Pyria - Krieg im Schatten - Elin Bedelis - E-Book

Pyria - Krieg im Schatten E-Book

Elin Bedelis

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Beschreibung

»Das braucht es also, um den unbesiegbaren Messerdämon zu bezwingen…« Pyria ist aus den Fugen geraten. Bedrohungen, die noch gestern unüberwindbar erschienen, wirken im Angesicht der nahenden Dunkelheit und bitteren Verluste wie unwichtige Nebenerscheinungen. In all der Verzweiflung und Aussichtslosigkeit können sich die ehemaligen Weggefährten nur an eine Person wenden. Während alte Vertraute zu Feinden und Gegner zu neuen Verbündeten werden, muss der Messerdämon zusehen, wie ihm seine Ziele aus dem legendären Handschuh gleiten. Seine Vergangenheit holt ihn ein, vergiftet jeden letzten Funken Hoffnung und zwingt ihn erneut zu durchleben, was er für immer hinter sich lassen wollte. Am Ende aller Tage hängt Pyrias Schicksal an einer Frage: Kann Machairi ein letztes Mal das Unmögliche möglich machen? Das große Finale der Pyria-Trilogie!

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Seitenzahl: 1258

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Elin Bedelis

Pyria

III. Krieg im Schatten

Elin Bedelis

Pyria

Krieg im Schatten

High Fantasy Roman

Dieser Titel ist auch als Taschenbuch erschienen

Vollständige Taschenbuchausgabe

Deutsche Erstausgabe

Text: © 2022 Copyright by Elin Bedelis

Cover-Illustration: © 2022 Copyright by Maren Gloger

Verantwortlich für den Inhalt:

Elin Bedelis

c/o Block Services

Stuttgarter Str. 106

70736 Fellbach

[email protected]

Druck: epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

Lektorat: Irina Siefert

Korrektorat: Ida Salingré

Content Notes

Für meine Familie,

danke für eure Unterstützung

auf dem Weg nach Pyria!

24/Reh/3949

Wenn sie so weitermacht, werde ich sterben.

Familienfrühstück

Der Baldachin über dem Himmelbett war mit Rosenschnitzereien versehen. Hölzerne Blüten rankten sich über Koryphelias Kopf zu einem beeindruckenden Muster. Es kam ihr vor, als hätte sie die aufwändige Arbeit nie zuvor so genau betrachtet. Winzige Blüten formten sich zu gewaltigen Sträußen und filigrane Blätter bildeten Muster, in denen sie plötzlich so viele andere Dinge zu erkennen glaubte. Noch nie war es ihr so unruhig und erschlagend vorgekommen wie in dieser Nacht. Sie hatte im Licht einer Kerze geschlafen, aber es hatte die Albträume nicht zurückhalten können. Jede Nacht schienen sie schlimmer und lebhafter zu werden, die Bilder waren täuschend echt und die abstrakten Geschehnisse gewannen mehr und mehr an Realismus. Es war beängstigend und immer wieder fuhr die Prinzessin aus dem Schlaf. Wann immer sie sich dann in die weichen Kissen zurücksinken ließ, fürchtete sie das Einschlafen.

Nachdem ihre Schlafplätze in den letzten Wochen von unbequemen Betten und Schiffskojen über Böden und Felle bis zur Hand eines Seemonsters gereicht hatten, kam ihr die hochwertige Matratze ihres Palastbettes plötzlich viel zu weich vor. Sie glaubte, in der flauschigen Masse zu versinken und von federnen Wogen verschluckt zu werden. Zwischenzeitlich überlegte sie gar, sich einfach auf den Boden vor dem Bett zu legen, aber das unsinnige kindliche Gefühl, im Bett etwas sicherer zu sein, ließ sie nicht los und so blieb sie in die Decken gekuschelt und sah nun schon, seit die ersten Sonnenstrahlen durch das Fenster hineinfielen, dabei zu, wie sich der Raum langsam mit Tageslicht füllte.

Es war seltsam gewesen, hierher zurückzukehren. Kendra hatte ihr am Vorabend schon vor ihrer Ankunft ein Bad eingelassen – wobei sie nicht sicher war, ob die Sklavin Eigeninitiative gezeigt hatte oder ob auch das Machairis Weisung entstammte. So hatte sich die Prinzessin von Cecilia zunächst darauf konzentriert, die schlecht verteilte Farbe aus ihren Haaren zu waschen. Vollständig war es nicht gelungen. Manche Strähnen waren noch immer von einem ungleichmäßigen, schmutzigen Braun, aber es war schon viel besser geworden. So beständig war die provisorische Färbung dankenswerterweise nicht. Nach dem Bad hatte sie eines ihrer alten Nachtgewänder angezogen, das ihr nun beträchtlich zu weit war, aber nach einem Blick in den Spiegel hatte sie zumindest das Gefühl, dass sie sich selbst wiedererkennen konnte.

Trotzdem konnten die gewohnten Kleider und das nun fast wieder blonde Haar nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Fünfzehnjährige verändert hatte, seit sie aus Om’falos Palast geflohen war. Müdigkeit und besorgte Angst zeichneten gut sichtbar ihr Gesicht, von ihrem hageren Körper ganz zu schweigen. Mager und knochig waren ihre Extremitäten geworden und ihre Rippenbögen stachen beunruhigend unter dem weiten Nachtgewand hervor. Zum Glück bedeckten die Ärmel immerhin das schwarze Mal, das unheilvoll direkt unter der Schulter an ihrem rechten Arm prangte. Den Schnitt an ihrem linken Arm hingegen konnte das Gewand nicht verdecken.

Gedankenverloren hob Koryphelia ihn in ihr Blickfeld und fuhr vorsichtig mit dem Daumen der rechten Hand über den bereits fast verheilten Schnitt, der sich hauchfein über den Unterarm zog. Der Beweis, dass ihr Vater ein Hochstapler war. Der Beweis, dass sie einen Titel trug, den sie nicht haben durfte. Der Beweis, dass ihr ganzes Leben eine Lüge war. Wie sollte sie ein göttergefälliges Leben führen, wenn alles, was sie war und hatte, auf einer Unwahrheit aufgebaut war? Wie sollte sie jemals Ebos‘ Gewalt entgehen, wenn sie nicht die Gunst der anderen Götter erlangen konnte? Der Gedanke trieb sie um, seit sie die Unterwelt verlassen hatte, und die Angst zog sich mit jedem Tag zu einem engeren Knoten in ihrer Brust zusammen.

Vor dem Fenster begannen die kleinen blauen Vögel zu zwitschern, die an den Burgmauern nisteten. Sie ahnten nichts von der Verzweiflung, der sich die Prinzessin nicht entziehen konnte, oder von den Krisen, denen das Volk gegenüberstand. Hätte der heraufziehende Tag doch nur etwas Frieden bringen können. Stattdessen würde sie sich heute mit ihrem Vater auseinandersetzen müssen. Vor diesem Gespräch grauste es ihr nun schon, seit sie Om’falo verlassen hatte. Die Tatsache, dass sie nun weit Wichtigeres und Schlimmeres zu bereden hatten als ihre Flucht vor einer Hochzeit mit Hareths Prinzen, machte es nur schlimmer. Koryphelia schluckte. Sie musste ihren Vater überzeugen, dass er seinen Thron an eine alte Dame abgeben musste, weil sein Vater ihn von ihr gestohlen hatte. Leider konnte sie nicht im Entferntesten einschätzen, wie Thredian darauf reagieren würde.

Als sie es im Bett nicht mehr aushielt, schlug Koryphelia die wärmende Decke zurück und suchte in ihrem Schrank nach einem Kleid. Es erinnerte sie unschön an ihren ersten Albtraum nach der Unterwelt und sie schob den Gedanken hastig beiseite. Eigentlich hätte sie leicht nach Kendra läuten können, aber je schneller das neue Dienstmädchen wieder bei ihr war, desto eher würde sie sich wieder unter Beobachtung fühlen. Jede ihrer Regungen mochte an Machairi weitergegeben werden. Außerdem hätte Kory lieber ihr altes Dienstmädchen zurückgehabt, vorausgesetzt, dass der König ihr nicht die Schuld am Verschwinden der Prinzessin gegeben hatte. Mit einem Schlucken nahm Koryphelia sich vor, noch heute zu überprüfen, ob es Milina gutging. Der Gedanke, dass die Flucht vor ihrer Hochzeit dem anderen Mädchen Schaden zugefügt haben mochte, war ihr schon früher gekommen, aber sie hatte ihn erfolgreich fortgeschoben. Nun würde sie sich allerdings damit auseinandersetzen müssen.

Gerade hatte sie sich in das Kleid gekämpft und dazu durchringen wollen, doch an dem Samtband zu ziehen, das die Glocke läuten würde, um eine Bedienstete zu rufen, da klopfte es bereits an der Tür. Koryphelia atmete tief durch und straffte sich. Es wäre ihr lieber gewesen, wenn das Kleid noch so gut gepasst hätte wie vorher. Leider war es nun ein ganzes Stück zu weit. »Herein«, versuchte sie möglichst gefasst und kühl zu sagen und blickte erwartungsvoll auf die Tür. Sie verkniff es sich, auf ihren rechten Ärmel zu schielen, ob das Mal sich auch wirklich nicht unter dem Stoff abzeichnete. Das hatte sie bereits mehrfach genausetens inspiziert.

Die Tür öffnete sich und gleich zwei Bedienstete standen vor der Tür. Etwas rückwärtig stand Kendra und warf einen prüfenden Blick in den Raum. Die andere Person war ein junger Mann, dessen schwarze Uniform mit blauem Wappen ihn eindeutig als direkten Lakaien des Königs auszeichnete. Hätte sie sein Aussehen in einem Wort beschreiben müssen, hätte sie vermutlich ordentlich gewählt. Nicht eine Haarsträhne war verrutscht, keine Falten verunstalteten die makellose Uniform und selbst der kritischste Betrachter hätte wohl nicht die kleinste Ungleichmäßigkeit im Auftreten dieses Dieners finden können. Nach Wochen unter Bienen erschien der Prinzessin dieses Auftreten geradezu befremdlich und sie fragte sich unwillkürlich, ob dieser Mann besonders ordentlich war oder ob sie es schlicht nicht länger gewohnt war.

Der Blick des Mannes fuhr kurz suchend über das ungemachte Bett, bevor er Koryphelia erblickte. Dann verneigte er sich ebenso ordentlich, wie alles andere an ihm war, und sorgte damit dafür, dass sich die Prinzessin unangenehm an ihre unselige Situation erinnert fühlte. »Guten Morgen, Hoheit. Seine Majestät wünscht, Euch im kleinen Speisesaal zu treffen«, informierte er sachlich.

Koryphelia atmete tief durch. Sie hielt die Hände aneinander fest, um sie vom Zittern abzuhalten, und versuchte nicht allzu verschreckt auszusehen. »Gut. Danke«, brachte sie hervor, darauf bedacht, das Beben aus ihrer Stimme zu verbannen. »Kendra, wir sollten uns beeilen«, fügte sie dann hinzu, in der Hoffnung, dass es den Diener aus dem Raum scheuchen würde.

Wenig später schritt die Prinzessin über die Flure des Schlosses. Kendra hatte offensichtlich nicht viel Erfahrung im Stecken von Frisuren und auch über die Tatsache, dass das Kleid nicht mehr saß, hatten sie nicht hinwegtäuschen können. So fühlte sich Koryphelia nun nicht nur unwohl in ihrer unrechtmäßigen Rolle, sondern auch noch unvollständig in ihrem Aufzug. Sie wusste noch nicht, wie sie das Aufeinandertreffen mit ihrem Vater überdauern sollte. Schon jetzt bröckelte ihre Fassung bedenklich und eine Strategie hatte sie auch noch immer nicht. Trotzdem stand sie nun vor der Tür zum kleinen Speisesaal und hörte ihren Herzschlag viel zu laut in ihren Ohren hallen.

Man öffnete ihr die Tür und fast geräuschlos schwangen beide Flügel auf. Der Raum dahinter war ein gemütlicher kleiner Saal mit einem langen Tisch. Viele Mahlzeiten hatte sie darin bereits zu sich genommen und doch kam es ihr nun vor, als würde sie sich auf unbekanntes Terrain wagen. Vorsichtig trat sie durch die Tür. Die hohe Freskendecke sah bedrohlich auf sie hinab und dann fiel ihr Blick auf den Mann, der am Kopfende der Tafel saß und ihr entgegenblickte.

Obwohl er es nie zugegeben hätte, war Thredians blondes Haar bereits ergraut. Hier im Speisesaal ohne öffentlichen Zugang hielt er es allerdings nicht unter einer Krone verborgen. Nach seinem Wutausbruch am Vortag, als die Faust Kory im Thronsaal mit einem Messer bedroht und ihre Belohnung eingefordert hatte, hatte die Prinzessin nicht erwartet, ein Lächeln auf den Lippen ihres Vaters zu sehen. Doch er erhob sich, als sie eintrat und sich ihrer Manieren genug erinnerte, um einmal zu knicksen, und lächelte sie breit an. »Koryphelia! Liebes.« Einladend breitete er die Arme aus. »Willkommen zuhause!«

Einen Augenblick lang zögerte das Mädchen, doch dann machte sie einen Schritt vor. Dann noch einen. Immer schneller eilte sie an dem langen Tisch entlang, überwand den Abstand zwischen ihnen und warf sich in seine Arme. Es war vieles passiert, was sie gerne vergessen hätte, was zwischen ihnen stand und was den Keil noch weiter zwischen sie treiben würde. Trotzdem war dieser Mann noch immer ihr Vater und sie hatte ihn vermisst. Es war eine herrliche Erleichterung, als er die Arme um sie schloss, und für einen behaglichen kurzen Moment fühlte sie sich auf diese besondere Weise beschützt und sicher, wie man sich nur in den Armen der Eltern fühlen konnte.

Thredian drückte seine Tochter eng an sich und schien nicht vorzuhaben, sie so schnell wieder loszulassen. »Ich bin froh, dass du wohlauf bist«, hörte Koryphelia ihn schließlich dicht neben ihrem Ohr sagen. »Hat dieser Verbrecher dir etwas angetan?«, fragte er dann und schob sie ein kleines Stück von sich, um sie zu betrachten.

Kory biss sich auf die Unterlippe. Machairi hatte sie aus dem Palast in Om’falo durch die Kanalisation hinausgeschmuggelt, Zedians Männer mit einem Seemonster davon abgehalten, sie zurückzubringen, sie auf eine Insel ans andere Ende der Welt gebracht und dann mit in die Unterwelt gezerrt. Dort hatte er ihr gezeigt, dass ihre Familie kein Anrecht auf den Thron von Cecilia hatte, und dann hatte der Gott der Unterwelt persönlich von ihr Besitz ergriffen. Seither trug sie sein dunkles Mal und hatte sich allein mit der Faust um die halbe Welt retten müssen, war erneut in die Hände des Seeungeheuers gefallen und hatte sich hungernd an der Küste entlanggeschmuggelt, bis sie in das Armenviertel von Kefa zurückgekehrt war. Rückblickend hätte sie nichts davon erleben wollen und nichts wäre passiert, wenn Machairi nicht gewesen wäre. Trotzdem hatte sie sich niemals auch nur mit einem Satz gewehrt, hatte ihn sogar gebeten, ihr zu helfen. Hatte er ihr also etwas angetan? Langsam schüttelte sie den Kopf.

Prüfend musterte der König sie von Kopf bis Fuß, als könnte er ihr einfach vom Körper ablesen, was ihr geschehen war. Wieder wurde sich die Prinzessin ihrer unsauber gefärbten Haare und ihres mangelnden Körperfetts bewusst. Sie wollte gar nicht wissen, was ihr kritischer Vater noch alles sah. »Bist du entehrt worden?«, fragte er dann und brachte seine Tochter zum Zusammenzucken.

Die Vorstellung war so abstrus, neben allem, was tatsächlich geschehen war und in Anbetracht von Machairis eiserner Distanziertheit, dass sie fast gelacht hätte bei der Vorstellung. Fast. »Nein! Niemals!«, stellte sie möglichst bestimmt klar. Je weniger Gerüchte entstanden, desto besser. Es würden schon genügend Hässlichkeiten über die Zeit seit ihrer vermeintlichen Entführung in Umlauf sein. Sie mussten nicht auch noch bei ihrem Vater anfangen.

Thredian atmete erleichtert auf. »Sehr gut. Dann ist noch nichts verloren.« Zufrieden trat er zurück und ließ sich wieder auf seinen Stuhl sinken. »Vielleicht hat uns dieser vermeintliche Dämon sogar einen Gefallen getan. Immerhin hat Zedian nun zweitausend Drawken in dich investiert und damit sicher ein stärkeres Interesse an der Hochzeit.« Zufrieden stieß er seine Gabel in einen Geflügelschenkel. »Setz dich, Koryphelia. Du siehst aus, als bräuchtest du dringend ein paar ordentliche Mahlzeiten.«

Seine Worte klangen nach ehrlicher Fürsorge, aber Kory war zu beschäftigt damit, ihren Vater fassungslos anzustarren. »Ich war wochenlang fort und das Erste, woran du denkst, ist, mich weiter mit Zedian zu verheiraten?«, entfuhr es ihr und sie machte einen Schritt zurück, anstatt sich auf den Stuhl zu setzen, auf den ihr Vater deutete.

Der König ließ seine Gabel wieder sinken. »Koryphelia, an dieser Stelle waren wir schon einmal. Diese Hochzeit ist ein strategisch kluger Schachzug, jetzt mehr als je zuvor. Noch kann alles nach Plan laufen und dann bist du schneller wieder hier, als du denkst. Außerdem bringen wir dich aus der direkten Gefahr, der du hier scheinbar ausgesetzt bist, und im Idealfall wirst du sogar schwanger und kannst einen Anspruch als Hüterin des Throns in Hareth geltend machen, wenn der Krieg vorbei ist.«

Die Prinzessin klappte den Mund wieder zu. Das Schlimmste war, dass sie ihrem Vater sogar glaubte, dass er wirklich dachte, dieser Plan sei hervorragend. Für einen kurzen Moment dachte sie sogar daran, dass eine Hochzeit mit Hareths Prinzen ihr vielleicht die einzige Möglichkeit bieten würde, den Wohlstand zu leben, den sie als Kind gewohnt gewesen war. Sie war nicht gemacht für ein bescheidenes Leben, das hatte die Faust schon ganz trefflich festgestellt, aber sie würde ihren Vater trotzdem davon überzeugen müssen, seinen Thron abzugeben. Wie war dieses Gespräch nach weniger als einem Satz so aus dem Ruder gelaufen, dass sie gar nicht mehr zählen konnte, an wie vielen Stellen gerade etwas falsch lief?

Sie versuchte sich zu fassen und tief durchzuatmen. Mit Empörung würde sie nicht weiterkommen. Langsam ließ sie sich also doch auf den Stuhl sinken, den ihr Vater ihr gewiesen hatte. »Wir können keinen Krieg anzetteln«, begann sie schließlich, weil ihr das auf makabere Weise der einfachste Anfang zu sein schien. »Wir haben doch gar nicht das Geld oder die Ressourcen, jetzt so kurz vor dem Autram, und sind die Beziehungen zu Hareth nicht viel zu wichtig, um jetzt einen Krieg anzufangen?«, versuchte sie möglichst logisch und erwachsen an ein Thema heranzugehen, das für sie eigentlich nur eine Lösung hatte. Sie wollte keinen Krieg. Die Menschen wollten keinen Krieg. Was sollte es also bringen, einen zu führen?

»Koryphelia!« Der tadelnde Tonfall ihres Vaters brachte die junge Prinzessin dazu, den Kopf einzuziehen. Sie hasste es, wenn er so strafend mit ihr sprach. »Erlaube dir kein Urteil über Dinge, von denen du nicht das Geringste verstehst«, ermahnte er sie und widmete sich weiter seinem Frühstück. »Wir haben die nötigen Vorbereitungen schon vor einiger Zeit in die Wege geleitet. Sei unbesorgt«, fügte er dann in weniger scharfem Tonfall hinzu, als wollte er ihre Heimkehr nicht sofort mit einem Streit überschatten.

»Was ist mit den ärmeren Menschen unten in der Stadt und auf dem Land?«, versuchte Kory es aus einem anderen Winkel. »Werden die nicht noch stärker leiden, als die kalte Jahreszeit es ihnen ohnehin schon abverlangt, wenn wir unter Kriegsbedingungen leben?« Sie erinnerte sich an das Elend unten in den Straßen, an die kleinen Höfe, an denen sie vorbeigelaufen war, und wie das Leben dort schon jetzt ablief. Diese Menschen konnten sich keinen Krieg leisten.

Etwas zu energisch knallte der König sein Messer auf den Teller. »Nun ist es aber genug«, befahl er. Seine Fassade aus huldvoller Entspannung bröckelte. »Hör auf, dir Bedenken auszudenken, nur um dich vor der Hochzeit zu drücken. Du wirst genug Zeit haben, dich von deinem Unglück zu erholen, und dann wirst du den Sultanssohn heiraten!«

Empörung wallte erneut durch Korys Magen und nur knapp hielt sie sich davon ab, die Fassung zu verlieren wie schon beim ersten Mal. Mühsam zwang sie sich zur Ruhe. Dieser Ansatz funktionierte nicht. Sie atmete tief ein. »Ich will mich gar nicht kategorisch gegen diese Hochzeit wehren«, lenkte sie schließlich ein, um die Wogen zu glätten. Über diese verdammte Hochzeit konnte sie später nachdenken. Wenn ein göttergefälliges Leben bedeutete, einen Fremden zu heiraten, dann würde sie das eben tun, das hatte sie schon vor einiger Zeit beschlossen. Es war nur nicht das Problem hier und es gab wohl keine Möglichkeit, weiter darum herumzureden. »Wir haben aber viel gewichtigere Probleme«, begann sie deshalb.

Thredian schnitt ihr das Wort ab. »Ich will nichts mehr von hungernden Bienenkindern und harten Schneezeiten hören, Koryphelia«, warnte er mühsam beherrscht. »Damit hast du nichts zu tun. Lass uns einfach genießen, dass du wieder hier bist und alles in geregelten Bahnen verlaufen kann.«

Koryphelia schloss die Augen. Die Worte rollten ihr nur schwer von der Zunge und das Licht, das durch bunte Glasfenster in den Saal fiel, schien sich zu verdunkeln. »Kann alles in geregelten Bahnen verlaufen, wenn wir eine Lüge leben?«, fragte sie schließlich leise. Zunächst hatte sie scheu auf ihren leeren Teller gestarrt, aber jetzt hob sie den Blick, um die Reaktion ihres Vaters zu sehen. Der sah sie an, als wäre er nicht sicher, was sie gerade gesagt hatte. Verständnislos musterte er sie und sie fragte sich, ob er bereits ihren Verstand in Frage stellte. »Ich habe kein Anrecht, eine Prinzessin zu sein.« Erneut musste sie tief Luft holen. Der nächste Satz fühlte sich an, wie eine Lawine ins Rollen zu bringen. Sobald sie die Worte ausgesprochen hatte, würde es kein Zurück mehr geben. »Du bist kein rechtmäßiger König.«

Die Worte fielen in Stille.

Als verginge die Zeit plötzlich langsamer, konnte sie schleichend dabei zusehen, wie sich die Überraschung auf den Zügen des Königs schrittweise zu bodenloser Wut wandelte. Der falsche König von Cecilia war stets eine mögliche Gefahr, aber wenn er wütend wurde, war er geradezu furchteinflößend. Koryphelia hasste die Wut ihres Vaters und ihr Leben lang hatte sie sich darunter kleingemacht. Auch jetzt hätte sie am liebsten die Flucht ergriffen und sie spürte, wie Adrenalin durch ihre Adern schoss.

Die Stimme des Königs bebte, als er seine Überraschung endlich so weit überwunden hatte, dass er sprechen konnte. »Ich hatte fast erwartet, dass man versuchen würde dich zu korrumpieren. Aber egal, was dir widerfahren ist: Es rechtfertigt nicht, dass meine eigene Tochter Hochverrat begeht!« Seine Stimme wurde immer aufbrausender, während er sprach. Es hätte die Prinzessin nicht gewundert, wenn wütende Funken gestoben oder ein Donnergrollen ertönt wäre.

Koryphelia presste die Lippen aufeinander. Ein Schuldgefühl hielt ihre Eingeweide in einen Schraubgriff und plötzlich wallte Zweifel auf. War sie sich sicher? Konnte sie ihrem Vater tatsächlich vorwerfen, ein falscher König zu sein? Hatte sie ein Recht dazu? Als wollte es sie an seine Existenz erinnern, intensivierte sich der dauerhafte Schmerz des dunklen Mals an ihrer Schulter etwas mehr und wie automatisch fuhren ihre Finger zu dem schmalen Schnitt, der ihren Unterarm zierte. Ja, sie war sich sicher. »Es ist kein Hochverrat, wenn es die Wahrheit ist«, wagte sie schließlich zu flüstern, zog den Kopf jedoch weiter ein und duckte sich weg, als könnte ihr Vater ihr sonst mit bloßen Händen den Kopf abschlagen.

»Dieser Katara hat dich mit seiner dreckigen Magie indoktriniert. Meine Tochter würde niemals etwas Derartiges von sich geben!« Thredian war aufgesprungen und stieß in einer unwirschen Geste einen Krug vom Tisch. Mit einem lauten Scheppern zerschellte er am Boden und eine blutrote Flüssigkeit breitete sich über den Fliesenboden aus.

Nun wurde auch Koryphelia wütend. Natürlich fand er einen Weg, der Magie die Schuld zu geben. Die hatte doch mit alldem hier gar nichts zu tun! War es nicht schon schlimm genug, dass ein Harethi irgendwie damit zusammenhing? Musste er nun auch noch das zweite Feindbild einbringen? War denn irgendetwas an ihrem alten Leben keine Lüge gewesen? »Es war nicht nötig, mich zu verzaubern!« Sie erhob sich, um auf Augenhöhe zu sein, und vielleicht auch, um im Zweifelsfall flüchten zu können. Ihr Vater sah nämlich aus, als hätte er sich am liebsten auf sie gestürzt und sie erwürgt. »Ich habe Beweise gesehen und wurde überzeugt. Großvater hat sich den Thron mit einer Intrige erschlichen!« Die Worte taten noch immer weh und zu ihrem eigenen Entsetzen entrang sich ihrer Kehle ein Schluchzen. Vor lauter Wut hatte sie gar nicht gemerkt, wie verzweifelt sie schon wieder war. Wo war denn das Gefühl von Sicherheit hin, das sie eben noch in seiner Umarmung gefunden hatte?

»Jeden Beweis kann man fälschen!« In einer weiteren energischen Geste schleuderte er einen Teller mit aufwändig angerichteten Fleischkeulen vom Tisch, um seiner Wut Luft zu machen. »Wie kannst du dich meine Tochter nennen, wenn du solch plumpe Propaganda glaubst?«

Die schlagartige Erinnerung an die Unterwelt, an die schicksalhafte Tür und Ebos‘ schaurige Präsenz bereiteten ihrer Wut und dem aufgebauschten Schuldgefühl ein jähes Ende. Sie erinnerte sich an die Schwermütigkeit und die Angst und wie grausam es an diesem Ort gewesen war. Traurig sah sie ihren Vater an. Er hatte es nicht ausdrücklich geleugnet. Er hatte sich nur darüber aufgeregt, dass sie es aussprach. »Ich hatte gehofft, du hättest es nicht gewusst«, murmelte sie und schloss die Augen.

»Diese Gerüchte verfolgen mich schon, seit ich den Thron bestiegen habe, Koryphelia«, fuhr ihr Vater sie an. Kam es ihr nur so vor oder flaute seine Wut ab, als der Gedanke an Ebos‘ Reich ihrer Wut den Wind aus den Segeln nahm? »Wir dürfen nicht zulassen, dass Menschen wie dieser, dieser … Dämon selbst uns gegeneinander aufbringen. Wir sind Familie. Du musst zu mir halten!« Es sollte eine Forderung sein, aber für die junge Frau klang es fast wie eine verzweifelte Bitte. Es tat ihr weh, sie ihm auszuschlagen.

»Es ist Unrecht, Vater«, flüsterte sie und sah ihn ihrerseits flehend an. Vielleicht konnte sie ihn doch erreichen. Vielleicht konnte sie etwas ausrichten. Vielleicht.

Thredian wandte den Blick ab. »Selbst wenn dein Großvater kein legitimierter Erbe des Königs gewesen sein sollte«, begann er, deutlich um einen harten Tonfall bemüht. »Was sollte es jetzt noch für einen Unterschied machen? Unsere Familie ist das neue Königsgeschlecht. Irgendwer muss schließlich über Cecilia regieren oder willst du verlangen, dass ich unser schönes Reich diesem Harethispross in die Hand gebe?«

Es tat ihr schrecklich leid, dass sie seine rhetorische Frage beantworten musste. »Nein. Du kannst abdanken, um den Thron für die Tochter des damaligen Königs, die rechtmäßige Erbin freizumachen«, sagte sie leise. Sie wusste, dass es vergebens war. Sie hatte es von Anfang an gewusst. Jetzt sah sie ihren Vater an, sah die Wut in seinen Augen und eine tiefergehende Verzweiflung, die ihm unterschwellig anhaftete.

Der König schnaubte. »Du bist zu leichtgläubig, Kind. Die müsste doch inzwischen uralt sein und der König hatte nur einen Sohn, der vermutlich nicht einmal die Nacht des Putsches überlebt hat.« Thredian schüttelte den Kopf.

»Sie ist ziemlich alt. Aber sie lebt und sie ist hier. Ihre Mutter war gar nicht in der Stadt, während der Putsch stattfand, und konnte einem Attentat entfliehen«, versuchte Koryphelia die verworrene Geschichte nach ihrem besten Wissen zu erklären. Die kurze Zusammenfassung, die sie von der alten Dame erhalten hatte, war nicht wirklich ausreichend, um alle Lücken zu schließen, aber sie hatte jedes Wort geglaubt.

»Selbst wenn das wahr wäre… Sie hätte ihren Anspruch vor siebzig Jahren durchsetzen müssen.« Trotzig wie ein Kind schob ihr Vater den Unterkiefer vor. »Wir werden nicht wieder davon sprechen, Koryphelia. Diese Frau ist steinalt und hat vielleicht gar die perversen Katarakräfte ihres Vaters geerbt. Es hatte schließlich einen guten Grund, dass man ihn von seinem Amt befreit hat. Ich hingegen habe einen Erben, Erfahrung und die Unterstützung des Volkes. Weder für uns noch für das Reich sollte eine gebrechliche Frau auch nur in Betracht gezogen werden. Ich will nichts mehr davon hören, Koryphelia. Wir werden diese Unterhaltung vergessen.« Damit war das Thema für ihn beendet. Überraschenderweise schien er immerhin beschlossen zu haben, keine Bestrafung für seine verräterische Tochter zu verhängen. Das mochte dem unangenehmen Wahrheitsgehalt ihrer Anschuldigungen oder auch der Erleichterung über ihre Heimkehr geschuldet sein. Es erleichterte Koryphelia jedoch mehr, als sie zugegeben hätte. Er ließ sich zurück auf seinen Stuhl sinken, schluckte die Reste der Wut herunter und widmete sich dem Teil des Frühstücks, den er nicht auf den Boden gewischt hatte.

Vorerst musste Koryphelia kapitulieren. Ihr fielen keine Argumente ein, denen ihr Vater jetzt noch Gehör geschenkt hätte, und sie musste zugeben, dass sie nicht wusste, was geschehen sollte, wenn Ila erst auf dem Thron saß. Lange hatte die uralte Frau sicher nicht mehr zu leben und es war nie die Rede von ihrer Nachfolge gewesen. Vielleicht hatte ihr Vater sogar recht, dass er besser geeignet war, auf dem Thron zu bleiben. Wäre ihr das doch nur nicht so blasphemisch vorgekommen, die von den Göttern gewählte Familie zu usurpieren. Vielleicht hätte sie dann einfach aufgegeben und einen Weg gefunden, um zu ihrem alten Leben zurückzukehren, doch dafür brannte das schwarze Mal zu stark an ihrem Oberarm. Es musste einen Weg geben. Sie konnte nur hoffen, dass Machairi nicht allzu schnell die Geduld verlor.

Eine Weile frühstückten sie schweigend. Koryphelias Magen war so zugeschnürt, dass sie kaum einen Bissen herunterwürgen konnte. Ganz langsam aß sie vorsichtig eine kleine Portion, mied den Blick ihres Vaters und wusste nicht, wie sie weiter vorgehen sollte. Irgendwann hielt der König die Stille nicht mehr aus. »Ich habe Vorbereitungen treffen lassen, damit du heute etwas mit Zedian unternehmen kannst. Wie wäre es mit einer Partie Zerenit zum Kennenlernen?« Es klang wie ein Vorschlag, aber Koryphelia war sich sicher, dass es sich mehr um einen Befehl handelte. Sie hasste Zerenit. Sie war schlecht darin und sie hatte auch wenig Interesse daran, Zedian irgendetwas preiszugeben. Trotzdem nickte sie. Widerspruch war ohnehin zwecklos und noch einen Streit am frühen Morgen brauchte sie auch nicht. Blieb nur zu hoffen, dass Zedian keine taktlosen Fragen stellen würde.

67/Reh/3949

Sie kann an nichts als Rache denken. Dem kann ich nicht genügen.

Der Zylontempel

Der Tempel des Göttervaters Zylon erhob sich stolz in den wolkenverhangenen Himmel. Acht weiße Marmorsäulen muteten wie ein gewaltiger Pavillon an und filigrane Verzierungen rankten sich schmuckvoll darum. Die Wände des Monuments waren nach außen jeweils mit dem Zeichen einer der Gottheiten versehen. Über der Flügeltür des Eingangs thronte natürlich Zylons achtzackiger Stern. Fasziniert hatte die Harethi den Kopf in den Nacken gelegt, während ein scharfer Wind an ihren Kleidern riss, und blickte zu den Wasserspeiern an der Dachkante empor, die aus verzerrten Fratzen auf die Stadt hinabblickten. Leén hatte nie einen Tempel besucht, obwohl ihr Vater selbst ein Gott war. Auch die wenigen Tage, die sie vor einer schieren Ewigkeit allein in der Hauptstadt des fremden Kontinents verbracht hatte, um die Behörden um die Freilassung ihres Vaters zu ersuchen, hatten sie nicht an diesem Gebäude vorbeigeführt. So war der Anblick nun unbestreitbar atemberaubend und andächtig blieb das Mädchen stehen, um die Pracht des kunstvollen Baus zu bewundern. Die Cecilian waren wahrlich wahnsinnig gute Baumeister. Es war nur schade, dass sie dieses prächtige Götterhaus nicht aus einem angenehmeren Anlass besuchte.

Der Steinmetz, den Machairi für den Sarg verpflichtet hatte, war nach Gwyns Beschreibung beinahe in Ohnmacht gefallen, als er gehört hatte, was für eine Aktion der Messerdämon plante. Der Feuerspucker hatte jedoch auch berichtet, dass der Mann eine perverse Menge an Drawken ausgezahlt bekommen hatte, dafür, dass er einen fertigen Sarg umarbeitete und keiner Menschenseele davon erzählte. Zwei Tage hatte er verlangt und so würde Ila schon am nächsten Tag beigesetzt werden können. Wie genau Machairi das plante, ohne die halbe Stadt auf den Plan zu rufen, war Leén schleierhaft, aber sie hatte selbstverständlich nicht widersprochen.

Aktuell wagte sie sich ohnehin kaum in Machairis Nähe. Er hatte die Leiche der freundlichen alten Dame in die Katakomben hinabgetragen und dann war er verschwunden. Es war keine weitere Biene in der Nacht gestorben und Gwyn und Leén waren sich einig, dass das sein Verdienst gewesen sein musste. Wie viele Soldaten stattdessen ihr Leben gelassen hatten, wussten sie nicht. Vielleicht wollte sie es auch lieber nicht wissen, denn mit dem frühen Mittag des Folgetages waren die Angriffe ausgeblieben. Keine ganze Nacht hatte es also gedauert, bis der König daran gescheitert war, Machairi zum Aufgeben zu zwingen, indem er die Leben der Bienen bedrohte. Der Messerdämon war noch frei, aber die Nacht hatte ihn verändert.

Leén hatte gedacht, dass sie sich offenere Regungen bei ihm wünschte, dass es angenehm sein könnte, wenn man wenigstens den Hauch einer Emotion bei ihm fand. Doch jetzt war der unerschrockene Mann irgendwo im tiefsten Inneren zerrüttet. Es war furchteinflößend in seiner Nähe, auch wenn sie es nach allem, was zuvor geschehen war, nur schwer zugeben konnte. Eine so schmerzverzerrte Wut brannte in seinen Augen, dass sie seinem Blick noch weniger standhalten konnte als sonst, und plötzlich wirkte er unaufgeräumt und unstet. Sie konnte nicht einmal ganz sagen warum, denn äußerlich und auch im grundlegenden Verhalten schien sich kaum etwas verändert zu haben. Trotzdem wirkte es, als sei seine Beherrschung verrutscht, als wäre sein Wahnsinn plötzlich greifbarer. Vielleicht lag das auch daran, dass sie miterlebt hatte, wie er neben Ilas Leiche die Fassung verloren hatte. Bebend und tränenüberströmt hatte er die erschlaffte Hand umklammert gehalten, bis er plötzlich wankend aufgestanden war, ohne auch nur einen Blick auf die andauernden Kämpfe um ihn herum zu werfen, und den leblosen Körper fortgetragen hatte.

Seitdem hatte sich Leén bemüht, die gespannte Situation nicht weiter auszureizen, hatte kein Gespräch über ihre berauschende Intimität vor dem Desaster ersucht und sich gerne bereiterklärt, an Gwyns Stelle schon einmal den Zylontempel zu erkunden. Das hatte allerdings auch mit Eigeninteresse zu tun gehabt, denn sie hatte die entfernte Hoffnung, dass sie hier etwas mehr über ihre Familie herausfinden konnte. Vielleicht hoffte sie gar auf etwas wie eine göttliche Eingebung. Der Göttervater war schließlich auch ihr Großvater. Irgendeinen Vorteil musste das doch haben und nun, da sie wahrlich nicht mehr weiterwusste und sie sich nicht darauf verlassen wollte, dass Machairi einen Plan hatte, brauchte sie Unterstützung. Außerdem spürte sie ihre eigene Trauer, die sie nach Leibeskräften fortschob und die sich dennoch immer wieder aus dem Nichts anschlich und über sie herfiel. Sie konnte und wollte sich nicht mit dem Tod dieser liebenswerten Person auseinandersetzen, sie konnte nicht einmal begreifen, dass es geschehen war. Vielleicht konnte sie im Tempel etwas Ruhe finden.

Langsam drückte sie gegen die schwere Ebenholztür und schob sich durch den Spalt. Es war ein kalter, regnerischer Tag in Kefa und nun, am späten Nachmittag, verschlug es wohl niemanden sonst in den Zylontempel. Auch die Straßen waren nur halb so belebt gewesen, wie sie es an wärmeren Tagen erlebt hatte. Die kalte Jahreszeit rückte in rasanten Schritten näher und sie nahm sich vor, Gwyn dringend nach einem Mantel zu fragen. Die Tunika, die sie trug, war inzwischen entschieden zu kalt. Umso willkommener war es, dass das Innere des Tempels angenehm warm war.

Das Achteck des Bodens war mit oktogonalen Fliesen ausgelegt und in der Mitte erhob sich ein kleiner achtsäuliger Pavillon. Darunter prasselte ein gewaltiges Feuer und in der Luft lag ein leicht herber Geruch von verbrannten Kräutern. Unter der hohen Gewölbedecke entfaltete jedes kleinste Geräusch einen gewaltigen Klang und für einen Moment wünschte sich Leén, Machairis Stimme hier zu hören.

An den Wänden waren die Zeichen der Götter zu sehen, die sich in kunstvollen Verzierungen zwischen den Säulen rankten. Auf der Seite gegenüber der Eingangstür prangte Zylons Stern und jeweils links und rechts davon war jedem Götterkind eine Opferstelle gewidmet. Sogar Anamalia, die hauptsächlich in Hareth angebetet wurde, und der Zhakipatron Sulli hatten eine eigene Gebetsstelle zugewiesen bekommen – auch wenn angesichts der Opfergaben und Kerzen sehr offensichtlich war, welchen Göttern die Cecilian huldigten und welchen nicht. Einzig Ebos, dem die Wand über der Eingangstür zugewiesen war, schien keinen echten Platz in diesem Tempel zu haben. Auch das war nicht weiter überraschend. Öllampen an den Säulen erhellten den Raum. Zusammen mit dem Feuer in der Mitte reichten sie aus, um den Tempel zumindest ausreichend zu beleuchten, und alles zu erkennen.

Langsam trat Leén weiter in den Raum hinein. Ihre Schritte hallten laut durch die feierliche Stille und sie fühlte sich seltsam beobachtet, als sie einsam unter dem Gewölbe stand. Obwohl sie doch eigentlich jedes Recht hatte, hier zu sein, ja vielleicht sogar geradezu heimisch war, fühlte sie sich wie ein Eindringling und fehlplatziert. Es war, als hätte sie sich widerrechtlich Zugang zu einem Ort verschafft, an dem sie nichts verloren hatte. Zögernd trat sie etwas näher an das Feuer und blickte in die züngelnden Flammen. Wie oft kam wohl jemand vorbei, um Holz nachzulegen? Und wo war der Weg hinab in die Krypta?

Möglichst leise umschritt Leén den Pavillon in der Mitte einmal und ließ den Blick über die Abbilder der Götterzeichen wandern. Automatisch blieb er an Jicos Symbol hängen und sie trat einen Schritt weiter darauf zu. Im flackernden Licht warfen die Erhebungen des Zeichens dunkle Schatten über den Schein und stachen fast bedrohlich hervor. Ein mulmiges Gefühl machte sich in der Harethi breit, als sie die Opfergaben erblickte, die auf einem Vorsprung am Fuße der Wand lagen. Es waren nicht viele, aber das machte es höchstens unangenehmer. Die Menschen hatten längst gemerkt, dass Jico ihnen den Rücken gekehrt hatte, und die Gebete der wenigen, die ihre Opfer noch hier niederlegten, würden nicht erhört werden. Plötzlich kam ihr die Entscheidung ihres Vaters, unter die Menschen zu gehen, um bei ihrer Mutter zu sein, schrecklich egoistisch vor. Sollte es nicht die Aufgabe eines Gottes sein, über jene zu wachen, die ihn verehrten? Wie hatte er sie verlassen können?

Unwillkürlich zuckte Leéns Hand zu ihrem Brustbein. Sie glaubte, das leichte Pulsieren der göttlichen Magie unter den Fingern zu spüren wie einen zweiten Herzschlag. Würde sie nach ihrem Tod diese Aufgabe übernehmen oder würde der Göttervater sie seinem abtrünnigen Sohn zurückgeben? Vielleicht würde es auch gar keinen Gott des Körpers mehr geben. Leén griff nach ihrem Zopf und ließ das saubere Geflecht durch ihre Hand gleiten. Gedankenverloren betrachtete sie das Zeichen und drückte die Finger in ihr Haar.

»Kann ich helfen?«, fragte eine Stimme von hinten und Leén fuhr herum. Ein älterer Mann stand hinter ihr, das Haar ergraut und das Gesicht gezeichnet von Falten. Freundlich lächelte er sie an, was ein Wunder zu sein schien angesichts des üblichen Hasses der Cecilian gegen die Harethi. Er trug eine lange beige Robe mit einem bunten Saum. Ein interessanter Gürtel, auf dem der achtzackige Stern prangte, hielt alles zusammen. Seine Schuhe sahen mehr aus wie kompakte Socken, was immerhin erklärte, wie er sich so unbemerkt an sie herangeschlichen hatte.

»Ähm … nein … danke«, stammelte Leén. Überrascht wanderte ihr Blick über die fremde Person, während sie versuchte ihre Fassung nicht zu verlieren, obwohl sie sich ertappt fühlte. Das Blut war ihr in die Wangen geschossen und sie wollte nach einer Ausrede suchen. »Ich wollte nur …«, begann sie halbherzig und wich dem Blick der blassblauen Augen aus.

»Es kann sehr schwer sein, den Zugang zum Gebet zu finden, gerade wenn man sich an einen eigensinnigen Gott wie Jico richtet«, versicherte er verständnisvoll und warf einen Blick auf das gewaltige Steinbildnis. »Das Wirken des Körpers ist besonders schwer zu erfassen«, fügte er dann noch hinzu und Leén blickte noch schuldbewusster zu Boden.

Vielleicht liegt das daran, dass er euch vor mehr als zwanzig Jahren verlassen hat, dachte sie. Früher hätte sie ihren Vater als sehr verständnisvoll und zuvorkommend beschrieben. Inzwischen hatte sie jedoch einsehen müssen, dass er mindestens genauso stur und unnachgiebig sein konnte. »Manchmal muss man den Eindruck haben, dass er nicht weiß, was er tut«, murmelte sie deshalb und hoffte, dass der Mann das als reine Interpretation auslegen würde.

Er lachte. »Nur weil wir den Weg der Götter nicht verstehen, heißt das nicht, dass sie nicht wissen, was sie tun«, gab er zu bedenken und lächelte sie wieder an. »Was bringt die junge Dame her?«, erkundigte sich der so offiziell gewandete Mann schließlich. Mit Sicherheit gehörte er zu diesem Tempel. Einen anderen Schluss ließ die traditionelle Tracht nicht zu. »Doch nicht etwa ein körperliches Leiden?« Prüfend musterte er sie, als suche er nach irgendwelchen Blessuren.

Doch Leéns Wunden waren längst so weit verheilt, dass sie nichts mehr davon merkte. Es waren andere Dinge, die sie umtrieben. Leiden, die vielleicht bei den anderen Göttern besser aufgehoben gewesen wären. Möglicherweise konnten ihre göttlichen Tanten und ihr Onkel ein wenig Frieden bringen. Die hatten ihre Position wenigstens nicht aufgegeben. Vielleicht war sie aber auch jenseits göttlicher Hilfe. Es war seltsam, wie schwer es Leén noch immer fiel, an die Götter zu glauben, obwohl sie doch selbst ihre Macht neben dem Herzen trug und auch gesehen hatte, was ihr Vater mit der wenigen Kraft, die ihm geblieben war, bewirken konnte. »Nein«, murmelte sie schließlich. »Ich bin auf der Suche nach Antworten.«

Schmunzelnd nickte der Mann ihr zu. »Sicher ist Amila sehr angetan von diesen Bestrebungen«, vermutete er und deutete auf das schmale Zeichen der Göttin des Verstandes zwei Wände weiter. »Wir dürfen nur nicht vergessen, dass die Sprache nicht immer so eindeutig ist, wie wir es uns wünschen würden«, fügte er ermahnend hinzu. Das war eine nette Art zu sagen, dass sie hier keine Antworten finden würde. Er hatte recht. Was hatte sie überhaupt dazu getrieben, herzukommen? Sie erwartete doch nicht ernsthaft, dass eine der Gottheiten mit ihr sprechen würde! Auch nach der königlichen Gruft konnte sie nicht suchen, während dieser Mann hier war, auch wenn sie ihn als äußerst sympathisch wahrnahm.

»Ich sollte gehen«, verkündete sie hastig und wollte sich abwenden. Innerlich verfluchte Leén sich für ihre Naivität. Warum kam sie hierher, einer fixen Idee folgend? Ärgerlich schnaubte sie leise.

»Aber, aber«, beschwichtigte der Gläubige sie und machte einen Schritt hinter ihr her. »Dazu gibt es nun wahrlich keinen Anlass! Vielleicht kann ich behilflich sein«, bot er an und deutete auf das Feuer in der Mitte des Tempels. »Selbst wenn meine Weisheit vielleicht nicht ausreicht, um das Problem direkt anzugehen, werde ich sicher mit den Schwierigkeiten des Gebets helfen können.«

Leén war stehen geblieben. Sie zögerte. Dieser Mann war so freundlich, dass es eigentlich keinen Grund gab, sich von ihm fernzuhalten. Er war außerdem so zuvorkommend, seine Hilfe anzubieten, ohne überhaupt zu wissen, was sie umtrieb. Vielleicht war er die beste Hilfe, die sie hier bekommen würde. Sie würde sicher vor ihm flüchten können, sollte er sich aus irgendeinem Grund doch gegen sie wenden. »Wer seid Ihr denn?«, fragte sie, als würde es irgendeinen Unterschied machen.

Als sei das schon ein Triumph in sich, lächelte er sie zufrieden an. »Man nennt mich Galva. Ich bin der Tempelvorsteher hier«, stellte er sich vor. Erneut machte er eine einladende Geste zum Feuer. »Mit wem habe ich das Vergnügen?«

Leén ließ sich zu einem Lächeln hinreißen. Er war ein wirklich freundlicher Mensch. Trotzdem musste sie aufpassen, was sie ihm erzählte. Wenn sie Machairi Glauben schenkte, befand sie sich noch immer in Gefahr und es war immer dumm, Machairi nicht zu glauben. »Rish«, sagte sie deshalb, auch wenn sie sich fast ein wenig schlecht fühlte, Galva einen falschen Namen zu nennen. Dann trat sie langsam auf den kleinen Pavillon zu, unter dem das Feuer knisterte. Ob Gwyn wohl wusste, dass im Zentrum des größten Tempels in Cecilia ein Feuer prasselte? Sie konnte sich gut vorstellen, dass der Glauben dem Feuerspucker plötzlich viel ansprechender vorgekommen wäre.

Galva folgte ihr nicht direkt. Er nahm sich erst zwei Matten, die sich an den Säulen stapelten, und trug sie direkt vor den Pavillon. Mit aller Seelenruhe breitete er die beiden schlichten Teppichmatten aus und strich sie glatt. Es war beeindruckend, mit wie viel Hingabe jemand ein Stück Stoff ausrollen konnte. Dann ließ er sich auf einer der beiden Matten dem Feuer zugewandt auf die Knie sinken und deutete einladend auf die andere. Etwas unsicher folgte Leén seiner Geste, trat aus den Schuhen und ließ sich auf die ausgeblichene Matte nieder, auf der sicher schon viele Leute vor ihr gekniet hatten. »Nun gut«, begann der Tempelvorsteher. »Nach was für Antworten sucht Shia Rish?«, fragte er freundlich und in geduldigem Tonfall.

Das Wort, das er vor ihren Namen setzte, hatte sie noch nie gehört. Es klang wie ein Titel oder eine Bezeichnung. Stellte die fremde Sprache sie hier vor eine Wortlücke oder war das tatsächlich ein unübliches Wort? Vom Klang ging sie nicht davon aus, dass es sich um ein Adjektiv handelte. Nachzufragen war ihr zu peinlich. Nach Möglichkeit wollte sie lieber verbergen, dass sie in Hareth geboren worden war und dass Cizethi nur ihre Zweitsprache war. Also hoffte sie einfach, dass es nichts Sinnveränderndes bedeutete. »Das ist kompliziert und … persönlich«, murmelte sie ausweichend. Konnte sie diesem Menschen genug vertrauen, um ihm ihr Leid zu klagen? Nein. Allein die Identität ihres Vaters würde sie verdächtig und vielleicht unglaubwürdig machen, egal wie sehr es der Wahrheit entsprach.

Zu ihrer großen Überraschung zeigte Galva keinerlei negative Reaktion. Er bestand auch nicht darauf, dass sie dennoch mit ihm sprach. Stattdessen nickte er bloß verstehend. »Ist es vielleicht möglich, das Problem zu umreißen?«, schlug er vor.

Leén seufzte und blickte zu den kleinen Gestalten empor, deren Figuren die Gewölbedecke verzierten. Wo sollte sie anfangen? Sie hatte eindeutig mehr als ein Problem und hunderte Fragen. In ihrem Kopf herrschte schon seit sie Machairi das erste Mal getroffen hatte heilloses Chaos. »Es ist sehr kompliziert und verworren«, gab sie schließlich zu und betrachtete lieber die Decke, anstatt sich dem Blick zu stellen.

Der Tempelvorsteher blieb jedoch weiterhin geduldig und freundlich. »Meiner Erfahrung nach hilft es – besonders bei komplizierten Problemen – erstmal irgendwo anzufangen, auch wenn man das Gefühl hat, viele Punkte unbedacht zu lassen. Auch das verworrenste Problem lässt sich mit ein wenig Geduld überblicken und lösen, wenn man nur nicht den Anspruch an sich selbst stellt, alles auf einmal lösen zu wollen.«

Leén nickte und sah nun auf ihre Hände hinab. Nebst aller Dinge, die sie in den letzten Wochen nicht verstanden hatte, deren Hintergründe ihr verborgen geblieben waren und die es noch zu enträtseln galt, war nun ein emotionales Problem ihr größtes geworden. Es drängte sich beinahe beschämend penetrant in den Vordergrund und vielleicht würde es noch am gewöhnlichsten klingen, wenn eine junge Frau hierherkam, um über Verliebtheitsprobleme zu reden. »Ich habe mich in jemanden verliebt, obwohl mir jeder davon abgeraten hat, und er glaubt mir nicht, dass es mehr als … körperliche Anziehung ist«, nuschelte sie schließlich. Es fühlte sich seltsam an, es auszusprechen. Es war, als hätte es plötzlich etwas Endgültiges, dem Gefühl einen Namen zu geben, das sie doch so lange erfolgreich geleugnet hatte. Noch schlimmer war allerdings, dass sie nicht wusste, was er tatsächlich fühlte und ob er nicht vielleicht recht hatte, dass ihre Anziehung füreinander auf Körperlichkeit beruhte. Dabei war sie nie ein Mensch gewesen, der sich stark auf körperliche Impulse stützte, was angesichts ihres Vaters unlogisch war.

Hätte er ihr doch nur gesagt, ob ihre plötzliche Intimität von ihm ausgehend ein reiner Ausbruch von Lust gewesen war oder ob er tatsächlich glaubte, sie könnte niemals etwas für ihn empfinden. Am liebsten hätte sie das Gesicht in den Händen vergraben. Die Angelegenheit war so schrecklich verfahren und obendrein noch zu einem unfassbar ungünstigen Zeitpunkt aufgetaucht. Nicht nur wurde sie regelmäßig siedend heiß von der Erinnerung eingeholt, wie sich sein Körper gegen ihren drückte, es machte die Konfrontation mit seiner Wut und seiner Trauer nach Ilas Tod geradezu unmöglich. »Dabei war alles ohnehin schon kompliziert genug«, sagte sie deshalb und schämte sich plötzlich, dass sie ausgerechnet damit begonnen hatte. »Eine der wenigen Entscheidungen, die ich tatsächlich für richtig halte, kann mein Vater nicht gutheißen und es ist furchtbar, gegen ihn zu stehen. Ich will nicht an jemandem zweifeln müssen, dem ich immer vertraut habe …« Wenn dieser Mann gewusst hätte, dass sie von Jico sprach, hätte er sie vermutlich für wahnsinnig erklärt, dass sie sich gegen ihn stellte, aber sie konnte nicht zulassen, dass ihr eigener Vater verhinderte, dass sie der richtigen Sache half, wenn sie konnte. Sie konnte den Menschen nicht so den Rücken kehren, wie ihr Vater es getan hatte, und sterben wollte sie auch nicht, selbst wenn ihr Weg sie vermutlich an die Göttertafel geführt hätte.

»Nun, Liebe ist selten einfach und gerade junge Leute stehen allzu häufig vor scheinbar unüberwindbaren Hürden, die starke Gefühle mit sich bringen können. Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass nicht jeder auf die gleiche Weise oder gar gleich gut mit emotionalen Situationen umgehen kann. Es kann zum Beispiel helfen, das Gespräch zu suchen. Gleiches gilt für Meinungsverschiedenheiten mit den Eltern. Der elterliche Rat sollte nicht gänzlich ignoriert werden, doch Kinder können über ihre Eltern hinauswachsen und auch die weisesten Menschen sind fehlbar. Selbst die Götter können manchmal Entscheidungen treffen, die andere Folgen mit sich bringen, als sie es ursprünglich geplant hatten.«

Eigentlich waren dies zwei nachvollziehbare und gute Gedanken. Eigentlich. Tatsächlich war es vermutlich weder möglich, mit Machairi über Gefühle zu reden – besonders in der gegenwärtigen Lage –, noch sehr wahrscheinlich, dass sie über ihren göttlichen Vater hinausgewachsen war. Sie schloss die Augen. »Außerdem ist kürzlich jemand verstorben, der mir sehr wichtig war. Ohne sie entstehen nun gewaltige Probleme, die weit über mein Wissen hinausgehen.«Du lehnst dich viel zu weit über den Brunnen, dachte sie, aber sie konnte die Worte nicht mehr zurücknehmen. Außerdem hatte dieser Mann etwas sehr Vertrauenserweckendes an sich. Sie fühlte sich geneigt, ihm all ihr Leid zu klagen und seinen Rat einzuholen. Es war seltsam befreiend, mit einem Außenstehenden reden zu können.

Galva nickte verstehend. Er sah überhaupt nicht überrascht oder gar skeptisch aus. Etwas nachdenklich musterte er die Flammen, stellte ihre Worte aber nicht in Frage oder urteilte. Das war erfrischend und vor allem sehr erleichternd. »Das sind Anliegen, die ich vornehmlich Mella und Amila antragen würde«, stellte er schließlich fest. »Die Belastung durch den Tod eines geliebten Menschen könnte man auch Bico vortragen.« Galva richtete den Blick wieder auf sie und schaute etwas fragend. »Warum war die Wahl auf Jico gefallen?«, erkundigte er sich.

Weil er mein Vater ist und ich überhaupt nicht weiß, wie man zu diesen Göttern betet, dachte sie. Was sollte sie darauf antworten? Dass Jico ihr am vertrautesten war? Oder dass sie gar nicht gewusst hatte, an welchen Gott sie sich wenden sollte? Dann fiel ihr wieder ein, dass Rish offiziell ein Freudenmädchen in einem Etablissement namens In Jicos Armen war und es gar nicht unwahrscheinlich war, dass den ärmeren Menschen der Gott des Körpers besonders vertraut war. »Ich weiß nicht recht … vielleicht ist er mir am vertrautesten«, überlegte sie und lächelte unsicher.

»Das ist immer ein guter Ansatz«, bestätigte der Vorsteher. »Darf ich trotzdem ein Gebet an Amila vorschlagen, da die Probleme doch vornehmlich rationaler Natur sind?«

Sie nickte nur zu Antwort. Schaden konnte es schließlich nicht und sie fand das Argument durchaus trefflich. Ihre Verliebtheitskrise hätte sie vielleicht besser Mella, der Göttin des Herzens unterbreitet, aber Amila schien ein guter Anfang. Weisheit und Verstand schienen das beste Mittel gegen die meisten von Leéns Problemen zu sein, zumal sie häufig darin wurzelten, dass sie sich so unwissend fühlte. Zwar hatte Galva schon angedeutet, dass sie keine direkten Antworten zu erwarten brauchte, aber immerhin einen Versuch war es wert. Außerdem war es vermutlich der eleganteste Weg, dieses Gespräch wieder zu verlassen und unverdächtig wieder gehen zu können. Vielleicht konnte sie gar noch ein wenig über die Gräber unter dem Tempel und die Bewachung herausfinden, wenn sie es klug anstellte.

»Wir wollen also um Beistand im Angesichte schwieriger Fragen und schwerwiegender Streitigkeiten bitten«, fasste der Tempelvorsteher sehr allgemein zusammen. »Einen so üblichen Wunsch kann ich in einem üblichen Gebet einleiten. Das konkrete Anliegen wird die junge Dame der Göttin allerdings persönlich vortragen müssen. In Ordnung?«

Langsam hatte Leén den Eindruck, dass er sich hauptsächlich so ungewöhnlich ausdrückte, um eine direkte Anrede zu vermeiden. Vielleicht war das schlicht notwendig, wenn man sowohl Bienen als auch Adlige im Gebet anleitete und seinen Kopf behalten wollte, ohne einen Unterschied zwischen den Gläubigen machen zu müssen. Trotzdem war es irgendwie unangenehm, dass er in der dritten Person von ihr redete, obwohl er eigentlich mit ihr sprach. Außerdem wäre das wohl ein guter Zeitpunkt gewesen, um anzumerken, dass sie noch nie gebetet hatte. Sie hatte es zwar einmal versucht, aber sie hatte keine Vorstellung davon, wie man richtig zu den cecilianischen Göttern betete. Weil sie sich allerdings nicht mit einer solchen Aussage verdächtig machen wollte und hoffte, es Galva einfach nachtun zu können, nickte sie ein zweites Mal. Hieß das nun, dass sie ihre Probleme doch vor dem Cecilian vortragen musste, oder reichte es, in Gedanken zu sprechen? Hatten Götter telepathische Fähigkeiten?

Galva nickte zurück und schloss die Augen. Konzentriert holte er einmal tief Luft und dann beugte er sich auf seiner Matte vor. Leén versuchte es ihm nachzuahmen, und streckte ihre Arme vor sich über die Matte, bis sie in einer angespannten Position vorgebeugt war und die Matte nur knapp eine Handbreit von ihrem Gesicht entfernt war. Der Tempelvorsteher konnte das mit einem solchen Selbstverständnis, dass sie sich fragte, ob er tatsächlich so alt war, wie sie angenommen hatte. Sie selbst merkte nämlich schon nach einem kurzen Augenblick, dass diese Haltung unangenehm auf den Rücken und die Oberschenkel schlug und ihre Muskeln zu zittern begannen.

Dann begann der Mann sein Gebet, das von so vielen Bewegungsabläufen geprägt war, dass Leén sie nicht alle nachahmen konnte. Als vollführe er einen überraschend dynamischen Tanz auf seiner Matte, beugte er sich immer wieder vor und richtete sich wieder auf, hob die Arme in verschiedenste Gesten, sah hinauf zum Kuppeldach des Tempels und beugte sich wieder hinab. Die Verse, die er dazu aufsagte, waren entweder so stark genuschelt, dass Leén an die Grenzen ihres Cizethi stieß, oder er sprach eine Sprache, die sie nicht verstand. Zwischendurch meinte sie »Amila«, »Zylon« und erneut das fremde Wort »Shia« zu vernehmen. Anstatt auch nur zu versuchen, da mitzuhalten, blieb Leén einfach in ihrer Pose auf der Matte knien und sah von der Seite fasziniert zu, wie der scheinbar ältere Herr äußerst elegant und geschmeidig sein Gebet darbot. Schließlich stand er sogar auf, griff nach einem Töpfchen, das von einem der Pfeiler des kleinen Pavillons herabhing, und warf in einer pathetischen Geste eine Handvoll Pulver in das prasselnde Feuer, bevor er sich verneigte, zu seiner Matte und dann seiner knienden Ausgangsposition zurückkehrte und sein Gemurmel beendete.

Für einen Moment fragte Leén sich, ob sie in der Zeit gerade hätte beten oder über ihre Probleme nachdenken sollen. Sie war so fasziniert von der seltsamen Vorstellung gewesen, dass sie gar nicht daran gedacht hatte, vielleicht ihr eigenes Gebet loszuwerden (zumal sie nach wie vor nicht wusste, wie sie das angehen sollte). Hastig fing sie an, sich ihre ganzen Probleme durch den Kopf gehen zu lassen. Sie hatten Ila auf den Thron setzen wollen, um zu verhindern, dass Ebos ihre ungewöhnlich starke Magie beanspruchen konnte. Nun war Ila allerdings tot und niemand wusste, was als nächstes geschehen würde. Zusätzlich hatte sie mit ihren Gefühlen zu kämpfen, wusste nicht, wie sie mit dem trauernden Machairi umgehen sollte, und auch nicht, wie sie vielleicht noch verhindern konnte, sich für immer von ihrem Vater zu entfremden. Sie wusste nicht, was ihre eigenen Fähigkeiten bedeuteten, wie sie sie einsetzen konnte und wie sie vielleicht sogar helfen konnte, die verfahrene Situation zu lösen. Nicht einmal einen Lehrer hatte sie mehr, nachdem Ila so plötzlich aus dem Leben geschieden war. Außerdem wollte sie noch immer wissen, wie Machairi … an dieser Stelle unterbrach sie ihre Gedanken und starrte auf den Rauch des Feuers. Das Pulver musste dazu geführt haben, dass es überdurchschnittlich stark rauchte, und ein herber, fast modriger Geruch zog der Harethi in die Nase. Es roch ein bisschen wie in Ilas Bibliothek, nach alten Büchern und Wissen. Das war so weit erwartbar. Absolut ungewöhnlich war hingegen, dass sich die olivgrüne Rauchwolke langsam mit saphirblauen Funken durchwob und beinahe menschliche Züge anzunehmen schien.

Die Gestalt verschwamm in jeder Bewegung. Sie war nur ein Hauch in der duftenden Tempelluft. Und doch konnte Leén ganz genau Arme und einen Kopf mit langem Haar erkennen, das in ständiger Bewegung zu sein schien. Das rauchige Kleid verflüchtigte sich bald im Raum und mit offenem Mund sah Leén zu der Silhouette einer Frau empor.

Der Tempelvorsteher hatte sich inzwischen so unterwürfig niedergeworfen, dass er mit dem Boden zu verschmelzen schien. Leén hingegen sah direkt in das Gesicht empor, das sich erstaunlich deutlich aus den Rauchschwaden erhob. Ein Lächeln zierte die feinen Gesichtszüge der Frau und als sie die Hand nach Leén ausstreckte, als wollte sie ihr über die Wange streichen, spürte das Mädchen nichts als einen leichten Windhauch und ein Kribbeln auf der Haut. Einen Moment lang betrachtete der Schatten der Göttin sie nur und irgendwo hatte Leén den Gedanken, dass sie besser auch etwas mehr Ehrfurcht gezeigt hätte, als geradewegs zurückzustarren. Ihre überraschte Faszination hielt sie jedoch davon ab.

Als die Göttin schließlich die Stimme erhob, bewegten sich die Lippen aus Rauch nicht. Unbewegt lächelnd sah sie ihre Nichte an, während ihre Stimme laut und klar und doch ganz sanft und körperlos durch den Tempel schwebte. Leén, der einsame Kämpfer verliert nicht aus Mangel an Fähigkeiten gegen die Streitmacht. Bedenke die Antwort hinter deiner Frage. Denn der singende Vogel kann gehört werden, auch wenn der Wald zu dicht ist, um ihn zu sehen. Deine Vorsicht ist eine Tugend, doch Vorsicht kann nicht immer siegen, denn wer keine Brücke findet, muss den Fluss durchqueren, um zum anderen Ufer zu gelangen. Nimm dies als meinem Rat und ermahne meinen Bruder zu bedachtem Nachdenken.

Bevor Leén einen halben Ton antworten oder die Worte auch nur voll auffassen konnte, verflüchtigte sich der Rauch bereits. »Warte!«, entfuhr es ihr, aber da waren die Schwaden bereits in der warmen Luft verpufft. Fassungslos starrte sie auf die Stelle, wo eben noch die Gestalt über ihr geschwebt hatte.

Neben ihr richtete sich Galva wieder auf und lächelte. »Wahrlich beeindruckend«, bemerkte er und ihr Blick zuckte zu dem älteren Mann. Sie hatte seine Anwesenheit beinahe vergessen und konnte sich vorstellen, dass sie ihn arg verdutzt ansah. Doch als sie in seinen Augen nach Belustigung suchen wollte, senkte er ergeben den Kopf. »Es ist mir eine Ehre, Euch kennenzulernen und einem solch besonderen Ereignis beigewohnt haben zu dürfen. Ich habe gleich gespürt, dass Euch eine göttliche Kraft innewohnt.«

Leén spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht und das Adrenalin in den Magen schoss. Er hatte sie also erkannt. Immerhin war er nicht sofort losgelaufen, um ein paar der Soldaten zu holen und sie verhaften zu lassen. Das war doch ein Anfang. »Das passiert also nicht jedes Mal, wenn Ihr so ein Pulver ins Feuer schmeißt?«, vergewisserte sie sich.

»Keineswegs! Direkte Offenbarungen der Götter selbst sind unheimlich selten. Ich selbst hatte bereits einmal das Glück, bei einem göttlichen Zeichen anwesend zu sein, doch etwas wie gerade habe ich nie zuvor gesehen.« Er senkte den Kopf noch etwas tiefer. »Ich danke Euch, dass ich dies erleben durfte!«

Verlegen drehte Leén ihren Zopf um ihre Finger und versuchte ihre glühenden Wangen zu ignorieren. Hoffentlich würden das Zwielicht des Tempels und ihre dunklere Haut ihre Röte verbergen. »Danke für die Hilfe«, murmelte sie leise.

»Nicht doch, nicht doch!« Der Mann winkte ab und als er etwas aufsah, konnte sie die Begeisterung in seinen graublauen Augen blitzen sehen. »Ich stehe ewig in Eurer Schuld, nein, in Eurem Dienst!« Freudig warf er die Hände in die Luft und deutete auf den Tempel. »Ihr könnt Euch nicht vorstellen, was das bedeutet. Jicos Tochter in meinem Tempel! Eine wahrhaftige göttliche Offenbarung nach meinem Gebet! Die heiligen Worte von Amila selbst in meinem Ohr!« Sein Schwärmen machte ihn fast niedlich. Wie ein kleines Kind freute sich der alte Mann vor ihr und war dabei doch ernst und aufrichtig. Es beruhigte ihre Sorge darüber, dass er sich nach all den Gerüchten und dieser Erfahrung offensichtlich hergeleitet hatte, wen er vor sich hatte.

Bevor er sich jedoch noch weiter in seine Begeisterung hineinsteigern konnte, nutzte Leén die Gunst des Augenblicks. »Das heißt, ihr werdet mich nicht an die Stadtwache ausliefern?«, wagte sie zu fragen und hoffte ein wenig, seine Ekstase zu ihrem Vorteil nutzen zu können.

»Was?! Nein. Niemals!« Entgeistert sah er sie an, als hätte sie soeben vorgeschlagen, dass er seinen Tempel anzünden sollte. »Bitte, Shia, wenn es irgendetwas gibt, was ich für Euch tun kann – was immer es auch sei – lasst es mich wissen. Ich werde tun, was in meiner Macht steht, dessen könnt Ihr Euch sicher sein. Nichts in der Welt könnte mich dazu bewegen, der göttlichen Familie zu entsagen!«

Am liebsten hätte sie gesagt, dass sie sich eigentlich nur wünschte, dass er aufhörte, sich so seltsam unterwürfig zu verhalten. Doch dann fiel ihr auf, dass er ihr vielleicht soeben eine Möglichkeit geboten hatte, zumindest ein kleines Problem zu lösen. »Wenn Ihr das so anbietet…«, begann sie langsam und versuchte sich nicht zu fühlen, als nutze sie diesen freundlichen Menschen aus. »… es gäbe da tatsächlich etwas.«

14/Gri/3949

Jolianda wächst schnell, aber nicht schnell genug. Sie jagen uns noch immer und heute hätten sie uns beinahe gefunden. Es gibt kein Entkommen für uns.

Rachepläne

Es war kalt, obwohl ihre Haut brannte. Jeder kleinste Hauch einer Berührung jagte einen kribbelnden Schmerz durch sämtliche Nerven und sie schlotterte. Unter einer Treppe hatte sie sich zusammengekauert, irgendwo in einem schmierigen Winkel des Bienenstocks, und ertrug den Lärm und den Gestank noch weniger als sonst. Ihre Ohren kreischten und machten das Chaos in ihrem Kopf unmöglich zu ertragen. Vica hatte sich selbst mit den Armen umklammert und hatte sich so klein zusammengekauert, wie sie konnte. Am liebsten hätte sie sich gleich in Luft aufgelöst oder ein bisschen von dem MS genommen, aber sie musste sich ihren knappen Vorrat gut einteilen und sie konnte es sich nicht leisten, dass die Wirkung während des Treffens mit Zedian nachließ.