Die Götter müssen sterben - Nora Bendzko - E-Book

Die Götter müssen sterben E-Book

Nora Bendzko

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Beschreibung

Wird sie die Amazonen retten – oder in den Untergang führen? Düster, dramatisch und atemraubend actionreich: Dark Fantasy aus der Welt der Amazonen Troja wird fallen – und Die Götter müssen sterben! So besagt es eine Prophezeiung von Artemis selbst, der mächtigen Göttin der Jagd, Herrin des Mondes und Hüterin der Frauen. Wenn die prunkvolle Stadt in Schutt und Asche liegt und das Schicksal der Götter besiegelt ist, sollen die Amazonen die Welt beherrschen. Doch Artemis segnet ausgerechnet die junge Areto mit ihren Kräften, die keine Kriegerin ist und auch sonst kein hohes Ansehen genießt. Wie kann eine wie sie der Macht einer Göttin würdig sein und ihre Schwestern in eine neue Welt führen? Während Areto lernen muss, eine Anführerin zu sein, spaltet ihre Erwählung die Amazonen in zwei Lager – ein Konflikt, der ihrem Volk im Trojanischen Krieg den Untergang bringen könnte. Mit »Die Götter müssen sterben« hat die erfolgreiche Autorin Nora Bendzko (»Die Galgenmärchen«) einen packenden Dark-Fantasy-Roman geschrieben, der nicht nur Fans von Markus Heitz begeistern wird.

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Leseprobe zu:

Nora Bendzko

Die Götter müssen sterben

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Wird sie die Amazonen retten – oder in den Untergang führen?

Düster, dramatisch und atemraubend actionreich: Dark Fantasy aus der Welt der Amazonen

Troja wird fallen – und die Götter müssen sterben! So besagt es eine Prophezeiung von Artemis selbst, der mächtigen Göttin der Jagd, Herrin des Mondes und Hüterin der Frauen. Wenn die prunkvolle Stadt in Schutt und Asche liegt und das Schicksal der Götter besiegelt ist, sollen die Amazonen die Welt beherrschen.

Doch Artemis segnet ausgerechnet die junge Areto mit ihren Kräften, die keine Kriegerin ist und auch sonst kein hohes Ansehen genießt. Wie kann eine wie sie der Macht einer Göttin würdig sein und ihre Schwestern in eine neue Welt führen? Während Areto lernen muss, eine Anführerin zu sein, spaltet ihre Erwählung die Amazonen in zwei Lager – ein Konflikt, der ihrem Volk im Trojanischen Krieg den Untergang bringen könnte.

Inhaltsübersicht

WidmungEine Vorrede der GöttinErster Gesang, vom Sturm auf AthenZweiter Gesang, von heiliger JagdI. Ein zweites LebenII. SchildhautIII. Königin der GräberIV. Der WettstreitV. Ein SchauspielVI. FeuerbringerinVII. Herz und KampfVIII. DrachenzeichenDritter Gesang, von Krieg SehendenIX. Die ProphezeiungX. LöwinnenmutXI. Blut für BlutXII. VerbrannteXIII. Die DiebinXIV. Alte FehdenXV. In der NachtXVI. Lied des IrrsinnsXVII. Die UnterweltVierter Gesang, vom Bruch der DingeXVIII. Blühende TageXIX. KlingentanzXX. Ewige KälteXXI. Tochter der GoldenenXXII. Die OrphikerXXIII. Der Hof des GelächtersXXIV. Drei vereintXXV. VersprechenXXVI. Dunkle PfadeXXVII. Der VerloreneXXVIII. WaffenschwesternFünfter Gesang, vom Tod einer ÄraXXIX. FamilienbandeXXX. Die größte WaffeXXXI. TrennungenXXXII. Stadt der TotenXXXIII. Meine AhninXXXIV. VerratXXXV. LegendeXXXVI. ÜberlebenXXXVII. Graues LichtXXXVIII. WahrheitenXXXIX. Ein Sturm zieht aufNachwort und Danksagung
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für die Kriegerin

in dir

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Eine Vorrede der Göttin

Die Geschichte meiner Amazonen kann nicht würdig erzählt werden, ohne auch die Gräuel des Krieges zu betrachten. Viele heroische Momente sind auf Gewalt, blutig wie sexuell, gebaut, und nicht nur Frauen und Kinder werden davon Opfer, sondern alle Geschlechter. Überdies werden Suizidalität und depressive Stimmungen in den folgenden Gesängen besprochen. Sei standhaft und gib auf dich acht, auf dass du nie vergisst: Die Sonne wird auch nach der finstersten Nacht wieder für dich aufgehen.

Sollten dir weitere Fragen auf der Reise kommen, so wartet am Ende ein Nachwort auf dich, mit Quellen und Erklärungen zu einigen Darstellungen in diesem Buch.

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καὶ τὰς ἀνάνδρους κρεοβόρους τ᾽ Ἀμαζόνας,

εἰ τοξοτευχεῖς ἦτε, κάρτ᾽ ἂν ᾔκασα

ὑμᾶς. διδαχθεὶς δ᾽ ἂν τόδ᾽ εἰδείην πλέον,

ὅπως γένεθλον σπέρμα τ᾽ Ἀργεῖον τὸ σόν.

 

Für mannsentwöhnte, fleischeshungrige Amazonen

würd ich, wärt ihr Bogenschützinnen, ehr euch

halten. Wissen möcht ich drum genau belehrt,

wie nach Argos dein Geschlecht und Stamm gehört.

 

– König Pelasgos, aus Aischylos:

Ἱκέτιδες – Die Schutzflehenden

Vers 287–290

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Erster Gesang, vom Sturm auf Athen

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

In ihren kühnsten Träumen sah Areto sich selbst, wie sie als Amazone mit dem Tod ritt. Fort von allen Zwängen, in einem Regen aus Blut und Knochensplittern, ungeheuerlich frei.

Aber dies waren eben nur Träume. Nicht mehr.

Sie diente Theseus, dem König von Athen, und als seine Verwalterin bekam sie allenfalls Blut zu sehen, wenn eine Ziege für ein Fest geschlachtet wurde. Sie führte sein Haus anstelle der Frau, die er einmal ehelichen würde – eine denkbar friedliche Arbeit. Und doch pochte ihr Herz vor Aufregung, als Theseus von seiner Reise heimkam. Mit einem Mal hatten ihre Träume Gestalt angenommen. Es hatte Gerüchte gegeben, dass er nicht alleine zurückkäme, und es stimmte. Eine Amazone war bei ihm.

»Er ist zurück«, sagte Areto. Sie war froh, dass ihr Herr und damit die Ordnung in der Stadt wiederkehrte.

Mit mehreren Knechten und Sklaven drängte sie sich an eines der Palastfenster. Allesamt verrenkten sie sich die Hälse, um einen Blick auf Theseus zu erhaschen. Jeder hatte insgeheim geglaubt, dass seine Reise ins Land der Amazonen nicht glücken konnte. Es gab zweifellos große Helden und Kämpfer aufseiten der Griechen, von denen auch Theseus einer war. Doch Amazonen waren mehr als das, sie stammten vom Kriegsgott Ares ab und bekamen den Blutdurst mit der Muttermilch eingeflößt. Die Griechen nannten sie kreoboros: die mit Fleisch Vollgeschlungenen.

Areto konnte sich kaum vorstellen, wie man solche Unfrauen bekämpfen, geschweige denn fangen sollte. Doch Theseus hatte beides getan. Sie hörte die Diener raunen.

»Eine leibhaftige Amazone zu rauben …«

»Unser Herr ist unglaublich.«

»Ein wahrer Held!«

Alle waren fasziniert, bis auf eine Alte, die den Kopf schüttelte. »Held? Ich frage mich, ob er dem Wahnsinn anheimgefallen ist. Diese Fremde ist keine Beute, nicht wie andere Frauen. Sie ist gefährlich.«

Areto wusste, was sie meinte. Die Tochter eines Gottes als Kriegsbeute zu beanspruchen, konnte heiligen Zorn bedeuten. Wie Areto auf Athen hinuntersah, kam es ihr vor, als teilten nicht viele den Pessimismus der Greisin. Die verwinkelten Pflasterstraßen waren voll mit Menschen, die jubelnd ihren König begrüßten. Das Dröhnen von Trommeln, Gesang und Flötenspiel lagen in der Luft.

Sie konnte vom Palast aus erkennen, wie Theseus seinen Soldaten vorausging und der Menge winkte. Anders als seine Männer, deren Köpfe gesenkt waren, wirkte er kein bisschen erschöpft von der Reise. Er strahlte, als wäre er der Sohn des Sonnentitans Helios.

Aber Areto entging nicht, dass er seine Gefangene nicht an einem Seil hinter sich herführte. Eine eigene Abteilung von Fußsoldaten eskortierte die Amazone. Trotz ihrer Fesseln hielt sie den Kopf erhoben. Sie ging ruhig voran, während ihr offenes schwarzes Haar im Wind wehte. Ihre Wächter hatten die Speere gezückt, stets in Bereitschaft. Als würden sie keinen Menschen bewachen, sondern ein wildes Tier.

»Gafft weniger und geht an die Arbeit«, hörte Areto eine vertraute tiefe Stimme. »Ihr wollt doch euren König gebührend empfangen und ihn nicht über eure nutzlosen Beine stolpern lassen? Fort mit euch!«

Sie drehte sich um und sah ihrem Mann Miron ins Gesicht. Er hatte sein diplomatischstes Lächeln aufgesetzt, die Zähne hoben sich gelb gegen seinen dichten Graubart ab. Sie sah, dass er sein bestes Himation mit den Silberstickereien angelegt hatte. Anscheinend nahm er Theseus’ Rückkehr zum Anlass, sich als dessen Berater zu schmücken.

Die Knechte und Sklaven duckten sich. Sie fürchteten Miron, obwohl er ein kleiner, nicht gerade angsteinflößender Mann war. Doch er war ein hervorragender Rhetoriker. Ein leichter Wechsel seiner Tonlage, und er wirkte wie ein menschenfressender Kyklop.

»Lass sie, Miron«, sagte Areto und zwang sich zu einem Lächeln. Es ärgerte sie, wie er mit dem Gesinde umsprang. Das Haus zu führen, war Frauengeschäft und oblag nicht ihm. »Sie sind eben neugierig. Du etwa nicht? Außerdem –«

Er unterbrach sie, eine schlimme Angewohnheit, während die Diener davonschlichen. »Neugierig? Wenn es nur das wäre, Weib.« Mit schweren Schritten trat er zu ihr ans Fenster. »Wir Politiker sind in Aufruhr. Eine Amazonenprinzessin? Theseus scheint sie auch noch zur Frau und nicht als Konkubine nehmen zu wollen. Wir beten, dass er mit ihr keinen Krieg bringt.«

Ihr Herz klopfte heftiger. Eine Prinzessin also. Theseus wollte eine wirklich gefährliche Frau zur Königin von Athen machen.

Miron legte die Hand auf ihren Bauch, wovon sie erschauerte. »Aber sollte Krieg kommen, wird unser Kind sich darin hervortun.« Er lachte dröhnend. »Das Orakel hat mir gesagt, du wirst einen starken Sohn empfangen, einen noch größeren Mann als mich.«

Sie hob mechanisch die Lippen. »Das ist wunder–«

»Oh ja, das ist es.«

Sie hielt ihre Mundwinkel oben. Seit Monaten lebte sie mit Miron unter einem Dach, sie wusste, wie man Fassaden baute. Dasselbe Lächeln, perfektioniert, würde sie zeigen, wenn sie einmal sein Kind unter dem Herzen tragen müsste. Trotz ihres Ekels vor dem, was ihrer Schwangerschaft unweigerlich vorausgehen würde. Sie war schon nicht in der Lage, sich an seine einfachen Berührungen zu gewöhnen. Seine Hände, die viel rauer vom Alter waren als ihre, fühlten sich falsch an. Wie sollte sie das Bett mit ihm überstehen, immer und immer wieder?

»Um einen großen Mann zu gebären, bedarf es großer Kraft.« Er ließ ihren Zopf durch seine Hand gleiten, wovon sie noch mehr versteifte. »Versprich mir, dass du dich heute Nacht gut ausruhst. Bestimmt wird Theseus oft nach dir verlangen in den nächsten Tagen. Schone dich.«

Sie konnte nicht antworten, so schlecht fühlte sie sich. Miron war doch gut zu ihr. Warum war dann diese Enge in ihrer Brust? Wieso konnte sie sich nicht besser mit ihrer Ehe abfinden? Sie schämte sich, dass sie erst freier atmen konnte, als er fort war.

* * *

Areto fand keine Ruhe, noch zu später Stunde lag sie auf ihrer fellbelegten Schlafstatt ausgestreckt. Die anhaltenden Trommeln und Gesänge hielten sie wach. Und da war etwas Weiteres in den Tiefen des Palastes, ein Schreien, wie sie es nie vernommen hatte.

Es klang verwundet, doch nicht besiegt, ein Wesen, das nach seinesgleichen und brutaler Vergeltung schrie. Die Amazone, in Ketten zur Schlachtbank ihrer Ehe geführt.

Je länger Areto hinhörte, desto dichter und vertrauter wurde die Finsternis. Sie sah Erinnerungen im Dunkel. Kurz war sie wieder ein Mädchen und mit ihrem Vater auf dem Weg zum Zeus-Tempel.

Das Land wurde von Stürmen geplagt, sie wollten den Gottvater um mildes Wetter für eine bessere Ernte bitten. Auf dem Weg sahen sie eine Wölfin, ein stolzes, kraftvolles Tier mit rostrotem Fell und glühenden Augen. Sie erschien so plötzlich zwischen den Waldbäumen, als sei sie eine göttliche Erscheinung.

Areto konnte nicht aufhören, sie anzuschauen. Später, bei der Zeremonie im Tempel, sah sie die Wölfin wieder. Ein Jäger, der ebenfalls zum Beten gekommen war, hatte das Tier erlegt und brachte den Kopf als Opfer dar. Es tat Areto so weh, das Feuer der Wolfsaugen erloschen zu sehen, sie weinte, als hätte es keinen Sinn mehr zu leben. Ihr Vater schalt sie: »Sei doch nicht so dumm, wegen einer Opferung zu weinen. Sie war zu schön, um nicht getötet zu werden.«

Das war so lange her. Warum dachte sie ausgerechnet jetzt daran?

Das Geschrei im Palast weckte noch viel tiefer liegende Erinnerungen. Sie glaubte, den Duft von Hyazinthen zu riechen.

Mit aufsteigender Panik versuchte sie, zu verdrängen. Sie wollte sich nicht erinnern, nicht daran. Aber die Schatten ließen nicht los. Sie würgten Areto, dass ihr die Tränen kamen.

* * *

Kaum dass der Morgen graute, wurde sie in Theseus’ Gemächer gerufen. Sie war froh, dem König gegenüberzutreten, solange er trunken von seinem erfolgreichen Feldzug war. Er war oft streng zu seinen Dienern, an schlechten Tagen sogar aufbrausend. Auch Areto als Hüterin seines Hauses bildete keine Ausnahme, sie war kein Mann, was Theseus sie spüren ließ.

Sie rechnete damit, den Sieger des Vortags anzuschauen, hoffte auf dessen Gunst. Umso mehr erschreckte sie sein Anblick. Der strahlende Held war fort, verloren gegangen zwischen goldenen Bergen an Kriegsbeute. Theseus streifte in seinen Zimmern umher, vorbei an verschüttetem Wein und herabgerissenen Seidenvorhängen, nur einen Mantel um die breiten Schultern.

Areto schluckte. »Mein König?«

Sie fürchtete kurz, dass er Opfer des Götterwahns geworden war, jener Krankheit, die alle Helden heimzusuchen drohte. Es war der Fluch von Halbgöttern wie Gottmenschen.

Hoffnungslose Gier nach einem Platz im Olymp, ob derer man den Verstand verlieren musste.

Schon wollte sie hinaus und einen Heiler holen. Da hörte Theseus auf, sich die Haare zu raufen und vor sich hin zu flüstern. Er sah sie überrascht an, als hätte er sie die ganze Zeit nicht bemerkt.

»Ah.« Sein Blick klärte sich, und er richtete sich zu seiner übermenschlich wirkenden Größe auf. »Du bist es.« Die Art, wie er es sagte – voller Verdruss –, ließ sie aufhorchen. »Ich fürchte, ich brauche dein Feingefühl, Areto.«

Er klang, als würde er ihre Hilfe mehr erbeten denn befehlen. So sprach ein König nicht mit einer Dienerin, und schon gar nicht Theseus. Mit angehaltenem Atem wartete Areto ab, was er sagen würde. Er sah zu der Tür, hinter der sein Schlafgemach lag. Sie ahnte, wer dahinter wartete.

»Es geht um die Amazone«, sagte Theseus. »Auf dem Weg nach Athen hat sie kaum gegessen. Sie lässt sich nicht von mir und meinen Männern anfassen. Ich dachte, vielleicht ist es bei einer Frau anders. Du bist doch der luwischen Sprache mächtig? Sie ist der des Amazonenvolkes verwandt.«

Aretos Vater, der ein Schreiber gewesen war, hatte sie von klein auf mit verschiedenen Texten und Sprachen vertraut gemacht. Er hatte sie gelehrt, damit sie ihm, der keine Söhne hatte, im Beruf helfen konnte. Inzwischen hatte jenes Wissen sie zur Verwalterin des Königshauses gemacht. Und bei den Göttern, sie würde es gut einsetzen.

»Ich tue, was ich kann«, versprach Areto.

Theseus trat für sie beiseite, wobei sein Mantel aufwehte. Ihr Blick blieb an seinem Hals hängen. Blutige Striemen, die zu frisch waren, um vom Schlachtfeld zu sein, zogen sich darüber.

»Antiope«, sagte er. »Das ist ihr Name.«

Ihr Herz schlug schneller, als sie über die Türschwelle trat. All die grausamen Geschichten, die sie über die Amazonen gehört hatte, schwirrten ihr durch den Kopf. Sie erwartete, einem Ungeheuer zu begegnen. Etwas, das den Zustand von Theseus und seinen Gemächern erklärte. Doch das, was sie erblickte, war nur eine Frau wie sie.

Antiope saß auf der Schlafliege, den Blick zum Fenster gewandt. Sie hatte die Beine angezogen, lediglich ein Unterkleid am Leib. Ihr wallendes Haar umgab sie wie ein dunkler Schleier. Es war unnatürlich schwarz, nachtfarben wie die Fluten des Styx.

»Ich grüße Euch, Prinzessin Antiope.«

Die Amazone hatte sie nicht beachtet. Jetzt, wo Areto sie in einer vertrauten Sprache anredete, neigte sie den Kopf und beobachtete sie schmaläugig.

»Mein Name ist Areto. Ich bin hier, um mich um Euch zu kümmern.«

Ihr Blick fiel auf eine Schale mit Trauben, die unweit von Antiope auf einem Sockel stand. Areto ging langsam darauf zu. Antiope ließ sie nicht aus den Augen. Sie war vollkommen angespannt, wie eine Raubkatze kurz vor dem Sprung.

»Ihr müsst halb verhungert sein von Eurer Reise«, sagte Areto, während sie die Schale aufhob. »Gelüstet es Euch nach etwas Bestimmtem? Ich kann Euch alles bringen.«

Ihr Lächeln verging, als sie vor Antiope trat. Sie ließ vor Schreck beinahe die Schale fallen.

Blut. So viel Blut. Wie hatte Areto es vorher nicht bemerken können? Eine ganze Pfütze sammelte sich am Boden, wo es von der Liege herunterrann. Dann begriff sie, dass das Blut nicht von Verletzungen kam. Antiope hatte ihren Monatsfluss.

»Ihr blutet«, brachte Areto hervor.

Antiope sah an sich hinab, als würde sie erst jetzt dessen gewahr. »Ja, seit Tagen schon.« Ihre Stimme war rauer, als Areto es von anderen Frauen kannte, doch wohlklingend. So sanft und kriegerisch, wie sich ein Horn spielen lässt. »Bis kurz vor der Stadt säuberten mich einige der Huren, welche das Heer begleiteten. Dann wurden sie nicht mehr zu mir gelassen.«

Areto dankte im Stillen den Frauen, die Antiope gepflegt und so vor sicherer Krankheit bewahrt hatten. »Wartet. Ich hole Wasser und Tücher. Esst derweil.«

Sie stellte die Traubenschale auf der Liege ab. Dabei bemerkte sie, dass Antiope mit einer Fußfessel daran festgebunden war.

Areto begann schaudernd, die nötigen Dinge zusammenzusuchen. Es war ein unvorstellbarer Gräuel für sie, dass Theseus und seine Männer Antiope in ihrem Blut hatten waten lassen, als wäre sie Vieh. Wie hatte die Amazone beim Einzug in die Stadt so aufrecht gehen können?

Als sie Antiopes Haut säuberte, fiel ihr noch mehr auf: alte Narben, Druckstellen von Ketten an den Handgelenken, frische Blutergüsse und Würgemale am Hals. Deutlich hatten sie sich in die braune Haut gezeichnet.

Antiope begann zu essen. Lange war nur das Knacken der Trauben, die in ihrem Mund zerplatzten, zu hören. »Du bist so jung«, sagte Antiope schließlich. »Und doch hast du die Ruhe einer müden Alten.«

Areto sah verwundert auf. »Ihr sagt das, als wärt Ihr viel älter als ich.«

»Dem ist nicht so. Allerdings werden wir Amazonen früher zu Frauen als ihr Athenerinnen. Kaum dass ich den Speer halten konnte, tötete ich meinen ersten Mann.« Sie spuckte einen Traubenkern aus. »Aber ich vermute, du weißt das bereits. Ich hörte, die Griechen erzählen, wir wären männerhassende Mörderinnen?«

Areto wusste nicht, was sie antworten sollte, ohne Antiope zu beleidigen. »So würde ich es nicht sagen.«

»Oh, wären schöngeredete Worte besser? Ich denke nicht. Über eure Männer wird ebenfalls kaum Gutes erzählt. Die Hellenen gelten als frauenverachtende Schlachter. Für viele ist der Anblick ihrer schwarzen Segel furchteinflößend.«

Antiope sagte es, als wüsste sie es aus eigener Erfahrung. Hatte sie Furcht verspürt, als die Griechen an der Küste ihrer Heimat gelandet waren?

»Ich habe viele beängstigende Geschichten über Amazonen gehört«, sagte Areto vorsichtig, während sie Antiopes Unterleib verband. »Sollen sie nicht stimmen?«

»Ich sage nur, dass meine Schwestern und ich sie anders erzählen würden.« Plötzlich brach die Wut aus Antiope, strömte ihr nur so über die Lippen. »Wahrscheinlich sagen deine Leute, Theseus und Herakles hätten ruhmvoll in meinem Land gekämpft. Pah! Es war die Zeit der Heiligen Jagd, und meine Schwester, Königin Orithyia, war mit unseren besten Kriegerinnen fort. Theseus und Herakles hatten darauf gewartet, wissend, dass unsere Verteidigung geschwächt war. Sie kamen im Mantel der Nacht, mit neun Kriegsschiffen. Gnadenlos griffen sie an, verbrannten und schändeten und töteten meine Volksleute. Im Nachhinein erfuhr ich, dass sie hinter dem Gürtel meiner Schwester her waren.«

Der Schmerz, der in Antiopes Blick flackerte, ließ Areto sicher sein, dass es mehr als eine Geschichte war. Antiope war dort gewesen, hatte die schwarzen Segel gesehen, und wie ihr Land in Flammen unterging.

Es war tatsächlich eine andere Variante der Erzählung, die Areto kannte. Herakles hatte im Götterwahn Frau und Kinder getötet, und das Orakel von Delphi hatte prophezeit, dass die Götter diese Sünde nur vergeben würden, wenn er mehrere Aufgaben bewältigte. Eine jener Aufgaben war, den magischen Gürtel der Amazonenprinzessin Hippolyte zu holen. König Theseus stand Herakles als sein Vetter bei. Bis eben dachte Areto, sie seien friedlich ins Land der Amazonen gezogen und Antiope sei, beeindruckt von ihrem Mut, freiwillig mit ihnen gegangen.

»Eure Helden sind feige«, fauchte Antiope. »Sie kämpften unehrlich, diese Diebe und Meuchler, die Angst hatten, vor unsere Königin und ihre größten Kriegerinnen zu treten. Nicht nur, dass sie mitten in der Nacht angriffen, nein. Als euer verehrter Halbgott Herakles gegen Hippolyte antrat, um ihr den Gürtel vom Leib zu reißen, trug er die magische Haut des Nemeischen Löwen, sodass er unverwundbar war. Doch eine mächtige Kriegerin wie sie konnte er selbst mit Hinterlist nicht bezwingen. Also brachte er mich und unsere Schwester Melanippe in seine Gewalt.«

Areto traute sich kaum, zu fragen: »Was ist dann geschehen?«

»Das siehst du doch. Herakles vereinbarte, Melanippe und mich gegen den Gürtel zu tauschen, den er sich nicht mit Gewalt hatte holen können. Meine Schwester Hippolyte stimmte zu. Wir waren ihr mehr wert, als der Gürtel es je sein könnte. Aber Theseus wollte mich haben. Darum gab Herakles nur eine Schwester zurück. Dass ausgerechnet Theseus glaubt, er hätte ein Recht auf mich als Kriegsbeute … Er, der Feigste von allen. Er war nicht einmal derjenige, der gegen Hippolyte kämpfte und mich gefangen nahm. Es war widerwärtig, wie er Herakles um mich anbettelte. Ein Kind, das nach süßem Honig schreit.«

Ihre starke Hülle bröckelte, als sie scharf einatmete und ihr Gesicht mit den Händen bedeckte. Dabei verrutschte ihr Kleid, sodass Areto einen Blick auf ihren Oberkörper erhaschte. Die rechte Brust war kaum vorhanden, von einem roten Mal gezeichnet. Der verheilten Narbe nach zu urteilen, war es Antiope schon als Mädchen eingebrannt worden. Areto wusste, dass es ein Opfer war, das Amazonenkriegerinnen der Göttin Artemis darbrachten. Männliche Blicke für tödliche Schüsse eingetauscht.

Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Der Lärm der Stadt drang durchs Fenster, Marktrufe und Kinderlachen und Möwengeschrei. Geräusche der Freiheit, die der Amazone genommen worden war. Es machte Areto traurig, die gebeugte Antiope anzuschauen. Sie spürte das seltsame Bedürfnis, sie wiederaufzurichten, eine Verbundenheit, die weit über ihr Pflichtgefühl für Theseus hinausging.

»Es tut mir leid, was Ihr durchgemacht habt«, sagte Areto. »Was immer auch geschieht, ich werde für Euch da sein. Für all Eure Nöte und Verletzungen will ich Sorge tragen.«

Antiopes Gesicht verzerrte sich. Vor Trauer?

»Ich habe einige unheilbare Wunden und weiß, dass noch mehr folgen werden«, sagte sie. »Eine andere Frau würde deine ausgestreckte Hand nicht fortschlagen, nicht in einem fremden Land, wo sie sonst alleine unter Feinden wäre. Aber ich weiß es besser, Areto. Zum Würgen und Schlagen bedarf es beider Hände. Es ist grausam, doch ehrlich. Wer dich dagegen füttert, braucht nur eine Hand und kann die andere hinter dem Rücken verbergen. Ich kann dir nicht trauen. Und du solltest es mir gleichtun.«

* * *

Es verging kein Tag in den folgenden Mondzyklen, an dem Areto nicht an Antiopes Seite war. Sie sorgte für deren leibliches Wohl und hörte ihre Geschichten, damit die Amazone nicht vereinsamte. Antiope erzählte viel: von Themiskyra, der Hauptstadt ihres Stammes, fernen Landen voll wunderlicher Kreaturen und Frauen, die im Gefolge der Jagdgöttin Artemis durch die Wälder ritten.

Antiope lächelte nie, auch nicht bei ihren schönsten Erinnerungen. Aber als ihre Hochzeit kam, ging sie gestärkt voran. Die Male ihrer Gefangenschaft waren blasser geworden, ihre braune Haut leuchtete, und ihr Bauch begann sich von Theseus’ Kind zu wölben.

»Sie wirkt so zahm«, meinte Miron, als er Antiope in ihrer ehelichen Gewandung erblickte. »Gar nicht mehr wie eine Wilde.«

Areto wusste, dass der Eindruck täuschte. Ein Teil von ihr wartete darauf, dass die schwarzen Haare aus den engen Bändern entwischten und Schlangen gleich die Gäste erdrosselten. Aus allen Teilen von Hellas waren die Adeligen gekommen. Der Palastsaal war ein Wogen an bunten Gewändern und goldenen Wahrzeichen. Über allem hing ein unaufhörliches Flüstern.

»Habt ihr gehört? Die Amazone soll unsterblich in den König verliebt sein.« – »Nicht nur der Gürtel der Hippolyte wurde geraubt, auch das Herz von Antiope.« – »So gut kämpften Herakles und Theseus gegen die Amazonen!«

Areto hörte zu, einen bitteren Geschmack im Mund. Der Tratsch am Hof war so anders als Antiopes Geschichte. Es hieß unter den Griechen, die Amazonen hätten den Kampf provoziert, anders als Herakles und Theseus, die zunächst diplomatisch um den Gürtel baten. Viele wilde Kriegerinnen hätten sie zum Selbstschutz erschlagen, um anschließend Hippolytes Gürtel und Antiope zu erobern. Die Götter schenken den Siegreichen, was sie unterwerfen – mit diesen Worten hatte Aretos Vater ihr den Krieg und die Sklaverei erklärt.

Sie setzte sich auf eine Holzbank, um zu verschnaufen. Bei einem derart wichtigen Fest hatte sie Unmengen zu tun. Sie kam sich fast wie eine Heerführerin vor, so gnadenlos, wie sie die Dienerschaft umherscheuchte. Daneben behielt sie Antiope im Auge. Heute wollte sie mehr denn je für ihre zukünftige Königin da sein.

Miron trat neben sie, sah gut in seiner teuren Kleidung aus, aber auch kritisch drein. »Wie hast du sie nur bändigen können, Areto?«

»Ich weiß nicht, wovon du sprichst. Gepflegt habe ich sie und ihr gedient. Sonst nichts.«

Er nahm einen Schluck aus seinem Weinkelch. »Den Männern vor dir hat sie allesamt die Augen auskratzen und Stücke aus dem Fleisch beißen wollen. Sogar Theseus, habe ich gehört.«

»Ich bin auch kein Mann, wie dir wohl klar sein –«

»Gewiss«, unterbrach er sie einmal mehr. »Aber seit du dich um sie kümmerst, weiß sie sich plötzlich Männern gegenüber zu benehmen.« Er winkte ab, als sie aus einem Impuls heraus den Mund öffnete, um die Königin zu verteidigen. »Sieh mich nicht so an. Du hättest dir zum Zeitpunkt ihrer Ankunft doch auch nicht vorstellen können, dass sie einmal bei einer Feier sein und sich dort beherrschen könnte.«

Nein, wahrlich nicht. Areto schluckte den Gram wegen seiner Herablassung hinunter. Sie schob den Gedanken weg, dass sie ihm ebenfalls die Augen auskratzen könnte, und sah zu, wie Antiope durch den Raum schritt. Mit Blumen geschmückte und in Weiß gekleidete Jungfern begleiteten die Amazone. Die Gäste machten der Prozession Platz.

Nur einer wich nicht von der Stelle. Theseus stand inmitten des Wirbels von Farben und Musik, seine Frau erwartend. Auch er war in Weiß gewandet und sah in seiner Stattlichkeit wie ein Gott aus.

Antiope trat aus den Reihen der Jungfern vor ihn hin. Dann geschah das Unfassbare. Sie lächelte. Als Theseus ihre Hand nahm, ließ sie es zu. In diesem Moment entsprachen sie ganz dem Bild, das die Erzählungen der Klatschweiber von ihnen zeichneten: tragische Verliebte, die sich im Krieg getroffen und trotz aller Widrigkeiten gefunden hatten.

Antiope musste zu Theseus aufsehen, der so viel größer war. Sie sprach zu ihm, laut, doch in ihrer Zunge und somit nicht für alle verständlich.

Diejenigen, die verstanden, wurden ganz still. Mit einem Mal hing eine drückende Stimmung über allen Köpfen. Dabei lächelte und lächelte Antiope, während die Schlangen, auf die Areto gewartet hatte, aus ihrem Mund krochen.

Miron riss die Augen auf und ließ seinen Weinkelch sinken. Er selbst beherrschte kein Luwisch, aber hörte wohl die Dunkelheit in Antiopes Stimme, als er fragte: »Was hat sie gesagt, Areto?«

Sie konnte nicht antworten. In ihrem Kopf wüteten die Bilder, die Antiope mit ihren Worten gezeichnet hatte.

* * *

Es heißt, dass ich dich aus Liebe heirate und dafür meinen Stamm hinter mir lasse. Ein Glück. Denn wenn es nicht Liebe wäre, müssten meine Schwestern kommen.

Sie würden die Tore Athens einreißen, um mich zurückzuholen. Eure Eltern würden sie schlachten, Hof und Vieh anzünden und die Köpfe eurer Kinder eintreten – alles in ihrer Wut zerschlagen.

Was immer du mir an Schändung antätest, du würdest es zurückerhalten. Zu spüren bekommen würde es dein Reich und Fleisch.

Du weißt, dass du mich nicht vergewaltigen könntest, nicht wie andere, dir zurechtgebrochene Frauen. Im Gegenzug würde ich dich vergewaltigen. Immerfort, bis meinesgleichen kommen, um dein Land mit Rache zu geißeln.

Aber es heißt ja, dass es Liebe sei. Schwelge also in deinem Triumph, mein Gatte, in den Geschichten über dich, und wie dir die Amazone Antiope verfiel.

* * *

Es waren keine leeren Worte. An dem Tag, an dem die ersten Flammen am Horizont erschienen, wurde Antiopes Drohung wahr. Zunächst munkelte man im Palast nur von einigen Kriegerinnen und deren Raubzügen. Dann wurden die Stimmen ängstlich, weil immer mehr Feuer von den Fenstern aus zu sehen waren. Der Wind trug Schreie heran.

Es kam der Tag, an dem Areto hinausschaute und das Heer der Amazonen vor der Akropolis lagerte. Sie hatten ihre Zelte auf dem großen Versammlungsfelsen aufgeschlagen. Von dort aus sandten sie Stürme an Pfeilen, wenn sich athenische Soldaten näherten, und rasten axtschwingend auf ihren Pferden voran. Allesamt waren sie beritten, nicht nur ein paar Anführerinnen wie bei den griechischen Helden. Sie kämpften auf ihren Tieren, als wären sie mit diesen geboren worden. Dabei brüllten sie, wie Areto es nie von Menschenfrauen gehört hatte, tief dröhnend und kreischend zugleich.

Areto erblickte auch Herakles im Kampfgeschehen. Er wirkte in dem unverwundbar machenden Löwenfell selbst wie ein dämonisches Raubtier – Schlächter der Hydra und so vieler anderer Ungeheuer. Mit seiner Keule zerfetzte er die Köpfe Dutzender Amazonen. Seine Pfeile flogen ebenso schnell wie tödlich. Dabei umgab ihn der Nebel eines Hasses, der Areto schreckte. Er war nicht wütend wie die Amazonen, sondern vom unkontrollierbaren Jähzorn der Gottwahnsinnigen gequält, die alles um sich vernichteten.

Sie weinte nicht wie die anderen im Palast. Und sie sah nicht weg, im Gegenteil. Wenn zu später Stunde die würgenden Schatten kamen, suchte sie gezielt das Fenster auf. Sie hätte schwören können, draußen den Kriegsgott Ares zu sehen.

Seine Schwingen verdeckten die Sterne, als er sie schützend über seine Töchter breitete. Die Reihen der Amazonen waren sein Schild, ihre Angriffe bildeten seinen Speer. Er drang immer weiter in die Stadt vor, und wohin er trat, blieb nichts als verbrannte Erde unter seinen Füßen zurück. Er war gekommen, um sein Kind zurückzuholen.

* * *

»Ich werde meinen Sohn nicht wiedersehen, nicht wahr?« Dies waren die ersten Worte, die Antiope sprach, als Areto sie nach der Geburt besuchte.

Die Amazone lag wund von den Wehen auf ihrer Liege. Sie hatte nicht die Stärke, wie sonst aus dem Fenster zu sehen. Das Kind war viel zu früh gekommen, als hätte es Übermengen von Theseus’ Kraft geerbt und gewaltsam hinausgewollt.

Areto sah besorgt auf Antiope, die furchtbar in den letzten Tagen gelitten hatte. »Sagt das nicht. Bestimmt könnt Ihr ihn –«

»Nein. Theseus hat ihn nicht ohne Grund sofort von meiner Brust gerissen. Es würde mich nicht wundern, wenn er glaubt, dass meine Milch unser Kind vergiften könnte.« Ihre Augen funkelten, als Areto sich neben sie setzte und ihr das wirre Haar zurechtzupfte. »Willst du wissen, wie mein Sohn heißt?«

Areto nickte.

»Hippolytos habe ich ihn genannt. Nach meiner Schwester Hippolyte.« Ihr grelles Lachen war Furcht einflößend. »Er kann mir meinen Sohn wegnehmen, doch dessen Herkunft kann er nicht leugnen. Hippolytos hat das Blut und den Namen einer Amazone. Dadurch wird er nie der Erbe sein, den Theseus will. Oh, ich wünschte, ich könnte Hippolytos mehr als seinen Namen geben. Ich wünschte, ich könnte ihm meinen Schmerz schenken. Dass er Theseus für mich tötet!«

Da sah Areto, warum sie nach all der Zeit weiterhin Theseus’ Haus führte und nicht Antiope, die rechtmäßige Herrin. Die Amazone kämpfte immer noch gegen ihr Schicksal, setzte die Scherben ihres Selbst zusammen und nutzte sie als Waffe. Wie sollte jemand, der Tag für Tag alle Kraft im Kampf brauchte, die Last des Herrschens tragen?

Mit schwerem Herzen verließ sie Antiope. Im Gang angekommen, lehnte Areto sich gegen die Wand und atmete durch. Sie wollte die Schutzgöttin Athene um Stärke bitten, für Antiope und sich selbst. Stattdessen erwischte sie sich dabei, wie sie an Artemis, die rebellische Tochter des Zeus, dachte. Kein anderes seiner Kinder war so rigoros wie sie. Artemis, die sich Männern entsagte und deren Herrschaft infrage stellte, indem sie nur Frauen in ihrem Jagdgefolge reiten ließ. Zweifellos waren die Amazonen, die sie als Höchste verehrten, Kinder ihres Geistes.

Warum dachte Areto an sie? Für was sollte sie Artemis anrufen? Macht? Die Pfeile der Göttin, die Frauen und Kinder schützte, sollten nie verfehlen.

Sie sah auf ihre Hände. Ihre Finger bebten. Sie verabscheute sich dafür, dass sie ihrer Königin nicht besser helfen konnte. Es war ein erschreckend starkes Gefühl. Ihr kamen Mirons Worte in den Sinn.

»Vielleicht solltest du nicht so oft zur Königin gehen.« Anders als Theseus glaubte er, dass Antiope nicht nur mit Muttermilch, sondern auch mit Worten andere vergiftete. »Ich kann mir vorstellen, dass so viel Hass nicht gut für ein wachsendes Kind ist.«

Sie schlang die Arme um ihren größer gewordenen Bauch. Am Ende war sie selbst längst vergiftet, denn Antiopes Hass schreckte sie nicht, hatte sie nie geschreckt, weil sie etwas für die Amazone fühlte, was diese nie gewollt hätte: Mitleid.

Areto wollte den Hass verstehen, der ihre Königin am Leben hielt. Ein winziger, dunkelster Teil von ihr wollte ihn gar selbst besitzen. Sie wollte den Schmerz und die Wut, die man ihr als Frau nicht zu fühlen beigebracht hatte. Sie suchte danach in Antiopes Worten, in Gedanken an Artemis und im Anblick der rasenden Amazonen. Sie suchte nach einer Macht, welche die Schatten, die sie nachts töten wollten, zerschmettern konnte.

* * *

Die Kriegsräte, die Theseus mit seinen Politikern abhielt, wurden immer hitziger. Areto hörte verstohlen zu, als sie den Männern Wein einschenkte. Sie saßen mit sorgenzerfurchten Gesichtern am Tisch, in einer der Palasthallen, die so karg war wie Athens Hoffnung.

»Es kann so nicht weitergehen. Wie lange sollen wir noch diese Bestien vor unseren Toren aushalten? Seit Wochen belagern sie die Stadt!«

Theseus erhob sich abrupt. Areto sah von dem Krug auf, aus dem sie Wein goss, und zu ihrem Herrn. Er wirkte erschöpft. Die Müdigkeit überdeckte seine königliche Schönheit wie Staub.

»Solange Helden wie Herakles für uns streiten, wird Athen nicht fallen«, sagte er bestimmt.

»Die Verbündeten der Amazonen sind mächtiger«, warf einer der grauhaarigen Priester ein. »Sie haben nicht nur Ares als ihren Stammvater auf ihrer Seite. Zwei weitere Götter favorisieren sie. Artemis, ihre Kultmutter, und deren Zwilling Apollon … Drei Olympioi sind gegen uns!«

Theseus ballte die Hand zur Faust. »Deren Groll lässt sich mit den richtigen Opfern besänftigen. Es wird Verstärkung aus anderen Teilen von Hellas kommen, und die Amazonen können nicht ewig gegen unsere Mauern anrennen. Wir werden sie schon zermürben.«

Areto wollte gerade hinausgehen, als Miron das Wort ergriff. Sie blieb in der Tür stehen, um ihn zu hören.

»Mit Verlaub, mein Herrscher, wir haben nicht die Mittel für eine längere Belagerung. Unsere Tempel sind voll von Sterbenden und Verletzten. Die Getreidevorräte gehen zur Neige, und die Trauersänge der Witwen hören nicht auf. Wenn die Dinge sich nicht zum Besseren wenden, werden nicht mehr die Amazonen Euer größter Feind sein, sondern Eure eigenen Landsleute. Athen droht ins Chaos zu stürzen.«

Die Versammelten murmelten aufgebracht.

Theseus ließ sich mit grimmigem Ausdruck auf seinen Stuhl sinken. Er hob die Hand, woraufhin die Männer verstummten, und fragte: »Was schlägst du vor, Miron?«

Areto wartete gespannt. Alle Blicke ruhten auf ihrem Mann, der sich räusperte. »Die Amazonen sind nicht hier, um die Stadt zu erobern, sondern wegen Antiope. Sie ist der Grund unseres Unglücks. Also tötet sie, Theseus, sodass ihr Volk keinen Grund zum Weiterkämpfen hat. Opfert sie im Tempel des Ares, damit er ihre Seele für die Unterwelt empfangen kann und unsere Lande verlässt.«

Areto hätte vor Entsetzen beinahe den Krug fallen gelassen. Sie musste sich verhört haben. Wie konnte Miron etwas derart Kaltblütiges sagen?

Die Männer riefen durcheinander. Theseus gelang es nicht mehr, sie zu beruhigen. Er schrie über sie hinweg: »Hast du den Verstand verloren?« In seinen Augen glomm dieselbe Dunkelheit, die Areto bei Herakles gesehen hatte. Es war der Götterwahn. Er troff aus Theseus’ Blick und von seiner Zunge, als sich seine Stimme überschlug. »Sie ist meine Königin, und als solche werde ich sie niemals hergeben. Raus!«

Ohne ein Wort zu erwidern, verneigte Miron sich und ging.

Areto folgte ihm auf den Gang hinaus. »Wie konntest du das sagen, Miron?«

Er würdigte sie keines Blickes, als er antwortete: »Es waren die Worte, die gesagt werden mussten. Noch mag Theseus meine Idee vermessen erscheinen. Bald wird sie es nicht mehr, wenn er begreift, dass sein Reich am Abgrund steht. Seine Eigensucht hat Athen Verderben gebracht. Nun wird sich zeigen, was er mehr liebt: seine Herrschaft oder die Bestie in seinem Gemach.«

»Du redest von Antiope, als wäre sie ein Opfertier, das man einfach für die Götter schlachten kann. Sie ist ein Mensch! Deine Königin! Du –«

»Nein, das ist sie nicht.« Jetzt warf er ihr doch einen erbosten Blick wegen ihrer Unverschämtheit zu. »Auf dem Thron sitzt sie nur zum Schein, weil Theseus es will. Mach dir nichts vor, Areto. Selbst du Niedriggeborene, die sein Haus leitet, bist mehr Königin als sie.«

Damit schien das Gespräch für ihn beendet. Areto ließ ihn nicht gehen. Sie dachte an Antiope, deren Geschichten und vergiftetes Lächeln.

»Miron, hör mir zu.« Sie hielt ihn am Arm fest. »Wir können diesen Kampf ohne weiteres Blutvergießen beenden. Antiope will zurück zu ihrem Volk. Lassen wir sie gehen!«

Er versuchte, sie abzuschütteln. »Das ist nicht möglich. So sehr es mir missfällt, sie ist jetzt Griechin und keine Amazone mehr. Und das Volk glaubt, dass sie Theseus aus Liebe gefolgt sei. Was soll es denken, wenn Antiope zu ihresgleichen zurückkehrt? Alles Elend wäre Theseus’ Verschulden und nicht das der Belagernden. Das Volk ist schon jetzt am Verzweifeln, ja, irre vor Furcht, so sehr ängstigt es sich vor diesen abscheulichen Frauen. Wenn es endgültig den Glauben an Theseus und seinen Sieg verliert, wird es Bürgerkrieg geben.«

Areto hielt sich hartnäckig fest. »Wir können uns eine Täuschung überlegen, damit es nicht dazu kommt.« Er wollte ihr ins Wort fallen, verstummte ungläubig, als sie über ihn hinwegredete. »Ich kann mit Antiope darüber sprechen. Sie wird mir zuhören. Als Frau könnte ich sogar vor die Amazonen treten. Bitte, du musst das dem Rat sagen. Ich kann mit Königin Orithyia Frieden verhandeln –«

»Genug jetzt!« Er riss sich dermaßen gereizt von ihr los, dass sie zurückwich. »Hörst du dir selbst zu, Frau? Du fantasierst! Bleib bei deinen häuslichen Pflichten und maße dir nie wieder etwas anderes an. Das Kriegsgeschäft obliegt den Männern!«

Mit Tränen in den Augen sah sie ihn an. Sie rechnete damit, dass er sie schlagen würde. Schon einmal hatte sie sich einen Schlag von ihrem Vater verdient, weil sie ihren Platz nicht gekannt hatte.

Aber es kam nichts. Im Gegenteil, Miron schien seine Härte zu bereuen, denn seine Stimme wurde weicher. »Ach, Areto.«

Er streckte die Hand nach ihr aus. Sie spürte den Impuls, sie wegzuschlagen, ihn anzuschreien, bis er zur Vernunft käme. Bevor er sie berühren und sie diesen irren Gedanken verfolgen konnte, drang ein Rufen zu ihnen.

»Sie sind hier!« Es war eine Sklavin. Sie stürzte an ihnen vorbei und schrie, als wäre ein Rudel Wölfe hinter ihr her. »Die Barbarinnen sind im Palast!«

Miron erbleichte und ließ die Hand sinken.

Areto glaubte, ihr Herz würde stehen bleiben. Sie sind hier. Aus den alten Geschichten waren sie gestiegen und nach Athen gekommen, blutgebadet, Tod verheißend. Es hatte keine Mauern und Helden mehr gegeben, um sie weiter aufzuhalten. Sie sind hier.

Die Stimme der Sklavin drang schrill durch die Wände, mit ansteckender Panik. Als auch noch Soldaten erschienen, ergriffen die Leute schreiend die Flucht.

Miron packte Areto an den Schultern. »Du musst von hier fort.«

Sie zitterte unter ihm. »Aber …«

»Kein Widerspruch. Nicht jetzt.« Miron legte die Hand auf ihren Bauchansatz. Er sah sie auf eine Art an, wie sie es nicht von ihm kannte. Flehend. »Rette euch beide. Ich muss den Männern helfen, den Palast und den König zu schützen. Und wenn ich die Amazone eigens opfern muss.«

* * *

Sie hatte das Gefühl, durch einen dunklen Traum zu laufen. Die Gesichter der vorbeirennenden Ratsmitglieder, Bediensteten und Soldaten verschwammen vor ihren Augen. Als Strom der Angst fluteten sie dahin, entfesselt von dem Ruf: »Zeus schütze uns! Sie sind hier!«

Während Areto zu einem versteckt liegenden Dienstbotengang eilte, versuchte sie zu begreifen, was geschah. Das ganze Heer der Amazonen konnte nicht durchgebrochen sein. Davon hätten sie früher vernommen. War es nur eine kleine Truppe, die in den Palast vorgestoßen war? Aber schon ein paar Kriegerinnen hinter den Mauern könnten schlimmste Verwüstungen anrichten.

Sie trat keuchend in den Gang. Zu ihren Füßen fielen Stufen hinab, die in einen Tunnel zum Tempel der Athene führten. In Sicherheit.

Dann kam ihr Antiope in den Sinn, und welches Schicksal Miron ihr zugedacht hatte. Ihr Herz zog sich zusammen. Sie sagte sich, dass sie fortmusste. Dass sie es dem Kind in ihr schuldig war.

Aber Areto konnte nicht gehen. Nicht, wenn Antiope sterben könnte.

Sie lief die Treppe hinauf, fort von den Tunneln, zu denen alle strebten. Stattdessen wollte sie zu Theseus’ Gemächern. Einige Diener stürzten an ihr vorbei, doch niemand hielt sie auf.

Endlich gelangte sie zum Ausgang. Sie wühlte sich durch die Vorhänge zu dem Zimmer, in dem Antiope immer gelegen hatte – um niemanden vorzufinden. Die Liege war leer. Auf dem Boden waren die Scherben einer Tonvase verstreut. Eine davon, blutig verschmiert, lehnte an einem Bein der Liege. Dort, wo die Kette befestigt gewesen war, gab es nur noch eine Kerbe im Holz.

Antiope hat sich losgeschnitten! Areto musste nicht lange überlegen, wo die Amazone hingegangen sein könnte. Antiope hatte einen Sohn, den sie nicht bei Theseus zurücklassen würde. Sie war bei Hippolytos. Um ihn ein letztes Mal zu sehen, zu töten, mit sich zu nehmen – wer wusste das schon.

Sie wollte gerade in die Gemächer des Prinzen vordringen, als sie eine Stimme hörte. »Was tust du hier?« Ein Soldat trat in den Raum, die Augen unter seinem Helm argwöhnisch zusammengekniffen. »Hast du nicht gehört? Der Palast wird angegriffen. Du solltest auf der Flucht –«

Weiter kam er nicht. Ein Schatten huschte durchs Fenster, rasend schnell. Dann spaltete eine Streitaxt sein Gesicht.

Areto schrie auf. Sie starrte den Soldaten mit dem eingeschlagenen Helm an, Axtblatt und durchgebogene Bronze bohrten sich in sein Fleisch. Die Schneide hatte eines seiner Augen zerschlitzt, zog sich in einem blutigen Brei über Nase und Wange. Er röchelte ungläubig, kam ins Wanken.

Ehe er schreien oder irgendwie reagieren konnte, wurde er zu Boden geschleudert. Ein Fuß in einer Ledersandale krachte auf seinen Kehlkopf. Ein zweiter trat auf die Axt, dass sie sich tiefer in seinen Kopf bohrte und ihn endgültig zum Schweigen brachte.

Eine junge Frau, fast noch ein Mädchen, stand über den Toten gebeugt. Helle, dick geflochtene Locken quollen aus ihrem Helm. Ihr Blick war so wild wie ihre ganze Erscheinung. Der muskulöse Körper steckte in einem Waffenrock aus Leder, bronzene Arm- und Beinschienen schlossen die Gliedmaßen ein. Auf ihrem schmalen Rücken trug sie einen Köcher sowie einen Kurzbogen, der an einer eigenen Halterung festgemacht war. Ein Waffengürtel mit einem Schwert hing um ihre Hüften. Dort, wo die rechte Brust hätte sein sollen, war nur flache Lederrüstung.

Erst als die Amazone ihre Waffe aus dem Kopf des Soldaten riss, erwachte Areto aus ihrer Starre. Sie hätte vielleicht um ihr Leben und das ihres ungeborenen Kindes flehen sollen. Aber das Einzige, was sie sagte, war: »Ich kann dich zu Antiope führen. Bitte, bring sie fort!«

Sie hatte kaum zu Ende gesprochen, da schwang die Axt schon vor ihre Nase. Der Blick der Kriegerin bohrte sich in ihren. Sie fletschte die Zähne und spannte die Muskeln an, als müsse sie sich mit Gewalt davon abhalten, Areto anzugreifen. Ihre Augen waren beängstigend schön, wie die eines Raubtieres.

Areto sah atemlos, wie weitere leicht gerüstete Amazonen durchs Fenster kletterten. Eine von ihnen war breitschultrig und massiv wie ein Bär. Eine andere, rank und sehnig, schien ein Mensch gewordener Pfeil.

Bei den letzten beiden Hochgewachsenen musste Areto nur die nachtgetränkten Haare sehen, um zu wissen, dass sie Antiopes Schwestern waren. Die eine wirkte sogar jünger als die Kriegerin, die Areto bedrohte. Unter ihren Haarfransen lagen Augen, in denen das Feuer der Jugend flackerte.

Dagegen war die ältere Schwester ein Ausbund an Härte. Die hochgebundenen Haare, die raue Haut, der steinharte Blick, alles an ihr war Disziplin. Areto glaubte sie aus Antiopes Erzählungen zu erkennen. Das musste Hippolyte sein.

»Clete, was tust du?« Hippolyte hatte einen scharfen, kaum verstehbaren Akzent. »Kein Zögern, wir müssen unbemerkt bleiben. Töte sie!«

Die junge Kriegerin – Clete – behielt Areto im Blick. »Prinzessin, sie spricht die luwische Zunge. Und sie hat gesagt, sie kann uns zu Antiope führen.«

Die jüngere Prinzessin stürzte vor, ihren Speer gepackt. »Wo ist meine Schwester? Wo?«

Hippolyte hielt sie an der Schulter zurück. »Bleib ruhig, Penthesilea.« Grimmig sah sie Areto an. »Wer bist du? Warum sollen wir glauben, dass du Antiope helfen willst?«

»Mein Name ist Areto. Ich …« Sie rang nach den richtigen Worten. »Ich bin ihre Leibdienerin. Die einzige Verbündete, die sie in Athen hat. Ich will, dass Antiope lebt, in Freiheit!«

Mehr schien Hippolyte nicht wissen zu müssen.

»Lacomache«, sagte sie zur Bärin. »Du übernimmst die Vorhut.« Sie wandte sich an die Sehnige. »Molpadia, du deckst unsere Rücken mit Pfeilen. Und Clete: Wenn sie auch nur die kleinsten Anstalten macht, uns an die Griechen zu verraten, schlitzt du ihr die Kehle durch. Verstanden?«

Clete nickte und kam in einer geschmeidigen Bewegung hinter Areto. »Du hast es gehört. Bring uns zu Antiope.«

Von den Amazonen flankiert, ging Areto voran. Sie bemühte sich, die Gruppe in Stille und Seitengängen möglichst zu verbergen, doch das Zusammentreffen mit Soldaten ließ sich nicht vermeiden.

Die Amazonen schlugen gnadenlos zu. Mit Faust und Axt zerschmetterte die Bärenkriegerin Lacomache alle, die ihr in den Weg kamen. Molpadia schoss Männer nieder, noch ehe die anderen sie bemerkten. Speere flogen, wann immer Antiopes Schwestern vorstießen. Dabei waren die Amazonen wie im Blutrausch. Ihre Augen glühten auf, wenn sie jemanden erschlugen. Sie verloren jedoch nie die Kontrolle über sich selbst, kämpften als Einheit, ohne sich absprechen zu müssen.

Areto zwang sich, nach vorne zu schauen. Sie musste es tun, um nicht die Gesichter derer zu sehen, die von den Amazonen totgeschlagen wurden. Bekannte, Freunde, Vertraute. Sie unterdrückte ein Schluchzen, betete für die Fallenden und bat um Vergebung, weil sie nicht ihre Leben, sondern das von Antiope gewählt hatte.

Schließlich hörte sie ein Kind schreien – Hippolytos.

»Das Zimmer dort«, rief Areto. »Schnell!«

Kaum dass sie über die Schwelle trat, erzitterte sie vor Grauen. Sie kamen zu spät.

Blutige Schlieren überzogen den Boden. Sie vermischten sich mit dem Haar von Antiope. Sie lag auf dem Rücken, Theseus über ihr. Die losgehackte Fessel schlackerte an ihrem Fuß. Neben ihnen, aus Antiopes Armen gerollt, lag Hippolytos. Die Königin war zittrig, geschwächt von mehreren Stichwunden. Sie stemmte sich mit verbliebener Kraft gegen Theseus’ Hände. Er wollte ihr sein Kurzschwert in den Hals rammen, Mirons Vorschlag umsetzen, um sich und seine Stadt vor dem Zorn der Götter zu retten.

Die Amazonen schrien auf. Molpadia stürzte vor, entgegen Hippolytes Befehl.

Theseus bemerkte die Pfeilschnelle gerade noch rechtzeitig. Er sprang von Antiope weg, hob Hippolytos auf und wehrte Molpadias Schwert mit seinem ab. Dabei traf sein Blick den von Areto. Er sprach kein Wort, musste es nicht, weil seine Seele schrie: Verräterin!

Während Molpadia ihn mit dem Schwert zurückdrängte, lief Areto auf Antiope zu. Die machte Anstalten, aufzustehen, rutschte auf ihrem eigenen Blut aus.

»Rühr dich nicht«, sagte Areto. »Alles wird gut. Deine Schwestern sind hier, siehst du? Du wirst heimgehen.«

Antiope sah sie an, mit Augen, die überströmten vor Dankbarkeit. Areto kniete sich neben sie und riss das Gewand auf, um die Verletzungen zu besehen.

Molpadia schlug Theseus das Kurzschwert aus der Hand. Es fiel mit einem Klirren zu Boden. Er kam anscheinend zu dem Schluss, dass das Leben seines Erben wichtiger war als alles andere, denn er floh aus dem Raum.

»Ehrloser Bastard!«, schrie Penthesilea.

Sie lief ihm nach, gefolgt von den Kriegerinnen Clete und Lacomache. Molpadia blieb, um sich neben Antiope zu knien, wie auch Hippolyte.

»Nein«, flüsterte Areto. »Oh, bitte, Götter.«

Sie riss Stofffetzen für Stofffetzen ab, um die Wunden zu verbinden. Hippolyte half ihr, während Molpadia den Kopf von Antiope stützte und dafür sorgte, dass die Verletzte ruhig atmen konnte. Doch das Leben floss zu schnell aus ihr. Es ließ sich nicht mehr auffangen.

»Schon gut«, sagte Antiope, als Tränen in Molpadias Augen glänzten. »Ich bin froh, euch noch einmal sehen zu können.«

Areto weigerte sich, aufzugeben, riss einen weiteren Streifen ab. Da berührte jemand ihre zitternden Finger – Hippolyte. Sie drückte mit sanfter Gewalt Aretos Hände weg.

Die anderen Amazonen kehrten zurück.

»Er ist uns entkommen«, keuchte Penthesilea. »Der Feigling lief zu seinen Soldaten, ehe wir ihn stellen konnten. Sie sind auf dem Weg hierher. Wir haben die Tür zu den Gemächern verbarrikadiert. Aber sie wird nicht lange durch–« Sie verstummte, als sie die schwer atmende Antiope erblickte.

Es brauchte keine Erklärungen. Ein trauriger Blick von Hippolyte genügte, damit die anderen verstanden. Penthesilea lief auf Antiope zu. Sie umschlang den Hals ihrer Schwester, wobei sie ein Schluchzen nicht unterdrücken konnte. Auch die trauergebeugte Hippolyte umarmte Antiope. Die anderen Kriegerinnen knieten, mit andächtig gesenkten Köpfen.

Areto rührte sich nicht. Sie wusste, dies war nicht ihr Moment, sie durfte nicht stören. So viele Gefühle stritten in ihr. Woher kam dieser grässliche Schmerz? Durch die Schatten, in denen die Welt versank, hörte sie Hippolyte fragen: »Hast du einen letzten Wunsch?«

Antiope zögerte nicht mit ihrer Antwort. »Ich will als Kriegerin sterben. Mit meiner Heimat Themiskyra im Herzen.«

Hippolyte nickte. Sie ließ Antiope aus ihren Armen gleiten und sagte: »Molpadia, bleib bei ihr. Bis zum Ende.«

Die Pfeilkriegerin erwiderte: »Natürlich, Prinzessin. Das habe ich geschworen.«

Molpadia trat neben Antiope, von der die Prinzessinnen Abstand nahmen.

»Du bist gekommen.« Antiope lächelte so offen und verletzlich, sie sah zum ersten Mal wie ein Mädchen aus. »Ich habe jeden Tag an dich gedacht. Sonst hätte ich es nicht geschafft, zu –«

Molpadia brachte sie mit einem Kuss zum Verstummen. Antiope schloss die Augen und gab sich ihm hin.

Bei diesem Anblick wurde der Schmerz in Areto unerträglich. Die Schatten waren plötzlich überall, quetschten von innen gegen ihre Haut, wollten aus ihrem Mund brechen und sie in die Tiefe ziehen. Der Geruch von Hyazinthen verklebte ihre Nase.

»He!«, hörte sie Clete rufen. »Was ist mit dir?«

Areto konnte nicht antworten. Würgend schlug sie die Hände vor den Mund. Sie riss ihren Blick von Antiope und Molpadia los, die sich immer noch verzweifelt küssten.

»Lass sie, Clete«, sagte Hippolyte. »Wir müssen fort, solange wir noch können.«

»Aber Antiope –«, setzte Penthesilea an.

»Wir lassen sie hier. Sie will es so.«

Das Tappen von Sandalen ließ Areto wissen, dass die Amazonen flohen. Sie versuchte, die Schatten hinunterzuschlucken und fortzukriechen. Wenn sie sich nicht zusammenriss, würde sie in ihre abgründigsten Erinnerungen schauen müssen, und das durfte nicht geschehen.

»Ich weiß. Den Tod zu sehen, kann überwältigend sein«, drang Cletes Stimme zu ihr durch. »Aber auch du musst fliehen, wenn du überleben willst.«

Areto spürte, wie die Amazone ihre Hände nahm und etwas in diese drückte. Es fühlte sich kalt und schwer an.

»Danke für alles«, sagte Clete. Dann war auch sie fort. Areto versuchte, sich zu beruhigen. Atmete gleichmäßig ein und aus. Berührte ihren Bauch dort, wo ihr Kind wuchs. Dachte an die Nachmittage, an denen Antiopes Geschichten sie gefesselt hatten.

Die Schatten zogen sich zurück. Sie lauerten flackernd im Hintergrund, aber Areto konnte wieder sehen. Sie erkannte, dass Clete ihr Theseus’ Kurzschwert gegeben hatte. Um den Griff rankten sich Goldschnitzerei von Blitzen. Wahrzeichen des Gottvaters Zeus, der Athen im Stich gelassen hatte. Das Blut von Antiope haftete an der Klinge.

Sie unterdrückte ein weiteres Würgen. Als sie sich aufstützte, bemerkte sie, dass sie ein Stück von der Prinzessin weggerutscht war. Molpadia stand inzwischen neben Areto. Die Amazone spannte ihren Bogen, hielt einen Moment lang inne. Dann biss sie die Zähne zusammen und schoss. Der Pfeil flog perfekt. Antiope hörte sofort zu atmen auf, und Molpadia brach zusammen, als ob sie selbst erschossen worden wäre.

Da begriff Areto, was die Prinzessin gemeint hatte. »Ich will als Kriegerin sterben. Mit meiner Heimat Themiskyra im Herzen.« Ihr Wunsch war erfüllt. Auf dem Schlachtfeld, das Theseus’ Haus für sie gewesen war, lag sie tot, ihr Herz von einem Amazonenpfeil durchbohrt.

Areto konnte sich nicht vorstellen, was Molpadia in diesem Augenblick fühlte. Sie hätte der Kriegerin so gerne gesagt, dass es gut war, weil sie alles ihr Mögliche getan und Antiope nicht alleingelassen hatte. Aber Areto kam nicht dazu.

Brüllend liefen Soldaten in die Kammer. Molpadia ließ ihren Bogen fallen und nahm ihren Speer zur Hand. Sie stach rasend schnell zu. Die Speerschneide fand verwundbare Stellen zwischen Rüstungsteilen, riss Männer von den Füßen, wenn nicht gleich in den Tod.

Areto erschrak so heftig, dass ihre Kräfte zurückkehrten. Sie versteckte sich hinter der nächstbesten Kleidertruhe. Abwechselnd sah sie dahinter hervor und auf die Waffe in ihrer Hand. Was sollte sie tun?

»König von Athen«, schrie Molpadia in Griechisch. »Pfeift eure Soldatenhunde zurück und kämpft wie eine Frau gegen mich!«

Ihre Worte wurden erhört. Es kamen keine weiteren Soldaten. Stattdessen erklang die wütende Stimme von Theseus. »Bleibt zurück, Männer. Diese Amazone gehört mir!«

Er stürmte mit schwingender Keule herein. Molpadia wich gerade rechtzeitig vor ihm zurück, sodass sie seiner Waffe entging. Krachend schlug der tödliche Klumpen in den Boden. Sie bewegte sich unkontrolliert, schnellte in gefährlichen Manövern mit ihrem Speer vor. Offensichtlich war sie wund vor Trauer. Die Rohheit ihrer Hiebe zeugte davon, dass sie Theseus töten oder hier mit Antiope sterben wollte.

Da traf die Keule Molpadias Schulter. Sie schrie auf, wurde von dem Schlag herumgeschleudert. Knochen knackten. Nutzlos hing ihr Arm vom zertrümmerten Gelenk herab.

Theseus gab ihr nicht die Zeit, sich neu zu wappnen. Er warf sich gegen sie, brachte sie zu Boden und trat ihr auf den Bauch. Mit aller Gewalt ließ er die Keule auf ihren Kopf herabsausen. Er zerplatzte wie eine reife Frucht und verteilte sich spritzend auf Wand und Boden.

Areto biss sich auf die Zunge, um nicht aufzuheulen. Ein letztes Zucken von Molpadia, dann war es vorbei.

»Ihr Tod war mein«, knurrte Theseus. »Und du schießt ihr ins verrottete Herz, ehe ich es ihr herausreißen kann. Jetzt könnt ihr beide in den Tiefen der Unterwelt verfaulen, wo eure Art hingehört!«

Wieder und wieder ließ er die Keule niedergehen. Er hackte in solch blinder Wut auf die Tote ein, dass er Areto nicht sah, als sie zum Dienstbotengang kroch. Sie betete, dass er sie nicht bemerkte. Wenn er es tat, würde sie für ihren Verrat sterben.

Während sie die Treppen hinunterstolperte, hörte sie ihn rufen: »Durchsucht den Palast nach weiteren Amazonen. Lasst keine einzige am Leben!«

Um keinen Soldaten in die Arme zu laufen, nahm sie mehrere Abzweigungen und eilte zum Palastgarten. Sie umklammerte den Griff des Kurzschwerts, von dem sie nicht wusste, ob sie es einsetzen könnte. Was, wenn ihr jemand begegnete, ehe sie es fortschaffte? Und wo sollte sie hin?

Sie lief in den Garten und wusste immer noch nicht, was sie tun sollte, da trat jemand aus dem Schatten eines Baumes. Areto blieb stehen. Heftig atmend hielt sie die Klinge von sich. Im dämmernden Abendlicht konnte sie nicht mehr als den Schemen eines Mannes ausmachen. Sie erbebte, als er sprach, denn sie kannte seine Stimme.

»Was hast du getan?«

Ihre Augen gewöhnten sich an das Zwielicht, sodass sie das Gesicht erkennen konnte. Es war Miron. Seine Mimik war reglos wie eine still daliegende See, unter deren Oberfläche die dunkelste Tiefe lauerte. Er sah auf das blutige Schwert in ihren Händen. Ob er bewaffnet war, konnte sie nicht sagen. Aber allein die Kälte, mit der er sprach, war gefährlich.

»Was hast du nur getan?«

Als sie diese Worte hörte, verschlangen die Schatten sie von Kopf bis Fuß. Genau dasselbe hatte ihr Vater gefragt. Was hast du getan, Areto?

* * *

Die Schwärze nahm die Gestalt von Bildern vergangener Tage an. Es war Sommer, er drückte heiß auf die blumengeschmückten Dächer Athens. Hier, über der Stadt, tanzten und lachten Frauen miteinander. Adelige, Huren, Sklavinnen und Konkubinen, sie alle waren Freundinnen zur Zeit des Adonia-Festes, ihre Stände bedeutungslos.

Areto, die zwischen ihnen umherschlenderte, kam aus dem Staunen nicht heraus. Lauten erklangen, mit Zimt gewürzter Wein floss, und der Duft von Gebäck stieg ihr in die Nase. Süßes Brot, das wie Geschlechtsteile geformt und anders als das menschliche Fleisch nicht schambehaftet war. Sie hatte die Stimme ihres Vaters im Ohr – »sei nicht zu zügellos beim alljährlichen Ritus weiblicher Hemmungslosigkeit« – und musste grinsen.

Heute Nacht stand alles im Zeichen von Körpern und deren Fruchtbarkeit. Heute Nacht gehörte die Welt den Frauen, und Areto war frei.

Sie sang aus vollem Hals mit, scherzte und aß und trank und glaubte, noch nie so sehr gelebt zu haben … bis sie Eudokia traf.

Es war, als wäre ein bunter Stern aufgegangen. Sie stach selbst unter all den lebensfreudigen Frauen heraus. Ihr helles, fast goldenes Haar floss wie Honig an der viel dunkleren Haut entlang. Steinbesetzte Ringe klirrten an ihren Ohren und Armen, Geschenke, die sie als Hetäre von ihren Gönnern erhalten hatte. Ihr Gewand war so farbenfroh wie ihre ganze Art. Doch am besten stand ihr die Kette aus Hyazinthen um den Hals.

Areto war wie gebannt von ihrem Anblick. Sie hätte schwören können, die Liebesgöttin Aphrodite anzuschauen.

Der Eindruck verflog auch nicht, als sie Eudokia ansprach. Oder als sie gemeinsam tanzten und Gebäck verzehrten. Die Finger, die Areto streiften, waren geschickt vom Weben und seidig vom Lieben. Areto sollte sie in jener Nacht noch viel öfter zu spüren bekommen.

Es brauchte nur ein paar Schlucke Wein. Als sie Eudokia in ihr Bett zog, war Areto so berauscht von ihr, sie wollte nichts mehr, als in ihrer Haut verloren gehen. Sie lachte, weinte, schrie vor Lust. Eudokia seufzte an ihren Lippen, und Areto war glücklich.

Umso schlimmer war das Erwachen. Sie wurde von Eudokias Schrei geweckt. Ihr Vater entriss ihr die Geliebte. Er sah Areto mit einem Grauen an, das sie seiner stoischen Art nie zugetraut hätte. In diesem Moment wirkte er so knittrig wie der Papyrus, mit dem er arbeitete.

»Was hast du getan, Areto?«

Sie sollte diesen Satz nicht nur von ihm, sondern auch bei der öffentlichen Anklage hören. Ihr wurde vorgeworfen, die Götter beleidigt zu haben. Sie und Eudokia hätten die Ausschweifungen der Adonia genutzt, um sich wider alle Sittlichkeit zu penetrieren.

Areto beteuerte unter Tränen, dass es keine Phalloi zwischen ihnen gegeben hatte, nur törichte Trunkenheit und die daraus entstandenen Berührungen. Niemand glaubte ihr. Auch nicht ihr Vater, der ihre Nacktheit attestierte und sagte, dass daraus nur ein Schluss zu ziehen war. Sie hatten entblößt, Scham an Scham zusammengelegen. Zeichen für Begehren, und dies war nur durch Penetration möglich. Es mussten Phalloi im Spiel gewesen sein, und derlei durfte Frau an Frau nicht nutzen – durfte sich nicht anmaßen, ein Mann zu sein.

»Es tut mir leid«, sagte er mit gebrochener Stimme. »Ich habe dich nicht rechtens aufgezogen. Es ist meine Schuld. Ich hätte eine neue Frau heiraten müssen, als deine Mutter uns verließ. Stattdessen habe ich dich an meiner Arbeit teilhaben lassen und dich mit blutigen Geschichten genährt, als wärest du ein Junge. Ich sehe das jetzt.«

Es war entschieden worden, dass er als ihr Vormund über ihre Strafe entscheiden sollte, und er beschloss, sie an ihrem Körper auszutragen. Nackt, wie er sie am Morgen der Schande gefunden hatte. Bis zu diesem Tag hatte ihr Vater sie nie geschlagen.

»Ich liebe dich, Areto«, sagte er über sie gebeugt, während er sie an den Handgelenken niederdrückte. »Aber ich muss auch deinen Leib, den ich ruiniert habe, berichtigen.«

Sie war zu entsetzt, um sich körperlich zu wehren, heulte, bis sie heiser war, flehte um Gnade und bat um Verzeihung, versprach, eine gute Bürgerin und Ehefrau zu sein und ihm nie wieder mit Sittenwidrigkeit Schande zu bereiten. Da brachte er es nicht über sich.

Sie erfuhr am nächsten Tag, dass sie heiraten würde. Die Tränen darüber weinte sie im Stillen, wissend, dass sie ihren Vater nicht erweichen würden. Sie weinte, weil seine erste Wahl gewesen war, ihr selbst Gewalt anzutun. Und nun ließ er es einen anderen Mann übernehmen, als ob das besser wäre. Die Jahre, in denen er geduldet hatte, dass sie ehelos blieb und ihm bei der Arbeit half, waren vorbei. Ihr Gatte sollte Miron sein. Ein hochrangiger Mann mit großem Ansehen, vor Kurzem verwitwet. Die beste Partie, auf die jemand wie Areto hoffen konnte.

Eudokia hatte nicht so viel Glück. Sie wurde von den Männern, die sie hofiert und im Bett angebetet hatten, öffentlich ausgepeitscht.

Areto war zugegen, gemeinsam mit ihrem Vater, der sie festhielt und verhinderte, dass sie in die vordersten Reihen lief. Eudokia kreischte vor Schmerz. Die Peitschenhaken spalteten gnadenlos ihren Rücken, den Areto so ausgiebig erkundet hatte. Mit ihrem Fleisch wurde ihre Ehre fortgeschlagen. Wenn es endlich endete, würde sie keine angesehene Hetäre mehr sein, sondern zu den niedrigsten Huren gehören und aus Athen verbannt werden.

Areto sah hilflos zu. Sie wollte Eudokias Blick finden, sie nicht alleine in ihrer Folter lassen. Doch nicht einmal das war möglich. Sie ging unter in der Menge von Zuschauern, die Eudokia begafften.

Da entstand ein Schatten unter den Füßen der Menschen. Er wand sich an Areto hoch und kroch in ihr Ohr. »Hätte sie dich doch nie getroffen«, flüsterte der Schatten. »Weine nicht. Gottloser Abschaum wie du hat es nicht verdient, zu weinen. Sie leidet deinetwegen, aber mach dir keine Sorgen. Ich bin jetzt da, um dich an deine Schuld zu erinnern. Für immer.«

* * *

Areto rang nach Luft. Das Schwert drohte ihr zu entgleiten, als Miron auf sie zuging. Sie wusste, er würde sie nicht anhören, nur unterbrechen, wie immer. »Was hast du getan?« Die sinnlose Frage eines Rhetorikers.

Sie würde sterben, erdrosselt von den Schatten ihrer Vergangenheit. Vielleicht würde man sie noch bis zur Geburt des Kindes leben lassen, aber Gnade blieb ihr verwehrt, wie so vielen Griechinnen. Areto versteifte sich in dem Wissen, dass man sie hinrichten würde, nicht nur für ihren Verrat, sondern weil Frauen wie sie ohnehin nichts wert waren. Sie könnte es angsterstarrt hinnehmen … oder sie könnte wütend sein.