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Eine dunkle Zeit bricht im Königreich Werand an. Blutmagier übernehmen gewaltsam die Kontrolle über die Menschen und die Gilde der Assassinen erhebt sich aus der Versenkung. In den Wirren des Umbruches kommt es dem fahrenden Händler Erik zu, die alte Magie wieder auferstehen zu lassen, denn nur so lassen sich die Blutmagier aufhalten. Doch die alte Magie hat sich in ihm gebündelt und birgt Gefahren, die niemand bisher einschätzen kann. Zusammen mit dem Söldner Hirum, der sein Leben im Wahnsinn der Schlacht fristen will, Horgar, dem frustiertem, zwergischen Schriftsteller, und der desillusionierten Meria, die ihrer alten Gefolgschaft den Rücken kehren muss, zieht Erik durch das Land, um die Geheimnisse der Magie aufzudecken und den dunklen Magier auf seinem schwarzen Thron zu stürzen.
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Seitenzahl: 349
Veröffentlichungsjahr: 2014
Für meine Familie, die immer für mich da war.
Insbesondere für meine Mutter, die mir alle Möglichkeiten eröffnet hat
Felix Hoffmann
Magierdämmerung
Das Siegel
© 2014 Hoffmann, Felix
Umschlag, Illustration: Hildegard Keiten
Lektorat, Korrektorat: Julia Pröhl
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISBN
Paperback
978-3-8495-9106-9
Hardcover
978-3-8495-9107-6
e-Book
978-3-8495-9108-3
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Prolog
Heute war wieder einer der besondere Abende in der Woche, an dem mein Großvater uns Geschichten erzählte. Geschichten von vergangenen Königreichen, Helden und Schlachten, Tieren und Wundern. Diese Abende waren etwas Besonderes, denn mein Großvater redete sonst nie. Man wusste vorher nie, welchen Tag er sich aussuchte, doch wenn er sich mittags die Pfeife anmachte, war es jedem klar. Viele Menschen kamen dann aus dem Dorf, denn Großvater war der älteste Mann und beste Geschichtenerzähler, den das Dorf je gesehen hatte.
An diesem Abend waren ungefähr fünfundzwanzig Leute da. Manche rauchten, manche tranken und manche unterhielten sich leise, denn Großvater hatte noch nicht begonnen zu reden. Er saß einfach in seinem bequemen Schaukelstuhl hinter unserem Haus, auf dem er einen schönen Blick auf den angrenzenden Wald hatte. Zwischen unserem Haus und dem Wald lag eine große Weide, die so grün und still da lag wie ein Gemälde.
Die Leute hatten sich auf Kissen oder selbst mitgebrachten Stühlen verteilt. Zwei Heranwachsende, die in der Sägemühle arbeiteten, waren mit dem Karren gekommen. Den Karren hatten sie hinter dem Haus abgestellt, um sich darauf zu setzen. Die Esel jedoch hatten sie vor dem Haus angebunden. Falls sie laut sein sollten, konnte man Großvater dann noch verstehen. Manchmal redete er so leise, dass man ihn nur mit größter Anstrengung verstehen kann.
Ich saß an meine Mutter gelehnt in einem großen Stuhl, den mein Vater uns für diesen Abend nach draußen getragen hatte. Ich sah ihr an den Augen an, dass sie besorgt war.
Leise wispernd fragte ich sie: „Was ist los Mama?“
„Nichts, mein Sohn, nichts. Nur… Nur diese Geschichten… In letzter Zeit wurden sie immer grausamer.“
Sie hatte Recht. Wenn mein Großvater vor noch ein paar Wochen über Einhörner und Feen berichtete, die die Welt vor Äonen noch besiedelten, fing er nun an, von brandschatzenden Orks oder anderen, furchterregenden Geschöpfen zu reden. Mir gefielen die Geschichten gut, doch meine Mutter sah etwas Beunruhigendes in den immer drastischer werdenden Fabeln.
„Nein, dieses Mal wird es nicht so gruselig. Das hab ich im Gefühl.“ sagte ich, um sie zu beruhigen. Ich sollte mich irren. Doch nicht, was den Inhalt der Geschichte anging.
Als mein Vater kam und Großvater neuen Tabak für seine Pfeife brachte, wurde es still. Nicht einmal die Esel vor dem Haus waren zu hören. Leise, späte Vögel aus dem nahen Wald unterbrachen auf angenehme Weise die Ruhe. Großvater stopfte seine Pfeife, zündete sie an und blies blass blauen Rauch in Richtung Wald. Er räusperte sich und hob an zu reden. Jeder hörte gespannt zu. Es sollte die letzte Geschichte von ihm sein, die sie hören würden.
Es gab eine Zeit, in der der Wald noch bis hierhin wuchs. Ritter waren edle Leute, die anderen Menschen halfen, wo sie nur konnten. Grafen und Priester waren nicht dekadent und liebten das Volk. Das Gras war grüner und der Fisch lecker. Kurzum, eine schöne Zeit. Doch lange ist sie schon vergangen. Der Großvater des Großvaters meines Großvaters könnte sie miterlebt haben, doch sicher bin ich mir nicht.
Zu dieser Zeit gab es eine Macht, die nur wenige beherrschten, und doch alle kannten. Magie. Menschen, die magisch begabt waren, wurden Zauberer oder Magier genannt. Diese Menschen konnten alles, was sie wollten machen. Sand in Gold verwandeln, Steine schweben lassen und Krankheiten heilen zum Beispiel.
Diese Menschen waren sehr geachtet, handelten sie doch nur zum Wohle der Menschen. Sie kannten keinen Geiz, keine Gier. Als Bezahlung nahmen sie nur Obdach und ein Mahl, das war alles, was sie begehrten. Es waren Menschen, die das Gefühl liebten, anderen zu helfen.
Doch es kam wie es kommen musste. Ein Magier, ein sehr mächtiger, wirkte einen gigantischen Zauber, um eine Krankheit, die die Menschen mit grausamer Hand heimsuchte, zu vertreiben. Der schnelle Tod wurde dieses Übel genannt. Man bemerkte sie erst, wenn man von Kopf bis Fuß mit rotem Ausschlag übersät war. Von dort an hatte man nur noch wenige Stunden zu leben
Die Magier waren überlastet, denn sie waren zu wenige und es war zu wenig Zeit, als dass jemand einen Magier holen konnte. Einige wurden zwar gerettet, doch es blieben die wenigsten.
Der mächtige Magier versuchte also, den Zauber auszuweiten, damit nicht nur einer geheilt wurde, sondern gleich ein ganzes Dorf immun wurde. Tatsächlich hatte er nach einigen Versuchen Erfolg. Viele andere Magier schlossen sich ihm an und sie wirkten einen mächtigen Zauber. Doch etwas ging entsetzlich schief. Zwar wurden die Menschen geheilt, aber es gab einen Preis.
Gier und Neid waren bisher unbekannt gewesen. Jeder Mensch handelte so, dass es jedem, den er kannte, gut ging. Fremden wurde die Tür geöffnet und den Beruf des Richters, geschweige denn des Henkers, gab es nicht. Alle waren glücklich und zufrieden, mit dem was sie hatten. Natürlich gab es Unglücke, Unfälle und dergleichen, doch alles war nicht annähernd so schlimm, wie es kommen sollte.
Der Preis, den die Menschheit bezahlen musste, damit sie nicht von dem schnellen Tod dahingerafft wurde, war Zwietracht, Neid und Geltungssucht.
Die Mächtigen nahmen die Schwachen aus, Diebe und Räuber zogen durch das Land und selbst die einfachen Bauern waren nur noch auf den eigenen Vorteil bedacht. Jeder achtete nur auf sich, scherte sich nicht um die anderen.
Auch die Magier blieben davon nicht unbehelligt. Jeder wollte der Mächtigste sein. Sie bildeten Reiche aus den Gebieten, die sie vorher bereisten, versklavten Menschen mit Magie, um Schlösser zu bauen und Armeen zu bilden. Ihr Hochmut versagte ihnen den direkten Kampf. Es starben viele, viele Menschen, nur um die Herrschsucht der Magier zu befriedigen.
Der mächtige Magier aber, der die Heilung entwickelt hatte, hatte einen Plan. Er rief die anderen Magier, es waren mit ihm dreizehn an der Zahl, zu einer Versammlung, als die Schlachten einen Stillstand erreichten. Jedem war klar, dass er nicht gewinnen konnte. Ein wenig Menschenverstand war ihnen doch noch geblieben
Als die Magier in einem Raum versammelt waren, ging die Falle los. Der mächtige Magier hatte einen Zauber auf die Stühle gelegt, der entfesselt wurde, sobald alle saßen. Es war eine abgeschwächte Umkehrmagie, die den Großen Bann des schnellen Todes teilweise rückgängig machte.
Der Raum explodierte und das ganze Haus mit ihm. Keiner der Magier überlebte, so erzählt die Geschichte. Die schlechten Gefühle der Menschen gingen zurück, Heldenmut und Freundlichkeit kamen wieder. Jedoch blieb das Böse, verschlossen in jedem. Krankheit und Hunger sind nun ein fester Teil des Menschen. Und doch…
Er machte eine so lange Pause, dass die Leute um ihn herum schon nervös hin und her rutschten. Die Geschichte hatte sie aufgewühlt. Doch mein Großvater hat es immer geschafft, eine positive Moral aus seinen Geschichten zu ziehen.
„Und doch… Doch war es das wert. Die Menschheit zu retten war wichtig und richtig. Aber…“
Wie aus dem Nichts erschien ein Pfeil in seiner Brust. Er röchelte und stieß eine letzte blass blaue Rauchwolke aus. Alle sprangen auf und suchten nach dem Ursprung des Pfeils. Ich sah einen Reiter am Waldrand. Mein Vater erkannte ihn gleichzeitig mit mir. Und er erkannte so wie ich, dass er floh.
Mein Vater stürzte zu Großvater, der ihm etwas ins Ohr flüsterte. Dann sackte sein Kopf auf seine Brust. Die Pfeife fiel ihm aus der Hand. Geschockt, fing ich sie auf. Der absurde Gedanke, dass er nicht wollen würde, dass sie eine Macke bekam, schoss mir durch den Kopf.
Kapitel Eins
Der Neubeginn
Herbst, 427. Jahr des Meeres
Horstedt
Königreich Werand
Es regnete. Es regnete in letzte Zeit immer, wenn ich in ein neues Dorf fuhr. Der Weg war schlammig, und mein Wagen rutschte mehr, als dass er fuhr. Das Knarren war selbst über den Regen noch zu hören. Selbst das Klappern meiner Geräte war zu vernehmen. Und doch war er immer zuverlässig, immer weniger kaputt als zu erwarten war und fahrbereit.
Der Platz auf der Ladefläche war zwar stellenweise zu klein, aber dieses Problem war nie zu groß. Die Kleinigkeiten und Flaschen, Phiolen und Kräuter, Salben und Schnaps hab ich immer noch unterbringen können. Mörser, Stößel und Destillierapparat lagere ich unter der Ladefläche. Sicher vor Remplern und Stößen. Alchemie war nie meine Stärke, doch es macht mir Spaß, und Geld verdienen kann ich damit auch.
Wenn die Dorfbewohner mich ließen, sollte ich sagen. Fahrende Händler waren nicht sehr beliebt, aber irgendwas musste ich ja machen, um über die Runden zu kommen.
Seit zehn Jahren fuhr ich nun von Dorf zu Dorf, doch reich wurde ich nie, jedoch waren die Erfahrungen, Erlebnisse und Abenteuer, die sich mir von Zeit zu Zeit ergaben, jede Mühe wert. Nicht zu vergessen ist auch die Freiheit, die ich auf meinen Wegen spüre. Jeder Weg steht mir frei. Egal, wohin mich mein Herz tragen mag, ich fahr dorthin.
Doch der Regen, der mich in letzter Zeit verfolgte, drückte diese Stimmung. Es war, als würde Samsarath selbst mich verfolgen. Meine Pferde, zwei weiß, schwarz gefleckte Knabstrupper, die mir schon seit zwei Jahren treu dienten, waren müde und das Wasser lief langsam durch meinen alten Schlapphut. Mein Mantel war vollkommen durchnässt und ich wollte endlich in ein trockenes Gasthaus.
Das Gasthaus war immer meine erste Anlaufstelle in neuen Dörfern. Angetrunkene Menschen sind viel informativer und leichter zu durchschauen. Sie liegen mir mehr. Doch muss man immer auf der Hut sein. Es gibt Menschen, die zu viel Alkohol nicht gut vertragen.
Links und rechts von mir erahnte ich Wiesen und Felder. Der schneidende Regen machte es unmöglich, genauere Details zu erkennen. Es war dunkel und nass, kein gutes Wetter, um auf einer Reise zu sein.
Nach einer letzten rutschigen Kurve sah ich endlich die ersten Häuser eines Dorfes. Ich konnte den leichten Schimmer der untergehenden Sonne am Horizont ausmachen, als ich meine Kutsche vor dem Dorf abstellte. Ich suchte mir eine Stelle aus, wo die Bäume, die bisher den Weg säumten, groß genug waren, um meinen Pferden einen Platz zum Unterstellen geben würden. Als ich sie abband und von der Kutsche befreite, begannen sie sofort sich unter einen Baum an dem Gras gütlich zu tun. Kurz beobachtete ich sie, wie sie klatschnass grasten, doch das nasskalte Wetter trieb mich zur Eile.
Ich überprüfte die Schlösser an meiner Kutsche und begab mich auf den Weg ins Dorf. Der Weg war schlammig und ich rutschte fast mehr als zuvor mit meiner Kutsche. Meine abgelaufenen Lederstiefel wiesen kaum mehr Profil auf und ich sollte mir bald neue besorgen. Noch wusste ich nicht, dass ich nicht die Zeit finden würde, das zu tun.
Die Häuser drängten sich plötzlich dicht an dicht an der Straße entlang, die etwas weniger schlammiger wurde. Die Schänke war schnell gefunden, denn sie lag direkt neben der Kirche, wie so oft.
Bevor ich den Innenraum betrat, sah ich zu den drei Statuen vor der Kirche hinüber. Samsarath, die Heilbringerin, war in wallende, goldene Gewänder gehüllt und blickte fröhlich in die Welt. Ihre Hände hielt sie links und rechts über Tebin und Surthran, ihren beiden Kindern. Fast alle Menschen in Werand beteten Samsarath an. Ich persönlich bin nicht der gläubigste Mensch. Doch Salastharan, der Gott der Zwietracht und Habgier, eignete sich vorzüglich zum Fluchen, wenn niemand sonst herhalten kann.
Als ich den Gastraum betrat, drehten sich die Köpfe der Gäste sofort zu mir um. Das altbekannte Gefühl, ein Eindringling zu sein, machte sich in mir breit. Die Theke war genau gegenüber der Tür. Sie war aus glattem Holz ohne Verzierungen. Ich ging dorthin, denn ein kaltes Bier, das einem die Kehle hinabglitt wie flüssiges Glück, war genau das, das ich jetzt gebrauchen kann.
„Ein Bier bitte“ bestellte ich.
Wortlos stellte der Barmann mir nach einer kurzen Zeit das Bier vor mich hin und ich bezahlte ebenso wortlos.
Ich hob den leicht trüben Becher mit der gelben Flüssigkeit an meine Lippen und trank genüsslich.
Leider gab es kaum eine Möglichkeit, das Bier so vorzüglich, wie es in Schänken angeboten wird, auf meinen Reisen mitzunehmen. Die Schänke blieb der einzige Ort, an dem ein Bier so gut schmeckte.
Ich wusch mir den Schaum, der auf meiner Lippe hing, ab und besah mir die Einrichtung etwas genauer. Fünf kleine runde Tische standen dicht gedrängt im Gastraum und an der Wand hinten rechts hing ein riesiges Hirschgeweih. Ob der Barmann ihn selber gejagt hatte? Eher unwahrscheinlich, doch nicht auszuschließen. Doch der Mann hinter dem Tresen sah entweder bemerkenswert kräftig aus, oder bemerkenswert fett.
Die Rundung, die sich hinter der Schürze, die wohl noch nie gewaschen wurden war, konnte sich nicht verstecken und ließ mich zu meiner zweiten Annahme tendieren.
In einer Ecke saßen vier dunkle Gestalten und spielten still vor sich hin Karten. Es war insgesamt sehr dunkel und ruhig, aber das war in diesen Zeiten nicht unüblich. Die Theke wirkte massiv, wie aus einem Baum geschnitzt. Ähnlich waren die Gläser auf dem Rückbuffet. Klobige, schäbige Dinger, die sich an ihre letzte Politur nur nach vage erinnern konnten. Aber sie waren sauber. Hoffte ich zumindest.
Das Klavier in der hintersten Ecke des Raumes wirkte, als würde es, wenn jemand sich wirklich dazu entschließen sollte, daran zu spielen, sofort zusammen fallen.
„Habt ihr in letzter Zeit etwas von den Dunklen gehört?“ fragte der Barmann mich unvermittelt. Ich erschrak kurz, fasste mich aber sofort. Dort, wohin mich meine Wege in den vergangenen Monaten führten, redete man nur hinter vorgehaltener Hand über diese Halunken. Wenn überhaupt mal. Bisher hatte ich nur wirre Geschichten von den Dunklen gehört, aber das sollte sich in wenigen Tagen ändern.
„Nein, hab ich nicht. Was wisst ihr über sie?“
„Nicht viel, nur, man sagt, dass sie überall, wo sie wollen, auftauchen können und den Geist der Menschen kontrollieren können. Gruselig, wenn du mich fragst.“ Das war nichts Neues für mich. Diese Gerüchte machten einfach überall, wo ich hinkam, die Runde.
„Ja, das stimmt wohl. Was wollen sie eigentlich von uns? Sie haben so viel Geld und Macht wie kein anderer, und bringen Schrecken und Tod über uns!“ mischte sich ein Mann ein, der bisher alleine in der Ecke saß. Er kam zu uns an die Theke. Offenbar hatte er noch etwas zu erzählen.
Er hatte einen kurzen Kinnbart, der um seine Wangen bis hin zu seinen Ohren hin zu gehen schien. Die Glatze, die leicht im Kerzenlicht glänzte, offenbarte einen perfekt runden Kopf. Doch auf der Kopfhaut waren kleine Narben zu sehen. Es waren so viele, dass ich sie nicht zählen konnte. Auch seine Lederjacke und die staubigen Hosen passten zu dem Bild, dass ich sofort von ihm hatte. Er schien vieles durchgemacht zu haben.
Ich bezahlte ein neues Bier für ihn und er begann auf mein Nachfragen zu erklären, was er damit meinte.
„Es ist gar nicht lange her, da traf ich sie, oder viel mehr, sah ich sie, als sie einen Hof nieder brannten. Sie arbeiten als eine Art Steuereintreiber für den König. Zumindest hatten sie das behauptet. Kann mir nicht vorstellen, dass der König so etwas machen oder zulassen würde. Die Familie, die auf dem Hof wohnte, war wegen den Regengüssen in letzter Zeit nicht mehr in der Lage, die Steuern zu bezahlen. Ihre Ernte wurde nämlich vollständig zerstört. Ich war auf den Weg zu ihnen, doch ich sah von weitem schon den Widerschein des Feuers. Ich rannte los, aber als ich die schrillen Schreie von der Kleinen hörte, wurde ich vorsichtig. Als ich näher kam, sah ich die Scheune, und an hastig aufgerichteten Kreuzen hingen die zerfetzten Leichen der Älteren.
Beide glänzten merkwürdig im Feuer, und ich sah, dass sie zur Gänze gehäutet waren. Ihnen war die ganze Haut abgezogen, man stelle sich das mal vor! Naja, von dem Schock erholt, sah ich mich weiter um.
Vor ihnen lag ihre Tochter, und links und rechts hockten die Dunklen über sie. Das alles war grausam, doch am schlimmsten war das Lachen. Ein Lachen, das durch Mark und Bein ging. Ein Lachen, das man nie mehr vergisst. Ich schauderte, und als ich mich gerade umdrehen wollte, schaute einer der Dunklen mich genau an… und sie verschwanden.“
Ich war entsetzt. Zwar hatte ich schon viel über die Dunklen gehört, doch diese Geschichte übertrifft alles, was bisher an meine Ohren kam. Der Mann schaut mich düster an, als erwarte er eine Erklärung für diese Tat. Da ich keine hatte, wechselte ich das Thema.
„Wir haben uns noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Eric Krislan. Ich bin sozusagen auf der Durchreise.“
„Schön, dich kennenzulernen. Ich bin Hirum Heid. Ich bin hier das ‚Mädchen für alles‘. Als Söldner gibt es heutzutage nicht mehr viel zu tun.“
„Das stimmt wohl. Der König beharrt darauf, dass Frieden herrscht, und jeder, der behauptet, dass ein Schwert noch nötig sei, geht ein gehöriges Risiko ein. Schon mutig von dir, hier offen zu sagen, dass du ein Söldner warst. Vor allem vor einem Fremden.“
„Mut gehört zu eine der wichtigsten Eigenschaften eines Kriegers“ grinste Hirum mich an. „Mut und Selbstbewusstsein. Vielleicht auch eine kleine Prise Selbstüberschätzung“ Wir redeten noch lange weiter, über das Dorf, die Leute hier und vieles andere, doch es wurde langsam spät und ich machte mich auf, wieder zu meiner Kutsche zurückzukehren.
„Sagen sie, was verschlägt sie eigentlich in diese Gegend?“ fragte mich der Barmann beim Herausgehen.
„Meine Arbeit. Ich habe Waren anzubieten“
„Was denn für Waren?“
„Dies und jenes, kommt morgen zum Marktplatz, und ihr werdet es sehen.“
Mit diesen Worten verließ ich die Gaststätte. Es war in meinem Beruf immer gut, für Werbung zu sorgen, vor allem, wenn die Leute nicht wissen, was ich verkaufe.
Am nächsten Morgen wurde ich von einem Wiehern geweckt. Wie der Wind schnellte ich aus meinem Bett, das eigentlich nur eine Heumatratze war, und schaute nach den Pferden. Irgendetwas hatte sie erschreckt, und ich konnte sie nur mühsam beruhigen. Damals wusste ich noch nicht, dass das Schicksal schwer auf mir lag und der Schatten des Kommenden so dicht wurde, dass die Pferde meine Anwesenheit beunruhigte. Als die Pferde wieder ruhig waren, fing ich an, meinen Arbeitstag vorzubereiten. Tinkturen überprüfen, Flaschen polieren, Kräuter sortieren und dabei auch noch eine Kleinigkeit essen. Die Sonne war gerade vollständig aufgegangen, als ich mich mit meiner Kutsche auf den Weg machte. Jetzt sah ich auch das Dorfschild:
Willkommen in Horstedt
begrüßte es mich. Gestern war es wohl schon zu dunkel gewesen, um es zu bemerken, aber es wirkte wenig einladen. Die Buchstaben waren abgeblättert und das Holz des Schildes war von viel Regen und mangelndem Interesse der Dörfler verwittert und die Rändern wirkten ausgefranst.
Das Dorf sah genauso aus. Dort klapperte ein Fenster, hier waren die Zäune des Gartens zerstört und der Kirchturm hatte garantiert schon bessere Zeiten gesehen. Das Dach war offensichtlich nicht mehr dicht, und es gab keine Vordertür mehr. Sie lag einfach neben dem Portal.
Der gepflasterte Weg zeugte von einem lang vergangenen Reichtum, denn nur wenige Dörfer dieser Größe hatten gepflasterte Wege in dieser Qualität. Doch die Zeit hatte ihre Spuren hinztergelassen. Die Steine waren uneben und boten einem Wagen kaum mehr den Komfort, der diese bestimmt einmal geboten hatten.
Ich fand es aber nicht abstoßend. Im Gegenteil, es wird mir direkt in die Karten spielen, wenn es hier so aussah. Menschen, die so viel durchgemacht haben, waren leichter für meine Waren zu begeistern. Ich erreichte den Marktplatz, der nicht mehr war, als ein gepflasterter Platz, an dem die Gaststätte, die Kirche und, man soll sich das vorstellen, das Gemeindehaus angrenzten. Ein so kleines Dorf mit Gemeindehaus! Die Leute hier haben garantiert nicht immer so gelebt.
Als ich anhielt, um meine Waren vorzubereiten, war ich noch allein auf dem Platz, aber es würden noch viele Leute kommen. Es wusste bisher bestimmt jeder im Dorf, dass ein Fremder Sachen zum Verkauf anbieten würde. Der Vorteil ist, dass niemand weiß, was genau zum Verkauf stehen wird. Ich stellte die Kutsche vor das Gemeindehaus, so dass der gesamte, wenn auch nicht große Platz vor mir lag.
Den Klapptisch, auf dem die Flaschen und Tinkturen liegen würden, stellte ich direkt davor. Daneben kam meine Holzkiste, auf dem ich während meiner Darstellung stehen würde. Jetzt fehlte noch mein Aufsteller. Er kam auf die andere Seite des Tisches. Rote Lettern auf gelben Grund verkündeten reißerisch:
Leiden irgendwelcher Art?
Atemberaubend schnelle Wirkung
Dank generationenlanger Erfahrung.
Inh. Eric Krislan
Am unteren Ende grinste ein Gesicht gerade so, als würde es versuchen, dir den Himmel zu verkaufen, ohne zu wissen, wo oben und unten ist. Fertig. Jetzt eine Pfeife, und warten. Ich nahm die kläglichen Reste meines Tabaks aus dem Beutel, der von den Jahren, die ich ihn schon mit mir führe, ganz zerschlissen war, und stopfte die Pfeife, die ebenfalls aus abgegriffenen Horn eines mir unbekannten Tieres gefertigt war. Als der Glimmstab entzündet war und ich leicht die Oberfläche des Tabaks berührte, bildete sich rote Glut und ich atmete den entspannenden Rauch, der entstand, ein.
Während ich wartete, sah ich, wie der Platz langsam sich füllte. Ich wurde etwas nervös. Würde es diesmal gut gehen? Oder würde es ein Desaster? Das konnte man vorher nie sagen.
Einmal wurde ich regelrecht aus dem Dorf gejagt. Die Dörfler kamen mit Waffen jeder Art auf mich zu, ich raffte alles zusammen und verschwand. Hoffentlich bleibt das ein einmaliges Erlebnis.
So, es geht los. Ich stand auf, und die ersten Reihen wurden sofort leiser. Erst jetzt sah ich, dass bestimmt fünfzig Leute gekommen waren. Das war schon recht ansehnlich. Und noch wichtiger: Niemand war offensichtlich bewaffnet. Bisher lief es gut. Ich stieg auf meine Kiste und fing an:
„Meine sehr verehrten Herren und meine wunderschönen Damen! Ich bin Eric Krislan! Ich bin hier um ihnen ein Angebot zu machen, das sich so schnell nicht wiederholen wird und von Samsarath selbst zu kommen scheint! In Zeiten wie diesen, wo es nahezu jeden Tag regnet, Ist fast jeder von ihnen bereits vom Schnupfen heimgesucht worden, oder wird es noch! Deswegen gibt es das spezielle Regen Angebot! Eine Tinktur, die als heißer Sud den Schnupfen vertreibt. Nur zweimal an zwei Tagen angewendet, und schon sind die Beschwerden vergessen… “
So ging es noch länger weiter. Hie und da verkaufte ich ein, zwei Flaschen, aber der Ansturm hielt sich in Grenzen.
Am Ende meiner Vorstellung wollte ich mir meine wohlverdiente Pfeife stopfen, als mir auffiel, das mein Tabakvorrat nun endgültig zur Neige gegangen war. Ich hob den Kopf und suchte einen Dörfler, der mir sagen konnte, ob und wo es hier Tabak gibt. Mein erstes Ziel, nachdem ich über den bereits geleerten Platz geblickt hatte, war das Gasthaus, denn der Gastwirt wird wohl am wahrscheinlichsten wissen ob und wo ich fündig werden konnte. Das Gasthaus sah genauso aus wie am vorigen Tag. Die einfallende Sonne schien die dunklen Ecken nur umso finsterer wirken zu lassen. Dieselben Alten saßen in einer Ecke. Ob die wohl noch etwas anderes machen, als sich hier tagtäglich zu treffen?
Ich ging zur Theke. Der Gastwirt schaute mich an, als wäre ich nicht mehr willkommen. Leute wie ich spalten die Gesellschaft.
„Guter Herr. Ich musste gerade feststellen, dass mein Tabakvorrat aufgebraucht ist. Können sie mir sagen, wo ich hier noch welchen finden kann?“
Er kratzte sich am Kinn, schaute kurz in die Ecke, doch blickte mich danach so schnell wieder an, dass ich mir den Seitenblick auch noch hätte einbilden können. Wenn er etwas vor mir verheimlichen wollte, so ließ er sich nichts anmerken.
„Nein, hier in der Gegend ist es schwer, an so spezielle Sachen zu kommen. Ich kann dir nicht helfen.“
„Dann lässt sich nichts anderes machen als zu darben. Ich werde dann weiterziehen. Schönen Tag noch.“
Im Umdrehen bemerkte ich, dass der Wirt in den Hinterraum ging. Also lenkten mich meine Füße wie von selbst zu dem Tisch der Alten. Es waren vier und sie spielten konzentriert und stumm Karten. Sie waren alle unwahrscheinlich alt. Einer schaute mich kurz an, doch dann war er an der Reihe, legte eine Karte auf die anderen drei und murmelte: „90“. Das Spiel kam mir unbekannt vor. Die anderen Drei schüttelten fast im Gleichtakt die Köpfe und der erste lachte kurz auf.
Ich wiederholte bei ihnen auf gut Glück meine Frage. Einer von ihnen schaute mich daraufhin an. „Tabak, was? D’wirst d’hier nur auf taub‘ Ohren stoß’n“ Seine Worte waren lang gezogen und er verschluckte fast alle Vokale. Es klang eher wie T‚bak‘.
„Musst weiter fahren. Hier wirst kein Glück ham“
Und schon war die mir geltende Aufmerksamkeit verschwunden. Meine Fragen nach dem Grund wurden ignoriert.
„Mach dir keine Mühe, die Alten sind fast taub und reden nie mit Fremden.“ kam es von der Theke. Eine bucklige, ebenso alte Frau stand auf einen Stock gestützt mitten im Raum. Sie trug schwarze Fetzen Stoff und blickte aus schwarzen Augen herum. Sie schien blind zu sein. Schwankend kam sie auf mich zu, drohte zu stürzen, doch als ich sie stützen wollte, stand sie fest da, und sagte in verändertem Tonfall:
„Sie werden es nicht leicht haben.“ sagte sie in einer tiefen, eindringlichen Stimme.
„Was? Was meinen sie?“ fragte ich. Da verdrehte die Frau plötzlich die Augen und sah mich direkt an. Tiefe dunkelgrüne Augen funkelten mir entgegen und mir wurde ganz anders.
„Bei Samsarath, halten sie nach dem Jungen Ausschau. Nur er weiß es, nur er vermag es zu ändern!“ „Welcher Junge? Was ändern?“ doch plötzlich war sie wieder wie vorher. Selbst ihre Augenfarbe wurde von hatte sich wieder aufgehellt. Nun waren sie fast schon weiß.
„Die Vier haben schon zu viel durchgemacht, lass sie in Ruhe!“ sagte sie und wankte zu dem Tisch hin, setzte sich und ignorierte mich fortan.
Was war da gerade geschehen?
Was könnte sie wohl gemeint haben?
Welcher Junge war gemeint?
Vielleicht war sie einfach nur verrückt. Aber diese Augen! Man verändert nicht einfach die Augenfarbe. Sie wirkte wie besessen. Wahrscheinlich war sie das auch. Ich würde zu keinem Schluss mehr kommen, daher beschloss ich, weiterzuziehen.
Ich ging zu meinem Stand zurück und packte ein. Die Glaszylinder mit Stoff umwickeln, die Kräuter in Tücher wickeln und das Schild abbauen. Nachdem meine Sachen in meine verstärkte Truhe gepackt waren und ich sie abgeschlossen hatte, wurde ich dann doch noch hungrig. Ich war unterbewusst schon auf dem Weg zur Gaststätte, doch dort wollte ich nicht mehr hin. Die Menschen schienen mir zu merkwürdig, zu weit entfernt. Ich weiß nicht warum. Diese Art der Ignoriert-Werdens ist mir nicht neu, und doch… Diesmal schien es wesentlich tiefer zu gehen. Als ginge etwas vor sich.
Deswegen ging ich schweren Herzens zum Wagen zurück. Dort machte ich mir meinen Bohneneintopf, der mir schon zum Hals heraus hing. Wie im Schlaf schürte ich das Feuer und stellte die Pfanne darauf. schnitt ich das Fleisch und briet es in dem Öl in der Pfanne an. Kleingeschnittene Zwiebeln ließ ich mit braten. Etwas Lorbeer, Nelke und Bohnenkraut dazu und warten.
Während der Eintopf vor sich hin köchelte, ging ich herum, Ich schaute mir die Gegend an. Bäume auf der einen Seite, Felder auf der anderen Seite. Es war ein erfrischend langweiliger Anblick. Genau das, was ich brauchte. Es war so weit, dass ich die Bohnen und Kartoffeln zu geben konnte. Mit Salz und Pfeffer abgeschmeckt, fertig. Leider nicht sehr geschmackvoll, aber was soll man machen? Während ich aß, rannte auf einmal eine Gestalt den Weg hinauf zu mir. Meine Ruhe wurde jäh gestört.
Es war Hirum.
Er sah so aus, als wäre ihm ein Geist erschienen.
„Was ist denn mit dir passiert?“ fragte ich ihn.
Er schaute sich wieder um, blinzelte und rieb sich die Augen. Er war völlig durch den Wind.
„Meine Frau! Kathrina! Sie ist besessen oder so! Die Leute hier sind so… fremd, so anders, dass ich mich nicht traue sie um Hilfe zu fragen. Du musst mir helfen“
„Was sagst du da? Was ist passiert“
„Komm einfach mit, du würdest es mir nicht glauben.“
Er lief schon los, erwartete keinen Widerspruch. Und er ließ mir auch keine Möglichkeit, weitere Erklärungen zu fordern.
Schweren Herzens ließ mein karges Mahl zurück und musste fast rennen, um mit Hirum gleichzuziehen. Wir rannten quer durch das Dorf. Ein, zwei neugierige Blicke folgten uns, aber niemand fragte uns, warum wir rannten. Es kam mir so vor, als würden sie uns absichtlich ignorieren, nachdem sie uns kurz erblickten. Hirum blieb vor einem auffällig gut erhaltenen Haus stehen. Im Garten zog er offensichtlich Salat und nach dem Geruch zu urteilen, hielt er wohl im Hinterhof Schweine. Hirum riss die ehemals weiße Haustür auf und offenbarte ein totales Chaos. Mitten in dem Durcheinander schwebte einen Fuß über den Boden eine schwarzhaarige Frau. Die Arme und Beine weit von sich gestreckt und die Haare zu Berge stehend, gab sie die unheimlichste Erscheinung meines Lebens.
Das Licht, das durch die Tür fiel, machte vor ihr Halt und ihr schwarzes Kleid flatterte im nicht vorhandenen Wind wie wild. Sie öffnete die Augen und blickte mich direkt an. Dieselben Augen, wurde mir sofort klar.
„Ihr beide. Ihr werdet den Unterschied machen. Ihr werdet sie richten. Das Licht wird euer sein.“
Die Augen waren doch etwas anders. Das Leuchten war viel wärmer und einladender. Es weckte im mir, so absurd wie das in diesem totalem Durcheinander klinge mag, ein Gefühl der Geborgenheit, das ich bisher erst einmal fühlen durfte.
Sie streckte die Hände aus und zwischen Daumen und Zeigefinger entstand eine Lichtkugel. Diese Kugel zog das Licht aus der Tür an. Es wäre ein schöner Anblick gewesen, wenn es nicht so unheimlich gewesen wäre. Immer mehr Licht flog in die Kugel, die aber immer fester und dunkler wurde, je länger die Frau sie in Händen hielt.
Jetzt bemerkte ich auch, dass sie etwas murmelte. In mehreren Stimmen. Auch die Lichtfäden aus Augen, Mund und Ohren waren nun zu sehen. Sie schien vor unseren Augen verzehrt zu werden. Unter ihren Augen wurden Dunkle Ringe sichtbar und die Farbe wich aus ihren Haaren.
Schlohweißes Haar umspielte ihren Kopf. Gebannt von diesem Schauspiel fiel mir nicht auf, dass nicht nur Farbe von ihr wich, sondern sie sich von den Füßen aus auflöste. Zuerst wurden sie durchscheinend, dann unsichtbar. Bis sie völlig verschwunden war.
Die Kugel schwebte in der Luft.
Das Licht erhellte nun den ganzen Raum.
Hirum rannte auf die Kugel zu und versuchte sie zu berühren, doch er wurde von einen Lichtschlag getroffen. Ich rannte zu Hirum, der in die linke Ecke des Raumes geschleudert wurde. Als ich ihn berührte, riss er die Augen auf und rannte los. Ohne Worte, ohne zu zögern rannte er einfach fort. Ich blickte ihn kurz nach, doch dann ging ich zur Kugel, denn Hirum war schon zu weit entfernt, um ihn einholen zu können. Ich hatte dann doch zu lange gezögert.
Ich ging in Richtung Kugel. Langsam bewegte ich meine Finger zu ihr, und ich spürte ein Kribbeln. Die Kugel bewegte sich in meine Richtung und ich wollte zurückweichen, doch ein inneres Gefühl zwang mich, es geschehen zu lassen. Als sie meine Hand berührte und schließlich landete, bemerkte ich, dass sie leicht war, viel leichter, als ich vorher angenommen hatte. Und was noch merkwürdiger war, dort, wo ich ihn berührte, wurde sie grün. Richtig giftgrün.
Und ein Energiestoß durch fuhr meinen Arm. „Was zur Hölle“ war das Letzte, was für die nächsten vier Stunden aus meinem Mund kommen sollte. Ich fiel ohnmächtig zu Boden Als ich wieder zu mir kam, war ich allein. Ich stand auf. Oder besser, ich versuchte es. Meine Beine und Arme waren taub und steif. Meine Rücken versuchte mich umzubringen. Nach mehreren Anläufen schaffte ich es dann doch. Weg, einfach nur noch weg.
Ich saß wieder auf meiner Kutsche und besah mir die Landschaft. Es war eine schöne Gegend hier. Der Weizen wog sich im Wind und leichte Anhebungen deuteten winzige Berge an. Die Sonne schien malerisch auf die Felder und ich beruhigte mich langsam wieder. Ich nahm die Kugel, diesmal mit Handschuhen, aus meiner Tasche. Ich hatte sie nicht liegen lassen können. Mir war klar, dass sie etwas zu bedeuten hatte, doch was es sein könnte blieb mir schleierhaft. Ich streifte einen Handschuh ab, und berührte mit der Fingerspitze die Oberfläche. Eine grüne Spur folgte der Berührung. Der Energiestoß, der jetzt zwar schwächer, aber doch nicht zu ignorieren war, durchzuckte mich in kurzen Intervallen. Ich war mir nicht sicher, was das bedeutete, doch fühlte es sich so gut an. So mächtig.
So voller Möglichkeiten. Allein die Wärme, die sie in mir hinterließ, war schon so angenehm, dass ich die Kugel fast nicht mehr aus der Hand legen wollte.
Entlang des Weges sah ich vereinzelte Büsche und Bäume, aber generell war es mir vergönnt, in der Sonne zu fahren. Deshalb schloss ich die Augen, nur einen Augenblick, um die Sonne auf dem Gesicht zu genießen. Die Pferde würden mich wohl sicher auf dem Weg halten. Ich vertraute ihnen schon länger, als manche denken können. Es dauerte nicht lange, und ich fiel in einen unruhigen Schlaf.
Dunkle Gestalten verfolgten mich unentwegt. Egal, wo ich mich hin wand, sie waren mir immer dicht auf den Fersen. Irres Gelächter betäubte mich fast. Ich rannte durch tiefe Dunkelheit, auf einen blauen Lichtpunkt am Horizont hin. Hinter mir feuerrote Blitze am Himmel und dieses irre Gelächter, das immer lauter wurde. Nicht mehr umdrehen. Rennen! Sie holen mich ein. Eine Berührung rechts an meiner Schulter…
Ich wachte ruckartig auf. Ich wäre fast vom Kutschbock gefallen, als da tatsächlich was auf meinem Arm saß. Ein Vogel! Ein dämlicher Vogel hat mich fast zu Tode erschreckt. Mistvieh. Der Vogel flog erschreckt davon.
Die nächsten beiden Erkenntnisse kamen gleichzeitig. Oder zumindest so kurz nacheinander, dass ich nicht sagen könnte, was zuerst mein müdes Gehirn erreichte. Die erste Erkenntnis war, dass es Nacht geworden war und wir nicht mehr auf Feldwegen, sondern auf holprigen Kieselwegen unterwegs waren.
Die andere, dass ein Junge, keine fünfzehn Jahre alt, direkt vor meinem Wagen stand. Ich zügelte sofort meine Pferde, was ich als großartige Leistung einstufte, zumal ich gerade erst wach war. Die Pferde kamen kurz vor ihm zu stehen, doch er verzog nicht einmal eine Augenbraue. Er sah mich nur aus hellen, blauen Augen an, die hinter einem Vorhang von schwarzen Haaren beinahe versteckt waren. Seine Kleidung war verschlissen und am rechten Arm glänzte sein Ärmel. Offensichtlich war er verletzt.
„Du… Ich… kann… DU….“ die Stimme war die eines alten Mannes. Das Aussehen nicht das eines Kindes. Doch bevor ich etwas erwidern konnte, fiel das Kind um und blieb regungslos auf dem Boden liegen. Ich sprang vom Kutschbock und rannte zu ihm. Als ich meine Hand unter seine Nase legte, spürte ich einen leichten Atem. Er lebte noch. Ich legte ihn gerade hin und spritzte ihm Wasser ins Gesicht. Er reagierte nicht.
Ich sah ihn mir genauer an. Die Wunde am Arm war nicht tief, aber blutete doch sehr stark. Mit kaltem, sauberen Wasser spülte ich die Wunde aus und wickelte ein altes Hemd, das relativ sauber war, um den Arm. Mit meinem Gürtel fixierte ich das Hemd, damit es nicht von selbst abfiel und Druck ausübte, um den Blutfluss zu verlangsamen.
Ich beschloss, ihn mitzunehmen, vielleicht ging es ihm morgen früh besser. Ich hob ihn behutsam auf und legte ihn vorsichtig auf mein Bett im Laderaum meiner Kutsche. Meine Tasche musste ich entfernen, damit er genügend Platz haben würde. Mit halbem Tempo fuhr ich weiter, bis ich einen kleinen Fluss mit sanft abfallender Küste fand. Ich schlug dort mein Lager auf.
Das Lagerfeuer, mit Holz aus den Büschen und den wenigen Bäumen aufgebaut, war schnell entzündet. Die Felle, die ich immer für kalte Winternächte auf meinem Karren lagerte, boten genug Platz für den Jungen und ich legte mich auf meine dickes Bärenfell, dass mir schon so manche Nacht Wärme geboten hat. Ich schlief nicht ein, obwohl ich so müde wie lange nicht mehr war. Gedanken schossen durch meinen Kopf. Doch konnte ich keinen davon verfolgen. Sie blieben fragmenthaft.
Hirum… Die Kugel…. Der Junge… Die Frau….
Schlagwörter, die gegen mein Gehirn schlugen und meinen Schlaf fernhielten. Letztlich fiel ich in einen unruhigen Schlaf, der weniger geruhsam war als sonst. Dunkle Schatten, Schreie, Blut und Krähen waren meine Träume. Ohne Orientierung wandelte ich in den Schatten meines Geistes umher.
Am nächsten Morgen war der Junge verschwunden. Verflucht, dachte ich, wo ist er hin. Doch fand ich etwas anderes, das mich fast noch mehr verwirrte. Die Kugel war weiß. So strahlend, dass selbst die Sonne neidisch zu sein schien. Ich nahm sie in die Hand. Sie fühlte sich genau so an wie gestern noch, doch die Farbe hatte sich ohne offensichtlichen Grund verändert. Aber das war fürs Erste zweitrangig. Ich musste den Jungen finden.
Ich suchte nach Spuren, fand aber keine. Merkwürdig, woher sollte ein Junge wissen, wie man sich ohne Spuren bewegt? Und wie sollte er es schaffen, mit dieser Verletzung?
Doch, ein abgeknickter Ast und eine Andeutung eines Fußabdrucks waren in nördlicher Richtung zu sehen. Ich packte die Sachen ein und fuhr los.
Vielleicht sehe ich ihn, wenn ich da lang fahre. Die Spuren, die hier und da doch zu sehen waren, folgten dem Weg nach Aredal, dem Fischerdorf hier in der Nähe.
Es waren keine vier Stunden vergangen, als ich das Dorf sah. Kaum 50 Häuser zählte die Siedlung, die sich um ein großes Lager drängten. Das dürfte wohl das Kontor sein.
Jede Siedlung, die an der Küste lag, sei sie noch so klein, hat ein Kontor, um die Waren, welche hier wohl hauptsächlich aus Fisch und Weizen bestehen dürften, zu lagern oder mit einem Schiff zu handeln. So nahe an der Küste war es keine Absonderlichkeit.
Ich wurde langsam nervös, denn der Junge war verletzt und allein. Was, wenn ihm was passiert ist? Das wäre meine Schuld, und das lass ich nicht zu.
Ich stellte vor dem Dorf mein Gefährt ab und ging, nachdem die Pferde von dem Geschirr befreit wurden, ohne noch weiter zu zögern ins Dorf. Es sah genau so aus wie Horstedt, doch wesentlich besser erhalten. Hier funktionierte die Wirtschaft anscheinend noch gut genug, um die Reparaturen an den Häusern durchzuführen.
Die Leute, die ich traf, hatten keinen Jungen gesehen und konnten mir nicht helfen. Sie wirkten sehr beschäftigt und gestresst. Kein entspanntes Gesicht war zu sehen.
Ich lief also nur auf gut Glück durch die schlammigen Straßen und hielt die Augen offen. Die Häuser waren teilweise weiß von dem Salzwasser des Meeres, das überall nur „das Blaue“ genannt wurde.
Meine Füße trugen mich wie von selbst zur Schänke, die ich immer als erstes ansteuerte, wenn ich in ein neues Dorf kam. Fast überall ist es derselbe Anblick. Dunkle Ecke mit Alten, die Karten spielten. Ein Fettsack an der Theke und ein leicht dünnerer Kerl hinter der Theke, der gelangweilt ein Glas polierte. Die Gläser wirkten aber im Gegensatz zu denen in Horstedt sauber.
Ich lehnte mich über die Theke und fragte den Barmann, ob ein Junge hier vorbeigekommen ist.
„Ein Junge? Hier? Hier war kein Junge, was sollte er auch hier? Hier ist’ne Schänke, siehste das nicht?“ Sehr freundlich.
Ich entschuldigte mich und ging wieder auf die Straße. Ein Fischer kam mir entgegen. „Guter Mann, wenn man verletzt ist, wo sollte ich mich hinwenden? Gibt es hier einen Arzt oder so etwas in der Art?“
„Nein, sowas gibs hier nich‘. Aber fragt mal im Hafen nach, vielleicht kennt sich dort wer aus.“
Und schon war er weiter gegangen. Schnellen Schrittes lief er die Straße hinab. Die Geschäftigkeit war fast körperlich zu spüren.
Also ging ich hinunter zum Hafen. Etwa vierzig Menschen liefen eifrig herum und ich ging zu den Mann, der anscheinend der Vorabeiter war. Alle waren damit beschäftigt, eine kleine Schaluppe zu entladen. Ich fragte ihn wieder nach dem Jungen, doch er wusste nichts davon. Auch auf meine Frage, ob es einen Arzt gibt, reagierte er mit einem Kopfschütteln.
„Ich würde dir gern helfen, aber im Moment ist keine Zeit. Komm heut Abend zur Schänke, dann kann ich dir vielleicht was neues sagen.“
„Okay, danke, ich werde aber weiter suchen. Viel Erfolg noch bei der Entladung.“
„Danke, ihnen auch bei der Suche.“
Das erste freundliche Wort von den Bewohnern aus Aredal. Also sind doch nicht alle hier griesgrämig. Ich ging weiter durch die schlammigen Straßen, fragte hie und da einen Dörfler, doch niemand wusste etwas. Es war, als würde ich ein Phantom suchen. Auf einem kleinen Platz, der sich vor dem Kontor erstreckte, gab es einige kleine Stände. Einer von ihnen sprang mir trotz der misslichen Lage, in der ich mich befand, ins Auge.
Es war ein Laden, der exotischere Waren verkaufte. Früchte, die ich mir niemals leisten konnte, aber dermaßen verführerisch aussahen, dass ich nicht umhin konnte, kurz einmal über die Waren zu schauen. Tatsächlich, im Angebot war auch Tabak. Ich stockte meinen Vorrat für das bisschen Geld, dass ich in Horstedt verdient hatte, auf und fragte bei der Gelegenheit nach dem Jungen.
„Leider kann ich dir nichts sagen. Hier rennen viele Jungen und Menschen herum. Gut möglich, dass ich ihn gesehen hab. Aber wann und wo, das kann ich dir unmöglich sagen.“ Die Worte schienen ernsthaft betroffen zu klingen und ich bedankte mich für die Anteilnahme. Also ging ich weiter im Dorf umher.
Nervös spielte ich mit der Kugel in meiner Tasche, um mein Schuldgefühl zu unterdrücken. Doch alles brachte nichts, ich fühlte, dass der Junge, wenn ihm was passieren würde, wegen mir leiden musste. Ich lief allein und trübsinnig weiter, bis mich ein Ruf aufblicken ließ.
„He, du. Komm her. Der Junge ist hier“
Der Ruf kam aus einer finsteren Gasse. Zuerst zögerte ich. Es wäre schon sehr fahrlässig von mir, einfach dorthin zu gehen. Meuchelmörder und andere finstere Gestalten könnten mir dort auflauern.
Und doch, es war, als wäre ich nicht Herr über meine Bewegungen, denn schon lief ich in Richtung Gasse.