Quallenplage - Susanne Bergstedt - E-Book + Hörbuch

Quallenplage Hörbuch

Susanne Bergstedt

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Beschreibung

Der Schilkseer Strand, ein idyllischer Ort. Im Strandkorb liegen, die Segelschiffe des nahen Olympiahafens beobachten, zwischendurch in die Ostsee hüpfen – so hat Telse Himmel sich ihr neues Leben vorgestellt. Nachdem sie ihr altes Journalistinnen-Dasein in Hamburg hinter sich gelassen und das schmucke Gartenhaus ihrer Freundin, der vermögenden Witwe Wanda Holle, bezogen hat, freut sie sich auf ein bisschen Ruhe. Doch die wird jäh gestört, als inmitten eines Schwarms Feuerquallen die Leiche der örtlichen Grundschullehrerin an den Strand getrieben wird. Wanda, die die Tote gut kannte, glaubt keinen Moment an die Unfalltheorie der Polizei. Also nimmt sie die Sache selbst in die Hand und beginnt, mit tatkräftiger Unterstützung von Telse, auf eigene Faust zu ermitteln. Die beiden Frauen horchen ihren Nachbarn, den Kriminalhauptkommissar Olaf Wuttke, aus, mischen sich unter die Schilkseer Gesellschaft, infiltrieren Schulen und Segelclubs. In welche Gefahr sie sich dabei begeben, merken sie erst, als es fast zu spät ist ... Spannung, sympathische Figuren, warmherziger Humor und viel Lokalkolorit – der erste Fall für Telse Himmel und Wanda Holle.

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Zeit:10 Std. 8 min

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Der Schilkseer Strand, ein idyllischer Ort. Im Strandkorb liegen, die Segelschiffe des nahen Olympiahafens beobachten, zwischendurch in die Ostsee hüpfen – so hat Telse Himmel sich ihr neues Leben vorgestellt. Nachdem sie ihr altes Journalistinnen-Dasein in Hamburg hinter sich gelassen und das schmucke Gartenhaus ihrer Freundin, der vermögenden Witwe Wanda Holle, bezogen hat, freut sie sich auf ein bisschen Ruhe. Doch die wird jäh gestört, als inmitten eines Schwarms Feuerquallen die Leiche der örtlichen Grundschullehrerin an den Strand getrieben wird. Wanda, die die Tote gut kannte, glaubt keinen Moment an die Unfalltheorie der Polizei. Also nimmt sie die Sache selbst in die Hand und beginnt, mit tatkräftiger Unterstützung von Telse, auf eigene Faust zu ermitteln. Die beiden Frauen horchen ihren Nachbarn, den Kriminalhauptkommissar Olaf Wuttke, aus, mischen sich unter die Schilkseer Gesellschaft, infiltrieren Schulen und Segelclubs. In welche Gefahr sie sich dabei begeben, merken sie erst, als es fast zu spät ist …

Spannung, sympathische Figuren, warmherziger Humor und viel Lokalkolorit – der erste Fall für Telse Himmel und Wanda Holle.

© SoulPicture Marcel Völker

Susanne Bergstedt ist Diplom-Designerin, ehemalige Bildredakteurin eines Kunstmagazins und lebt in Kiel-Schilksee an der Ostsee. ›Quallenplage‹, ihr erster Krimi, ist der Auftakt einer neuen Cosy-Crime-Reihe um das Ermittlerinnen-Duo Himmel und Holle.

Susanne Bergstedt

Quallenplage

Himmel und Holle ermitteln

Ein Ostsee-Krimi

eBook 2023

DuMont Buchverlag, Köln

Alle Rechte vorbehalten

© 2023 DuMont Buchverlag, Köln

Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Umschlagabbildung: Strandstuhl: © depositphotos/lustra

FlipFlops: © depositphotos/mrsiraphol

Möwen: © depositphotos/lifeonwhite

Personen: © Stefanie Naumann

Satz: Angelika Kudella, Köln

eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

ISBN eBook 978-3-8321-8296-0

www.dumont-buchverlag.de

Prolog

DIE MÖWE WAR HUNGRIG. Seit dem Morgengrauen zog sie ihre Kreise, doch die Nahrungssuche war bisher erfolglos geblieben. Jetzt führte ihr Kontrollflug über den Strand von Schilksee, der sich zu dieser frühen Stunde noch menschenleer präsentierte. Sie wusste aus Erfahrung, dass es hier oftmals einen angebissenen Apfel oder ein paar vergessene Kekse aufzupicken gab.

Ihre scharfen Augen musterten den Sand, aber heute hatte sie kein Glück. Auch im angeschwemmten Seegras zappelte nicht der kleinste Krebs.

Die Möwe drehte ab und steuerte auf die Kieler Bucht hinaus, deren grüngraues Nachtgesicht von den ersten Sonnenstrahlen gesprenkelt wurde. Sie orientierte sich am Bülker Leuchtturm und nahm dann Kurs auf einen Kutter vor dem Strander Hafen. Doch sie war zu früh, der Fischer tuckerte gerade erst zu seinen Stellnetzen hinaus und hatte noch keinen Fang an Bord. Auf ein Frühstück aus Innereien und Fischköpfen musste sie warten.

Im Möwenbauch rumorte es schon gewaltig. Da es auf See nichts abzustauben gab, musste sie es eben landeinwärts versuchen. Die gelben Säcke am Straßenrand enthielten nicht selten interessante Leckerbissen und ließen sich mit ein paar Schnabelhieben zerreißen.

Die Möwe schwenkte um und flog zurück Richtung Schilksee, als ein Blick auf das Meer sie plötzlich elektrisierte. Da dümpelte etwas im Wasser. Etwas, das dort nicht hingehörte. Was aber nicht bedeuten musste, dass es nicht essbar war.

Sie segelte einen eleganten Bogen und ließ sich tiefer sinken. Jetzt konnte sie das Objekt schon deutlicher ausmachen. Es war etwa so groß wie ein Schweinswal, bewegte sich aber anders. Genauer gesagt bewegte es sich überhaupt nicht, sondern wurde von der Dünung langsam Richtung Strand getrieben. Ein Schwarm Feuerquallen hatte das Ding in seiner Mitte eingeschlossen und einen pulsierenden roten Abwehrring um die Beute geformt. Das würde ihnen nichts nützen. Denn eine Sache konnte die Möwe auch aus großer Höhe mühelos identifizieren: totes Fleisch.

1

»NOCH KEINER DA. Wir haben unsere Wellnessoase für uns allein.« Renate Mehring lehnte sich über das Geländer und musterte zufrieden den menschenleeren Strand zu ihren Füßen. »Das Wasser dürfte heute perfekt temperiert sein.« Sie ließ ihren Leinenbeutel fallen, streckte die Arme in die Luft und dehnte sich ausgiebig. Der Gürtel ihres Bademantels lockerte sich dabei und ließ einen schon etwas ausgeleierten geblümten Badeanzug hervorblitzen.

»Erst mal testen.« Gisela Frentrup gesellte sich neben ihre Freundin auf den Treppenabsatz und warf einen misstrauischen Blick auf das Meer. »Bisher sind wir nicht gerade mit Badewannentemperaturen verwöhnt worden. Der Sommer war einfach nur grässlich.« Sie musste jedoch zugeben, dass die Ostsee an diesem Morgen Karibik spielte. Das Wasser schimmerte türkisgrün, und das übliche Strandgeröll war über Nacht von einer gnädigen Schicht Sand verdeckt worden. Der September wollte auf den letzten Metern noch etwas gutmachen.

»So, jetzt aber los.« Renate klopfte sich auf den Bauch. Nur vom Hingucken werden die Speckröllchen nicht kleiner.« Sie ergriff ihren Beutel und machte sich daran, die fünfzehn Meter hohe Steilküstentreppe hinabzusteigen.

»Bei mir rollt sich nichts. Da schlabbert nur zu viel Haut«, widersprach Gisela, während sie ihr folgte.

Direkt an der Wasserkante markierten drei von Eiszeitgletschern rund gescheuerte Findlinge ihre bevorzugte Badestelle. In erster Linie hatten die Freundinnen den Platz gewählt, weil sich die Steine vorzüglich als Kleiderablage eigneten. Obwohl es nicht viel abzulegen gab. Wenn sie jeden Morgen zusammen schwimmen gingen, machten sie sich gleich in Bademantel und Gummischlappen auf den Weg. Das galt in Schilksee durchaus als vollwertige Straßenkleidung, zumindest im Sommerhalbjahr.

Gisela lehnte sich gegen den dicksten Felsen von der Größe eines Elefantenbabys und ließ den Blick über die Wasseroberfläche wandern. Dann schloss sie die Augen und rollte ein paarmal zur Lockerung die Schultern. Was für ein perfekter Tagesanfang!

Ein Aufstöhnen durchbrach die Idylle.

»So ein Schiet, alles voll mit den Mistdingern! Ich hatte gehofft, das bleibt uns dieses Jahr erspart.«

Gisela öffnete die Augen und sah, wie Renate mit angewidertem Gesichtsausdruck auf etwas Undefinierbares zu ihren Füßen deutete. Ihr schwante Böses. »Was ist denn los?«

»Na, die Glibberdinger hier. Hast du die noch nicht bemerkt? Der ganze Strand ist voll davon.« Die Freundin hatte die Hände in die Hüften gestemmt.

Gisela senkte ihren Blick auf Renates Füße und ließ ihn dann weiter den Wassersaum entlangschweifen. Jetzt erst erkannte sie die verräterischen Beulen, die im angespülten Seegras glänzten. Ihre Mundwinkel sackten augenblicklich herunter.

»Oh nein.«

Quallenalarm! Aber nicht etwa wegen harmloser Ohrenquallen, von denen ließ sie sich schon lange nicht mehr stören. Was hier gestrandet war und schon als Fliegenfutter diente, waren eindeutig Feuerquallen. Es mussten Hunderte sein, die seit letzter Nacht ihr Leben gelassen hatten und nun am Strand vor sich hin verwesten. Die meisten waren klein, nur etwa handtellergroß, deshalb hatte sie die Weichtiere vorhin nicht bemerkt. Aber eins wusste sie genau: Wo kleine Exemplare auftauchten, waren auch ausgewachsene Feuerquallen nicht weit. Und die hatten gewöhnlich die Ausmaße eines handelsüblichen Klodeckels. Eines Klodeckels mit meterlangen, giftig brennenden Nesselfäden.

Gisela merkte, wie sich die Härchen auf ihren Armen aufrichteten. Renate hatte sich schon wieder gefasst, zog mit entschlossenem Griff ihren Bademantel aus und warf ihn auf den nächstliegenden Findling. »Sind doch nur kleine, von denen lasse ich mir das Schwimmen nicht vermiesen.« Sie blickte zu ihrer Freundin, die mit misstrauisch verengten Augen die Wasseroberfläche musterte und von einem Fuß auf den anderen trat. »Was ist nun, kommst du?« Als keine Reaktion erfolgte, zuckte sie mit den Schultern. »Dann eben nicht, Bangbüx. Bis gleich.« Beherzten Schrittes stapfte sie ins Wasser und begann nach ein paar Metern mit kräftigen Stößen aufs Meer hinauszuschwimmen.

»Ich warte hier!«, rief Gisela ihr hinterher, obwohl das unnötig war. Schließlich kamen und gingen sie immer gemeinsam. Sollte Renate sie ruhig für einen Angsthasen halten, bei Quallenalarm setzte sie keinen Fuß ins Wasser. Einmal hatte sie Bekanntschaft mit so einem roten Prachtexemplar gemacht, das reichte ihr für den Rest ihres Lebens. Gisela wusste nicht mehr, wie sie damals aus dem Wasser gekommen war, nur, dass das höllische Brennen an Armen und Brust einfach nicht hatte aufhören wollen. Auf eine Wiederholung dieser Erfahrung konnte sie gerne verzichten. Bestimmt war morgen der ganze Spuk schon wieder vorbei.

Renate hatte binnen kurzem ihren Rhythmus gefunden und schwamm mit gleichmäßigen Zügen Richtung Kieler Leuchtturm. Wie alle Tage benutzte sie das rot-weiße Lichtzeichen mitten in der Bucht als Zielpunkt. Sie fand es schade, dass sie nicht zu zweit im Wasser waren, das machte einfach mehr Spaß. Wie konnte man nur so eine panische Furcht vor Feuerquallen haben? Wenn die Strömung die Tiere an den Strand spülte, sammelte sich halt schnell eine Menge an. Schon ein bisschen weiter draußen war das Meer quallenfrei, wie sie befriedigt feststellte.

Renate schwamm kraftvoll, tauchte ab und zu unter kleinen Wellen hindurch und genoss die erfrischende Kühle. Als sie sich kurz verschluckte und wie eine auftauchende Robbe prusten musste, blickte sie zurück Richtung Strand. Sie war schon viel weiter draußen, als sie gedacht hatte. Bei den Findlingen erkannte sie einen hellen Fleck. Aha, ihre Freundin entspannte gemütlich in der Sonne. Na, was die konnte, konnte sie selbst schon lange. Sie drehte sich auf den Rücken, schloss die Augen und ließ sich mit ausgebreiteten Armen treiben. Kleine Verschnaufpause vor dem Rückweg.

Die Dünung schaukelte sie sanft auf und ab. Möwen riefen sich Neuigkeiten zu. Es roch nach Salz und Tang, und das Wasser gluckerte leise. Zutiefst entspannt fühlte sie sich eins mit der Welt und seufzte vor Wohlbehagen.

Der Ruck kam vollkommen unerwartet. Der Schmerz ebenfalls.

Renate schluckte Wasser, strampelte und ruderte mit den Armen. Ihr Kopf dröhnte, und ihre Gliedmaßen brannten mit einem Mal wie Feuer. Voller Panik starrte sie um sich. Die Wasseroberfläche schien plötzlich lebendig geworden zu sein.

Augenblicklich raste ihr Herzschlag. Heilige Scheiße, sie war in einen Feuerquallenschwarm geraten!

Mit Entsetzen sah sie unzählige feine Nesselfäden wie ein giftiges Spinnennetz auf ihren Armen kleben. In der gleichen Sekunde versuchte sie schon, die Tentakel durch hektisches Schütteln loszuwerden. Natürlich vergeblich. Stattdessen wurde der Schmerz bei jeder Bewegung intensiver.

Jetzt brannte auch noch ihr Gesicht wie von Peitschenhieben getroffen. Ihr Körper wand sich, krampfte, wollte der Qual entkommen und schaffte es nicht. Die Feuertiere waren überall. Salzwasser stieg in ihre Nase, sie bekam keine Luft mehr. Sie fühlte, wie Panik in ihr hochstieg. Ruhig bleiben, um Himmels willen, ruhig bleiben!

Ihr Gehirn spendierte eine großzügige Dosis zusätzliches Adrenalin, schaltete in den Überlebensmodus und riet dringend zur Flucht.

Plötzlich funkte eine Irritation zwischen ihre Kopfschmerzen. Da war etwas gewesen, das nicht stimmte. Aber was?

Renate zwang sich mit größter Willenskraft, ihre Atmung zu kontrollieren und nicht mehr wie wild mit den Armen zu fuchteln. Auf einmal war die innere Störmeldung ganz klar: Wieso hatte sie sich an den Feuerquallen den Kopf gestoßen? Das war nicht möglich. Diese Höllenwesen bestanden zu neunundneunzig Prozent aus Wasser. Eine abgerissene Planke? Sie biss die Zähne zusammen, versuchte, den Schmerz zu ignorieren, und spähte hinter sich. In der Tat, keine fünf Meter entfernt trieb etwas im Wasser. Wie ein Holzbrett wirkte es nicht. Es schien zwar groß und lang zu sein, hatte aber eine unregelmäßige Oberfläche mit Wölbungen.

Renate kniff die Augen gegen die Sonne zusammen. Das seltsame Objekt dümpelte in ihre Richtung. An einem Ende schien ein Büschel Algen angewachsen zu sein, in dem sich eine Qualle verfangen hatte. Eine Möwe segelte heran, stieß ein scharfes Krächzen aus und ließ sich auf dem Ding nieder. Dann begann sie, mit harten Schnabelhieben zu picken.

Renates Augen tränten, das Brennen im Gesicht und an den Gliedern machte sie fast wahnsinnig. Aber jammern war zwecklos, hier draußen konnte ihr niemand helfen. Unter Mobilisierung aller Kräfte versuchte sie, wieder in einen Schwimmrhythmus zu kommen. Sie riss sich zusammen, blinzelte und fixierte den Strand. Weiterschwimmen, immer weiter, nur nicht aufhören.

Das unförmige Treibgut kam schräg von der Seite auf sie zu. Vermutlich eine alte Palette, die irgendwo von Bord gerutscht war. Renate konnte kaum etwas erkennen. Tränen und Salzwasser verschleierten ihren Blick. Alles voller Rotalgen an dem dicken Holz. Und natürlich wieder Feuerquallen, verdammter Mist. Da musste sie jetzt schnell dran vorbei. Nun war das Ding ganz nah, aber fast hatte sie es geschafft. Als sie auf gleicher Höhe war, drehte Renate den Kopf, um einen kurzen Blick auf das Objekt zu werfen. Und erstarrte in ihrer Bewegung.

Das waren keine Rotalgen. Das waren Haare. Lange rote Haare, die sich träge im Rhythmus der Dünung bewegten.

Renate schrie nicht. Ein einziger Gedanke füllte ihr Hirn aus: Das ist jetzt nicht wahr. Das kann nicht wahr sein. Das muss eine Sinnestäuschung sein.

Mit nahezu übermenschlicher Willenskraft zwang sie sich zu einem zweiten Blick. Es war kein Zweifel möglich. Sie badete hier draußen nicht allein.

Gisela schirmte ihre Augen mit einer Hand ab und spähte über die Wellen. Renate war schon weit gekommen und kaum noch zu erkennen, alle Achtung. Weil es bis zu deren Rückkehr noch eine Weile dauern durfte, kletterte sie auf den großen Findling und machte es sich in einer Sitzmulde bequem. Dann schloss sie die Augen und wandte ihr Gesicht zur Sonne. Der warme Felsen, die frische Seeluft, die Stille – es gab Schlimmeres, als ein Feigling zu sein. Im Moment fühlte es sich sogar äußerst angenehm an.

Eine Möwe schrie. Dann schrie sie noch mal, diesmal näher und lauter. Jetzt mehrstimmiges Gezeter, schrill und aufgeregt, ein ganzer Möwenschwarm. Die Strander Fischer hatten vermutlich Innereien über Bord gekippt. Auch nicht schön, so nahe am Badestrand.

Aber halt mal. Da war noch etwas anderes als Möwengeschrei.

Gisela öffnete die Augen und starrte aufs Meer. Das seltsame Geräusch kam eindeutig vom Wasser.

Plötzlich sah sie Gischt aufspritzen. Irgendetwas Großes strampelte und zappelte da keine hundert Meter entfernt in den Wellen. Sie stutzte. Seehunde oder Delfine gab es hier eher selten. Wo war eigentlich Renate? Es dauerte zwei, drei Sekunden, bis sie begriff.

Wie der Blitz sprang Gisela von dem Granitbuckel herunter und rannte im Bademantel knietief ins Wasser. Sie formte mit den Händen einen Schalltrichter und brüllte aus Leibeskräften: »Renate! Brauchst du Hilfe?«

Aus der Ferne kam nur ein unverständliches Jaulen.

Gisela fühlte, wie kalte Angst in ihr aufstieg. Ohne nachzudenken, riss sie den Bademantel herunter, sprintete in die Fluten und begann, zu ihrer Freundin zu schwimmen. Sie war kaum ein paar Meter weit gekommen, als Renates überkippende Stimme an ihre Ohren drang.

»Hau ab! Bleib bloß weg!«

Gisela schluckte Salzwasser und musste spucken. Es dauerte einen Augenblick, bis sie wieder Luft bekam. »Was ist denn los? Bist du in Ordnung?« Sie versuchte, noch schneller zu schwimmen, und hatte gleichzeitig das Gefühl, nicht von der Stelle zu kommen.

»Nein, nein, nicht näher!« Renates Stimme klang panisch. Sie hustete. Dann krächzte sie: »Tot …«

Gisela stoppte mitten in der Bewegung.

»No… Notruf!«, hustete es ihr entgegen.

Sie streckte sich so weit wie möglich aus dem Wasser und machte einen langen Hals. Was zum Teufel war da vorne los? War Renate etwa von einem Hai angegriffen worden? Aber in der Ostsee gab es doch keine Haie, oder? Brauchte sie einen Arzt? Oh, verdammt, was sollte sie nur machen?

Renate kraulte wie besessen auf sie zu. Sie schlug mit den Armen und strampelte mit den Beinen, als ginge es um ihr Leben. Der Hai hat noch nicht zugebissen, schoss es Gisela durch den Kopf. Ihr zweiter Gedanke alarmierte sämtliche Nervenzellen mit einer knappen Botschaft: Zurück an Land, aber flott!

Renate keuchte, verschluckte sich, hustete und pflügte weiter durch die Wellen. Rotz und Tränen vermischten sich mit Salzwasser. Als sie endlich Boden unter den Füßen spürte, strauchelte sie, knickte auf dem Geröll weg, rappelte sich wieder auf und stürmte schließlich in einer Gischtwolke an den Strand. Sie stolperte zu den Findlingen, warf sich bäuchlings über den ersten Stein und versuchte, zu Atem zu kommen.

Gisela eilte sofort zu ihr. Sie streichelte Renates Rücken und flüsterte beruhigend auf sie ein, obwohl sie ebenfalls am ganzen Leib zitterte. »Ist ja gut, alles ist gut, sch-sch …« Dabei prüfte sie schnell, ob irgendwo Bisswunden zu sehen waren. Alles dran, immerhin. Sie beugte sich zur Seite und zerrte Renates Bademantel vom Felsen zu sich herüber. Erst als sie ihn der Freundin umlegen wollte, bemerkte sie die leuchtend roten Striemen der Nesselfäden.

Gisela fackelte nicht lange. Sie nahm ein paar Handvoll Sand, streute sie auf Renates Nacken und Arme und rubbelte ihr die Quallententakel damit, so gut es ging, ab. Dann hüllte sie die Freundin in den Bademantel und zog sie weg von der Wasserkante, auf einen trockenen Teil des Strandes. Als sie sich niedergelassen hatten, nahm sie sie in den Arm und wiegte sie leicht hin und her, bis das Zittern nachließ.

Irgendwann hob Renate den Kopf und schaute stumm auf das Meer. Gisela folgte ihrem Blick.

Direkt vor ihnen schoben müde Wellen die Leiche einer rothaarigen Frau an den Strand.

2

TELSE HIMMEL BALANCIERTE die Sackkarre mit der letzten Umzugskiste die Strandpromenade entlang und fluchte vor sich hin. Am Vormittag hatte sie sich noch gefreut, als sie gleich hinter ihrem neuen Zuhause einen Parkplatz für den Transporter gefunden hatte. Um kurz darauf festzustellen, dass von der schmalen Sackgasse nur ein Kiesweg durch den Garten führte, der für Sackkarren nicht zu meistern war. Was bedeutete, dass sie mit jeder Kistenfuhre einen Umweg über die Flaniermeile machen musste, die zwischen Hausvorderseite und Meeresstrand zum Olympiahafen führte. Zum gefühlt hundertsten Mal scheuchte sie an diesem Tag Touristen zur Seite, die ihr gedankenlos in den Weg schlenderten. Aber jetzt war endlich Land in Sicht und der Transporter leer geräumt. Die großen Schränke und sperrigen Teile hatte sie zum Glück schon vor zwei Tagen anliefern lassen.

Telse parkte die Karre mit dem letzten Karton am Gartenzaun, streckte ihren Rücken durch und betrachtete das Gebäude dahinter. An den Anblick hatte sie sich noch immer nicht gewöhnt. Hinter gepflegten Rabatten präsentierte sich eine durchdesignte schneeweiße Villa mit edelholzgefassten Fenstern und hochmoderner Haustür. Auf der Terrasse luden schwere Teaksessel vor einer Reihe penibel beschnittener Buchsbaumkugeln zum Müßiggang ein. Alles strahlte schlichte, aber umso kostspieligere Eleganz aus. Sie wandte ihren Blick in die Höhe. Die umlaufende Veranda im ersten Stock bot einen fantastischen Blick auf die Segelschiffe in der Kieler Bucht. Gediegenes Understatement, wohin man auch sah. Tja, so ließ es sich leben in Kiels nördlichstem Stadtteil Schilksee, wenn man geerbt hatte oder das nötige Kleingeld besaß. Wobei weder das eine noch das andere auf sie zutraf. Wundersamerweise handelte es sich bei diesem Schöner Wohnen-Architektentraum trotzdem um ihr neues Domizil. Fast jedenfalls.

Ihre tatsächliche Bleibe befand sich etwas versteckt im rückwärtigen Teil des weitläufigen Gartens. Telse stieß mit dem Knie die Edelstahlpforte auf und bugsierte die Sackkarre den Steinplattenweg entlang, der um die Villa herumführte. Er endete vor einem ausgebauten Gartenhaus. Dort packte sie den Karton zu den anderen, die schon davor lagerten, stellte die Karre zur Seite und ließ sich lang auf den Rasen fallen. Während sie verschnaufte, konnte sie sich kaum an ihrem neuen Zuhause sattsehen.

Das hier war schon eher ihre Kragenweite. Die Außenwände des Holzhäuschens leuchteten in einem warmen Rot. Vor den kleinen Sprossenfenstern wuchsen üppige Lavendelbüsche und duftende Rosensträucher. Das Schönste aber war eine wettergegerbte Holzplanke, die unter dem Spitzgiebeldach prangte. »Seemannsfrieden« hatte dort jemand hineingeschnitzt, und ein bisschen Frieden konnte Telse gut gebrauchen. Auch wenn sie kein Seemann war.

Bei ihr handelte es sich lediglich um eine entsorgte Redakteurin des Landei-Magazins Gartenwonne. Die Zeitschrift des Hamburger Verlagshauses Grotenhus besaß seit drei Monaten keine eigene Redaktion mehr. Stattdessen ließ die Verlagsleitung das Magazin jetzt extern von einer sogenannten Medienservice-Agentur zusammenschustern. Die Zeitschrift wurde dadurch zwar nicht besser, aber bedeutend billiger in der Herstellung, da der Verlag sich nicht mehr mit so unschönen Dingen wie Tarifverträgen herumschlagen musste. Und weil sie mit ihren siebenundvierzig Jahren eine neue Festanstellung vergessen konnte, schlug sie sich nun notgedrungen als freie Journalistin und Fotografin durch. Wobei der Begriff »frei« in erster Linie bedeutete, frei von geregeltem Einkommen zu sein. Glücklicherweise zeigte ein befreundeter Reiseredakteur Erbarmen und schanzte ihr hin und wieder kleinere Reportagen zu, deren Honorar aber nicht mal zum Überleben reichte. Doch sie war nicht wählerisch und nahm in ihrer prekären Lage so gut wie jeden Auftrag an, den sie ergattern konnte. Was in den meisten Fällen auf Werbetexte für Gartencenter oder naturnahe Swimmingpools hinauslief.

Hier, im »Seemannsfrieden«, wollte sie in Ruhe ihre Wunden lecken und darüber nachdenken, welche Art von Zukunft für sie noch bereitstehen könnte. Bevor das aufsteigende Selbstmitleid Oberhand gewinnen konnte, riss eine heitere Stimme Telse zurück ins Hier und Jetzt.

»Ach, da bist du. Ich wollte dir doch tragen helfen.«

Telse drehte den Kopf und sah durch die Grashalme eine Frau mit schulterlangen graublonden Haaren über den Gartenweg auf sie zuhasten. Ihr Leinenkleid umflatterte den kräftigen Körperbau wie ein Segel. Um den Hals trug sie eine Silberkette mit einem hühnereigroßen Bernsteinanhänger, der beim Laufen wie ein Pendel vor ihrer Brust hin und her schwang. Als sie das Häuschen erreicht hatte, ließ sie sich auf einen Bücherkarton sinken und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Dann wandte sie sich mit breitem Lächeln zu Telse. »Na, wie gefällt dir dein neues Eigenheim?«

»Super.« Telse rappelte sich in die Sitzposition hoch und strahlte ihre Freundin an. »Bullerbü könnte nicht schnuckeliger sein.«

»Warte ab, bis du die Eingeborenen kennenlernst.« Wanda Holle musterte die aufgetürmten Umzugskartons. Dann erhob sie sich mit einem Ruck. »Na, so viele sind es ja nicht mehr, also rein damit.« Sie ging in die Knie, wuchtete eine Bücherkiste hoch und marschierte damit auf den Eingang zu. Telse sprang auf, um ihr die Tür zu öffnen. Kaum hatte Wanda ein paar Schritte ins Haus gemacht, ließ sie den Karton auf die Holzdielen des kleinen Flurs knallen. Dann richtete sie sich auf und schlug die Handflächen aneinander, als wollte sie sie von lästigem Staub befreien.

»So, genug gearbeitet«, verkündete sie. »Jetzt feiern wir erst mal deinen Einzug. Der Schampus steht schon kalt. Kommst du mit nach oben?« Ohne eine Antwort abzuwarten, eilte sie mit voluminösem Stoffgeflatter voraus in Richtung Villa und bedeutete ihrer Freundin im Laufen nur ungeduldig mit der Hand, ihr nachzufolgen.

Telse schüttelte den Kopf. Typisch Wanda. Sie hielt sich ungern mit Arbeit und ähnlich lästigem Kleinkram auf, sondern kam lieber gleich zum gemütlichen Teil. Sie beide kannten sich schon seit Ewigkeiten, genauer gesagt seit Telses Volontariat bei Grotenhus. Wanda arbeitete damals als Leiterin des verlagseigenen Reisebüros, über das die Reporter und Redakteure ihre Geschäftsreisen abwickelten. Obwohl acht Jahre älter, hatte sie die unerfahrene Volontärin unter ihre Fittiche genommen und mit ihr das Hamburger Nachtleben aufgemischt. An die weinseligen Premierenpartys im Schauspielhaus konnte sich Telse noch gut erinnern. Tanzen, bis um fünf Uhr morgens in der Kantine die Stühle hochgestellt wurden. Manchmal kamen sogar heimliche Besuche der dunklen, verlassenen Bühne des Malersaals dazu, wenn sich einer der Bühnentechniker bei ihnen interessant machen wollte. Eine tolle Zeit. Bis eines Tages ein hochgewachsener sportlicher Mann im Reisebüro von Grotenhus auftauchte, der sich bei Wanda nach dem Weg zur Redaktion des Führungskräftemagazins Der Entscheider erkundigte. Es handelte sich um Jan Friedrich Holle, den vermögenden Eigentümer einer Bootsbauwerft, der sich kurz darauf entschied, Wanda zu kapern und in sein Anwesen nach Schilksee zu entführen. Anschließend segelte er mit ihr auf seiner Millionenjacht um die Welt, bis sie ihn neun Jahre später mit den Füßen voran von Bord trugen.

Die Erbschaft der trauernden Witwe war beachtlich. Wanda nannte jetzt nicht nur eine elegante Villa mit Meerblick, weitläufigem Garten und einem hervorragend bestückten Weinkeller ihr Eigen, sie besaß auch ein gut gefülltes Bankkonto, das sie bis zum Ende ihres Lebens vor Lohnarbeit jeglicher Art bewahren würde.

Ein Zustand, von dem Telse nur träumen konnte. Als die Kündigung der sicher geglaubten Festanstellung über sie hereingebrochen war, hatte sie zum ersten Mal in ihrem Leben Existenzangst in sich aufsteigen gespürt.

Erst vor zwei Jahren war ihr Ehemann Torsten von einem Geisterfahrer getötet worden, dann hatte sich ihre Tochter Julianne nach Kiel verabschiedet, um dort Informatik zu studieren. Der Rausschmiss aus dem Verlag war die Krönung gewesen. Wie sollte sie es schaffen, zukünftig die Miete für ihre traumhafte Vier-Zimmer-Altbauwohnung im Hamburger Stadtteil Ottensen zu bezahlen? Die Antwort lag auf der Hand: gar nicht. Die lächerliche Abfindung, die sie erhalten hatte, reichte gerade mal für ein halbes Jahr.

Und dann kam dieser denkwürdige Nachmittag. Telse hatte sich bei ihrer morgendlichen Rumtelefoniererei trotz allen Anbiederns und schon fast unanständig niedriger Honorarforderungen mal wieder nur Absagen eingehandelt. Nun saß sie denkbar schlecht gelaunt an einem kleinen Tisch vor dem Café Rosenkrantz in der Bahrenfelder Straße und starrte in ein großes schwarzes Loch. Plötzlich ließ sich eine mit edlen Einkaufstüten beladene Frau im knallroten Mantel auf den Stuhl neben ihr sinken, sprang sofort wie von einer Hummel gestochen wieder auf und fiel ihr um den Hals. Das war der Beginn des zweiten Teils ihrer Freundschaft, die durch Wandas Entführung nach Schilksee und ihre anschließenden Reisen in alle Teile der Welt eingerostet war. Ab und zu hatten sie zwar telefoniert, um den Kontakt nicht vollkommen abbrechen zu lassen, aber zu gemeinsamen Treffen war es nicht mehr gekommen. Das unerwartete Wiedersehen endete damit, dass Wanda Telse kurzerhand ihr unbenutztes Gartenhaus als kostenlose Bleibe anbot.

»Das ist doch gar keine Frage!« Wandas Miene ließ keinen Widerspruch zu. »Natürlich ziehst du bei mir ein. Die Hütte ist gar nicht so übel und steht schon seit über einem Jahr leer. Es wird Zeit, dass endlich wieder Leben in die Bude kommt. Früher hat unser Besuch da genächtigt, aber der ist seit Jan Friedrichs Tod deutlich weniger geworden. Außerdem ist bei mir in der Villa genug Platz für die ganze Sippschaft, falls die zufällig mal auf einen Schlag anreisen will. Komm schon, sag Ja!«

Telse schob ihre leere Kaffeetasse an den Rand des Tischchens, deutete darauf, hielt zwei Finger in die Höhe und signalisierte der Bedienung so die nächste Runde.

»Hast du dir das auch gut überlegt?« Das Angebot kam ziemlich plötzlich, deshalb versuchte sie, Zeit zu schinden. Schnelle Entscheidungen waren noch nie ihre Stärke gewesen.

»Sonst würde ich es dir nicht anbieten, Schätzchen.« Wanda sah ihr in die Augen. Sie meinte es anscheinend ernst. »Ich bin es leid, allein auf dem riesigen Grundstück zu leben. Mit dir in der Nähe würde ich mich viel wohler fühlen, das kannst du mir glauben. Mieteinnahmen brauche ich weiß Gott nicht, mir reicht es, wenn das Häuschen wieder bewohnt wird. Sonst verfällt es nur und riecht irgendwann komisch. Du brauchst auch keine Angst zu haben, ich könnte dir auf die Nerven fallen oder einfach reinschneien. Die Schlüssel hast nur du allein. Wir können das alles gerne vertraglich regeln, zur Sicherheit.« Sie legte ihre ringgeschmückten Hände auf Telses kräftige Finger, die mit einem Tütchen Zucker spielten. »Du würdest mir einen riesengroßen Gefallen tun. Ehrlich.«

Telse überlegte. Was sollte sie noch in dieser Stadt, die sie so schnöde abservierte? Schreiben konnte sie schließlich überall. Die Erinnerung an die gemeinsame Zeit mit Wanda weckte in ihr das Gefühl, doch noch einmal von vorne anfangen zu können. Was bei Licht betrachtet eher schwierig werden würde, aber egal. Auf jeden Fall war eine gute Freundin genau das, was sie jetzt brauchte. Und als Sahnehäubchen hätte sie in Kiel ihre ausgeflogene Julianne wieder in der Nähe. Deren Begeisterung darüber sich vermutlich in Grenzen halten würde.

Dann ging plötzlich alles ganz schnell, und keine drei Monate später war sie Bewohnerin eines traumhaften Hexenhäuschens am Meer.

3

TELSE TRUG SCHNELL die restlichen Kartons in den Hausflur, dann eilte sie ebenfalls zur Villa hinüber. Wie sie Wanda kannte, testete die bestimmt schon, ob der Schampus kalt genug war. Im Laufen warf sie einen kurzen Blick auf die glitzernde Wasserfläche zu ihrer Rechten. Eins war klar: Es hätte schlimmer kommen können. Da konnte ihr Hamburger Blut in den Adern brodeln, wie es wollte und nach Großstadt verlangen, Schilksee war jetzt ihre neue Heimat. Mit Sack und Pack und ohne Rückfahrkarte.

Telse drückte die angelehnte Haustür auf und erklomm die Treppe in den ersten Stock. Als sie durch den Salon auf die Veranda trat, musste sie ihrer Freundin ausweichen, die ihr geschäftig entgegenkam.

»Bedien dich schon mal.« Wanda nickte im Vorübergehen in Richtung eines kleinen Tischchens. »Ich besorge uns schnell was Leckeres dazu.«

Das ließ sich Telse nicht zweimal sagen. Der Blick auf die Kieler Bucht war von hier oben atemberaubend. Besonders wenn man mit einem Glas eisgekühltem Champagner in der Hand auf das gewöhnliche Volk herabsehen konnte, das auf der Strandpromenade vor dem Gartenzaun vorbeispazierte. Sie kam sich geradezu dekadent vor, wie sie so mit ihrem langstieligen Kelch an der Brüstung stand, was zum Teil auch an den neidvollen Blicken lag, die die Touristen zu ihr hochwarfen.

Wanda kehrte zurück, einen Teller mit Antipasti und Ciabatta-Brot vor sich her balancierend. Sie wirkte rundum zufrieden. Als sie die Platte auf dem Teaktisch platziert hatte, ließ sie sich in die Polster des Loungesofas sinken.

»Komm, lass uns anstoßen.« Sie angelte ihr Sektglas vom Tisch und hielt es in die Höhe. »Auf deinen Einzug. Skål!«

»Skål.«

Während Wanda das Glas in einem Zug zur Hälfte leerte, nippte Telse nur daran. Lieber erst mal eine solide Grundlage schaffen. Sie streckte die Hand nach einem Stück Brot aus und lud sich einen Schwung marinierte Tomaten darauf.

Plötzlich sprang Wanda auf, murmelte etwas von vergessenen Oliven und verschwand abermals im Salon. Telse lehnte sich bequem zurück, kaute und ließ ihren Blick schweifen. Auf einem der Sessel lag die aktuelle Ausgabe der Kieler Nachrichten. Sie schluckte den letzten Bissen hinunter, griff nach dem Blatt und schlug es auf. Mal sehen, was von dem, was die Welt bewegte, hier draußen wichtig war. Als sie beim Lokalteil angekommen war, kehrte Wanda zurück.

»Tut mir leid, dass es etwas gedauert hat.«

Statt zu antworten, tippte Telse auf ein Foto, das fast eine Viertelseite einnahm. »Sag mal, ist das nicht hier in Schilksee? Sieht aus wie an der Steilküste weiter unten.« Sie überflog den kurzen Text dazu. »Hätte ich nicht gedacht, dass es hier Wasserleichen gibt.«

Wanda riss ihr die Zeitung aus der Hand. »Wo?« Kurz darauf ließ sie das Papier sinken und starrte mit versteinertem Gesicht zum Horizont. Ihre gute Laune schien wie weggeblasen.

Telse sah ihre Freundin an, zwischen ihren Augenbrauen bildete sich eine Falte. »Alles o.k.?« Sie beugte sich zu Wanda hinüber und berührte sie sacht am Arm. »Kennst du die Tote etwa?«

Wanda schluckte. »Kann man so sagen.« Sie atmete tief ein und ließ die Luft langsam entweichen. »Ich hatte die Zeitung von heute noch gar nicht gelesen.« Sie biss auf ihren Zeigefingerknöchel und betrachtete erneut das Foto.

Telse stand auf und setzte sich neben Wanda auf das Sofa. Das Bild zeigte eine Gruppe Menschen am Strand, darunter Polizisten und Rettungssanitäter. Zwischen ihnen konnte man ein Geviert im Sand erkennen, das mit Flatterband abgesperrt worden war. In dessen Mitte lag etwas unförmig Längliches unter einer grauen Plastikplane verborgen.

Wanda holte noch einmal tief Luft. »Die schreiben, das ist Kirsten. Kirsten Reinfeld. Eine Grundschullehrerin. Kennt jeder hier.« Sie machte eine Pause. »Außerdem eine gute Freundin von mir.« Dann verstummte sie und starrte aufs Wasser.

Telse biss sich auf die Lippen. So hatte sie sich ihren Einstand an der Küste nicht vorgestellt. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, und nahm die Freundin stattdessen in den Arm. Die Zeitung rutschte auf den Fußboden. Keine sprach ein Wort.

Nach einer Weile räusperte sich Wanda, kramte ein zerknülltes Taschentuch aus ihrem Flatterkleid und putzte sich lautstark die Nase. »Das glaube ich nicht.« Ihre Stimme klang kratzig, aber fest. »Dass das Kirsten ist.«

»Jetzt atme erst mal durch.« Telse bemühte sich um einen sanften Tonfall. »Natürlich ist das ein Schock.«

»Nein. Das kann einfach nicht sein.« Schockiert klang Wanda eigentlich nicht, eher sachlich. »Kirsten ist eine ausgezeichnete Schwimmerin. Ganzjahresschwimmerin«, setzte sie nach. »So eine ertrinkt nicht.«

Anstelle einer Antwort angelte Telse nach der Zeitung und studierte den Artikel erneut mit konzentriert zusammengekniffenen Augen. »Die sagen, es war wohl ein Zusammenstoß mit einem Boot. Die Kopfverletzungen würden darauf hindeuten.« Sie ließ das Blatt sinken. »Wahrscheinlich hatte sie im Wasser eine Herzattacke, einen Krampf oder etwas in der Art. Dadurch ist sie vielleicht abgetrieben und ins Fahrwasser geraten. Und dann ist eben der Unfall passiert.« Sie hob bedauernd die Schultern. »Die Arme hat offenbar riesiges Pech gehabt.«

»Nein!«

Überrascht von dem messerscharfen Ton musterte Telse ihre Freundin. Einen Moment schwiegen beide, dann wurde Wandas Gesichtsausdruck weicher.

»Ich will es dir erklären.« Ihre abwehrend gehobenen Schultern entspannten sich etwas. »Weißt du, was Ganzjahresschwimmerin bedeutet?« Ohne auf eine Antwort zu warten, fuhr sie fort. »Kirsten steigt jeden Tag vor Schulbeginn ins Meer und schwimmt ihre fünfzehn Minuten. Im Sommerhalbjahr sogar eine halbe Stunde. Und wenn ich sage jeden Tag, dann meine ich das auch. Ihr ist es komplett egal, ob es regnet, stürmt oder schneit. ›Du musst nur hinterher für warme Füße sorgen‹, sagt sie immer, ›dann ist das Wetter unwichtig.‹ Sie braucht das so wie wir unseren Kaffee oder Tee in der Früh. Jeden Morgen um sechs Uhr tritt sie an.« Sie biss sich auf die Lippen und machte eine Pause. Als sie wieder zu sprechen begann, klang ihre Stimme aufgebracht. »Kirsten war die Gesundheit in Person. Die war nie krank, niemals! Bei ihr wurden Ärzte arm, das kannst du mir glauben.«

Wanda sprang von dem Loungesofa hoch und lief mit stampfenden Schritten die Veranda ab, dabei redete sie weiter. »Herzattacke, dass ich nicht lache! Die hatte eine Pumpe wie ein Ochse. Kirsten wäre auch mit nur einem Bein und einem Arm noch an Land geschwommen.«

»Aber so ein Herzanfall kann doch jeden treffen«, warf Telse ein. Sie hörte selbst, wie lahm das klang.

Wanda schnaubte. »Jeden, außer Kirsten. Die hätte problemlos einen Triathlon geschafft. Außerdem wäre sie niemals das Risiko eingegangen, in der Nähe des Schiffsverkehrs zu schwimmen. Sie war mutig, aber nicht leichtsinnig.« Wanda hielt kurz inne und fixierte ihre Freundin. »Ich sage dir, da ist etwas faul. Da stimmt was nicht. Das spüre ich so sicher in meinen Knochen wie das Nahen einer Gewitterfront. Auf meinen Instinkt konnte ich mich schon immer verlassen.«

Telse zuckte mit den Schultern. »Tja, da kannst du wohl nichts machen. Die Polizei wird die Sache sicherlich untersuchen, die Rechtsmedizin ebenfalls. Aber die sagen«, sie deutete auf die Zeitung, »dass die Verletzungen ziemlich eindeutig sind.« Sie überlegte. »Also, wenn sie nicht in der Fahrrinne geschwommen ist oder dorthin abgetrieben wurde, kann das ja nur heißen, dass sie von einem Motorboot überfahren worden ist. Rücksichtslose Raser gibt es schließlich nicht nur auf den Straßen. Warum sollten Bootfahrer besser sein als Autofahrer? Wir können nur hoffen, dass sie den Kerl kriegen und zur Rechenschaft ziehen.« Sie verstummte und ihre Augen folgten Wandas Hin- und Hergelaufe.

Plötzlich blieb diese stocksteif stehen und stützte die Hände in die Hüften. »Natürlich! Natürlich kann ich etwas machen.« Ein spitzbübischer Blick blitzte auf. »Du musst ihn sowieso kennenlernen. Das ist die Gelegenheit.«

Telse atmete erleichtert auf. Offensichtlich hatte sich Wandas Stimmung gehoben. »Hast du dir etwa heimlich einen Köter angeschafft?« Sie grinste. »Hol den Bluthund ruhig aus dem Zwinger, ich springe solange auf den nächsten Baum oder schließe mich hier oben ein. Dann kann er gleich Witterung aufnehmen und den Täter in Stücke reißen. Falls es einen gibt.« Die Bemerkung sollte flapsig klingen, bewirkte aber, dass Wanda sofort wieder ernst wurde.

»Genau das ist der Punkt. Kirsten stirbt nicht aus einem dummen Zufall heraus, das kann mir keiner erzählen. Sie war eine hervorragende Schwimmerin und keine Boje. Die Kollision kann nur tödliche Absicht gewesen sein. Also …«, sie senkte die Stimme, »war es Mord.«

Wanda trat an die Brüstung und starrte in kerzengerader Haltung über das Meer. In diesem Moment wirkte sie auf Telse wie die finstere Herrscherin eines unbotmäßigen Volkes. »Und ich werde herauskriegen, wer es war. Das schwöre ich!«

Telse schwieg. Das ging ihr alles ein bisschen zu schnell. Eigentlich war sie für die nächste Zeit auf ein ruhiges, ereignisloses Vorstadtleben eingestellt. Andererseits kannte sie Wanda gut genug, um zu wissen, dass diese niemals lockerlassen würde, bevor sie nicht der Sache auf den Grund gegangen war. So viel zum Thema Bluthund. Nach einer Weile fiel ihr etwas ein. »Wen soll ich denn übrigens kennenlernen?«

»Ach ja!« Wanda drehte sich zu ihr um. »Olaf natürlich. Olaf Wuttke, mein Nachbar links. Da, wo es im Garten nach Urwald aussieht.« Sie deutete von der Veranda hinunter auf ein etwas verlottert wirkendes Grundstück, das direkt an ihre tadellose Ligusterhecke grenzte.

Telse äugte interessiert hinüber. Hinter einem Gewirr aus fast verblühten Stockrosen konnte sie ein Einfamilienhäuschen aus rotem Backstein ausmachen. Von hier oben hatte sie einen unverstellten Blick auf die Holzplanken der Terrasse, wo ein angerosteter Kohlengrill auf seinen letzten Einsatz wartete. Davor breitete sich eine Wildwiese aus, die Weißklee und Giersch ein vom Mäher ungestörtes Biotop bot. Eine kaum noch zu erkennende Harke und ein Blumentopf mit scheintoter Yuccapalme hatten dazwischen ihre letzte Ruhestätte gefunden.

Wanda folgte ihrem Blick. »Gartenarbeit ist halt nicht so sein Ding.« Sie zuckte mit den Schultern. »Und seine Frau Camilla ist sowieso immer unterwegs. Singapur, Dubai, Gelsenkirchen, was weiß ich. Diese McKinsey-Fritzen treiben sich ja auf dem ganzen Globus herum, um die Welt in den Abgrund zu stürzen.«

Aha, Klassenkampf konnte sie also immer noch. Von hier oben ging das natürlich besonders gut. Telse biss sich auf die Zunge. »Und warum soll ich deinen Strohwitwer ohne grünen Daumen unbedingt kennenlernen? Braucht er jemanden zum Unkrautzupfen?«

»Nein, gewiss nicht. Olaf liebt das Wilde, nicht nur im Garten.« Bevor Telse um nähere Erläuterung bitten konnte, fuhr Wanda fort: »Außerdem ist er nicht nur mein bester Freund, sondern auch Kieler Kriminalhauptkommissar. Ich werde ihn für heute Abend einladen. Zu einem guten Glas Rotwein sagt er niemals Nein.« Sie lächelte. »Mal sehen, ob mein exklusiver Brunello seine Zunge etwas lockert.« Das Lächeln wurde eine Spur breiter und einen Hauch undefinierbarer.

Telse nickte ergeben. Wenn ihr neues Leben an der Küste gleich mit einer Wasserleiche und einem Kommissar anfing, dann sollte es eben so sein. Da konnten sich die langweiligen Hamburger mal eine Scheibe von abschneiden. Willkommen in Schilksee, im Herzen der Finsternis.

4

ZWEI STUNDEN SPÄTER ärgerte sich Telse doch, dass sie nicht protestiert hatte, als Wanda sie ungefragt für den Abend verplant hatte. Ein gemütlicher Tagesausklang unter Freundinnen wäre ja in Ordnung gewesen, vielleicht etwas Leckeres zusammen kochen und in Erinnerungen an alte Zeiten schwelgen. Da hätte sie bequem in ihrer Jogginghose herumlümmeln können. Nun musste sie sich nach der ganzen Plackerei wegen dieses Kriminalkommissars so spät noch aufrüschen. Und alles nur, weil Wanda eine Spökenkiekerin war, die nicht an einen Unfall glauben wollte. Sie seufzte. Es war wohl besser, sie machte das Spiel mit und bei ihrem neuen Nachbarn einen guten Eindruck.

Lustlos klappte sie den nächsten Umzugskarton auf und durchwühlte den Inhalt. Mist, nur Winterpullover. Jetzt reichte es ihr. Der werte Herr Kommissar würde es überleben, wenn sie in ihren Arbeitsklamotten aufkreuzte. Außerdem wollte sie nicht zu spät kommen. Telse fuhr sich vor dem Flurspiegel rasch mit den Händen durch die kurzen dunklen Haare und musterte Jeans und T-Shirt. Immerhin fast sauber. Mit ihren schlaksigen Einmeterneunundsiebzig fühlte sie sich darin sowieso am wohlsten. Sie zog ihrem Spiegelbild eine Grimasse, griff nach der Tüte Kartoffelchips auf der Kommode und machte sich damit auf den Weg.

Als Wanda die Haustür öffnete, musste Telse feststellen, dass diese sich, im Gegensatz zu ihr selbst, ordentlich ins Zeug gelegt hatte. Die Kombination aus tief ausgeschnittener Seidenbluse, leuchtend rotem Lippenstift und dunkel umrandeten Augen ließ sie Böses ahnen. So donnerte sich Wanda gewöhnlich nur aus taktischen Gründen auf. Oder wenn sie auf Beute aus war. Jetzt wurde Telse doch neugierig auf den professionellen Ermittler von nebenan.

»Wir sitzen im Blauen Salon, draußen weht es einfach zu kühl. Komm!«

Telse folgte ihrer Freundin nach oben. Kaum war sie durch die Tür, erhob sich ein hochgewachsener, drahtiger Mann aus dem Sessel. Sie schätzte ihn auf Mitte fünfzig, bei genauerer Betrachtung vielleicht auch älter. Sein Gesichtsausdruck, der an einen melancholischen, aber hellwachen Kater denken ließ, machte die Altersbestimmung schwer. Die grauen Haare waren millimeterkurz geschorenen, wodurch nicht so auffiel, dass sie über der Stirn spärlich wurden. Immerhin sieht er genauso schlampig aus wie ich, stellte Telse fest. Sie hatte sofort die ausgebeulte Leinenhose und das ungebügelte Poloshirt registriert, das machte ihn ihr gleich sympathisch. Vielleicht wurde der Abend ja doch ganz interessant. Als sie bemerkte, dass sie immer noch die Kartoffelchips in der Hand hielt, legte sie die Tüte kurz entschlossen in einer mit Muscheln gefüllten Schale auf dem Fensterbrett ab.

»Jetzt lernst du sie endlich kennen, meine liebe alte Freundin Telse, die es in Hamburg nicht mehr ausgehalten hat und jetzt bei mir wohnt.« Wanda zog Telse an sich und drückte sie kurz. »Und das hier« – sie wies auf ihren Besucher – »ist Olaf Wuttke, der unerbittlichste Verbrecherjäger von Kiel, ach, was sage ich, von ganz Schleswig-Holstein.«

Sie lächelte ihren Nachbarn an, dem die Lobhudelei sichtlich unangenehm war, und dirigierte Telse zu den cremefarbenen Ledersofas. »Mit ihm an meiner Seite kann mir nichts passieren.«

»Schön wärs«, sagte Olaf Wuttke, während er Telses Hand schüttelte. »Da wäre ich an deiner Stelle nicht so sicher.« Damit nahm er wieder Platz, angelte die schon entkorkte Rotweinflasche vom Tisch und studierte das Etikett. Er schenkte sich einen Probierschluck ein, hob das bauchige Weinglas an seine Nase und schnupperte am Inhalt, bevor er daran nippte.

»Sicher« war das Stichwort für Wanda. »Genau. Bisher habe ich mich in Schilksee durchaus sicher gefühlt, aber seit dieser Sache mit Kirsten Reinfeld ist das nicht mehr so. Du weißt, die Tote am Strand.« Sie machte eine Kunstpause und sah ihn herausfordernd an.

Telse war beeindruckt. Ihre Freundin ließ wahrhaftig nichts anbrennen und kam ohne Umschweife zur Sache.

Olaf Wuttke reagierte nicht, sondern nippte erneut am Wein. »Ein feines Stöffchen hast du da.« Er setzte das Glas wieder ab und schenkte allen ein.

Wanda starrte ihm ins Gesicht und wartete.

»Erstens passt du in allen Lebenslagen schön auf, zweitens schwimmst du so gut wie nie im Meer, und drittens bist du topfit«, bequemte er sich schließlich zu einer Reaktion.

»Ha, ha!« Wanda schnaubte.

»Was soll das heißen? Hast du eine Erkrankung, von der ich nichts weiß?« Jetzt sah er seine Nachbarin ehrlich besorgt an, so besorgt, dass es Telse warm ums Herz wurde.

»Ach was!« Wanda machte eine wegwerfende Handbewegung. »Aber die hatte Kirsten auch nicht.« Sie stand auf und begann, auf und ab zu gehen.

»Sie ist der festen Überzeugung, dass ihre Freundin nicht durch einen Unfall gestorben ist«, mischte sich Telse ein.

Wanda hob entnervt die Arme. »Ich bitte dich! Die Vorstellung ist einfach lächerlich! Olaf, du weißt genau wie ich, dass sie jeden Tag geschwommen ist und nie das kleinste Zipperlein hatte. Zum Leidwesen ihrer Schüler, nebenbei gesagt, bei denen all die Jahre keine einzige Unterrichtsstunde wegen Krankheit ausgefallen ist. Und sie war eine erfahrene Schwimmerin, in der Fahrrinne wäre sie niemals gekrault.« Wanda blieb unvermittelt stehen. »Hat denn die Rechtsmedizin schon etwas herausgefunden?«

Olaf Wuttke lehnte sich in seinem Sessel zurück und grinste. »Aha, daher weht der Wind. Meine liebe Nachbarin möchte mal wieder vertrauliche Informationen aus mir herausquetschen und opfert dafür sogar einen ihrer besten Rotweine. Ganz zu schweigen davon, dass sie mich unter dem Vorwand zu sich lockt, mir ihre neue Mitbewohnerin vorstellen zu wollen. Von der ich noch gar nichts erfahren habe, mit Verlaub.« Er schenkte Telse ein charmantes Lächeln.

Wanda wedelte ungeduldig mit der Hand. »Dazu kommen wir später.« Sie setzte sich wieder auf das Sofa. »Nun sag schon. Du weißt, dass du dich auf mich verlassen kannst. Ich tratsche nicht. Und meine Freundin hier auch nicht, dafür lege ich meine Hand ins Feuer.« Wanda rutschte auf dem Sofa etwas näher zu Telse. »Sie ist übrigens Journalistin, neuerdings freie.«

Wuttke zog die Augenbrauen hoch. »Auch das noch. Über meine Lippen kommt kein Sterbenswörtchen.« Er beugte sich zu Telse hinüber und raunte: »Ist nicht persönlich gemeint, aber ich habe mit der schreibenden Zunft beruflich schlechte Erfahrungen gemacht.«

»Wir hatten ja noch keine Gelegenheit, uns kennenzulernen«, warf Telse etwas hilflos ein. Sie wollte nicht zwischen die Fronten geraten.

»Papperlapapp.« Wanda füllte die Gläser nach. »Für eure Lebensgeschichten ist später immer noch Zeit. Olaf hat abends ja meistens nichts vor, oder?« Ein schelmischer Blick. Dann wurde sie sofort wieder ernst. »Also, Butter bei die Fische. Was hat euer Medizinmann entdeckt?« Als keine Antwort kam, setzte sie nach: »Vorher kommst du hier nicht raus, das ist dir doch klar, oder?«

Olaf Wuttke studierte stumm das rückwärtige Etikett der Weinflasche.

Schließlich sprach Wanda die ultimative Drohung aus: »Oder soll ich nie wieder ein mehrgängiges Sternemenü für dich zaubern? Willst du als Gelegenheitssingle demnächst an Dosenravioli und Tiefkühlpizza verenden?«

Wuttke wand sich, das konnte Telse nachfühlen. Wanda war schon immer eine begnadete Köchin gewesen. »Sie brauchen wirklich keine Angst zu haben, dass irgendetwas von dem, was Sie erzählen, nach außen dringt«, versuchte sie, ihn zu beruhigen. »Keine Silbe, die in diesem Raum gesprochen wird, gelangt an die Öffentlichkeit, darauf gebe ich mein Wort.«

Eine Weile herrschte Stille. Olaf Wuttke strich über seine grauen Stoppeln und blickte aus dem Fenster auf die Kieler Bucht. Schließlich fragte er an Wanda gerichtet: »Wie gut kanntest du Kirsten Reinfeld?«

»Gut genug, um zu wissen, dass da etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen ist, mein Lieber.«

»Ist sie immer ohne Jacke und Handtuch zum Schwimmen gegangen?«

Wanda stutzte. »Nein, wieso? Sie wohnt zwar in Strande, ist aber immer mit dem Fahrrad nach Schilksee gefahren. Mit Jacke, es ist ja schon recht herbstlich morgens. Bei schlechtem Wetter hat sie auch mal das Auto genommen. Sie meinte, hier wäre das Wasser sauberer. Und selbst wenn sie die Jacke vielleicht mal weggelassen hat: Ihr Handtuch hatte sie immer dabei. Anschließend ist sie gleich weiter in die Schule, um in Ruhe ihren Unterricht vorzubereiten.«

Nachdenklich strich sich Wuttke übers Kinn, dann fragte er: »Und wo hatte sie die Sachen deponiert, wenn sie im Wasser war?«

»Soviel ich weiß, meistens auf den Findlingen bei der Strandtreppe. Bietet sich ja an.« Wanda verengte die Augen. »Warum?«

Wuttke zögerte. »Weil wir in einiger Entfernung davon zwar ihre Kleidung, aber weder ein Handtuch noch eine Jacke gefunden haben. Ihr Fahrrad übrigens auch nicht. Ganz zu schweigen von einer Tasche mit Schulsachen, aber die hatte sie nachweislich zu Hause gelassen.« Er nahm einen Schluck Rotwein.

»Vielleicht hat jemand die Klamotten geklaut?«, schlug Telse vor.

»Warum sollte man ein altes Handtuch klauen? Und so zeitig am Morgen läuft da doch kein Mensch herum.« Wanda trommelte mit den Fingern auf dem Couchtisch aus alten Eichenbohlen herum. »Nein, nein. Das ist äußerst merkwürdig.«

»Vielleicht war Ostwind«, legte Telse nach. »Bei starkem Wellengang könnte sie ihre Sachen irgendwo höher an der Steilkante abgelegt haben.« Sie überlegte. »Oder auf die Treppenstufen. Und von da sind Handtuch und Jacke runter ins Gebüsch gefallen oder weggeweht worden.«

Wuttke winkte mit müder Geste ab. »Unsere Leute haben alles abgesucht. Da war nichts, nicht mal der kleinste Lumpen.«

So langsam fand auch Telse die Geschichte mysteriös. »Aber wo sind die Sachen dann abgeblieben? Und ihr Fahrrad? Was meinen Sie?«

»So, jetzt reicht es aber mit dem Gesieze«, erklärte Wanda energisch. »Wir sind erstens Nachbarn und haben zweitens ein Verbrechen aufzuklären, da sollten wir per Du sein.« Sie deutete mit beiläufiger Geste erst auf die eine, dann auf den anderen. »Telse – Olaf, Olaf – Telse. Irgendwelche Einwände?«

Beiderseitiges Kopfschütteln.

»Dann können wir ja weitermachen.«

»Womit denn?« Olaf Wuttke lehnte sich im Sessel zurück. »Ein paar Schnittchen wären jetzt gut, dein Wein steigt mir schon zu Kopf.«

»Nun lenk nicht ab. Futter gibt es erst, wenn du endlich damit rausrückst, was euer Leichenaufschneider gefunden hat. Er hat doch Kirsten schon untersucht, oder irre ich mich? Die Leiche wurde am Freitagmorgen gefunden, so stand es zumindest in der Zeitung, und ihr seid ja von der schnellen Truppe. Besonders viele Tote gibt es hier gewöhnlich nicht.«

»Ja, schon.« Er seufzte tief und legte die Stirn in noch mehr Falten. »Aber ich darf euch nichts sagen, das weißt du doch.«

»Also hat er etwas entdeckt!« Der Triumph in Wandas Stimme war nicht zu überhören.

Der Kommissar guckte gequält. »Es handelt sich übrigens um eine Sie. Frau Doktor Kernbeiss ist unsere neue leitende Rechtsmedizinerin. Eine außerordentlich kompetente, nebenbei bemerkt. Die ist noch misstrauischer als ich, was ungeklärte Todesfälle angeht, und das will schon etwas heißen.«

»Olaf!« Wanda funkelte ihn an.

Wuttke holte tief Luft und ließ beim Ausatmen die Schultern sacken. Dann fuhr er fort: »Na gut, du gibst ja sowieso nicht auf.«

Die beiden Frauen nahmen unbewusst Haltung an und hingen förmlich an seinen Lippen.

»Sie hat tatsächlich etwas gefunden.« Es war deutlich zu sehen, dass er sich einen Ruck geben musste. »Trotz längeren Aufenthalts des Körpers im Wasser konnte Frau Doktor Kernbeiss in der Kopfwunde noch Reste von Holz- und Lacksplittern sicherstellen. Das stützt unsere Vermutung, dass es sich um eine Kollision mit einem Boot gehandelt haben könnte. Außerdem hatte Frau Reinfeld an Hals und Schultern nicht nur Verletzungen von hackenden Möwenschnäbeln, sondern auch größere Abschürfungen.« Pause.

»Und weiter? Was noch?« Wanda ließ ihn nicht aus den Augen.

»Tja. Ist wirklich nichts Besonderes, aber bitte schön. Unter ihrem rechten Augenlid steckte eine Kontaktlinse, die von der Iris heruntergerutscht und ganz nach oben in die Ecke gewandert war. Eine harte, falls dich das weiterbringt. Links trug sie keine. Wird vermutlich rausgefallen sein. So, das wars.« Sein Blick wirkte gleichmütig. »Zufrieden?«

»Ich habs gewusst!« Wanda schlug mit der flachen Hand auf die Eichenplanken des Couchtisches, dass es klatschte. Ihr Minenspiel drückte gleichzeitig Befriedigung und Erbitterung aus. Als sie die fragenden Blicke bemerkte, erklärte sie: »Kirsten trug Kontaktlinsen, aber niemals, wenn sie ins Wasser ging. Da hatte sie ihre Brille auf. Nicht im Meer natürlich, sondern vorher, auf dem Weg dorthin. Die Linsen hatte sie in der Tasche dabei, um sie später in der Schule einzusetzen, das weiß ich hundertprozentig. ›Ich kann mir doch nicht jede Woche ein neues Paar von den Dingern kaufen‹, hat sie mal gesagt. Sie meinte, da müsse ihr nur eine Welle ins Auge schwappen, und schon wäre die Linse draußen. ›Da schwimme ich lieber halb blind. Den Weg kenne ich ja.‹ Das waren ihre Worte.« Sie lehnte sich zurück und blickte ihre Gäste herausfordernd an.

Der Kriminalhauptkommissar schwieg und drehte das Weinglas in der Hand.

Telse kam ein neuer Gedanke. »Was ist eigentlich mit ihrem Ehemann? Du hast ihn erwähnt. Hat er eine Ahnung, was passiert sein könnte?«

Wanda nickte nachdrücklich. »An der Aussage dieses Herrn bin ich auch äußerst interessiert.«

»Ihr seid wohl nicht gerade befreundet«, sagte Telse trocken.

Wanda schnaubte. »Er ist ein fauler Sack, der Kirsten oft genug auf die Nerven ging.«

Bevor sie sich noch weiter über Reinfelds Charakter auslassen konnte, unterbrach Olaf sie. »Den haben wir natürlich gleich gefragt, ob sie gesundheitliche Probleme hatte oder irgendetwas ungewöhnlich war. Er wusste von nichts. Hat erklärt, dass seine Frau zum Schwimmen gefahren ist, als er noch im Bett lag. Wie jeden Morgen. Warum sie ihre Schulsachen nicht dabeihatte, konnte er nicht sagen. Vielleicht hat sie die an dem Freitag nicht gebraucht. Mit dem Wagen ist sie jedenfalls nicht los, der stand noch im Carport. Das Fahrrad befand sich aber nicht mehr darin.« Er hob beide Hände mit den Innenflächen Richtung Decke und ließ sie kraftlos wieder nach unten fallen. »Wir müssen davon ausgehen, dass es eine Verkettung unglücklicher Umstände gewesen ist, die zum Tod von Kirsten Reinfeld geführt haben. Sie ist mit einem Boot kollidiert, aus welchen Gründen auch immer, anders sind ihre Verletzungen nicht zu erklären. Das sagt auch Frau Doktor Kernbeiss. So was kommt öfter vor, als man denkt.« Ende der Predigt.

»Und die Linse?«, fragte Telse skeptisch.

»Vielleicht hatte sie es an diesem Tag eilig oder die Brille verlegt.« Er zuckte mit den Schultern. »Was weiß ich.«

»Ich sage dir, die Sache stinkt zum Himmel. Da ist etwas so faul, das rieche ich meilenweit gegen den Wind. Unfall!« Wanda schüttelte den Kopf. »Dass ich nicht lache. Das muss Absicht gewesen sein.«

»Mit welchem Motiv? Hatte deine brave Grundschullehrerin etwa Feinde? Akzeptier das Unglück einfach, auch wenn es dir schwerfällt. Auf unseren Straßen sterben täglich viel mehr Menschen durch blinde Raserei als auf dem Wasser. Diesen Blutzoll hält alle Welt für normal. Übrigens, hattest du nicht etwas von einer leckeren Kleinigkeit gesagt, als du mich eingeladen hast? Ich könnte jetzt durchaus was Herzhaftes vertragen, dein Wein hat es in sich.«

»Eine gute Idee«, beeilte sich Telse, ihm beizupflichten. »Und ich hole eine Schüssel für die Chips.«

Wanda verdrehte die Augen und ließ sich in die Polster sinken.

»Ach komm.« Telse erhob sich und zog an Wandas Hand, um sie zum Aufstehen zu ermuntern. »Wir müssen einsehen, dass Herr Wuttke, äh, Olaf recht hat. So rätselhaft es für dich auch sein mag.«

Wanda rührte sich nicht. »Dann hat die Polizei den Fall zu den Akten gelegt, schließe ich aus deinen Äußerungen?« Sie fixierte eine Stelle irgendwo hinter Olafs Kopf.

»Noch nicht. Wir werden natürlich den gesamten Schiffsverkehr, der zur mutmaßlichen Unfallzeit auf der Förde unterwegs war, überprüfen. Aber mach dir mal nicht zu viele Hoffnungen. Wenn ein privater Skipper mit seinem Motorboot oder seiner Segeljacht durch die Bucht brettert, wird das nirgends registriert. Der kann schon längst drüben in Dänemark sein. Es sei denn, wir finden einen Augenzeugen. Aber das würde uns vermutlich nur nützen, wenn er sich zufällig den Schiffsnamen gemerkt hat. Und jetzt genug davon, ich habe Hunger.« Der Kriminalhauptkommissar wuchtete sich aus seinem Sessel. »Wie kann ich dir helfen?«

Wanda winkte ab und stand auf. »Ich mach das schon, setzt euch einfach wieder hin. Obwohl, Telse«, ließ sie beiläufig im Gehen fallen, »könntest du mir vielleicht kurz in der Kombüse zur Hand gehen?«