Quellen sinnvollen Lebens - Elisabeth Lukas - E-Book

Quellen sinnvollen Lebens E-Book

Elisabeth Lukas

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Beschreibung

Wer ist ganz mit sich und seinem Leben zufrieden? Wer kennt nicht das "Hätte ich …", "Wäre doch …"? Elisabeth Lukas gibt in sieben Anläufen kurzweilig und fundiert Hilfestellungen, das eigene Leben neu anzuschauen, Potenziale zu erkennen - und die Geschichte des eigenen Lebens neu (weiter-) zu schreiben. Sie weiß aus einer schier endlosen Fülle professionell begleiteter Schicksale: Jedes Leben in jedweder Situation ist "sinn-trächtig" und birgt noch nicht gehobene Möglichkeiten! Aus dem Inhalt: Kraft - aus der Philosophie, der Sinnfindung, der Literatur, der Logotherapie, der Wissenschaft, dem Glauben, der Stille.

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Elisabeth Lukas

Quellen sinnvollen Lebens

Elisabeth Lukas

Quellen

sinnvollen

Lebens

Woraus wir Kraft schöpfen können

Aus der Reihe: LEBENSWERT!

2014, 1. Auflage

© Alle Rechte bei Verlag Neue Stadt GmbH, München

Umschlaggestaltung unter Verwendung eines Fotos von

Stefan Liesenfeld

Gestaltung und Satz: Neue-Stadt-Grafik

Druck: fgb – Freiburger Graphische Betriebe, Freiburg i. Br.

ISBN 978-3-7346-1002-8

Inhalt

Kraft schöpfen aus der Philosophie – Der hohe Rang der Werte

Kraft schöpfen aus der Sinnfindung – Eine nie versiegende Quelle

Kraft schöpfen aus der Literatur – Die Faszination des Lesens

Das verborgene Versprechen – Geschichten mit Heilkraft

Kraft schöpfen aus der Logotherapie – Eine alternative Psychotherapie

Vom Warum zum Worum unserer Sorgen – Wege aus der Angst

Kraft schöpfen aus der Wissenschaft – „Blick zurück im Zorn“?

Kraft schöpfen aus dem Glauben – Die Macht des Gebets

Kraft schöpfen aus der Stille – Im Interview mit Michael Ragg

Die Autorin und ihr Werk

Kraft schöpfenaus der Philosophie

Der hohe Rang der Werte

Es ist eine der großen Aufgaben der Philosophie, Trösterin der Menschen zu sein. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, entwirft sie Theorien der Weltzusammenhänge. Es kann spannend sein, sich in einer stillen Stunde mit solchen Theorien zu beschäftigen, um schlussendlich eine eigene Lebensphilosophie zu entwickeln, die Halt gibt, wenn er am nötigsten ist. Die folgende Gegenüberstellung zweier fundamentaler philosophischer Sichtweisen soll dazu animieren.

Unter den philosophischen und religiösen „Bildern“ der Gegenwart befindet sich eines, das von bedeutenden Denkern angedacht und weitergesponnen wurde, nämlich die Polaritätsphilosophie. Ihr zufolge existieren von jeder Erscheinung der menschlichen Vorstellungswelt zwei polare Hälften („Yin Yang“), die einander gegenseitig begründen und wechselseitig bedingen. Angefangen beim Ein- und Ausatmen oder bei Spannung und Entspannung bis hin zu Wahrheit und Irrtum oder Leben und Tod pendelt alles in dieser „Zweiheit“, in die es – so eine der Hauptinterpretationen – durch die Spaltung einer Ur-Einheit gelangt sei. „Polare Struktur und Dynamik zeugen gleichsam vom Schmerz der Spaltung der Ur-Eins und vom Bestreben zur Wiedervereinigung“, heißt es etwa bei Bijan Amini, einem Vertreter der Polaritätsphilosophie.

Am Anfang stand demnach die Ur-Einheit, und am Ende solle die Wiedervereinigung der beiden Polhälften zu einer Ganzheit stehen. Dazwischen liege die Polarität, in der sich unser Seins- und Erkenntnishorizont abspiele. Amini leitete daraus ab, dass auch jede Lebenskrise Gefahr und Chance in sich berge und dementsprechend mit stumpfsinniger Verzweiflung oder mit sinnorientiertem Wachstum beantwortet werden könne, je nachdem, welcher der beiden Pole im Visier des Begreifens einer Person liege. Er meinte, man solle jedes kritische Geschehen als die „nur“ polare Hälfte eines Lebensgeschehens betrachten. Das eigene Reifen bestehe dann im Suchen und Deuten und Finden der anderen Hälfte. Im Idealfall solle eine betroffene Person selber die Geschichte ergänzen und vollenden.

Bijan Amini erläuterte seine Thesen auf einer Psychotherapie-Tagung in Davos 1996 anhand eines bewegenden Filmbeispiels: Zum sterbenden Gandhi kam ein Hindu, der ein Muslimkind getötet hatte aus Rache für den Mord an seinem Sohn, den die Muslime zuvor umgebracht hatten. Der Teufelskreis zwischen empfangenem und ausgeteiltem Schmerz im tödlichen Verfangensein zwischen Leid und Schuld schien aussichtslos. Die Krise war perfekt. Dennoch hatte sie noch eine Chance: eine ganz andere Seite, einen „Gegenpol“, wie Amini erläuterte. Gandhi brachte ihn in seinem Rat an den Hindu auf den Punkt: „Ich weiß einen Weg, der dich aus deiner Qual herausführt. Suche ein Kind, das keine Eltern mehr hat, dessen Vater und Mutter umgekommen sind, einen Jungen ..., und behandle ihn wie deinen Sohn. Er soll ein Muslim sein, hörst du? Und erziehe ihn auch dementsprechend!“

Im Kontext des Beispiels verwies Bijan Amini auf Viktor E. Frankl, der in seinem Leben und Werk dargelegt hat, dass es kein noch so hartes Schicksalsereignis gibt, dem der Mensch nicht einen Sinn abgewinnen könne. „Je schwieriger ein Sinnrätsel zu lösen ist, umso größer ist die Herausforderung für das Bewusstsein, das heißt, umso größer ist die Reifungschance des Menschen“, so Amini. Dagegen ist gewiss nichts einzuwenden.

Die Lösung des obigen „Hindu-Rätsels“ mutet geradezu „klassisch“ an im Franklschen Sinne. Schuld kann nur getilgt werden mittels Reue und Wiedergutmachung, wobei die Wiedergutmachung in Ausnahmesituationen durchaus an einem anderen Subjekt oder Objekt erfolgen darf als an demjenigen, das man geschädigt hat. Ein getötetes Kind ist ja durch nichts zu ersetzen. Nichts kann an ihm jemals wiedergutgemacht werden. Und dennoch ... Die Liebe und Sorgfalt einem anderen, heimatlosen Kind gegenüber mag, auf die Waagschale ehrlicher und echter Reue geworfen, schwer wiegen; so Gott will, schwer genug wiegen, um den bohrenden Schmerz in eine sanfte Trauer zu verwandeln, mit der man leben kann.

Allerdings hätte Viktor E. Frankl die theoretische Untermauerung jenes Gandhi-Rates durch die Polaritätsphilosophie nicht mitgetragen. Denn diese suggeriert, vereinfacht ausgedrückt, ein Nebeneinander zweier gleichwertiger Pole, eben zweier Hälften, in die die Ur-Einheit einst zerbrochen sein soll. Wie eine Nuss, die in zwei Schalen zerbirst, wenn man darauf tritt. Entdeckt man nun die zweite, verloren gegangene bzw. weggesprengte Hälfte, lässt sie sich mit der ersten Hälfte wieder zur Einheit verbinden, und alles ist „gut“, weil es dem heilen Urzustand entspricht.

Freilich gibt es ein solches Nebeneinander zweier gleichwertiger Pole. Das bereits erwähnte Ein- und Ausatmen oder der Rhythmus von Spannung und Entspannung gehören dazu. Tag und Nacht, Mann und Frau, Hitze und Kälte sind weitere Pol-Paare unter vielen. Aber mit Lebenserhaltung und Lebensvernichtung, Wahrheit und Irrtum, Krieg und Frieden, Liebe und Hass und Ähnlichem hat es wohl eine andere Bewandtnis. Paare der letzteren Kategorie stehen nicht gleichwertig „nebeneinander“, sondern in einem „Übereinander“-Verhältnis, und sind daher eigentlich auch keine Paare und schon gar keine Pole. Auf sie trifft der berühmte Spinozasatz zu: „Die Wahrheit ist die Norm ihrer selbst und des Falschen“ („veritas norma sui et falsi est“), was bedeutet, dass es sich bei ihnen jeweils um einen einzigen Wert handelt, der in sich und aus sich heraus da ist, also nicht erzeugt wird im Kontrast zu einem Unwert als Gegenpol, sondern „seine eigene Norm“ ist, seine eigene ontologische Größe – eben Werthaftigkeit – besitzt. Der Mann ist kein höherer Wert als die Frau, aber die Lebensbewahrung ist ein höherer Wert als die Lebensvernichtung – ein Gespür davon hat die Natur allen ihren Lebewesen in Form eines unüberbietbaren Überlebenswillens eingehaucht. Analog ist die Wahrheit der höhere Wert gegenüber dem Irrtum, die Liebe der höhere Wert gegenüber dem Hass usw. Der jeweilige Wert, der aus sich selbst heraus existiert, ist sozusagen der favorisierte Pol, der ethisch vertretbare, der vom Logos gezeichnete Pol, das Soll, auf das alles Sein zuläuft. Und was ist der andere „Pol“? Eine Null. Er ist aus sich selbst heraus nichts. Er ist nur die Abweichung vom Wert, die Schwankungsbreite, in der ein Wert sich selbst verfehlt. Die Missachtung des Lebens ist die Abweichung von der uns aufgetragenen und abverlangten Wertschätzung des Lebens. Der Irrtum ist die verfehlte Wahrheit. Der Hass ist die misslungene Liebe. Der Widersinn ist das Nein zum Sinn. Derlei „Gegenpole“ sind keine Pole, sie entpuppen sich als bloße „Neins“ zu den Polen. Sie sind die faulen Anteile der Nüsse und nicht ihre Hälften. Existiert der Wert nicht, existiert die Abweichung von ihm auch nicht (ohne Sonne gibt es keinen Schatten); aber existiert die Abweichung nicht, dann existiert der Wert noch immer (auch ohne Schatten gibt es Sonne).

Baruch de Spinoza hat den dargestellten Sachverhalt mit der Unumkehrbarkeit von Aussagen einleuchtend illustriert. Der Irrtum ist die Abweichung von der Wahrheit, aber die Wahrheit ist nicht die Abweichung vom Irrtum. Die Kenntnis des Irrtums erzählt nichts über die Wahrheit. Die Kenntnis der Wahrheit hingegen erzählt alles über den Irrtum. Ein banales Beispiel: Wenn jemand weiß, dass ein bestimmter Tisch nicht 100 Euro kostet, dann kennt er noch lange nicht den wahren Preis dieses Tisches. Wenn jemand hingegen weiß, dass der besagte Tisch 130 Euro kostet, dann kennt er gleichzeitig auch die Menge sämtlicher falschen Preise (der Tisch kostet nicht 129 Euro, nicht 128 Euro ...). Das Wissen um den wahren Preis ist also umfassender. Wie könnten richtig und falsch dann polare Begriffe sein? Das Richtige ist das Maß des Falschen und nicht umgekehrt.

Genauso ist es mit den Lebenskrisen. Sie sind Gefahr und Chance, das stimmt, aber Gefahr und Chance stehen nicht in Egalität „nebeneinander“. Die Chance rangiert „höher“. Die Chance ist das Wesentliche, auf das jede Krise hingeordnet ist. Sie ist die verborgene Wertgröße, die in der Krise schlummert. Wer die Chance erkennt, begreift auch die Gefahr, der er im Ergreifen der Chance entrinnt. Wer die Gefahr erkennt, muss die Chance zum Entrinnen noch lange nicht begriffen haben. Die Gefahr, in einer Krise seelisch zu verunglücken, ist die Abweichung vom Sinn der Krise, ist das Nicht-Verstehen des ihr innewohnenden Sinnpotenzials bzw., in den Worten Bijan Aminis, das Nichtlösen ihres Sinnrätsels. Gerade das Gandhi-Beispiel verdeutlicht dies exzellent. Im Film ruft der verzweifelte Hindu dem Altmeister Gandhi entgegen: „Ich ende mal wie ein Tier ... Ich tötete ein Kind. Ich habe ein Kind getötet, verstehst du?“ Er hat die Gefahr der Krise glasklar vor Augen: den Untergang des Menschlichen (wie ein Tier!) in der Schuld. Aber er sieht deswegen noch keine Chance. Erst als ihm eine solche eröffnet wird, weiß er um beides: Untergang und Auferstehung. Und gleichzeitig weiß er: Seine ganze Krise zentriert sich um einen Wert, einen einzigen „Pol“, einen Mittelpunkt: die Auferstehung des Menschlichen. Alles andere ist – null und nichtig.

Anliegen eines fruchtbaren Hilfs- und Beratungskonzepts kann es daher nur sein, den jeweiligen Wert aufzuzeigen, der in der Abweichung von ihm gefährdet ist. Ihr Anliegen kann es nicht sein, halbe Geschichten zu ganzen zu machen, wie es die Polaritätsphilosophie fordert, sondern Quintessenz und Höhepunkte von Geschichten zu retten, die zu verflachen oder ihr Thema zu verfehlen drohen. Nicht im Nebeneinander ist Ergänzung nötig, sondern im Übereinander ist Erkenntnis nötig: die Erkenntnis jenes Sinnabglanzes, der in jeden kleinsten Winkel unseres Erdendaseins einfällt, in Freud und Leid, in alle polaren Widersprüchlichkeiten des Lebens, bis hinunter in die dunkelsten Ecken menschlicher Abgründe ... – immer wieder vom Logos kündend („im Anfang war der Logos“), von dem Einen („ich bin, der ich bin“), neben dem nichts steht. Denn: Alles, was steht, steht darunter. Und doch: Alles, was sich ihm zuwendet, wird – von der Abweichung „erlöst“ – in seine Gnade aufgenommen.

Kraft schöpfenaus der Sinnfindung

Eine nie versiegende Quelle

Der berühmte Seelenarzt Viktor E. Frankl hat sich in der von ihm begründeten Psychotherapierichtung „Logotherapie“ auf Sinn- und Wertfragen konzentriert. Es war geradezu eine Pionierleistung von ihm, entgegen den Trends des heraufdämmernden 20. Jahrhunderts, die sich um die Erlangung von Glück, Lust und Macht drehten, das Streben des Menschen nach einem sinnerfüllten Leben hervorzuheben und in die Heilungspläne für seelisch kranke und verzweifelte Menschen einzubauen. Erst sehr viel später, gegen Ende des 20. Jahrhunderts, wurde in Querschnitt- und Langzeituntersuchungen bestätigt, dass Menschen, die ihr Leben als sinnvoll erachten, Problem- und Leidsituationen wesentlich besser gewachsen sind als solche, die keinerlei Sinnperspektive, ja nicht einmal eine gewisse Wertrangordnung für sich entdecken können.

Dabei ist es mit dem Sinn wie mit der Luft: Man bemerkt ihn bzw. sie erst im Fehlen. Ist genügend Luft zum Atmen vorhanden, denkt niemand an die Luft, es sei denn, sie ist beispielsweise unangenehm schwül. Genauso wird Lebenssinn nicht bedacht: Man tut, was man tut, wenn man es für sinnvoll hält, und geht im Tun völlig auf. Es sei denn, dem Tun haftet ein fragwürdiger Beigeschmack an, der die Sinnhaftigkeit des Tuns in Zweifel zieht. Plötzlich kommt man ins „Keuchen“, um auf das Luftbeispiel anzuspielen. Etwas im Menschen sträubt sich beim weiteren Tun und ruft nach Klärung. Vielleicht nach Veränderung. Vielleicht nach Aufhören. Und kann man oder wagt man dies aus irgendeinem Grunde nicht, schnürt sich die Seele (wie in einem „Erstickungsanfall“) zusammen. Ja, Sinn ist bestens vergleichbar mit der Luft: unsichtbar, kaum thematisiert, kostenlos, unbezahlbar, lebensnotwendig.

Die Studien, die Frankls Thesen bestätigt haben, haben ein Weiteres ans Tageslicht gebracht: Es gibt einen gewissen Unterschied bezüglich der Sinnfrage zwischen den Generationen. Jüngere Menschen sind sehr viel stärker noch auf der Suche nach Sinn in ihrem Leben als ältere Menschen, die bereits vielfältig fündig geworden sind. Das ist ihr nicht zu unterschätzender Risikofaktor. Ältere Menschen wiederum müssen sehr viel öfter bereits gefundene Sinngehalte in ihrem Leben loslassen als jüngere, die diesbezüglich noch flexibel sind. Das ist der nicht zu unterschätzende Risikofaktor der Älteren. Diese Risikofaktoren mischen bunt mit bei allen Krisen und Konflikten, in die ein Mensch geraten kann, bei Midlife-Krisen, Glaubenskrisen, Identitätskrisen, Partnerschaftskrisen und so fort. Im „luftverdünnten“ Raum sinken die Bewältigungsenergien, wie man von den Extrembergsteigern weiß.

Wie kommt man also „wieder zu Atem“, zum „seelischen Aufatmen“, wenn einem einmal „die Luft“ weggeblieben ist? Betrachten wir zunächst die Situation der jüngeren Menschen, wobei sich das jugendliche Alter in unserer Zeit gestiegener Lebenserwartung bis an die 40-Jahr-Grenze heranschiebt. Schon 1971 habe ich mithilfe eines von mir entwickelten Testverfahrens (dem „Logo-Test“) an der Universität Wien nachweisen können, dass das Gefühl „innerer Sinnerfüllung“ bei den 30- bis 40-Jährigen im Durchschnitt rapide zunimmt. Bis dahin dürften die meisten Menschen ihren Platz, ihre Interessensgebiete, ihre berufliche Wahl, ihre familiäre Zugehörigkeit einigermaßen gefunden haben. Freilich nicht ohne Umwege und Sackgassen, aus denen sie mühsam herausfinden mussten. In unserer modernen Gesellschaft, in der die Lebenswege der Heranwachsenden nicht mehr von vornherein festgelegt sind, wie es in früheren Jahrhunderten der übliche Fall war, darf man den Jungen ein paar Kurskorrekturen zubilligen, auch wenn diese manchmal recht ruppig verlaufen. Die Irrfahrten junger Menschen haben ihren tieferen Sinn für später, indem sie Erfahrungen vermitteln, die die Gereiften vor Wiederholungsfehlern schützen können.

Doch der Sinnfindungsprozess muss vorangehen. Ein Steckenbleiben auf halbem Wege, in den Neben- und Sackgassen ist nicht bekömmlich. Seltsamerweise zeigen die Statistiken, dass es die weiblichen jungen Menschen dabei (immer noch) eine Nuance schwerer haben als ihre männlichen Gleichaltrigen. Das liegt daran, dass die jungen Burschen und Männer gleichsam einen uralten genetischen „Code“ in sich tragen, Sinn suchend zu neuen Gestaden aufzubrechen. Ihr Auszug aus der Herkunftsfamilie hinein in das Abenteuer eigenen Schaffens und Wirkens liest sich in ihrer Seele wie ein verbrieftes Recht und eine unumstößliche Pflicht. Die jungen Mädchen und Frauen hingegen müssen sich daraufhin neu orientieren. Dasjenige, was seit undenklichen Zeiten ihre „Sinndomäne“ gewesen ist, ein Dasein für Mann und Kinder, im Haus und Haushalt, hat an Attraktivität und Notwendigkeit eingebüßt. Großfamilien gibt es bei uns kaum mehr, das „Mütterchen am Herd“ hat ausgedient, das Selbstbewusstsein der Damen ist parallel mit Schulabschlüssen und verantwortlichen beruflichen Positionen gewachsen, und so stünde der Gleichberechtigung nichts im Wege, wenn da nicht das Problem mit dem Nachwuchs wäre. An diesem Stolperstein bleibt den jungen Frauen nämlich schnell „die Luft“ weg.

Denken wir an einen jungen, aufstrebenden Tenor. Er wird mit beiden Händen nach jedem vielversprechenden Bühnenauftritt greifen, der sich ihm bietet. Wozu hätte er sonst so lange studiert, täglich stundenlang geübt? Falls er verheiratet ist, ändert sich nichts daran, sollte sich ein Kind, ein zweites, ein drittes Kind von ihm ankündigen. Im Gegenteil, er wird sich noch mehr in seine Arbeit hineinknien, um die erhöhten ökonomischen Ansprüche zu befriedigen. Denken wir jetzt an eine junge, aufstrebende Sopranistin. Auch ihre Hände werden sich nach Bühnenauftritten ausstrecken. Wozu hätte sie sonst so lange studiert, täglich stundenlang geübt ... Aber sollte sich ein Kind, ein zweites Kind, ein drittes Kind bei ihr ankündigen, wird die Sache anders aussehen als beim Tenor. Die Sinnfrage wird sich rühren. Was ist jetzt sinnvoll? Singen plus Kindererziehung? Das Singen aufgeben? Kindermädchen beschäftigen? Und: Was soll geopfert werden? Die eigene Karriere, der eigene Verdienst, die Mutter-Kind-Beziehung? Bei Entscheidungen solchen Ausmaßes kann einem schon der Atem stocken! Es geistert zwar die Idee herum, künftig alle häusliche Arbeit zur Hälfte zwischen den Eltern aufzuteilen, aber ausgegoren ist diese Idee zumindest bis heute noch nicht. Es bleibt einfach ein „Mehr“ an den Frauen hängen, was sie zwar einerseits ungemein tüchtig gemacht hat (ihre Entwicklung im Laufe des letzten Jahrhunderts war geradezu gigantisch), aber andererseits permanent überfordert, nämlich in der Hinsicht, Sinn zu finden auch im Verzicht, im Opfern, in der Selbstbeschränkung angesichts von Möglichkeiten, die ihnen zuwinken würden, aber nicht in die familiäre Gesamtsituation harmonisch hineinpassen.

Ich habe das Beispiel mit der Sopranistin gewählt, weil ich einmal eine solche als Patientin hatte. Sie war noch jung und hatte bei einem Künstler-Wettbewerb den ersten Preis gewonnen. In Tränen aufgelöst saß sie bei mir, einen begehrten Fünfjahres-engagement-Vertrag aus Amerika in Händen. „In vier Monaten kommt mein erstes Kind zur Welt“, schluchzte sie. „Wenn ich von diesem Vertrag gewusst hätte ...“ Ihre Gedanken wanderten in eine bedenkliche Richtung, weshalb ich eingriff: „Auch ein Kind ist ein Engagement-Vertrag, und dies auch für mehrere Jahre. Es ist schön, dass Sie nicht ‚vertragsbrüchig’ geworden sind und ihrem Kind das Leben schenken werden ...“ „Ja schon“, sagte sie, „aber dann muss ich Amerika absagen. Und eine solche Chance bekomme ich niemals wieder.“ Abermals gab es einen Grund, sie zu loben. Sie hatte offenbar nicht vor, sich mit Kinderkrippe und wechselnden Babysittern zu behelfen. Ich bestärkte sie darin, indem ich sie mit einigen psychologischen Aspekten vertraut machte.