hüpf ins Auto«, sagte er. »Du darfst mich beim nächsten Krankenbesuch begleiten. In anderthalb Minuten geht’s los, das heißt, wenn ich den Karren hier in Gang bringe.«

Wenig später sausten wir aufs Land hinaus. Mit Papa auf Krankenbesuch zu fahren war jedesmal spannend. Keine Fahrt war wie die andere. Manchmal nahmen die Besuche ein trauriges Ende, nämlich dann, wenn die Tiere so krank waren, daß sie geschlachtet werden mußten. Aber meistens machte es Spaß, vor allem dann, wenn die Medikamente sofort wirkten und man beobachten konnte, wie die Tiere aufstanden und wieder fressen wollten.

»Was machen wir heute?« Ich sah Papa erwartungsvoll an.

»Schweine gegen Rotlauf impfen«, antwortete er. »Und dann müssen wir einem kleinen Fohlen helfen, das Verstopfung hat.«

Es waren mindestens zwanzig Schweine, und ein paar von ihnen waren bereits krank und hatten rote Flecken. Die anderen brauchten je eine Spritze, um gesund zu bleiben.

Die Schweine rannten wild durcheinander und schrien ohrenbetäubend. Fremde Leute im Schweinestall – das waren sie nicht gewohnt.

Der Bauer war ruhig und kräftig. Er fing sie der Reihe nach ein und hielt sie hoch, damit Papa die Spritze in ihre runden Schenkel stechen konnte.

Die Schweine zappelten. Die Spritze tat nicht weh, aber sie hatten trotzdem Angst. Wie sollte der Bauer wissen, welches Schwein schon eine Spritze bekommen hatte? Sie sahen ja alle gleich aus und liefen durcheinander. Das war ein Problem, und jetzt kam ich ins Spiel.

Ich stand mit einer Dose Schuhcreme bereit. Jedesmal, wenn ein Schwein geimpft worden war, malte ich ihm einen dunkelbraunen Klecks auf den Rücken. Anstelle von roten Flecken bekam es einen braunen.

Das Fohlen, das Verstopfung hatte, war erst ein paar Tage alt. Auf langen, wackeligen Beinen stand es da und schlug mit dem Schwanz.

Papa holte ein Instrument hervor, das wie eine Schlinge aussah. Damit holte er vorsichtig kleine harte Kugeln aus dem Po des Fohlens. »So, nun schaffst du es alleine«, sagte er und streichelte es am Maul.

Die Mutter, die große Stute, wieherte und sah ihn an. Bestimmt bedeutete das danke schön!

Der Drachenhintern

Zwei rote Augen starrten in meine blauen. Zwei weiße Ohren zuckten ängstlich in die Höhe. Ein rosa Schnäuzchen zitterte wählerisch, bevor es die Löwenzahnblätter anknabberte, die ich ihm reichte.

Das Schnäuzchen gehörte Schneewittchen. Im Nachbarkäfig hauste Dornröschen.

Großvater hatte mir geholfen, die Käfige zu bauen. Aber füttern mußte ich die Kaninchen selbst.

»Wer sich Tiere zulegt«, sagte er, »muß auch dafür sorgen, daß sie sich wohl fühlen.«

Ich hatte lange sparen müssen, um sie kaufen zu können. Sie hatten drei Kronen pro Stück gekostet, und das war viel Geld. Aber Kaninchenbraten war ein Festessen, und jetzt in Kriegszeiten gab es nicht viel Fleisch. Das Geld war also bestimmt nicht verloren. Ich hatte alles sorgfältig ausgerechnet. Wenn jedes Kaninchen zehn Junge bekäme, wäre ich bald reich.

Dann habe ich eine Menge Geld für den Jahrmarkt, dachte ich. Und bestimmt reicht es auch noch dafür, daß ich mir jeden Samstag einen Lutscher bei Bonbon-Stina kaufen kann. Das Wasser lief mir schon im Mund zusammen.

Natürlich beanspruchte das Füttern der Kaninchen viel Zeit. Komisch, daß ein Kaninchen den Bauch voller Jungen haben kann und trotzdem noch für so viel Futter Platz hat, dachte ich. Gras, Löwenzahn und Wasser. In rauhen Mengen. Ich seufzte und rupfte und träumte vom Jahrmarkt. Der Jahrmarkt war das größte Fest des Jahres. Ja, der Jahrmarkt war fast noch schöner als Weihnachten!

Eines Morgens hatte Schneewittchen zehn Junge bekommen. Statt zwei besaß ich nun zwölf Kaninchen! In meinem Kopf wirbelten die Zahlen nur so durcheinander, als ich auszurechnen versuchte, wieviel ich schon verdient hatte. Noch lagen die Jungen nackt und winzig in dem Nest, das Schneewittchen ihnen mit ihren weichen Haarbüscheln warm und schützend ausgepolstert hatte. Die Tage vergingen, aber Dornröschen hockte immer noch in einsamer Pracht in ihrem Käfig.

Schließlich unterzog Großvater sie einer genaueren Prüfung. »Du wirst Dornröschen umtaufen müssen«, sagte er schmunzelnd. »Prinz wäre ein passenderer Name.«

Der Prinz wurde zum Sonntagsbraten. Aber ich brachte nur Erbsen und Kartoffeln runter.

Am Montag sagte Mama: »Heute mußt du gleich nach der Schule heimkommen. Tante Beda will uns mit der kleinen Barbro besuchen.«

Ich stöhnte leise vor mich hin. Tante Beda war sehr streng. Am liebsten verdrückte ich mich, wenn sie kam. Aber Mamas Augen sprachen ihre stumme Sprache. Ich wußte, daß ich gehorchen mußte.

Schweren Herzens radelte ich zur Schule. Und noch schwereren Herzens radelte ich nach Hause.

Tante Beda hatte keine eigenen Kinder. Das war auch der Grund, warum sie so genau wußte, wie man Kinder erziehen mußte. Barbro war ihre Nichte. Sie kam aus Stockholm und sollte einige Zeit bei Tante Beda verbringen. Nun suchte Tante Beda Spielgefährten für Barbro.

Ich hatte mir ungefähr vorgestellt, wie das gräßliche Gör aussehen würde. Aber die Wirklichkeit übertraf meine schlimmsten Vorstellungen. Wie erschlagen stand ich in der Tür und staunte die Erscheinung an, ohne ein Wort herauszubringen.

Im Kino hatte ich einmal ein Mädchen gesehen, das an eine Puppe erinnerte. Das Mädchen hieß Shirley Temple und lebte in Amerika. Jetzt glaubte ich fast, dieses Mädchen wäre aus dem Film gestiegen und hätte auf unserem Sofa Platz genommen.

Barbros Kleid war aus rosa Seide und voller Spitzen und Rüschen, die blonden Korkenzieherlocken waren mit weißen Seidenschleifen geschmückt. Außerdem redete sie vornehm wie alle Leute aus Stockholm. Ich hielt den Mund und nahm mir vor, das heimlich auch zu üben.

»Nimm die kleine Barbro mit und zeig ihr den Garten«, sagte Mama. »Aber gib auf ihr schönes Kleid acht.«

Vorsichtig trippelte Barbro den Gartenweg hinunter. »In Stockholm«, sagte sie, »da gibt’s Parks. Und die sind viel größer als euer Garten.«

Ich schwieg und kletterte hoch in den Birnbaum hinauf. Dort pflückte ich eine große saftige Birne, setzte mich damit gemütlich auf einen dicken Ast und begann zu futtern.

»In Stockholm kann man viel größere Birnen kaufen«, piepste Barbro. »Ich will auch eine haben. Gib her!«

»Wer eine will, muß sie sich selbst pflücken!« brummte ich.

Barbro hievte sich vorsichtig auf den untersten Ast. Sie war noch nie auf einen Baum geklettert. Doch unten gab es keine Birnen. Die hatte ich längst abgeerntet.

»Du mußt höher rauf!«

Es gelang ihr schließlich, sich eine Birne zu angeln. Inzwischen hatte das Kleid einen Riß abbekommen, und ihr Kinn war von klebrigem Birnensaft verschmiert.

»Schmeckt gut«, sagte sie und leckte sich die Lippen. »Aber die Birnen, die man in Stockholm kaufen kann, schmecken viel besser.«

In diesem Augenblick klapperte draußen auf der Straße ein Pferdefuhrwerk vorbei.

»In Stockholm fahren wir mit der Straßenbahn«, stellte sie verächtlich fest, »und nicht mit Pferdewagen.«

Ich schwieg. Eine Straßenbahn – was war das? Die einzige Bahn, die ich kannte, war die Eisenbahn.

Bald war Barbro satt und wollte wieder runterklettern. Ich wußte nicht, was ich ihr noch zeigen sollte.

Das Haus, in dem wir wohnten, war groß und hoch. Ganz unten lagen das Postamt und die Bank. Das Postfräulein war ziemlich sauertöpfisch, also ging ich nur äußerst ungern dorthin.

In der Bank jedoch gab es einen freundlichen Bankvorsteher. Er sah aus wie ein runder männlicher Engel. Und dennoch wurde er allgemein der Drache genannt. Das kam daher, weil er einen Goldschatz hütete, den er in seiner Stahlkammer eingeschlossen hatte.

Jedesmal, wenn die Kinder ihre Sparbüchsen leerten, schenkte der Drache ihnen rotweiß gestreifte Pfefferminzbonbons. Bei diesen Gelegenheiten pflegte er sich selbst auch ein paar zu genehmigen. Dabei schmatzte er ganz unwiderstehlich. Aber richtig sicher fühlten wir uns dennoch nie. Immerhin war es ja möglich, daß er sich über uns ärgern und uns in seine unheimliche Stahlkammer einsperren konnte.

Sollte ich Barbro die Bank zeigen? Ich kletterte zurück auf den Baum und spähte durchs Fenster. Der Drache sperrte gerade die Stahlkammer ab. Um drei schloß er die Bank. Der Drache war sehr pünktlich. Mein Vater hatte schon oft seine Uhr nach ihm gestellt. Aber bevor der Drache nach Hause ging, pflegte er das Klohäuschen hinten im Garten aufzusuchen.

Es war ein schönes, großes Klohäuschen. Wir benutzten es alle. Sonst hatten wir ja keins. Im Winter war es zwar etwas zugig, aber dafür hatten wir es im Sommer um so schöner. Dann konnte man im Häuschen sitzen und dem Vogelgesang lauschen. In Stockholm sind die Klos natürlich in den Häusern, dachte ich verächtlich.

Plötzlich hatte ich eine Idee. »Wenn du ganz still bist, zeig ich dir was, das gibt’s in ganz Stockholm nicht«, flüsterte ich. »Einen echten Drachenhintern.«

Barbro sah mich mit großen Augen an.

Schweigend versteckten wir uns hinterm Klohäuschen.

»Jetzt kommt er!«

Wir hörten den Kies auf dem Gartenweg knirschen. Ein Schlüssel rasselte im Schloß. Wir warteten eine halbe Minute.

»Jetzt kannst du aufmachen!« Ich zeigte auf die Luke in der Rückwand des Klohäuschens.

Und Barbro machte auf. Dann stieß sie einen Schrei aus und ließ die Luke wieder zufallen.

Ich warf mich auf Barbro und brachte sie zum Schweigen. Aber wir mußten uns lange in der Garage verstecken, bevor wir uns wieder hervorwagen konnten.

Inzwischen sah Barbro nicht mehr wie Shirley Temple aus. Ihre Haare waren zerzaust. Ihre Augen funkelten. Sie stampfte mit dem Fuß auf und zischelte mir zu, daß sie petzen werde. Doch plötzlich verstummte sie. Sie hatte den Käfig mit Schneewittchen und den Jungen entdeckt. Kaninchen, so etwas hatte Barbro bisher noch nie gesehen. Nein, nicht einmal im Tierpark! Ich mußte ein Junges rausnehmen und ihr geben.

Sie strich ihm über den Rücken. Dann blickte sie mir in die Augen und sagte: »Das hier gehört mir!«

»Nein, nie im Leben!«

»Dann petze ich!«

Ich hatte keine Wahl.

Es wurde eine teure Angelegenheit. Wie teuer, das begriff ich erst am nächsten Morgen. Als ich runterkam, um Schneewittchen zu füttern, war der Käfig leer. Und das, obwohl der Haken ordentlich vorgelegt war.

Anfangs stand ich einfach stumm davor. Ich kapierte es nicht. Ein Fuchs? Nein, Füchse können ja keine Haken vorlegen.

Dann war es ein Dieb. Ja, klar, aber wer? Kreideweiß vor Zorn lief ich zu Tante Bedas Haus. Ich wurde erwartet. Barbro stand bereits hinterm Zaun.