Queer*Welten 06-2021 - Nora Bendzko - E-Book

Queer*Welten 06-2021 E-Book

Nora Bendzko

0,0

Beschreibung

Queer*Welten ist ein halbjährlich erscheinendes queerfeministisches Science-Fiction- und Fantasy-Magazin, das sich zum Ziel gesetzt hat, Kurzgeschichten, Gedichte, Illustrationen und Essaybeiträge zu veröffentlichen, die marginalisierte Erfahrungen und die Geschichten Marginalisierter in einem phantastischen Rahmen sichtbar machen. Außerdem beinhaltet es einen Queertalsbericht mit Rezensionen, Lesetipps, Veranstaltungshinweisen und mehr. In dieser Ausgabe: Mutter Finsternis von Nora Bendzko (Kurzgeschichte) Die gayte Fee von Janus Reihmann (Kurzgeschichte) Schimmer im Staub von Miou Sascha Hilgenböcker (Kurzgeschichte) Wovon träumen Androiden? Von Queer*Science Fiction! von Aiki Mira (Essay) Queertalsbericht

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 86

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Sammlungen



Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Messy Learning: Positive Tags
Mutter Finsternis
Die gayte Fee
Schimmer im Staub
Wovon träumen Androiden? Von Queer* Science Fiction!
Queer*Welten –
Der Queertalsbericht 03/2021

https://queerwelten.de

Ach je Verlag

Traunstein - AT&Tlantis - Tschuri

https://ach.je

Impressum

Herausgeberinnen:

Judith Vogt, Lena Richter, Kathrin Dodenhoeft

1. Auflage

© 2021 Ach je Verlag

ein Imprint des Amrûn Verlag, Traunstein

Layout: Kathrin Dodenhoeft

Coverillustration: Sascha Viktor

Umschlaggestaltung im Verlag

Queer*Welten Logo: Milan Dangol https://milandangol.de

ISBN 978-3-947720-82-8 (Print)

ISBN 978-3-95869-489-7(E-Book)

https://queerwelten.de

Vorwort

Liebe Leser*innen,

Willkommen zu einer neuen Ausgabe Queer*Welten! Sie erscheint zu einer seltsamen Zeit, einer Zeit, die sich irgendwie „dazwischen“ anfühlt. Die Corona-Pandemie ist längst nicht vorbei, die Impfungen bieten vielen von uns gewissen Schutz. Doch wenn wir über die Landesgrenzen hinaus in den globalen Süden schauen, lassen wir westlichen Industrienationen diesen einmal mehr im Stich. Die Bundestagswahl steht bevor (bitte geht wählen!) und könnte einen längst nötigen Wandel bringen – oder den drögen, konservativen Stillstand zementieren, der vier weitere Jahre nichts gegen Rassismus, Queerfeindlichkeit, Armut oder den drohenden Untergang der Menschheit durch die Klimakatastrophe tut.

Und auch über konkrete Ereignisse hinaus: Die Grenzen des Sag- und Machbaren und des gesellschaftlichen Moralkompasses verschieben sich – nicht parallel zueinander, sondern fragmentiert. Während in Ungarn und Polen queerfeindliche Politik immer weiter geht und immer größeres Leid verursacht, während in Deutschland das Selbstbestimmungsgesetz an der Großen Koalition gescheitert ist, das EM-Finale zum Festival für Rassismus, Gewalt und Ansteckung mit der Delta-Variante wurde, und sich zum Pride Month im Juni die absurdesten menschenfeindlichen Organisationen (unsere „Favoriten“ waren die UEFA und Frontex) mit dadurch beinahe bedeutungslos gewordenen Regenbögen schmückten, gibt es doch auch Nachrichten, die Hoffnung machen: So wurde beispielsweise der queere Club „Pulse“ in Orlando, Florida, in dem 49 Menschen bei einem Attentat starben, von Präsident Biden zum nationalen Ort des Gedenkens erklärt. Im US-Staat Nevada gewann Kataluna Enriquez als erste trans Frau of Color eine Miss-Wahl. Und in Deutschland haben mehrere Gerichte das diskriminierende Abstammungsrecht, das queere Familien schädigt, dem Bundesverfassungsgericht zur Überprüfung vorgelegt. Außerdem wurde ein Gesetz erlassen, in dem ehemalige Soldat*innen für queerfeindliche Diskriminierung entschädigt werden sollen. Zwischen all diesen Nachrichten schwankt der Blick in die Zukunft oft zwischen Hoffen und Verzweifeln. Sollten wir optimistisch sein, weil zumindest manche Dinge doch langsam in die richtige Richtung gehen? Oder bereiten wir uns lieber darauf vor, dass der reaktionäre Backlash auch hier schlimm werden wird und wir uns und unsere Lieben beschützen müssen?

Am 10.07.2021 haben wir mit einigen von euch online unser einjähriges Jubiläum gefeiert (falls ihr wollt, könnt ihr das Video im YouTube-Kanal des AchJe-Verlags nachschauen). Wir haben angestoßen, eure Fragen beantwortet und uns über eure Glückwünsche gefreut. Ein Jahr Jubiläum: Auch das ist ein Grund für Freude, aber auch für Sorge. Werden wir das zweite Jubiläum mit euch feiern können, oder müssen wir bis dahin aufgeben? Noch immer bringt Queer*Welten dem Verlag ungefähr so viel ein, dass es die Kosten deckt, aber auch nicht mehr. Noch immer ist die Lage der Kleinverlage in Deutschland sehr schlecht. Die nächsten Ausgaben sind gesichert, und danach sehen wir weiter. Auch wir sind also in einem Dazwischen. Und wenn man nicht weiß, wie die Zukunft wird, bleibt nichts anderes übrig, als in der Gegenwart einfach weiterzumachen. Wir sind hier, haben wir damals im ersten Beitrag auf unserer Website geschrieben. Wir waren immer schon hier. Und wir hoffen, wir bleiben noch eine lange Zeit. Danke an alle von euch, die uns dabei unterstützen.

Und zumindest haben wir, wie immer, ein paar kleine Fluchtwege aus der Realität für euch, damit ihr diese seltsamen Zeiten kurz vergessen könnt. Wir haben Portale zu Schicksalsgemeinschaften in lebensfeindlichen Welten und zu Feenwesen, seien sie hilfreiche Flirtkünstlerinnen oder die letzten ihrer Art. Der Essay in dieser Ausgabe fordert euch außerdem alle auf, mit offenen Augen zu träumen. Wir wünschen euch viel Spaß dabei.

Eure Queer*Welten-Redaktion

Messy Learning: Positive Tags

Liebe Leser*innen,

bei den Geschichten dieser Ausgabe wird euch sicher auffallen, dass vor den Texten nicht nur (wenn nötig) Inhaltshinweise stehen, sondern noch eine zweite Sammlung von kurzen beschreibenden Begriffen. Dabei handelt es sich um sogenannte positive Tags, und weil diese vielleicht nicht allen von euch geläufig sind, erklären wir an dieser Stelle kurz, was sich dahinter verbirgt.

Sowohl Inhaltshinweise als auch positive Tags entstanden zuerst in Online-Communities, vor allem im Fanfiction-Bereich. Die Fanfiction-Plattform Archive Of Our Own (AO3) hat 2019 sogar einen Hugo gewonnen, unter anderem für dieses Tagging-System. Dabei nehmen die Tags eine Doppelfunktion ein: Sie beschreiben sowohl Dinge, die Lesende vielleicht nicht sehen möchten, als auch Dinge, die sie besonders gern sehen möchten. Die Tags weisen beispielsweise auf Themen wie explizite Gewalt oder Drogenkonsum hin, aber auch auf Dinge, vor denen viele Menschen eine Phobie haben (wie z. B. Spinnen oder Insekten) oder die sie belasten oder ­ekeln können (Body Horror, bestimmte Arten von Verletzungen, usw.). Dieser Aspekt von Tags ist in Form von Inhaltshinweisen inzwischen bei einigen deutschen Verlagen ebenfalls angekommen, wird teilweise auch vor Filmen oder Serienfolgen eingeblendet und ist bei Queer*Welten schon immer ein Teil des Konzepts.

Auf AO3 gehen die Tags aber darüber hinaus und geben auch plotbezogene Hinweise, wie z. B. Tod einer Hauptfigur oder tragisches Ende, oder Hinweise zur Stimmung und Ausrichtung des Textes. Und, im Gegensatz zu reinen Warnungen vor bestimmten Inhalten, sind dort auch weitere Angaben zu Themen, Plots und bestimmten Tropes üblich. Ob nun die Beschreibung von Beziehungen (wer mit wem, was für eine Art von Beziehung, gibt es ein Happy End?), die Angabe, welche Repräsentation der Text enthält, die enthaltenen Themen (z. B. Freundschaft, Found Family, Magie, Rebellion) oder die Verwendung von bestimmten Tropes (Fake Married Spies, There Was Only One Bed): Positive Tags geben einen Ausblick auf das, was die Lesenden in einer Geschichte erwartet.

Damit sind diese Tags eine ganz andere und neue Art, um Texte einzuordnen und zu bewerben. Sie können eine Alternative oder Ergänzung zu klassischen Klappentexten sein. Natürlich haben nicht alle Lesenden Interesse daran, schon so viel zu Handlung, wichtigen Themen und Inhalten zu erfahren, manche sehen es sicherlich schon als Spoiler an. Andere haben aber durchaus Lust, ein bisschen mehr zu erfahren, was in einer Geschichte auf sie wartet und welche Stimmung die Autor*innen damit einfangen, weil es so leichter möglich ist, den Text zu finden, auf den sie gerade Lust haben. Nicht alle von uns können jede Art von Geschichte an jedem Tag und in jeder Stimmung ertragen; und manchmal ist ein Text mit garantiertem ­Happy End eben genau das, was wir suchen. Außerdem sind positive Tags auch längst nicht immer so inhaltsbezogen, dass die Handlung vorweggenommen wird. Ein weiterer Vorteil: Durch solche Tags wird es auch leichter zu erkennen, ob beispielsweise in einer Erzählung überhaupt queere Figuren enthalten sind, oder ob andere Marginalisierungserfahrungen verarbeitet wurden. Diese Angaben sind auf klassischen Klappentexten oft nicht enthalten.

Wir Queer*Welten-Herausgeber*innen sind jedenfalls schon länger große Fans des Tagging-Systems. Und da das hier unser Magazin ist und wir ebenso große Fans davon sind, Dinge einfach mal auszuprobieren – Stichwort Messy Learning! – probieren wir es in dieser Ausgabe einfach einmal aus. Ihr findet also vor allen drei Geschichten neben Inhaltshinweisen auch positive Tags. Wir sind gespannt, wie euch das gefällt. Schreibt uns doch gerne eure Meinung dazu auf Twitter oder per E-Mail!

Und jetzt aber wirklich: Viel Spaß mit den Texten der Ausgabe!

Eure Queer*Welten-Redaktion

Mutter Finsternis

von Nora Bendzko

Inhaltshinweise

Angst um Angehörige, fehlendes Körperteil, Prothese, Tod u. a. von Angehörigen, Umweltzerstörung, Weltuntergangsstimmung

Tags

Adoption, Community, erste Liebe, Feen of Color, Genderfluidität, Found Family, queernormatives Worldbuilding

Die Welt, durch die Morpho lief, war nicht der Regenwald, wie er ihn kannte. Der Boden unter ihm war grau und schlammig. Die Bäume wirkten verwachsen, von Fäulnis aufgeweicht. Es gab kein wucherndes Leben, keine wasserreiche Luft, nur Dunkelheit.

Er stolperte an dem Skelett eines Waldelefanten vorbei, der ihn selbst im Tod überragte. Dabei schleifte Morpho seinen rechten Flügel nach. Er hing in Fetzen von seiner Schulter, zerstört wie die Sicherheit, die ihm die künstliche Gliedmaße sonst geboten hatte. Eben erst war Morpho mit den anderen Feen durch den Himmel geflogen, nun folgte er keuchend der Sonne, die durch blattarme Bäume blinzelte. Aasgestank drang ihm in die Nase, und über ihm donnerte ein Gewitter.

Wie viel Zeit bleibt mir noch? Sein Herz raste vor Furcht, während er an all die grausigen Geschichten dachte, die er über die Folgen des Sturms gehört hatte. Das Wetter machte die Magie, die in allem wohnte, krank. Der Regenwald faulte, Wasser wurde zu Gift, und Tiere fraßen ihren Wurf.

Die meisten, die dem Sturm für längere Zeit ausgesetzt waren, kamen nicht zurück, und die wenigen, die es taten, waren verändert. Morpho hatte Feen gesehen, die von Halluzinationen oder seuchenartigem Verfall gequält wurden. Er bebte bei dem Gedanken, dass ihm dasselbe passieren könnte.

Da huschte etwas an ihm vorbei. Morpho spürte Kälte, dieselbe Kälte, die er gespürt hatte, bevor sein Flügel gebrochen war. Sie hüllte ihn ein, und er blieb stehen. Etwas tauchte aus den Schatten des Waldes auf.

Das Wesen hatte schwarze Haut und Fühler, als bestünde es aus Licht­losigkeit. Es bewegte sich ohne ein Geräusch. Seine Flügel sahen unwirklich aus, formlos wie Nebel.

„Wer bist du?“, flüsterte Morpho, obwohl er die Antwort schon wusste. Denn vor ihm stand ein lang vergessener Albtraum, und dieser begann mit klirrend kalter Stimme zu sprechen.

I: Sturmgeboren

„Du kennst mich, kleiner Windling. Ich habe dich aufgesucht, als du noch in deinem Ei gelegen und von deiner Geburt geträumt hast. Es war die Zeit, als der Große Sturm begann, die Welt zu verheeren.

Ich weiß noch, wie ich durch dein Dorf ging, auf der Suche nach sterbenden Feen. Alles war durch den Sturm zerstört. Du lagst am Rande der Verwüstung, frisch geboren, in Schale und Scherben. Deine rechte Schulter war verdreht, und ich war das Allererste, was du sahst.

Damals wusstest du es nicht, aber du bist das Kind einer letzten Generation. Es ist an der Zeit, dass ich dich mitnehme.“

Morpho hielt den Atem an. Sie war es wirklich. So hatte er sie sich vorgestellt, seit sein Bruder Archon zum ersten Mal von ihr erzählt hatte: Mutter Finsternis. Sie kam wie eine Motte in der tiefsten Nacht, um von Unglück zu künden oder Feen in den Tod zu führen.

„Komm. Deine Familie wartet.“

Er schauderte, weil er wusste, dass Mutter Finsternis die Toten meinte.