11,99 €
4,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 11,99 €
Jede Narbe erzählt eine Geschichte … Cillian Harlow – der Name dieses Mannes genügt, um Florie schauern zu lassen, denn die Geschichten über den Boss der berüchtigtsten Gang Englands sind grausam. Dass sie ihm eines Tages begegnet und einen Deal mit ihm eingeht, hätte sie daher nie für möglich gehalten. Schließlich will Florie als angehende Ärztin Menschen helfen, statt sie auszuliefern. Auch Cillian wäre lieber nicht auf diese Zusammenarbeit angewiesen. Einer Zivilistin zu vertrauen, kann er sich nicht leisten. Doch ausgerechnet in ihrer Gegenwart droht seine Maske zu fallen und bald stehen nicht nur Leben, sondern auch ihre Herzen auf dem Spiel. With All Your Scars ist eine Mischung aus Peaky Blinders und deiner liebsten New-Adult-Romance. Spannend. Romantisch. Mit cozy Found-Family-Vibes. SPIEGEL-Bestsellerautorin Laura Kneidl In ihrer neuen Romantic-Suspense-Dilogie rund um das Queens Cartel in England fesselt SPIEGEL-Bestsellerautorin Anne Lück ihre Leser*innen mit der perfekten Mischung aus Medizin und Crime. - Slow-Burn-Romance: In dieser mitreißenden Geschichte trifft eine Medizinstudentin auf einen berüchtigten Gangsterboss – voller prickelnder Gefühle, Geheimnisse und Gefahr. - Für Fans von Peaky Blinders und Grey's Anatomy: Anne Lück begeistert in ihrer neuen New-Adult-Reihe mit einer Kombination aus Medizin und düsterer Ganggeschichte. - Atmosphärisches Setting in englischer Großstadt: Das herbstliche Leeds mit seinen roten Backsteingebäuden und windigen, regnerischen Nächten fängt die romantisch-spannungsvollen Vibes der Geschichte perfekt ein. - Erstauflage mit opulentem Farbschnitt und Charakterkarte!
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 573
Veröffentlichungsjahr: 2025
Liebe Leser*innen,
dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Deshalb findet ihr auf der letzten Seite eine Triggerwarnung.
Achtung: Diese enthält Spoiler für die gesamte Geschichte!
Wir wünschen euch das bestmögliche Leseerlebnis.
Eure Anne und das Loewe Intense-Team
>
Meinen Leser*innen. Für jeden Einzelnen von euch.Danke.
Playlist
Eilmeldung
1FlorieDie Nulllinie auf …
2FlorieDie Umkleide ist …
3FlorieObwohl ich eigentlich …
4CillianDie Glastür meines …
5FlorieEin Mann ist …
6FlorieMein ganzer Körper …
7Florie»Judd.« Es ist …
8CillianDas helle Licht …
9Florie»Viele der Unterbosse …
10FlorieIn Chapeltown ist …
11FlorieWährend ich Parker …
12FlorieIch habe gerade …
13CillianIch sitze noch …
14FlorieDie ersten zwei …
15FlorieEin paar Sekunden …
16CillianVor dem St. Johns …
17FlorieDie Polizei nimmt …
18FlorieEs ist seltsam …
19FlorieNicos Wohnzimmer fühlt …
20CillianMehr als die …
21FlorieZwei junge Männer …
22FlorieBis zum Wochenende …
23FlorieDie Rivalitäten zwischen …
24FlorieEin Mann Anfang …
25CillianMein Atem geht …
26FlorieDie Betroffenen der …
27FlorieJudds ganzer Körper …
28FlorieJudd und ich …
29CillianDer Angriff von …
30FlorieAugenzeugen berichten, Cillian …
31FlorieStöhnend lasse ich …
32FlorieEs ist das …
33FlorieDas Licht im …
34FlorieGegen zwei Uhr …
35FlorieNico behält recht …
36FlorieEin Reisebus ist …
37Florie»Noch nie zuvor …
38CillianDrei Leichen wurden …
39FlorieIch werde mit …
40FlorieIch spüre, wie …
41CillianAls damals die …
42FlorieWie ein elektrischer …
43FlorieEine Woche später …
44Cillian»Du siehst schrecklich …
45Cillian»Bereit?« Judd strafft …
46Florie»Passen Sie gefälligst …
47FlorieIch erinnere mich …
48FlorieEs ist tiefe Nacht …
Epilog6 Monate später
Danksagung
Triggerwarnung
Über die Autorin
Weitere Infos
Impressum
The Midnight, Uppermost – Shadows (Uppermost Remix)
Charity Vance – Not Ok, Ok!
Tomatow, SagaB, Adam Putra – Throne
HAYLA – Fall Again
Sawano Hiroyuki, mizuki – TuNGSTeN
Zeli – Sharks
Iniko, Shiloh Rodriguez – Jericho
(Shiloh Cinematic Remix)
Zerb & The Chainsmokers feat. Ink – Addicted
Darci & OZZIE – Take It Back
Syence – Talking Way Too Much
TIDES – Shadows
Florence + The Machine – Seven Devils
DEELYLE – Devil’s Den
Laura Welsh – Break The Fall
Crywolf – Never Be Like You
Astrid S – Hurts So Good
Sickrate – Only One
3LAU feat. Carly Paige – Touch
Skye Riley, Naomi Scott – Death of Me
Prvnci – My Skin
TeZATalks – Find Me
Kim Petras – Icy
Bryce Fox feat. King Green – King Is Dead
Eilmeldung – Gangrivalitäten halten an: zahlreiche Verletzte nach Messerstecherei
Am heutigen Abend kam es in der Innenstadt von Leeds zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen den zwei größten rivalisierenden Gangs der Stadt: dem Queens Cartel und Black Dragon. Mehrere Personen erlitten schwere Stichverletzungen. Sie wurden zur Versorgung ins St. Joseph’s University Hospital gebracht.
Der Kampf begann gegen 18 Uhr in The Headrow und konnte erst nach einer halben Stunde von der Polizei beendet werden.
Der Auslöser für die Streitigkeiten ist nach aktuellem Stand ungeklärt. Sicher ist nur, dass es einer von vielen Zusammenstößen in den letzten Wochen war, der Menschenleben aufs Spiel gesetzt hat.
Seit Bart Howger, der ehemalige Boss vom Queens Cartel, vor vier Jahren aus nächster Nähe erschossen wurde, hält dieser Bandenkrieg die Stadt in Atem. An Howgers Stelle trat der berüchtigte Cillian Harlow, der den kaltblütigen Mord selbst verübt haben soll. Ein Spitzenwechsel, der seitdem zu wiederkehrenden blutigen Aufeinandertreffen mit Black Dragon und deren skrupellosen Boss Daniel Rogers führt.
Experten sehen die Ursache der Rivalitäten im Kampf um die Vorherrschaft der Unterwelt in Leeds. »Sowohl Harlow als auch Rogers wollen die Stadt für sich«, sagt Gangexperte Thomas Hilbert. »Und sie greifen inzwischen zu brutalen Mitteln, um den jeweils anderen zu verdrängen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Sache vollständig eskaliert.«
Indes wachsen in der Bevölkerung Angst und Verunsicherung.
Wann wird Leeds endlich wieder sicher sein?
Die Nulllinie auf dem EKG wird von einem durchdringenden Geräusch begleitet und für eine Sekunde habe ich das Gefühl, dass jeder im OP die Luft anhält. Dass jeder in diesem kleinen, schmerzhaft hellen Raum sein Tun stoppt, dass alle Augen zu dem piepsenden Gerät wandern.
Es ist nur ein winziger Moment, aber er jagt eine Gänsehaut über meinen gesamten Körper. Dann scheint die Welt zu kippen und auf einmal geht alles wahnsinnig schnell.
»Adrenalin bereithalten!«, brüllt Dr. Nomura die Schwestern an, ehe er Charlie anschnauzt: »Gehen Sie verdammt noch mal aus dem Weg, Abbott!«
Sofort macht Charlie einen großen Schritt zurück, die Hände hoch erhoben. Über der Maske starren seine weit aufgerissenen blauen Augen auf den Patienten hinunter, zucken zu Dr. Nomura, dann zu Dr. Warren und bleiben schließlich an mir hängen. Als würden sie mich um Rat bitten. Als würden sie von mir wissen wollen, was er tun soll.
Charlie und ich sind im Foundation Year 1, dem ersten Praktikumsjahr nach unserem fünfjährigen Medizinstudium, aber er wirkt immer noch wie ein verschrecktes Tier, wenn jemand im OP ihn anschreit. Wahrscheinlich sollte er souveräner sein, nein, wir beide sollten das, denn in solchen Augenblicken wie jetzt fühle ich mich ebenso, als wäre ich das erste Mal in meinem Leben bei einer OP dabei. Auch wenn ich meine Unsicherheit besser verstecken kann als Charlie, rast mir das Herz irgendwo unter den zehn Schichten an sterilem Stoff, der an meiner schwitzigen Haut klebt. Für einen Moment weiß ich weder ein noch aus.
Dann erklingt neben mir eine ruhige Stimme: »Young. Einen Schritt zurück.«
Mein Körper reagiert automatisch auf meinen Ausbilder Dr. Warren. Ich trete wie Charlie nach hinten und schrecke endlich vollständig aus meinen Gedanken auf. Es kann nicht viel Zeit vergangen sein, seit die Nulllinie erschienen ist, auch wenn es mir wie eine Ewigkeit vorkommt. Aber jetzt ist die kühle Medizinstudentin zurück. Die, die Wissen aufsaugt wie ein Schwamm und jede Situation zum Lernen nutzt.
Ich blende das Schicksal des Patienten aus. Stattdessen beobachte ich die Hände von Dr. Nomura, die sich schnell und geschickt bewegen, als Schwester Edith ihm die Adrenalinspritze reicht. Ich sehe genau zu, wie er und Dr. Warren mit den Wiederbelebungsversuchen beginnen. Denn irgendwann, das weiß ich, werde ich an der Stelle dieser beiden großartigen Ärzte stehen und meine eigenen OPs leiten. Der Gedanke bringt mein Blut zum Kochen. Nicht weil ich Angst davor habe. Es kribbelt mir in den Fingern, selbst tätig zu werden. Das Wissen anzuwenden, das ich mir mühsam angeeignet habe.
Ich will wissen, wie es ist, Leben zu retten.
Hin und wieder erlaubt mir Dr. Warren bereits kleine Handgriffe. In seinen OPs darf ich mehr als die anderen Studierenden, er ist ein geduldiger Ausbilder und lehrt nach dem Motto: Übung macht den Meister. Und es zeigt Wirkung. Ich bin seit vier Monaten hier am St. Joseph’s University Hospital in Leeds und habe das Gefühl, mehr gelernt zu haben als in den letzten fünf Jahren zusammen.
Aber heute ist etwas anders. Dr. Warren ist schweigsamer als sonst und auf seiner Stirn hat sich eine steile Falte gebildet. Er ist nicht hektisch, aber an seinen schnellen Bewegungen merkt man, dass es übel steht.
Das hat es von vornherein. Der Patient war in eine Messerstecherei verwickelt, viele innere Organe wurden verletzt und er hat bereits auf der Straße wahnsinnig viel Blut verloren.
Ein aufgespanntes Tuch, hinter dem auch die Anästhesistin Nathalie sitzt, verbirgt sein Gesicht, aber ich weiß trotzdem, wie der Mann aussieht. Blasse Haut, die sich über ein mageres Gesicht spannt. Unordentliche blonde Haare, durch die sich silberne Strähnen ziehen, und ein ungepflegter Bart. Sein Gesicht hat etwas Raues, Gefährliches, selbst in diesem Zustand. Er ist jemand, um den man abends einen großen Bogen machen würde. Unwillkürlich frage ich mich, was er im Schutz der Nacht schon alles verbrochen hat. Menschen ausgeraubt? Verletzt? Schlimmeres sogar? Mir wird ganz anders bei der Vorstellung. Es ist die dritte Gang-Messerstecherei in diesem Monat. Leeds ist eigentlich keine unsichere Stadt, aber seit ich zum Studium hierhergezogen bin, hat es sich verschlimmert. Der Unterschied zu meiner Kindheit in Whitby, einem kleinen Städtchen an der Küste Englands, könnte kein größerer Kontrast sein – auch wenn ich es damals mehr als eilig hatte, von dort wegzukommen.
Die Wiederbelebungsmaßnahmen dauern an, aber aus der Nulllinie werden keine Zacken mehr. Zwischen den Spritzen, dem gebrüllten »Weg vom Tisch« und den Elektroschocks wandert mein Blick immer wieder zum EKG-Gerät. Ich habe es bereits nach dreißig Sekunden aufgegeben. Dr. Warren nach einer Minute, das sehe ich in seinen Augen. Die meiste Zeit über wirkt er jünger als seine 53 Jahre – doch in solchen Momenten kommt das Alter durch. Er scheint erschöpft.
Im Gegensatz zu Dr. Nomura zumindest. Dieser setzt wieder und wieder zum Schock an, als würde er das Verstreichen der Zeit überhaupt nicht spüren. Als würde es ihn gar nicht anstrengen. Seine harten dunklen Augen sind nur auf das Ziel gerichtet und ich bewundere ihn dafür, dass er nicht aufgeben will.
Auch wenn es sinnlos ist.
»Nomura.« Dr. Warrens Stimme ist besänftigend, aber ich meine einen angespannten Ton herauszuhören. Als sein Kollege nicht darauf reagiert, versucht er es noch einmal, etwas lauter und schärfer: »Toru. Wir sollten die Wiederbelebungsmaßnahmen einstellen und den Patienten für tot erklären.«
Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass Charlies Schultern einsinken. Genau wie Dr. Nomura scheint er noch Hoffnung auf das Überleben des Mannes gehabt zu haben. Plötzlich schäme ich mich, dass es mir nicht so ging. Dass ich schon zu Beginn der OP gedacht habe, dass dieser Eingriff nur eine Möglichkeit wird, zu lernen. Keine Möglichkeit, ein Menschenleben zu retten.
Dr. Nomura versucht es erneut. Erfolglos. Sein Blick verdunkelt sich. Er starrt sekundenlang auf das EKG-Gerät, dann knallt er die Paddles des Defibrillators auf den Tisch, reißt sich die Maske vom Gesicht und stürmt aus dem Raum. Er ist so aufgebracht, dass er beinahe Charlie umrennt, der ihm gerade noch rechtzeitig aus dem Weg springt.
Die Tür fällt hinter ihm laut zu und im OP breitet sich eine unangenehme Stille aus. Ich habe bisher nicht oft mit Dr. Nomura gearbeitet, aber ich weiß von Charlie, dass er dazu neigt, emotional zu werden. Wütend, wenn etwas nicht nach seiner Nase läuft. Von diesen Chirurgen gibt es eine Menge, habe ich in den letzten Jahren festgestellt. Und es ist jedes Mal wieder unangenehm, an so jemanden zu geraten.
»Zeitpunkt des Todes: 19:14 Uhr«, sagt Dr. Warren. Er kommentiert den filmreifen Abgang seines Kollegen nicht, aber seine Stimme klingt nach einem einzigen Seufzen. »Danke«, meint er, als Schwester Edith das piepende EKG-Gerät endlich ausschaltet. Er wendet sich an Charlie, der stocksteif einen Meter vom OP-Tisch weg steht: »Abbott, kontaktieren Sie die Angehörigen, falls wir sie mittlerweile ausfindig machen konnten. Dann treffen Sie Dr. Nomura zur OP-Nachbesprechung. Er wird sich in den nächsten Minuten abreagiert haben.«
»Ja, Dr. Warren.« Charlie lässt die Schultern noch weiter nach unten sinken und wirft mir einen müden Blick zu, bevor er den OP mit hängendem Kopf verlässt.
Mitfühlend sehe ich ihm nach. Das Mentoren-Programm am Joey’s, wie das St. Joseph’s liebevoll genannt wird, ist außerordentlich gut, aber man muss trotzdem Glück haben mit den Ärzten, denen man zur Seite gestellt wird. Nicht so wie Charlie.
Ich hingegen …
»Gehen Sie auf die andere Seite, Young.« Dr. Warren wirft mir einen auffordernden Blick zu. Die Fältchen um seine freundlichen blauen Augen werden tiefer, als würde er mir unter seiner Maske aufmunternd zulächeln. »Sie werden den Patienten zumachen.«
Ein kleiner Adrenalinschub läuft durch meinen Körper. Schnell schlüpfe ich auf die gegenüberliegende Seite des OP-Tisches und lasse mir von Edith das Nähset anreichen. Vergessen sind die Müdigkeit und die Tatsache, dass wir den Patienten nicht retten konnten. Denn jetzt kann ich etwas tun. Jetzt kann ich wieder etwas lernen.
Mit Feuereifer mache ich mich daran, den Bauch des Patienten zu vernähen. Auch wenn ich sonst nichts mehr für ihn tun kann, gebe ich mir die größte Mühe, sorgfältig zu arbeiten. Mein Ehrgeiz hat sich wie so oft den ersten Platz in meinen Gedanken erkämpft, denn ich weiß, dass nur die Besten auch Verantwortung übertragen bekommen.
Edith schnalzt neben mir mit der Zunge und ich denke schon, dass ich irgendetwas falsch gemacht habe, da sagt sie: »Das ist der vierte diesen Monat.«
»Der vierte?« Dr. Warren zieht fragend die Augenbrauen nach oben.
Ich erlaube mir, einen Moment von der Naht aufzusehen, als die Schwester auf den Unterarm des Mannes deutet, der schlaff vom Tisch hängt. An der Innenseite kann ich etwas erkennen, das mir bisher nicht aufgefallen ist: eine dunkle, unsaubere Tätowierung von einer Krone.
»Ach, der vierte Gang-Tote. Der Drache gehört zu Black Dragon und diese Krone hier zum Queens Cartel, nicht wahr?« Dr. Warren klingt nicht überrascht, sondern resigniert. »Diese Menschen lassen sich in den Krieg zwischen zwei Männern reinziehen und landen alle irgendwann auf dem Friedhof.«
»So eine Dummheit«, spuckt Edith aus. »Wie kommt man überhaupt auf die Idee, in eine Gang einzutreten? Denkt denn keiner an die Lebensgefahr?«
Ich wende mich wieder meiner Naht zu, als Nathalie antwortet: »Geld und Macht haben sicher ihren Reiz für die ärmeren Menschen der Stadt, aber ich stimme dir zu. Das glamouröse Gangsterbild aus Filmen kann doch heutzutage niemand mehr glauben. Mit Drogen handeln? Jeden Moment damit rechnen, ein Messer zwischen die Rippen oder eine Kugel in den Kopf zu bekommen? Nein, danke.«
Kälte wandert meine Wirbelsäule hinauf. Innerlich muss ich den beiden recht geben. Doch ich schweige und konzentriere mich auf meine Aufgabe.
»Es geht nicht immer um Macht und Geld. Ein paar der jungen Menschen, die ich in letzter Zeit versorgt habe, sehnen sich lediglich nach Schutz«, sagt Dr. Warren leise. »Das Leben auf der Straße ist hart, vor allem hier in Leeds mittlerweile.«
Edith schnaubt und schüttelt den Kopf. Ich denke erst, dass sie nichts mehr dazu sagt, aber als ich den letzten Stich gemacht habe, erklärt sie abfällig: »Rogers ist ein Scheusal, aber Cillian Harlow ein wahres Monster. Der Mann gehört gestürzt und hinter Gitter oder noch besser, endlich unter die Erde. Zieht sich die leicht beeinflussbaren jungen Leute heran und nutzt ihre Naivität aus, um folgsame Arbeiter für seine Drogengeschäfte zu gewinnen. Aber wenn es hart auf hart kommt, lässt er sie alle ins offene Messer laufen.«
Ich presse die Lippen zusammen, als ich ihr das Nähset zurückgebe. Selbst wenn man wie ich versucht, sich nicht zu sehr mit diesen Gangs zu beschäftigen, sind mir die Namen ihrer Anführer ein Begriff. Beide machen mir Angst. Rogers ist schon gut fünfzehn Jahre an der Macht, aber Harlow kam aus dem Nichts. Ihn verbinde ich mit purer Grausamkeit. Mit schrecklichen Morden und Geschichten im Fernsehen, die aus Thrillern zu stammen scheinen.
Sich gegen ihn zu stellen kommt einem Todesurteil gleich. Aber dass wir heute einen Menschen mit Kronen-Tattoo auf dem Tisch haben, bestätigt Ediths Worte. Nicht mal auf Harlows Seite ist man sicher. »Wissen die Leute, die in seine Gang kommen, wirklich nichts von den Gerüchten? Dass sie ihm eigentlich egal sind?«, frage ich nun doch ungläubig. Mein Magen zieht sich zusammen, als ich zu Edith schaue.
Die Schwester macht ein undefinierbares Geräusch und Nathalie zuckt nur die Schultern.
Dr. Warren zieht die Maske auf sein Kinn herunter. »Ob sie es wissen oder nicht, tut nichts zur Sache. Wir können nur unsere Pflicht erfüllen und die bestmögliche Hilfe leisten, wenn sie sie brauchen.« Sein Blick ist ernst, aber dann breitet sich ein sanftes Lächeln auf seinem Gesicht aus. »Eine hervorragende Naht, Young. Sie wollen mir offenbar Konkurrenz machen.«
Ich versuche, es mir nicht anmerken zu lassen, aber sein Kompliment freut mich wahnsinnig. Er ist seit über zwanzig Jahren Arzt mit einem beeindruckenden Lebenslauf. Er hat Dutzende Forschungsartikel verfasst und mehrere Jahre bei Ärzte ohne Grenzen in Afrika und Asien gearbeitet, bevor er vor sechs Jahren ans Joey’s kam, um zu lehren. Außerdem ist er noch immer regelmäßig ein Redner auf Konferenzen weltweit. Ich bewundere ihn und seine Arbeit ungemein. Von ihm gelobt zu werden, fühlt sich wie ein Ritterschlag an.
»Haben Sie Fragen zur OP?«, will er wissen, während die Schwestern zusammenräumen.
In meinem Kopf gehe ich den gesamten Verlauf konzentriert durch, aber die Schritte waren wie im Lehrbuch. Also schüttle ich den Kopf. »Nein, Dr. Warren.«
»In Ordnung. Dann verschieben wir die Besprechung auf morgen früh vor der nächsten OP«, beschließt er.
Ich nicke eifrig. Morgen darf ich ihm das erste Mal richtig assistieren. Es ist nur eine einfache Blinddarm-Entfernung, aber es fühlt sich trotzdem groß an. Riesig.
Meine Schritte sind federnd, als ich den Raum durchschreite und mir die Handschuhe ausziehe. Aber dann bleibe ich noch einmal stehen und drehe mich um. Blicke den Mann an, den wir nicht retten konnten. Ich bezweifle, dass er Angehörige hat, und könnte verstehen, wenn niemand etwas mit ihm zu tun haben wollte. Dennoch ist er ein weiterer Mensch, der sein Leben in diesem Krieg zwischen Harlow und Rogers verloren hat. Wie lange er wohl noch anhalten wird? Grausam, hart und unbarmherzig scheint es keinen der beiden Gangsterbosse zu interessieren, wie viele Opfer er fordert.
Die Umkleide ist leer, als ich sie betrete, und bleierne Müdigkeit legt sich über mich. Ich bin mittlerweile ganz gut darin, sie während meiner Schichten auszublenden – dafür holt sie mich an jedem Feierabend heftiger ein.
Ich muss weniger arbeiten, denke ich, nur um eine Sekunde später hinzuzufügen: Aber das kann ich mir nicht leisten.
Es sind nicht nur die Schichten im Krankenhaus, es sind auch mein Nebenjob und die ganze Recherche und Vorbereitung auf Eingriffe dazwischen. Ich stehe ständig unter Strom und irgendwie fürchte ich mich davor, einen Tag freizunehmen, weil ich dann vermutlich einfach zusammenbreche wie ein Kartenhaus, das nur so lange steht, wie alle Teile am richtigen Platz sind.
Jede Bewegung fühlt sich schwer an, als ich meine grüne Krankenhausuniform gegen den ausgeleierten braunen Pulli und meine schwarze Jeans tausche. Meine Kopfhaut schreit vor Erleichterung, als ich nach Stunden den engen Knoten löse. Ich lockere meine langen Haare auf und verziehe dabei das Gesicht, weil sich alles empfindlich anfühlt. Aber im OP müssen sie gut zusammensitzen. Kurz spiele ich mit dem Gedanken, sie mir demnächst abzuschneiden, was sehr viel praktischer wäre. Meine Haare sind jedoch das Einzige, das ich an der Tatsache mag, dass ich so blass bin. Das kupferfarbene Rot, das ich früher gehasst habe, wie meine Sommersprossen und meine bleiche Haut, ist jetzt gesund und etwas heller als in meiner Kindheit. Manchmal sehe ich sogar in den Spiegel und finde sie ganz schön.
Der Wesley Wing ist fast ausgestorben, als ich kurz darauf durch die Gänge in Richtung Ausgang gehe. Meine Stiefel kommen mir deshalb besonders laut auf den weißen Fliesen vor. Ab und zu begegne ich einer Krankenschwester oder einer Ärztin, die mir knapp zunickt und dann weiterhetzt. Es ist seltsam, aber wenn ich diese Geschäftigkeit im Gesicht eines anderen Menschen sehe, schlägt mein Herz direkt schneller. Ich will dann zurück auf Station eilen. Will weiterarbeiten, weiterlernen, gegen die Erschöpfung und Vernunft. Vielleicht weil ich wirklich meine Berufung gefunden habe. Vielleicht aber auch etwas, weil ich mich vor der Flut meiner Gedanken fürchte, wenn ich Zeit habe nachzudenken.
Als ich im Erdgeschoss an der Rezeption vorbeikomme, sehe ich den verpassten Anruf auf meinem Handy. Der Kontakt ist längst nicht mehr eingespeichert, aber leider haben sich die Zahlen in mein Gedächtnis eingebrannt. Es ist die Nummer meiner Mutter. Mein Magen verknotet sich, mein Inneres zieht sich schmerzhaft zusammen. Schnell stecke ich das Handy weg und versuche, das Gleiche mit meinen Gefühlen zu machen. Wut kocht in mir hoch, dass es mich noch immer nicht kaltlässt. Da denke ich lieber an den Patienten im OP. An die Messerstecherei, die ihn sein Leben gekostet hat. An das Tattoo auf seinem Arm und die vielen anderen Drachen und Kronen, die ich in den letzten Monaten hier im Krankenhaus gesehen habe.
Ich weiß, dass er nicht als Einziger vor ein paar Stunden eingeliefert wurde. Kurz bevor ich in den OP gegangen bin, habe ich die Eilmeldung gesehen. Ob die anderen Schwerverletzten überlebt haben? Noch nicht bereit, mich mit meinen eigenen Problemen zu beschäftigen, verdränge ich meine Mutter und steige die Treppe erneut in den ersten Stock nach oben. Ich hoffe, dass ich nicht zu lange getrödelt habe beim Umziehen. Dass sie noch da sind.
Der Wesley Wing hat im ersten Stock eine große Terrasse, direkt hinter dem zu dieser Uhrzeit geschlossenen Restaurant. Vom oberen Treppenabsatz kann ich sehen, dass die Holztische und der Steinboden draußen feucht glänzen. Es muss vor einer Weile stark geregnet haben. Der Spätherbst hat die Blätter der Bäume in dunklere Farben getaucht und die Äste biegen sich im Wind. Trotz des unangenehmen Wetters stehen zwei Menschen am Geländer. Ich erkenne Charlies gelbe Jacke sofort. Sie leuchtet so grell wie ein Warnsignal und ist nicht besonders schmeichelhaft für seinen Hautton, aber er liebt dieses Teil über alles.
Sein Lächeln ist träge, als ich die Terrassentür aufschiebe und in den leichten Nieselregen trete. Seine rotblonden Haare werden von den heftigen Böen zerzaust und bei seiner schlanken Statur scheint es mir fast ein Wunder, dass er noch aufrecht steht.
Unsere Mitstudentin Olive neben ihm hat einen düsteren Blick aufgelegt. Sie zieht an ihrer Zigarette und hebt nun eine ihrer perfekt geschwungenen blonden Augenbrauen. »Siehst aus wie ein frisch erwachter Koma-Patient, Young«, neckt sie mich halbherzig.
»Wenigstens wurde ich nicht fünf Jahre meines Lebens über die Risiken des Rauchens aufgeklärt und tue es trotzdem«, erwidere ich schnippisch.
Sie grinst. »Irgendwann gebe ich es auf, aber deine Augenringe bleiben wahrscheinlich für immer.«
Unwillkürlich entfährt mir ein belustigtes Schnauben. Am Anfang meines Medizinstudiums habe ich Olive mit einer Leidenschaft gehasst, die wahrscheinlich nicht gesund ist, wenn man fünf Tage die Woche in einem Vorlesungssaal zusammen verbringen muss. Ich fand sie zu perfekt, eingebildet, besserwisserisch und sie war bekannt für ihre spitzen Kommentare. Die hat sie zwar immer noch ständig auf den Lippen, aber mittlerweile kenne ich sie besser. Weiß, dass hinter dieser kühlen Fassade eine ähnliche Geschichte steckt wie meine: Eltern, die sie nicht unterstützen, und der Drang, sich zu beweisen, alles allein zu schaffen, ohne Hilfe von anderen. Inzwischen haben wir uns angefreundet, auch wenn es nicht immer so aussieht.
Ich stelle mich zu den beiden und atme die kühle Abendluft ein, bevor ich mich an Charlie wende: »Ist deine OP-Nachbesprechung schon vorbei?«
Er verzieht das Gesicht. »Nomura war nicht mehr auffindbar. Denkst du, Warren würde eine mit mir machen? Ich glaube ehrlich gesagt, dass mein Ausbilder mich bei lebendigem Leib frisst, wenn ich ihn morgen danach frage.«
»Meine steht auch noch aus. Du kannst bestimmt dabei sein.«
»Danke.« Charlie stützt sich auf das Geländer und legt eine Miene auf, als würde er gerade an einem schweren Magenleiden verenden. »Wieso habt ihr eigentlich so ein Glück mit Warren und Wang als Mentoren, während ich mich mit einer menschlichen Bombe auseinandersetzen muss? Ausgerechnet ich?«
Er kann einem wirklich leidtun. Charlie ist von Natur aus eher zurückhaltend und kriegt vor Vorgesetzten den Mund nicht auf. Ich tätschle ihm liebevoll den Arm. »Vielleicht ist das genau die Herausforderung im Leben, die du brauchst. Sicher wirst du Nomura irgendwann knacken.«
Sein Ausdruck daraufhin spricht Bände. Neben ihm schnaubt Olive. »Glück? Ihr durftet heute wenigstens bei einer OP dabei sein. Ich musste die Wundversorgung in der Notaufnahme und auf zwei Stationen machen. Meine Füße fühlen sich an, als wären sie doppelt so dick.«
»Ich hätte gern verzichtet. Wir standen nur im Weg und wurden angeschrien«, wirft Charlie entmutigt ein.
Ich ignoriere seinen Kommentar und springe vielleicht etwas zu begeistert auf Olives Worte an. »Hast du auch ein paar der Gangster versorgt?«
Der spöttische Zug um ihren Mund verschwindet. Sie nimmt einen letzten Zug von ihrer Zigarette und drückt sie am Geländer aus. »Ja«, sagt sie ernst. »Einige. War eine ziemliche Massenkarambolage. Könnt ihr euch das vorstellen, mitten in Leeds? Früher hatten die Gangs wenigstens den Anstand, sich in dunklen Gassen niederzustechen. Aber seit Harlow der Boss vom Queens Cartel ist und sich damals mit Rogers angelegt hat, ist ständig etwas Neues. Ständig Verletzte, ständig Tote.«
Schon wieder lassen mir die Namen meine Nackenhaare zu Berge stehen. Ich versuche, sie wegzureiben, während ich ruhiger frage: »Wie geht es den anderen Patienten? Charlie hat dir wahrscheinlich schon gesagt, dass unserer nicht überlebt hat.«
Sie zieht erneut die Augenbrauen nach oben. »Er hat mir auch erzählt, dass Nomura einen seiner berühmten Wutanfälle im OP hatte.« Dann schüttelt sie den Kopf. »Die meisten waren nur leicht verletzt. Ein paar Blutergüsse, einige Schnittwunden, aber nichts Tiefes. Euer Patient war der Einzige von den Schwerverletzten, der verstorben ist, soweit ich weiß.«
Das überrascht mich, vor allem nach den sonstigen Streitereien der Gangs. Sie gehen sich so gern an die Kehle, dass ich heute mit mehr Todesfällen gerechnet habe.
Aber Olive ist noch nicht fertig. Ihr Ausdruck ist nachdenklich, als sie sich vom Geländer abstößt. »Die Polizei war in der Notaufnahme. Hat versucht, die Gangmitglieder zu vernehmen. Nach ihren Tattoos zu schließen, fast alle vom Queens Cartel.«
»Und?«, hake ich neugierig nach.
Sie zuckt mit den Achseln und macht einige Schritte Richtung Tür. »Ich habe zwei Polizisten belauscht, als sie sich auf dem Gang unterhalten haben –«
»Olive, willst du, dass sie dich mit einsacken?«, stöhnt Charlie, aber sie winkt nur unwirsch ab.
Wir folgen ihr zurück ins Warme und sie wirft geschäftig den blonden Zopf über ihre Schulter. »Was ich sagen wollte, ist: Sie haben nicht geredet. Immer wenn sie nach Harlow gefragt wurden, war ihnen der Mund wie zubetoniert.«
Ja, das kann ich mir denken. Es gibt schließlich einen Grund, warum man Harlow bisher nicht verhaften konnte, obwohl so viele Verbrechen mit ihm in Zusammenhang gebracht werden.
»Überrascht dich das?«, fragt auch Charlie. Er wirkt seltsam steif, als wir die Treppe gemeinsam zum Haupteingang nach unten gehen. »Ich habe letztens eine Doku über das Queens Cartel gesehen und da haben sie über ihn gesprochen. Er ist mit seinen siebenundzwanzig Jahren der jüngste und gleichzeitig einer der schlimmsten Gang-Leader seit zwei Jahrzehnten. Angeblich hat er mal einem Typen alle Finger- und Zehennägel ausgerissen und ihn dann in den Fluss geworfen, nur weil er ihm einen kalten Kaffee verkauft hat. Ich will gar nicht daran denken, was er mit den Leuten macht, wenn es um was Größeres geht.«
Olive legt mit einem belustigten Gesichtsausdruck den Kopf leicht schief. »Du hast dir eine Doku über das Queens Cartel angesehen?«
Seine Wangen werden rosig. »Man muss wissen, mit wem man es zu tun hat. Wusstet ihr, dass es ursprünglich King Cartel hieß? Der Typ an der Spitze war wohl ein richtiges Schwein. Deshalb haben ihn seine Frau und seine Schwester zusammen umgelegt und die Gang übernommen. Inklusive Namensupdate.« Er räuspert sich. »Die Doku war wirklich spannend.«
»Du machst dir doch schon in die Hose, wenn du zum Einschlafen ein Hörspiel von den drei Fragezeichen hörst.«
»Das war einmal, Olive, und das ist Jahre her!«
»Nicht so viele Jahre, dass es weniger peinlich ist.«
»Ich erzähle dir sicher nie wieder irgendetwas Privates.«
»Als könntest du das versprechen.«
Ich laufe hinter den beiden her, während sie sich kabbeln. Das Gespräch im OP kommt mir wieder in den Kopf. Das, was Warren gesagt hat. Viele Jugendliche würden nach Schutz suchen. Bei einer Gang, die dafür bekannt ist, Leute zu erpressen, zu verletzen und zu ermorden. Wie kann irgendwer sich der lächerlichen Illusion hingeben, dass Harlow einen beschützt? Solche Menschen sind sicher nur Ausnahmen. Der Tote heute sah jedenfalls nicht aus, als hätte er Schutz gesucht. Es ist, wie Nathalie gesagt hat: Macht und Geld regieren die Welt. Und davon hat die Gang eine Menge. Harlow fährt bestimmt nicht in einem Pkw aus zweiter Hand herum.
Ich schäme mich bei diesem Gedanken beinahe, dass Geld ein Motiv ist, das ich ein wenig verstehen kann. Allerdings bin ich davon überzeugt, dass ich niemals meine Moral dafür hinten anstellen würde.
»Florie? Träumst du?«
Als ich aufsehe, starren Olive und Charlie mich fragend an. Wir stehen inzwischen auf dem Vorplatz des Joey’s. Der Nieselregen hat aufgehört, aber die Luft ist feucht und kühl. Ich ziehe die Jacke fester um mich. »Sorry, ich bin wahnsinnig müde.«
»Was du nicht sagst.« Olive grinst und nickt in Richtung der Fahrradständer, die fast leer sind. »Unser Charles hat dich gefragt, ob du heute nicht lieber mit der Bahn nach Hause fahren willst. Offensichtlich hat er Angst, dass ein Gangster dich vom Fahrrad zieht.«
»Das habe ich nicht gesagt«, brummt Charlie, sieht mich jedoch besorgt an. »Aber es ist dunkel und Leeds ist nicht gerade der sicherste Ort der Welt.«
»Ich bin mit dem Fahrrad in dreizehn Minuten zu Hause, mit der Bahn brauche ich fast vierzig.« Liebevoll klopfe ich ihm auf den Oberarm. »Mach dir keine Sorgen. Ich habe in der Schule den Fahrradführerschein gemacht und bin eine sichere Fahrerin. Wenn sich mir jemand in den Weg stellt, überfahre ich ihn einfach.«
»Also in meiner Schule haben sie uns das nicht beigebracht«, murrt Charlie und Olive lacht.
»Wir werden ja sehen, ob du morgen zum Dienst kommst.«
»Bis dann ihr zwei«, sage ich amüsiert und wende mich ab.
»Fahr zumindest durch die beleuchteten Straßen! Keine dunklen Gassen!«, ruft Charlie mir noch hinterher und bringt mich damit zum Lachen, während ich den beiden winke.
Ich schätze, heute kann ich ihm diesen Gefallen ausnahmsweise tun.
Obwohl ich eigentlich keine Angst davor habe, vom Fahrrad gezogen zu werden, bin ich erleichtert, als ich in die Regent Park Avenue einfahre und die roten Backsteinhäuser sich rechts und links von mir aufreihen. Ich habe mich in meinem Leben selten so zu Hause gefühlt wie hier in Headingley. Seit ich aus dem Studierendenheim aus- und bei meiner Cousine Bailey eingezogen bin, hat mein Leben definitiv eine Kurve nach oben gemacht.
Ich bremse vor der kleinen Bäckerei, die im Erdgeschoss unseres Wohnhauses liegt. Trotz dem, dass es fast einundzwanzig Uhr ist, brennt Licht in der Heady Bakery und ich bin froh darüber. Ich schließe mein Fahrrad an und ignoriere das »Closed«-Schild. Ein süßer Duft nach Gebäck strömt mir entgegen, als ich durch die noch offene Glastür in den warmen Laden trete. Das Klingeln der Glocke verrät mich und sofort kommt eine Stimme aus der Küche: »Florie?«
Ich grinse. »Falsch, eine Einbrecherin.«
»Also bitte, wer würde denn eine Bäckerei überfallen?«
»Jemand mit eher bescheidenen Wünschen?«
Ein Kichern ertönt und dann erscheint Kisha in der Tür. Sie hat die schwarzen Locken zu einem unordentlichen, hohen Zopf gebunden und ihre Schürze ist offen. »Ist deine Schicht im Krankenhaus gerade erst vorbei?«
»Ich hatte einen Mitteldienst, der immer meinen ganzen Tagesablauf durcheinanderbringt«, erkläre ich und lehne mich auf die Theke. Kisha und ich sind Kolleginnen, seit ich mich am Tag meines Einzugs vor vier Monaten spontan hier beworben habe. Es ist der wahrscheinlich bequemste Nebenjob der Welt.
Kisha zieht eine Augenbraue nach oben. Sie wirkt besorgt, und das ist etwas, was ich an ihr mag. Wenn man den Besitzer Jack außer Acht lässt, ist Kisha hier die unumstrittene Chefin. Mit ihren zweiundvierzig ist sie fast zwanzig Jahre älter als ich und eine Mum für uns alle. Nur dass sie zehnmal so fürsorglich und gleichzeitig sehr viel cooler ist. »Du hast morgen Frühdienst«, sagt sie, die Hände in die Hüften gestemmt. »Vor deiner Krankenhausschicht?«
»So passt es am besten.«
»Und wann schläfst du?«
»Irgendwann dazwischen.« Ich grinse und versuche dabei, nicht zu erschlagen auszusehen. »Aber ich brauche definitiv noch ein bisschen Zucker. Was haben wir denn heute übrig?«
Kisha seufzt ergeben. »Jacks neuste seltsame Kreation. Jede Menge davon leider, denn Überraschung: Wie so oft kam sie nicht allzu gut bei den Kunden an.« Sie stockt, dann breitet sich ein Lächeln auf ihren dunkelrot bemalten Lippen aus. »Da du die verrückten Dinge aber immer besonders gern magst, könnten sie was für dich sein. Warte.«
Dann verschwindet sie erneut in der Küche. Der Besitzer der Heady Bakery hat eine Schwäche für TikTok-Trends und bringt jede Woche ein neues, ausgefallenes Rezept vorbei. Dann nimmt er es nach ein paar Tagen wieder aus dem Sortiment, weil die Kunden es nicht zu schätzen wissen.
Schließlich stellt Kisha eine offene braune Schachtel vor mich. Ich sehe Brownies, aber … das Topping ist ungewöhnlich. »Sind das … Chips?«
»Um genau zu sein, Salt & Vinegar.« Sie beobachtet meine Reaktion und bemerkt wohl, dass meine Mundwinkel zucken, denn sie seufzt theatralisch. »Du stehst drauf, oder?«
»Ein wenig?«
»Du passt hier wirklich großartig rein«, schmunzelt sie und schließt die Schachtel. Freudig nehme ich sie an mich. Ich liebe die Kombination von salzig und süß einfach und kann es nicht erwarten, die Brownies zu probieren. Dann scheucht mich Kisha aus dem Laden und ich hebe lachend die Hand zum Gruß.
Kaum draußen fluche ich innerlich los, als mich die hellen Lichter eines Autos blenden. Meine Grenze des Erträglichen ist für heute offensichtlich erreicht.
Mit ein paar Schritten bin ich am Hauseingang, und als ich mich noch einmal umdrehe, um dem Fahrer einen bösen Blick zuzuwerfen, merke ich, dass er jetzt zum sicher dritten Mal korrigiert, um den silbernen Mercedes irgendwie in die Parklücke zu manövrieren. Kopfschüttelnd trete ich in den Hausflur.
Ich habe die Tür im dritten Stock noch nicht einmal ganz aufgemacht, da ertönt schon ein leidender Laut von meiner Cousine Bailey, der mich zum Lachen bringt.
»Bitte sag mir, dass du Snacks mitgebracht hast.«
Ich schließe die Tür hinter mir und kicke meine Stiefel weg, bevor ich die Jacke ausziehe und in meine Hausschlappen schlüpfe. Bailey sitzt auf der Couch, eine dampfende Tasse in der Hand, und die Nachrichten laufen im Fernseher. Es wird von dem brutalen Zusammenstoß der Gangs berichtet, natürlich. Meine Cousine verschwindet beinahe in dem viel zu großen Pulli und ihre fast schwarzen Augen funkeln unter der Kapuze hervor. »Ist da was Gutes drin?« Sie nickt zu der Bakery-Box und quietscht vergnügt, als ich sie ihr reiche. Dabei beobachte ich Baileys Gesichtsausdruck, sehe, wie die Begeisterung in Entsetzen umschlägt. »Was zur …?«
»Hast du etwas Normales erwartet? Du kennst Jack doch.«
Sie verzieht den Mund, als hätte ihr jemand ins Knie geschossen. »Das … das ist ein Verstoß gegen die Genfer Konventionen!«
»Du übertreibst«, sage ich lachend, während Bailey nun mit saurer Miene das Topping von einem der Brownies kratzt. Ich lasse mich neben ihr in die weiche weiße Couch sinken. Zu Hause. Endlich. Mein Blick schweift über die Wände, die mit Bildern und Fotografien behängt sind – hat Bailey ein paar hinzugefügt? Ich bin sicher, dass über der dunklen Holzkommode heute Morgen noch eine freie Stelle war, von der mir jetzt das Foto eines Hundes entgegenblickt. Das riesige Bücherregal in der Ecke ist auch umsortiert, diesmal nach Farben. Wenn Bailey sich nach der Arbeit hinstellt, um die Wohnung umzuräumen, gibt es dafür meistens einen Grund. Einen schlechten.
Ich beobachte, wie sie genüsslich in einen von Chips befreiten Brownie beißt. »Stressiger Tag?«
Sie verdreht die Augen und kaut erst, bevor sie antwortet: »Ich habe heute meinen ersten eigenen Fall bekommen.«
»Was?« Sofort setze ich mich kerzengerade hin, auch wenn meine Muskeln protestieren. »Das ist ja großartig! Oder ist es nicht? Du siehst nicht so aus, dabei hast du doch die ganze Zeit darauf gewartet.«
Bailey arbeitet seit fast einem Jahr in einer renommierten Anwaltskanzlei in der Innenstadt. Es ist ihr erster Job nach dem Jurastudium und ich weiß, dass sie sich den Arsch aufgerissen hat, um allen dort zu beweisen, was sie draufhat. Ihr erster eigener Fall ist ein riesiger Schritt.
Aber Bailey seufzt und nimmt sich direkt noch einen Brownie. Ich tue es ihr gleich und verteile ihre abgekratzten Chips zusätzlich auf meinem. Der erste Bissen ist schokoladig, sauer und salzig und für einen Moment bin ich im Himmel. Keine Ahnung, warum niemand Jacks Talent erkennt.
»Es ist kein leichter Fall«, meint Bailey, dann wird ihre Miene entschlossen. Obwohl sie ein ganzes Stück kleiner ist als ich und zierlicher, wirkt sie jetzt zwei Meter groß mit diesem Glanz in ihren Augen. »Aber ich werde meine Klientin da rausboxen. Es gibt nur … ein moralisches Dilemma.«
»Und welches?«, hake ich nach.
Sie überlegt einen Moment, bevor sie leise sagt: »Alles unter dem Mantel der Verschwiegenheit.« Sofort nicke ich und sie fährt fort. »Sie wurde bei einem Diebstahl erwischt und es ist nicht ihr erstes Vergehen. Das Mädchen ist gerade achtzehn, sie ist arm und sie … gehört zum Queens Cartel.«
Mir bleibt beinahe das Brownie-Stück im Hals stecken. »Du vertrittst ein Mädchen vom Queens Cartel? Bailey!« Ich deute auf den Fernseher, wo es immer noch um den Horrorzusammenstoß geht. »Bist du nicht mehr ganz bei Trost?«
»Ich weiß, ich weiß«, unterbricht sie mich. »Es ist ein Risiko, glaub mir, ich habe darüber nachgedacht. Aber sie ist verängstigt und ich glaube, dass sie gezwungen wurde. Ich kann ihr vielleicht helfen und bezweifle, dass jemand anderes in der Kanzlei das ernsthaft versuchen würde.«
Skeptisch betrachte ich meine Cousine. »Hat das Queens Cartel nicht seine eigenen Anwälte? Die sind doch steinreich.«
»Anwälte, die sich bestimmt nicht um die kleinen, ersetzbaren Fische kümmern.«
»Aber musst ausgerechnet du das tun?« Ich denke an die Messerstecherei heute, an die Nulllinie im OP und spüre, wie Panik mir den Hals zuschnüren will. Bailey ist der einzige Teil meiner Familie, der für mich da ist, wenn ich sie brauche. Auf den ich mich verlassen kann. Verdammt, sie ist meine Familie.
Ihr Gesicht wird ernst. »Ja. Ich muss. Sie braucht mich.«
Meine Schultern sinken ein. Ich kenne Bailey gut genug, um zu wissen, dass sie nicht einknicken wird. Und eigentlich liebe ich sie auch gerade dafür, dass sie so ist, wie sie ist. Ihr Leben selbst ist zwar rosarot, aber sie setzt sich dennoch für die weniger Glücklichen ein. Zu denen unter anderem ich gehöre. »Versprich mir nur, dass du auf dich aufpasst«, murmle ich zwischen zwei Bissen.
Bailey lacht. »Mir wird nichts passieren. Wie gesagt: Sie ist ein kleiner Fisch, wahrscheinlich weiß Cillian Harlow nicht mal, dass sie existiert. Ich will nur, dass sie einen fairen Prozess bekommt und aus der U-Haft entlassen wird.«
Es ist offensichtlich, dass meine Cousine ihr ganzes Herz da reinsteckt. Mir entfährt ein Seufzen. »Ich hatte heute jemanden auf dem Tisch, der zu Harlow gehört hat. Also sei bitte trotzdem vorsichtig.«
Sofort werden Baileys Augen tellergroß. Sie lässt den Brownie sinken und fragt atemlos: »Die Messerstecherei?«
Sie kann es sich durch die Berichterstattung wahrscheinlich denken. Ganz Leeds wird die nächsten Tage wieder über nichts anderes reden. Immerhin ist die Gang in ganz England berühmt berüchtigt. Ich spiele mit dem Saum meines Pullovers und nicke. »Ja.«
»Und du hast gesagt, er hat zu Harlow gehört? Das heißt dann wohl, er ist tot«, schiebt sie hinterher.
Die Bewegung fühlt sich mechanisch an, als ich erneut nicke. Bailey sinkt tiefer in die Couch. »Das tut mir so leid, Florie.« Sie tätschelt mein Knie, ihre dunklen Augen sind voller Mitgefühl. »Geht es dir gut?«
»Es ist schlimmer bei Patienten, die ich kenne. Der Typ kam schon so schwer verletzt an, dass es eigentlich kein Schock war.« Ich ziehe die Knie an meinen Körper, weil ich plötzlich friere. Der Tag war lang und mir wird erst jetzt bewusst, dass er mich auch emotional mitgenommen hat.
Bailey nimmt die Thermoskanne vom Couchtisch und schenkt mir in ihre Tasse einen großen Schluck ihres süßen Kräutertees. Dankbar lächle ich sie an.
»Du arbeitest viel in letzter Zeit«, sagt sie leise.
»Du auch.«
»Nicht ansatzweise so viel wie du.« Sie schüttelt den Kopf. Ich kann ihr ansehen, dass sie mich bitten will, einen Gang zurückzuschalten. Den Job in der Bäckerei an den Nagel zu hängen oder weniger Schichten im Krankenhaus zu machen. Aber wir wissen beide, dass das nicht geht. Dass ich es mir nicht leisten kann.
Innerlich schüttelt es mich, während ich nach außen bemüht ungerührt dasitze. »Ich werde jetzt duschen und mich dann ins Bett verkrümeln. Morgen muss ich um fünf in der Bakery stehen.«
Meine Cousine nickt besorgt und beißt von ihrem Brownie ab. »Ich werde noch etwas über das Queens Cartel recherchieren, damit ich vorbereitet bin.«
»Viel Erfolg dabei.«
Ich drücke mich hoch und gehe durch den Flur Richtung Bad, als Bailey mir hinterherruft: »Oh, ich habe dir einen Brief auf den Schreibtisch gelegt. Sieht offiziell aus.«
Da ist er, der kalte Schauer. »Danke«, gebe ich fast atemlos zurück. Ich weiß, was das für ein Brief ist, ohne ihn gesehen zu haben. Und sie auch, nach ihrem Tonfall zu schließen. Es ist die zweite Mahnung für eine Summe, die stetig in die Höhe schießt, eine Summe, die ich nicht bezahlen kann. Allein bei dem Gedanken an die riesige Zahl darin bricht mir der Schweiß aus.
»Ich weiß, wir haben schon mehrfach darüber gesprochen. Aber wenn du doch Unterstützung brauchst, sprichst du mit mir, okay? Vielleicht finden wir noch eine Lösung«, hakt Baileys Stimme aus dem Wohnzimmer nach.
Zum Glück stehe ich bereits an der Badtür. Ich will nicht, dass sie sieht, wie es mir wirklich damit geht. »Alles gut, bestimmt nur die Zusage, dass ich später zahlen kann diesen Monat. Aber danke«, sage ich bemüht locker, was selbst in meinen eigenen Ohren mehr als unecht klingt.
Bei dieser Sache kann sie mir nicht helfen. Leider. Obwohl sie es wirklich versucht hat.
Also schließe ich mich im Bad ein und lasse die düsteren Gedanken von dem heißen Wasserstrahl der Dusche vertreiben.
Die Glastür meines Büros wird aufgestoßen und ich muss nicht aufsehen, um zu wissen, dass Judd hereinkommt. Er ist einer der wenigen, die nicht anklopfen, bevor sie mich stören, weil er weiß, dass er damit durchkommt. An den meisten Tagen zumindest.
»Hast du es schon gehört?«, fragt er.
Ich lasse mir Zeit dabei, den Ordner vor mir zu schließen, die Arme auf dem Schreibtisch abzustützen und ihm einen düsteren Blick zuzuwerfen. Meine Muskeln sind angespannt, in meiner Brust hat sich Wut angesammelt, seit Nicolas mich vor einer Stunde angerufen hat. »Wie«, hake ich kühl nach, »sollte das bitte an mir vorbeigegangen sein?«
Judd presst die Lippen zusammen, als er sich durch die wirren blonden Haare fährt. Er trägt diese lächerlich teuren Designerklamotten, die er mir ständig auch andrehen will und die für seine Muskeln eine Nummer zu klein sind. Oder es ist genau der Look, auf den er abzielt.
»Sag mir etwas, das ich noch nicht weiß«, verlange ich und lehne mich in meinem Lederstuhl zurück.
Er brummt und kommt ein paar Schritte näher. »Ich habe gerade erfahren, dass Riley im Krankenhaus gestorben ist.«
Scheiße. Das war abzusehen, seit Nicolas davon gesprochen hat, dass er ins Joey’s gebracht wurde. Ich spüre, wie meine Zähne vor Zorn aufeinanderschlagen. Trotzdem bemühe ich mich um einen ruhigen Ton: »Wer hat den Streit diesmal angefangen?«
»Natürlich Gibson und seine Jungs. Aber sicher nicht ohne Befehl von oben.«
Innerlich verfluche ich die Dragons. Und ich verfluche diesen verdammten Daniel Rogers und seine rechte Hand Gibson, dass sie ihre Füße keinen Tag stillhalten können. Dass sie es schon wieder geschafft haben, einen von meinen Leuten zu töten, aber seine noch stehen.
Noch.
»Wo sind die Verletzten?«, will ich wissen.
Judd nickt in Richtung Ausgang. »Unten in der Apotheke. Nico flickt sie notdürftig zusammen, aber …«
Sie brauchen einen richtigen Arzt.
Das gibt mir die Gelegenheit, noch jemanden zu verfluchen, wo ich gerade schon so gut in Fahrt bin. »Wenn dieser verdammte Davies nicht längst tot wäre, würde ich ihn jetzt zum Teufel jagen«, entfährt es mir knurrend.
»Würde unsere Probleme aber auch nicht lösen«, gibt Judd belustigt zurück. »Es wird Zeit für einen neuen Arzt.«
Er hat recht, dessen bin ich mir bewusst. Dass ich nach dem, was Davies abgezogen hat, allerdings noch irgendjemanden guten Gewissens in unsere Reihen aufnehmen soll, kann ich mir aktuell nicht vorstellen. Ich habe mich in ihm getäuscht, jahrelang, und das kann ich mir nicht noch mal leisten. Es ist ein Wunder, dass ich überhaupt noch stehe, bei all dem, was er Rogers vermutlich verraten hat. Abgesehen davon ist das gerade nicht mein größtes Problem.
Judd beobachtet mich, als ich mich vom Schreibtisch erhebe und nach dem schwarzen Mantel greife, der über der Stuhllehne hängt. Mein Rücken fühlt sich steif an, ich bin seit über zwanzig Stunden wach und alles in mir schreit nach Schlaf. Aber dafür ist jetzt keine Zeit.
»Soll ich mich um Gibson kümmern?«, fragt Judd. Er strahlt pure Aggression aus, die er nicht einmal zu verbergen versucht. Wahrscheinlich ist er so wütend wie ich und brennt auf Rache.
Aber kopflos kann ich ihn nicht gebrauchen.
»Nein«, gebe ich zurück. Er folgt mir auf dem Fuß, als ich das Büro verlasse und das Treppenhaus hinuntergehe, immer dicht bei mir. Seinen Ruf als mein Wachhund hat er sich redlich verdient.
Nicht dass ich einen brauche.
»Nein?«, wiederholt er langsam. In seiner Stimme schwingt eine Frage mit, die ich ihm still beantworte. An der Eingangstür sehe ich über die Schulter und mein harter Blick sagt ihm alles, was er wissen muss.
Die Entschlossenheit. Der Zorn.
»Du wirst dich selbst darum kümmern?«, fragt er grinsend.
Ich stelle den Kragen meines Mantels auf, dränge jegliches Gefühl hinter eine Mauer und stoße die Tür in die regnerische, windige Nacht auf. »Ich werde mich selbst darum kümmern.«
Leeds Newsticker, 02:30 Uhr: Polizei findet schwer verletzten Mann in Abfallanlage
Ein Mann ist aus einem Müllcontainer hinter einem Tesco Express gezogen worden. Polizei und Ersthelfer sind vor Ort. Es handelt sich zweifellos um ein brutales Gewaltverbrechen. Das Opfer ist inzwischen bei Bewusstsein, weigert sich jedoch, seinen Angreifer zu identifizieren. Die Polizei vermutet, dass es mit der Messerstecherei am Vortag zusammenhängen könnte, da der Verletzte das Tattoo eines Drachen aufweist.
Wie eine gebrechliche, alte Frau stütze ich mich beim Zähneputzen am nächsten Morgen am Waschbecken ab. Die Augenringe sind tiefer geworden, aber es hilft alles nichts. Der ungeöffnete Brief auf meinem Schreibtisch ist wie ein leuchtendes Mahnmal. Ich darf mich nicht ausruhen, darf keine Schwäche zeigen, bis ich das Geld zusammenhabe. Irgendwie muss ich diese Last loswerden. Dabei spielt es keine Rolle, dass ich sie mir nicht selbst aufgehalst habe. Vertraute Bitterkeit steigt in mir auf, aber ich dränge sie wie so oft zurück.
Wenig später betrete ich die Heady Bakery. Heute Morgen arbeite ich mit Nancy, die gerade die ersten Brötchen aus dem Ofen holt. Normalerweise ist sie eine Ausgeburt der guten Laune, aber die Frühschichten machen ihr zu schaffen. Sie sieht fast so fertig aus wie ich, und das ist bedenklich.
In einvernehmlichem Schweigen bereiten wir den Laden vor und ich wische den Boden, weil ich mich dann auf den Mopp stützen kann. Kurz nach sechs geht die Ladenglocke und meine Laune hebt sich, als ich den Mann mit dem gepflegten Vollbart und kinnlangen schwarzen Haar erkenne.
»Guten Morgen, Mr Moss. Lange nicht gesehen.«
»Wirklich? Wir sind wieder bei Mr Moss? Ich bin schockiert«, gibt der Mann in gespielter Verärgerung zurück und ich merke, wie Nancy sich kichernd in die Küche verzieht. Sie und Kisha ziehen mich gern mit Mr Moss – oder vielmehr Ethan – auf. Er ist einer unserer Stammkunden und ein gut aussehender Banker Ende zwanzig, der in der Nähe arbeitet. Deshalb taucht er meist in aller Früh in einem maßgeschneiderten Anzug hier auf. So auch heute.
»Ethan«, berichtige ich mich schmunzelnd. Wir spielen dieses Spiel jedes Mal, aber ich kann einfach nicht anders. »Das Gleiche wie immer?«
»Bitte, Miss Young«, neckt er mich ebenso.
»Florie«, sage ich bemüht streng und gehe zum Kaffeeautomaten, um ihm einen doppelten Espresso zu machen. »Gleiches Recht für alle.«
»Wohl kaum.« Er lacht tief auf. »Florie ist nicht dein voller Name. Den hast du mir nämlich immer noch nicht verraten.«
Wie recht er damit hat. »Ich mag meinen Vornamen nicht, deshalb musst du wohl damit leben. Aber wir könnten uns für dich endlich einen Spitznamen ausdenken.«
»Bitte nicht. Das erinnert mich sonst an meine unangenehme Schulzeit.«
Ich zucke grinsend mit den Schultern. »Verständlich, aber dann kommen wir leider nicht weiter.«
Dazu sagt Ethan vorerst nichts mehr. Stattdessen beobachtet er, wie ich in den To-go-Becher zwei Löffel Zucker hineingebe. Als ich ihn über die Theke reiche, hält er kurz meine Hand fest. »Da wir schon bei Spitznamen sind, könntest du endlich ernsthaft darüber nachdenken, mit mir essen zu gehen, Florie.«
Ich spüre, wie sich eine leichte Röte auf meine Wangen schleicht. Es ist zweifelsohne schmeichelhaft, von ihm nach einem Date gefragt zu werden, aber … »Aktuell weiß ich leider nicht, wo mir der Kopf steht vor lauter Arbeit.«
Er wirkt nicht enttäuscht, eher so, als hätte er damit gerechnet. Vermutlich weil Ethan mich seit Monaten nach einem Date fragt und ich immer die gleiche Antwort für ihn habe. Aber bei dem Gedanken, bei all dem Stress in meinem Leben jemanden zu daten, wird mir schlecht. Vielleicht wenn es irgendwann ruhiger ist. Wenn ich irgendwann mein Leben zurückhabe.
»Ich hoffe, du nimmst es mir nicht übel, dass ich dich wieder fragen werde«, meint er und drückt den Deckel auf seinem doppelten Espresso fest.
»Werde ich nicht«, erwidere ich lächelnd.
Nachdem Ethan aus dem Laden ist, wird es höchste Zeit für meinen Hauptjob. »Kommst du klar, Nancy? Ich muss los.«
»Sicher.« Ihr Kopf erscheint in der Tür und sie zieht die Stirn kraus. »Aber kannst du mir erklären, warum du ihn ständig abweist? Dieser Typ ist verdammt heiß und du hast selbst gesagt, dass du seit deinem zweiten Studienjahr niemanden mehr gedatet hast. Das sind über drei Jahre, Florie.«
»Und das wird noch eine ganze Weile so bleiben«, gebe ich zurück. Ich will jetzt lieber nicht an meine letzte Dating-Erfahrung zurückdenken und wie sie geendet hat. Also verabschiede ich mich knapp. »Bis die Tage.«
»Ja, okay«, seufzt sie offenbar enttäuscht darüber, dass es hier im Laden keine wunderbare Liebesgeschichte geben wird, bei der sie von Anfang an dabei war.
»Sie sehen nicht erholt aus, Young. Schlafen Sie nicht genug?« Dr. Warren hat die Stirn in Falten gelegt und mustert mich aufmerksam.
Charlie hat sich nach der Nachbesprechung von gestern gerade motiviert und gelöst verabschiedet. Es war wie erwartet kein Problem, dass er ebenfalls dabei war. Nun sitze ich mit Dr. Warren allein in seinem Büro und winde mich innerlich unter seinem Blick. »Es war viel Arbeit in letzter Zeit. Aber ich bin fit für die OP«, gestehe ich.
Er brummt, schaut etwas auf seinem Computer nach und meint dann: »Sie haben beinahe vierzig Überstunden.«
Oh, das ist doch mehr als vermutet. Ich schweige und er seufzt tief. »Sie werden die ab sofort abbauen, verstanden? Ich schätze Ihren Ehrgeiz, aber Sie sollten es im ersten halben Jahr nicht schon übertreiben.«
Mein Rücken versteift sich, weil sich in meinem Kopf tausend Dinge auftürmen, die ich verpassen werde, wenn ich nicht hier bin. Dennoch nicke ich.
»Gut. Dann kommen wir nun zu unserer heutigen OP oder vielmehr Ihrer.« Er sieht immer noch streng aus, aber ich glaube in seinen hellen Augen die Spur eines Lächelns zu erkennen. Erleichterung durchflutet mich. Er hat mir die OP nicht weggenommen.
Damit wappne ich mich für die Fragerunde.
»Wenn unser Patient in Narkose gelegt ist … wie viele Schnitte machen wir für den minimalinvasiven Eingriff?«
»Drei«, antworte ich wie aus der Pistole geschossen. »Zwei für die Instrumente, einen für die Kamera. Zwei fünf bis zehn Millimeter lange Schnitte in den Unterbauch und einen nahe des Bauchnabels.«
Das hat er zwar nicht gefragt, aber ich weiß, dass er es getan hätte. Sein zuckender Mundwinkel verrät es mir. Ein solcher Eingriff ist perfekt für jemanden in meinem Ausbildungsstadium und seit Dr. Warren vor ein paar Wochen angedeutet hat, dass ich womöglich bald einen übernehmen könnte, habe ich mir Hunderte Videos dazu angesehen. Ich bin vorbereitet. Und er weiß das.
»Wie geht es dann weiter?«, hakt er nach und lehnt sich auf seinem Schreibtischstuhl zurück.
Darauf habe ich gewartet. Bis ins kleinste Detail schildere ich ihm, wie eine Blinddarm-Entfernung durchgeführt wird, was beachtet werden muss, was schiefgehen kann und wie man darauf reagiert. Jeder einzelnen Nachfrage halte ich stand und bin ein bisschen stolz, als er zufrieden die Arme vor der Brust verschränkt. »Nicht schlecht, Young. Wenn Sie so weitermachen, werden Sie eine ausgezeichnete Chirurgin.« Sein Mundwinkel springt nach oben. »Wollen wir?«
Ich nicke eifrig und wir gehen gemeinsam zum OP-Saal. Die Maßnahmen zur Vorbereitung kenne ich bereits zur Genüge, aber heute fühlen sie sich besonders an. Erhebend, irgendwie. Ich desinfiziere mich akribisch und behalte jeden dabei im Blick. Heute will ich alles genau wissen und überprüfen, um die Sicherheit in meinem Inneren zu erhalten.
Als ich schließlich am Tisch stehe, bin ich hyperfokussiert. Der Patient Mr Clark ist 46 Jahre alt, ohne Vorerkrankungen. Er ist noch nicht in Narkose und hebt den Kopf, um mich anzustrahlen. »Dr. Young.«
Ich bin noch kein Doktor, das habe ich ihm gestern schon gesagt, aber davon wollte er nichts wissen. Also grinse ich nur. »Geht es Ihnen gut? Nichts gegessen, nichts getrunken?«
»Natürlich nicht, ich will ja ein Musterpatient für Ihre erste OP-Assistenz sein.« Er zwinkert mir zu und mein Herz wird weicher.
Lächelnd sage ich: »Danke noch mal, dass Sie sich dazu bereit erklärt haben.«
»Man muss doch den Nachwuchs fördern. Nicht wahr, Dr. Warren?« Mr Clark strahlt meinen Mentor an, der zustimmt.
»Sie haben eine hervorragende Wahl getroffen. Miss Young wird ein gutes Auge auf Sie haben.«
Unser Patient lacht auf. Er ist die Ruhe selbst, als die Anästhesistin ihn schließlich in Narkose versetzt. Und aus irgendeinem Grund fühle ich mich ihm besonders verpflichtet. Ich werde alles richtig machen, verspreche ich in meinen Gedanken.
Vielleicht bin ich deshalb auch etwas steif, als die OP losgeht. Dr. Warren steht mir gegenüber. »Locker bleiben, Young. Sie können das.«
»Ja, Dr. Warren«, gebe ich angespannt zurück. Aber dann setzt Dr. Warren den ersten Schnitt und ich versinke in dieser Welt, die ich im Krankenhaus lieben gelernt habe.
Mein Ausbilder erklärt mir jede Bewegung vorab. Dann lässt er mich übernehmen. Die ganze Zeit hat er dabei seine Hände direkt über meinen, um gegebenenfalls einzugreifen. Er achtet auf jede Kleinigkeit und lässt mich jeden Schritt laut aussprechen. Mit der Zeit werde ich sicherer. Ich merke, dass ich das wirklich kann. Dass ich wirklich weiß, was ich tue. In der Theorie bin ich diese OP tausendmal durchgegangen und jetzt kommt die Sicherheit der Praxis dazu.
Die Operation verläuft ohne Probleme. Als wir fertig sind, strahle ich und könnte tanzen. Dr. Warren und ich besprechen das Prozedere nach und er lobt mich mehrfach, sodass mir fast der Kopf schwirrt.
»Jetzt gehen Sie noch einmal auf die Stationen, um akut auszuhelfen, und dann machen Sie bitte schnellstmöglich Feierabend«, sagt er schließlich.
Verdutzt werfe ich einen Blick auf die Uhr über der Tür. Es ist erst kurz nach halb zehn. Das bedeutet, ich bin noch keine drei Stunden hier. »Ich kann meinen Dienst beenden«, versuche ich es, aber Dr. Warren winkt sofort ab.
»Nein. Sie sind gerade voller Adrenalin und fühlen sich deshalb nur, als wäre es so. Eine Stunde Stationsarbeit, dann bauen Sie Ihre Überstunden ab.«
Sein Tonfall macht klar, dass er keine Widerrede duldet, und ich ergebe mich. »In Ordnung.«
»Gute Arbeit!«, ruft er, als ich den OP verlasse, und das breite Lächeln kommt zurück.
Tatsächlich stellt sich heraus, dass Dr. Warren recht hat. Bereits nach zwanzig Minuten Blutentnahmen spüre ich, wie die Erschöpfung zurückkommt. Also beende ich, was ich angefangen habe, und verabschiede mich in den vorzeitigen Feierabend.
Es ist bereits dunkel, als ich aus meinem Nickerchen erwache. Ich setze mich auf, puste die verirrten roten Strähnen aus meinem Gesicht und stöhne. Umständlich fische ich mein Handy aus der Couchritze und sehe direkt eine Nachricht von Bailey, die mir mitteilt, dass sie heute länger arbeitet. Da fällt mir auf, dass es schon nach zwanzig Uhr ist. Ich habe tatsächlich den halben Tag verschlafen.
Nach kurzer Überlegung, ob wir irgendetwas Essbares zu Hause haben, das sich ohne Aufwand zubereiten lässt – haben wir nicht –, beschließe ich, eine Pizza zu bestellen. Die aufleuchtende App blendet mich und kaum habe ich meine Bestellung abgeschickt, wollen mir schon wieder die Augen zufallen. Ich schalte das Licht an, um wach zu bleiben, und lasse mich zurück auf die Couch fallen.
Mehrmals nicke ich weg, bis es endlich klingelt. Erleichtert schlüpfe ich in meine Hausschlappen und betätige den Öffner. Dann reiße ich ungeduldig die Tür auf, während der Bote im Haus nach oben läuft.
Schritte erklingen auf dem Flur und ein schlanker Typ in Jogginghose, Kapuzenpulli und abgelaufenen Sneakers kommt um die Ecke. Er muss in meinem Alter sein oder etwas jünger und überragt mich ein wenig. Seine Haare sind rot wie meine, nur kurz und dunkler. Aus grauen Augen blickt er mich düster an und die Mundwinkel sind nach unten gezogen. Da mag jemand wohl seinen Job nicht besonders.
Als er mich sieht, presst er für eine Sekunde die schmalen Lippen aufeinander. »Bailey Young?«
Oh? Habe ich wieder auf Baileys Namen bestellt? Egal. Ich nicke und wühle in meiner Hosentasche nach Trinkgeld.
Währenddessen tritt der Typ näher und bleibt direkt vor mir stehen. Vielleicht ist es die Müdigkeit, die mein Gehirn so langsam macht – aber mir fällt plötzlich auf, dass er überhaupt keine Pizza dabeihat. Ich sehe überrascht zu ihm und er schaut mit diesen kalten Augen auf mich hinab. Seine Oberlippe zuckt, als wäre er … angeekelt.
»Wo ist …?«
»Ruhe!«, zischt er und packt meinen Oberarm. Gleichzeitig nehme ich eine Bewegung unter mir wahr, und als ich den verwirrten Blick senke, hat er ein Messer in der Hand. Die Klinge glänzt im schummrigen Flurlicht, als er sie nur wenige Zentimeter von meinem Bauch entfernt gegen mich richtet. Mein Kopf wird leer und mir bricht unter meinem Pullover der Schweiß aus.
Ein Messer. Er hat ein verdammtes Messer.
Instinktiv will ich zurückweichen, in die Sicherheit der Wohnung, aber sein Griff ist grob, unbarmherzig und er zischt gefährlich: »Du kommst jetzt mit. Und denk nicht mal dran, auch nur einen Ton von dir zu geben, verstanden?«
Ich kann nur entsetzt von seinem finsteren Gesicht zu dem Messer und zurück schauen. Seine breite Nase ist schief, als wäre sie mal gebrochen worden, und seine Augen funkeln jetzt fast fanatisch. Der Typ ist kein Pizzabote. Bevor ich diese Erkenntnis verarbeitet habe, zieht er mich schon mit einer Kraft in den Flur, die ich nicht von ihm erwartet hätte. Die Wohnungstür fällt hinter mir mit einem dumpfen, finalen Rumms ins Schloss.
Ich zucke höllisch zusammen und merke erst, dass ich die Luft angehalten habe, als mir schwindlig wird. Schnell sauge ich neue ein und rieche eine Mischung aus Schweiß und Minzkaugummi, die von dem Typen kommt. Mir dreht sich beinahe der Magen um. Ich spüre die Klinge durch meinen Pulli, seinen Atem auf meinem Gesicht und seinen schraubstockartigen Griff um meinen Arm. Mein Körper beginnt zu schlottern, mein Herzschlag beschleunigt sich. Im Blick des jungen Mannes liegt keinerlei Gnade. Kein schlechtes Gewissen. Kein Zögern.
»Mitkommen«, sagt er erneut, kalt und ruhig.
Ich schnappe zischend nach Sauerstoff, wehre mich aber nicht. Er zwingt mich die Stufen nach unten, das Messer dicht an meiner Seite. Panisch sehe ich mich um, auf der Suche nach Hilfe, bete, dass uns einer der Nachbarn entgegenkommt … irgendwer. Aber das Treppenhaus bleibt leer.
»W…was willst du von mir?«, bringe ich endlich hervor.
Er antwortet nicht, schiebt mich nur hart und mühelos weiter. Vielleicht sollte ich mich von ihm losreißen oder ihn schubsen. Aber er hat mich so fest gepackt, dass es wehtut, und bei meinem Glück würde ich nur selbst die Treppe runterfallen und mir das Genick brechen. Also versuche ich es erst gar nicht.
Was will er überhaupt von mir? Geld? Aber warum nimmt er mich dann mit? Was hat er vor? Und warum hat er nach Bailey gefragt?
Dann sind wir im Erdgeschoss und er öffnet die Eingangstür mit der Hand, die das Messer hält. Doch ich hätte diesen Moment nicht für mich nutzen können, selbst wenn ich es vorgehabt hätte. Denn der Ärmel seines Kapuzenpullis rutscht bei der Bewegung hoch und gibt den Blick auf seinen Unterarm frei.