Rabenfeind - Andrea Gramckow - E-Book

Rabenfeind E-Book

Andrea Gramckow

5,0

Beschreibung

Freie Reichsstadt Dortmund, August 1342: Melissa befindet sich mit ihrem Vater und ihrem kleinen Bruder auf dem Weg von Köln zu ihrem Verlobten Gabriel, einem Dortmunder Kaufmann. Kurz vor dem Ziel wird der Handelszug jedoch überfallen und ein geheimnisvoll düsterer Fremder rettet sie und ihren Bruder im letzten Moment. Raban van Gehrden ärgert sich, dass ihm das Mädchen mit den kastanienroten Haaren, das er gerettet hat, nicht aus dem Sinn geht, denn er hat gerade andere Sorgen: Jemand will ihm zwei grausame Morde anhängen. Schon einmal wollte man ihn für den Tod seiner ersten Gemahlin verantwortlich machen und er fühlt sich schmerzlich daran erinnert. Ihm bleibt nicht mehr viel Zeit, seine Unschuld zu beweisen, sonst droht ihm der Galgen, aber der Unbekannte ist ihm immer einen Schritt voraus. Als sich herausstellt, dass Melissa ihn möglicherweise durch eine Zeugenaussage entlasten kann, beginnt er, sie zu suchen. Aber sie scheint spurlos verschwunden und im Haus ihres Verlobten bekommt er keine Auskunft. Als er sie schließlich findet, muss er erkennen, dass ihre Aussage sie selbst in höchste Gefahr bringen könnte. Raban muss handeln und den Täter so schnell wie möglich finden. Aber wer will ihn an den Galgen bringen und warum? Wird er es schaffen, den Unbekannten im letzten Moment doch noch zu entlarven? Und kann er Melissa beschützen und am Ende mit ihr glücklich werden?

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Inhaltsverzeichnis

Handelnde Personen

Prolog

Die Geschichte

Epilog

Nachwort mit Literaturnachweisen

In eigener Sache

Handelnde Personen

Melissa Berchtold, von Raban auch Aphrodite genannt

Raban van Gehrden, oder Abaddon, Ritter der Hölle, wenn es nach Melissa geht

Benni, fünfjähriger Lausbube und Bruder von Melissa Hilde, alte Kinderfrau und Amme von Raban Jerg von Arnstetten, Freund von Raban

Remigius von Werder, Freigraf am Hohen Blutgericht der Stadt Dortmund und damit oberster Richter

Gabriel Scherf, Verlobter von Melissa

Rafael Waldner, Gemahl von Rabans Stiefschwester Beata

Beata, seine Gemahlin

Ursel, Köchin im Hause van Gehrden

Affra, ihre Tochter

Gerwin, ein Büttel

Gerlind, Brida und Mairie, leider Opfer eines Verbrechens

Hiltrud, alternde Hübschlerin mit gutem Herz

Prolog

Zufrieden beugte er sich über das reglose Bündel Mensch, das neben einer zerschmetterten Steinfigur auf dem festgestampften Lehmboden lag. Endlich! Ein weiterer Schritt auf dem Weg in das Leben, das ihm seiner Meinung nach zustand, war getan.

Ein wohliger Schauer rieselte seinen Rücken herunter als er in das blutverschmierte Gesicht sah. Im Grunde genommen war es eine Verschwendung, dieses schöne Geschöpf seinen Plänen zu opfern. Sie sah so unschuldig und zerbrechlich aus, wie sie da lag, leichenblass und mit gebrochenen Gliedern. Als er in ihr wachsbleiches Gesicht blickte, stellte er sich vor, wie es wohl wäre, diese vollen Lippen zu küssen, in ihre Brüste zu kneifen, ihr Schmerzen zuzufügen und das Entsetzen in ihren Augen zu sehen, wenn er sie schließlich gegen ihren Willen nahm. Er liebte dieses Spiel mit der Angst, aber bisher hatte er diese Seite seines Wesens nur mit den Huren ausgelebt, nach denen kein Hahn krähte, wenn sie bei seinen sadistischen Spielchen Schaden nahmen. Leider empfand er nur dann diese alles erlösende Lust, wenn die Angst der Mädchen echt war, unverhohlen und verzehrend. Es wäre interessant gewesen zu sehen, ob in Gerlins Augen auch diese Angst zu lesen gewesen wäre. Aber diese Chance hatte er vertan, sie lag tot vor ihm und er würde nie erfahren, ob sie dieses befriedigende Entsetzen empfunden hätte, wenn er...

Aber er schweifte ab. Das durfte nicht sein. Er musste sich konzentrieren, wenn er sein Ziel erreichen wollte.

Immerhin hatte er auch Opfer gebracht, hatte eine Frau geheiratet, die ihm das Vermögen verschaffen sollte, das er für das Leben brauchte, das ihm vorschwebte.

Eine Frau, die im Bett so langweilig war wie abgestandenes Bier, die willig stillhielt, wenn er sie bestieg, aber das befriedigte ihn nicht. Er brauchte mehr, brauchte es härter, wollte quälen und Schmerzen bereiten, nur das verschaffte ihm die Erleichterung, die er zur Entspannung brauchte! Sie war nur Mittel zum Zweck, nur ihr Vermögen ließ ihn über ihre Unzulänglichkeiten hinwegsehen. Er spürte, wie sich sein Innerstes zufrieden entspannte. Nicht mehr lange, dann würde auch sie den Weg gehen, den die hübsche Gerlin gerade beschritten hatte, dann war er frei, reich und frei! Sie war nur Mittel zum Zweck, nur ihr Vermögen ließ ihn an ihrer Seite ausharren. Denn er wollte mehr, wollte alles, wollte sich nicht jedes Mal Vorhaltungen machen lassen, wenn er aus dem Hurenhaus nach Hause kam. Dieses zänkische Weib schaffte es, dass die tiefe Befriedigung, die er nach diesen Besuchen empfand, schnell wieder verflog. Ein paar Mal hatte er sie daraufhin geschlagen und mit Gewalt genommen, um dieses Gefühl zurückzuholen, das sie vertrieben hatte. Aber sie hatte nur stillgehalten und sich weinend in ihr Schicksal ergeben!

Er erschrak, als die junge Frau stöhnte und die Augen aufschlug. Ihr Blick irrte irritiert umher und in ihren veilchenblauen Augen konnte er Schmerz und Verwirrung lesen. Ihr rechtes Bein erschien unter ihren Röcken zwar gebrochen abgewinkelt zu sein und ihr rechter Arm sah ebenfalls seltsam verrenkt aus, aber dann registrierte er, dass sie entgegen des ersten Anscheins nur eine kleine Platzwunde an der Schläfe hatte, aus der zwar Blut sickerte, die aber ziemlich sicher nicht ihren Tod herbeiführen würde. Inwieweit sie möglicherweise tödliche innere Verletzungen haben würde, vermochte er nicht abzuschätzen, aber er musste ganz sicher sein. Als ihr verschwommener Blick auf ihn fiel und sie ihn erkannte, sah er einen Funken Hoffnung aufblitzen.

„Helft mir.“, brachte sie mühsam hervor und versuchte, sich aufzurichten.

Kurz blickte er sich um, dann hob er die schwere, sorgsam modellierte Heiligenhand auf, die neben den zerschmetterten Überresten der imposanten Sandsteinfigur lag und holte aus. In diesem Augenblick erschien er der jungen Frau wie der Teufel persönlich, sein schwarzer Umhang flatterte um ihn, wie die Schwingen des Todes und seine Augen versprühten eine tödliche Entschlossenheit.

Ihr blieb nur der Bruchteil eines Augenblicks, um die Situation zu erkennen und als der schwere Steinbrocken auf ihren Kopf traf, hatte die schreckliche Erkenntnis den Funken Hoffnung längst in Entsetzen verwandelt!

Zwischen Köln und Dortmund, August 1342

„Melli, wann sind wir da?“, nuschelte der kleine Junge, heftig an seinem Daumen lutschend.

„Ich weiß es nicht, Benni!“ Liebevoll zog seine Schwester, auf deren Schoß er saß, den Daumen aus seinem Mund. Die zierliche junge Frau mit den kastanienroten Locken strich ihrem Bruder zärtlich über den blonden Schopf. Wenn man beide so nebeneinander sah, würde man nie im Leben glauben, dass sie Geschwister waren. Benjamin, gerade einmal fünf Jahre alt und blond, und Melissa, achtzehn Jahre alt, mit Haaren, rot wie Kastanien im Sonnenlicht.

Allerdings hatten beide die gleichen grünen Augen, die waren ein Erbteil ihrer Mutter.

„Benjamin, wie oft soll ich dir noch sagen, dass dich niemand verstehen kann, wenn du deinen Daumen aufisst!“ Liebevoll schalt Melissa den Kleinen, der unruhig auf ihrem Schoß herumrutschte.

„Melli, ich hab Hunger! Und Durst! Und ich muss mal...“ Seufzend setzte Melissa ihren Bruder auf den harten Boden des Fuhrwerks, auf dem sich außer ihnen beiden auch noch etliche Ballen sündhaft teurer Seide befanden, die Melissas Vater erst kürzlich auf der Messe in Bozen erstanden hatte. Sie waren auf dem Weg nach Dortmund, wo Melissa in wenigen Wochen ihren Verlobten heiraten sollte. Auch die Truhe mit ihrer Aussteuer stand auf der Ladefläche, während die schwere, eisenbeschlagene Kiste mit der Mitgift, gut gesichert und vor neugierigen Blicken sorgsam verborgen, in einem doppelten Boden unter dem Sitzbrett verstaut war. Die Seide wollte ihr Vater bei der Gelegenheit auf dem Markt in Dortmund anbieten, denn zur Zeit war in Köln ein einträglicher Handel aufgrund eines ungewöhnlichen Hochwassers nicht möglich. Ihren zukünftigen Gemahl hatte Melissa noch nie gesehen, sie wusste nur, dass er etwa zehn Jahre älter war als sie und bereits einmal verheiratet gewesen war. Seine Gemahlin war im Kindbett gestorben und mit ihr auch das Kind. Gabriel Scherf hatte es nach Aussage ihres Vaters zu einigem Wohlstand gebracht, weshalb sie sich glücklich schätzen sollte, eine so gute Partie zu machen.

„Melli...“, quengelte Benjamin.

„Schon gut, ich frag mal Vater, ob wir kurz anhalten können!“ Melissa krabbelte über die sorgfältig in grobes Tuch eingeschlagenen Seidenballen und schob die Plane aus Wachstuch, die zum Schutz vor Regen über das Gefährt gespannt war, zur Seite.

„Vater, Benni muss mal! Können wir einen Augenblick anhalten?“, fragte sie den eingefallenen Mann, der entspannt die Zügel hielt. Fast schien es so, als wäre er kurz eingeschlafen, denn als Melissa ihn ansprach, zuckte er merklich zusammen.

„Äh, was? Oh, Mel, was hast du gesagt?“ Er rieb sich tatsächlich über die Augen, als wolle er so den letzten Rest Schlaf vertreiben. Melissa lächelte in sich hinein.

Ihr Vater, Hermann Berchtold, war bereits Mitte Fünfzig und in der letzten Zeit mehrten sich immer häufiger die Anzeichen dafür, dass er längst kein junger Mann mehr war. Genaugenommen war er seit dem Tod von Melissas und Bennis Mutter vor vier Jahren immer mehr in sich zusammengefallen. Bei Melissas Geburt war ihre Mutter gerade einmal sechzehn Jahre alt gewesen. In den folgenden Jahren hatte sie mehrere Kinder verloren, bis vor fünf Jahren Benni auf die Welt gekommen war. Die Freude über den Stammhalter währte allerdings nur kurz, denn schon ein knappes Jahr nach seiner Geburt war ihre Mutter an einem Fieber gestorben, was ihr Vater bis heute nicht verwunden hatte. Hermann hatte seine junge Gemahlin aufrichtig geliebt und auch die junge Frau war ihrem viel älteren Gemahl mit der Zeit sehr zugetan gewesen.

Hermann Berchtold zuckte bedauernd die Schultern.

„Mel, ich fürchte, wir können nicht schon wieder anhalten. Hofmeister“, er deutete mit dem Kinn auf den vor ihm fahrenden Wagen, auf dessen Bock ein kräftiger Mann mit energischen Gesichtszügen eben die Peitsche auf den Rücken der unwillig den Kopf schüttelnden Ochsen knallen ließ, „ist ohnehin schon verstimmt, dass wir bereits so viel Zeit verloren haben.

Du wirst mit Benni mal wieder absteigen müssen.“ Er seufzte, denn die Reise mit seinem kleinen Sohn gestaltete sich viel schwieriger, als er geglaubt hatte.

Aber er konnte den Kleinen nicht zurücklassen, denn in Köln gab es keine Zukunft für die Familie. Er hatte in den Jahren seit dem Tod seiner geliebten Gemahlin das Geschäft viel zu sehr vernachlässigt, hatte das für einen erfolgreichen Tuchhandel notwendige Gespür für einträgliche Abschlüsse vermissen lassen. Zu sehr hatte ihn die Trauer um seine Gemahlin in einen dunklen Strudel aus Schmerz und Gleichgültigkeit gerissen.

Und so hatte er die Verlobung seiner Tochter mit dem angesehenen Dortmunder Kaufmann zum Anlass genommen, all sein Hab und Gut in Köln zu verkaufen und mit dem letzten Geld die Mitgift und diese sündhaft teuren Seidenstoffe zu finanzieren, die ihm nun einen Neustart in der für ihren Reichtum viel gerühmten Freien Reichsstadt Dortmund ermöglichen sollten. Darüber hinaus war ein weiterer Umstand hinzugekommen, der ihm einen Verbleib in Köln unmöglich machte und auch der Grund für die Verzögerung dieser Reise war. Ursprünglich hatten die Teilnehmer an diesem Kaufmannszug vorgehabt, sich von Köln aus bis Duisburg auf dem Rhein einzuschiffen, was erheblich sicherer gewesen wäre, als zu Land zu reisen. Zu Land war man viel häufiger Angriffen durch herum marodierende Räuber ausgesetzt. Es gab sogar Passagen auf dem Landweg, die kein Kaufmann ohne die Begleitung von teurem Geleitschutz durch Söldner in Angriff nahm! Seit einiger Zeit gab es aber keine Möglichkeit mehr, den Rhein gefahrlos zu befahren, denn ein Hochwasser, wie die Gegend es noch nie gesehen hatte, erlaubte es weder den flachen, mit wenig Tiefgang gebauten Oberländern, ihre wertvolle Fracht über diese Wasserstraße zu verschiffen, noch war der Rhein mit Flößen oder Kähnen schiffbar, da er sich in ein reißendes Ungeheuer verwandelt hatte. Angefangen hatte es bereits im Februar, als der Rhein das erste Mal durch die beginnende Schneeschmelze Hochwasser führte, was freilich noch nicht so ungewöhnlich war und niemanden ernsthaft beunruhigte. Als die Regenfälle dann aber auch im folgenden Frühjahr nicht aufhörten und dafür sorgten, dass die gleichbleibend hohen Pegelstände das Aussähen des Korns auf den rheinangrenzenden Feldern unmöglich machten, hatten die ersten Bauern bereits von einer Strafe Gottes gesprochen. Der heiße, trockene Sommer, der folgte, hatte dann dazu beigetragen, dass man die Nöte des Frühjahres schnell vergaß, denn nun sorgten die trockenen, rissigen Böden für das andere Extrem. Ein Unwetter, das etwa Mitte Juli für vier Tage und Nächte über die Region hereinbrach, sorgte dafür, dass die ausgetrockneten Böden die Wassermassen nicht aufnehmen konnten und so die Flüsse über die Ufer traten. Hermann hatte Gerüchte gehört, dass im Mainzer Dom das Wasser etwa hüfthoch gestanden haben sollte und man in Köln mit dem Boot über die Stadtmauer fahren konnte. Ganze Dörfer sollten einfach weggeschwemmt und von der Landkarte verschwunden, tausende Menschen und unzähliges Vieh in den Fluten umgekommen sein. Inwieweit diese Schilderungen der Wahrheit entsprachen konnte er nicht sagen, denn mit eigenen Augen hatte er es nicht gesehen. Allein für Köln konnten die Berichte aber stimmen, denn selbst sein Haus, das weit ab vom Rheinufer in der Nähe von Sankt Aposteln stand, hatte das Wasser erreicht und zumindest den Boden des Erdgeschosses bedeckt. Das hatte schließlich den Ausschlag für seine Entscheidung, Köln den Rücken zu kehren, gegeben, denn eine aufwändige Sanierung seines Kontors konnte er sich nicht leisten. Und so hatte er das Haus für einen Spottpreis verkauft, denn der neue Eigentümer zog natürlich den Schaden an dem Gebäude vom Kaufpreis ab. Hermann sah sich heute, knapp vier Wochen nach den dramatischen Ereignissen, in seinem Entschluss, Köln zu verlassen bestärkt, denn auch nachdem die größten Wassermassen inzwischen abgeflossen waren, ahnte man, dass auf den verschlammten Feldern und Wiesen auf lange Zeit kein Ackerbau möglich sein würde. Der fruchtbare Boden und mit ihm die Ernte war fortgeschwemmt worden und zurück blieb eine zähe, braungraue Masse von Schlamm und Unrat. Man musste kein Prophet sein, um zu erahnen, dass dem Hochwasser nicht nur in diesem Jahr eine Hungersnot folgen würde, denn viele Menschen hatten alles verloren. Und hungernde Menschen hatten andere Sorgen, als neues Tuch für Kleidung zu kaufen! Und so richtete Hermann seine gesamten Hoffnungen auf einen Neuanfang in Dortmund, das aufgrund seiner Lage wahrscheinlich von dem größten Hochwasser verschont geblieben sein sollte. Von den finanziellen Nöten ihres Vaters wusste Melissa freilich nichts, vor ihr hatte er seine Sorgen stets zu verbergen gewusst.

Aber er würde ihr noch vor der Hochzeit die Wahrheit sagen müssen, denn er brauchte die Hilfe ihres Gemahls, um wieder auf die Füße zu kommen. Mit Gabriel hatte er bereits über seine prekäre Lage gesprochen und dieser war bereit gewesen, seinem zukünftigen Schwiegervater gegen eine hohe Beteiligung an den in beider Namen abzuschließenden Geschäften zunächst unter die Arme zu greifen. Er hatte Gabriel zufällig auf einer Handelsmesse in Frankfurt kennengelernt, bei der beide gehofft hatten, neue Geschäftspartner zu akquirieren. Sie waren einander durch einen befreundeten Tuchhändler vorgestellt worden und hatten recht schnell beschlossen, sich nicht aus den Augen zu verlieren, da sich beide hilfreiche Kontakte von dem jeweils anderen erhofften. Nach einigen Gläsern Wein und nachdem Hermann von seiner äußerst hübschen Tochter geschwärmt hatte, waren beide Männer schließlich überein gekommen, ihre neu entstandene Geschäftsbeziehung auf verwandtschaftliche Füße zu stellen und Melissa mit Gabriel zu verloben. Dabei lockte Hermann seinen zukünftigen Schwiegersohn mit der Ankündigung einer hohen Mitgift, von der er allerdings zu dem Zeitpunkt noch gar nicht wusste, wie er diese auftreiben sollte. Aber Gabriel biss an und alles Weitere würde sich dann schon finden. Und so hatte er bei seiner Rückkehr stolz verkündet, dass es ihm gelungen war, eine gute Partie für Melissa auszuhandeln, was diese allerdings mit gemischten Gefühlen zur Kenntnis genommen hatte, denn immerhin hatte sie diesen Gabriel noch nie gesehen.

Aber sie war dazu erzogen worden, einmal zum Wohle des Geschäftes eine Ehe einzugehen. Dabei war es nicht von Belang, ob sie ihren Gemahl liebte oder nicht.

Seufzend kletterte Melissa von dem Wagen und bedeutete ihrem kleinen Bruder, ihr zu folgen.

„Komm, Benni, Vater kann nicht anhalten. Wir müssen uns beeilen, sonst verlieren wir den Anschluss.“

„Melli, darf ich Leo mitnehmen? Er ist so stark und kann im Wald auf uns aufpassen!“ Zärtlich drückte Benni eine Holzfigur an sich, die einen Löwen darstellte und die etwa so groß wie eine Männerhand war. Die ehemals fein geschnitzte Mähne war schon ziemlich abgegriffen und erinnerte Melissa eher an einen Helm als an den beeindruckenden Kopfschmuck dieser fremdländischen Tiere, aber Benni liebte dieses Spielzeug heiß und innig und ließ seinen Leo niemals aus den Augen.

„Natürlich kannst du Leo mitnehmen. Wir können in diesem dunklen Wald wahrlich einen mutigen Aufpasser gebrauchen!“ Liebevoll strich Melissa ihrem Bruder durch das wirre blonde Haar und hob ihn vom Wagen. Sie hatten sich den ganzen Weg lang an den westlichen Ausläufern des Sauerlandes orientiert und waren so bis zur Burg Volmarstein gelangt, an deren Fuße sie in dem einzigen Wirtshaus des kleinen Dörfchens die Nacht verbracht hatten. Melissa hatte sich mit Benni zeitig zurückgezogen, aber die anderen hatten wohl noch lange beisammen gesessen und neue Bekanntschaften geknüpft, denn am Morgen hatte sich ihre Reisegruppe um zwei Männer vergrößert. Da diese offensichtlich ortskundig waren, hatte man beschlossen, die im Tal fließende, ebenfalls Hochwasser führende Ruhr über eine Furt westlich der Burg Wetter zu passieren, die zum Herrschaftsbereich der Grafen von der Mark gehörte. Überhaupt befand sich der Kaufmannszug bereits seit einiger Zeit auf dem Grund und Boden der Grafenfamilie, was an den zahlreichen Zollstellen zu erkennen war, die im Namen derer von der Mark die zum Teil horrenden Abgaben kassierten.

Der gewählte Weg hatte darüber hinaus den Vorteil, dass die strengsten Steigungen, die weiter östlich auf die Reisenden warteten, umgangen werden konnten, obwohl auch hier das Ardeygebirge den ein oder anderen Hügel in die Landschaft schob. Nachdem sie die schlammigen Steigungen der Freiheit Wetter ohne Zwischenfälle überwunden hatten, hatten sie sich in nordöstlicher Richtung gehalten und waren schließlich an einigen versprengt stehenden Bauernkaten vorbeigekommen, die zum Dorf Herdecke gehörten.

Dort war man allerdings wenig gastfreundlich gewesen und hatte dem Zug kurzerhand verboten, ein Nachtlager aufzuschlagen, so dass sie unverrichteter Dinge hatten weiterziehen müssen. Nun war es fast schon dunkel und sie hatten immer noch keinen Platz für ihr Nachtlager gefunden und in der Tat war der sie umgebende Wald in diesem diffusen Dämmerlicht, das die nahende Nacht ankündigte, nicht gerade einladend.

Wenn sie nicht bald einen geeigneten Lagerplatz finden würden, würde es für Mensch und Tier eine ungemütliche Nacht werden, das wusste Melissa. Sie dachte mit Bedauern an die letzte Nacht in dem einladenden Gasthaus, als sie wenigstens einen Strohsack als Lager zugewiesen bekommen hatte, aber immerhin hatten die beiden Männer ihnen versichert, dass der eingeschlagene Weg bald auf eine Lichtung führen würde, wo sie endlich rasten konnten.

Benni trabte, fröhlich wie ein Löwe brüllend, oder besser gesagt, wie er sich das Brüllen eines Löwen vorstellte, denn wirklich gehört hatte es noch niemand von ihnen, voran und schwenkte dabei seinen Leo wie einen Vogel durch die Luft. Melissa folgte ihm lächelnd durch das dichte Unterholz, bis Benni schließlich anhielt.

„Meinst du, hier ist die richtige Stelle?“, fragte er Leo, und als der Löwe zustimmend mit dem Kopf nickte, begann er, an seiner Hose zu nesteln. Kaum hatte Benni sein Geschäft verrichtet, als wüstes Geschrei und Lärm die beiden aufhorchen ließ.

„Was ist das?“, flüsterte Benni ängstlich, denn obwohl sie keine einzelnen Wörter verstehen konnten, so war doch eindeutig, dass hier mindestens ein handfester Streit im Gange war, wenn nicht Schlimmeres.

„Ich weiß es nicht, Benni.“ Melissa legte den Zeigefinger an die Lippen und bedeutete Benni so, ruhig zu sein.

„Ich gehe mal nachsehen. Du bleibst schön hier, Leo passt ja auf dich auf. Versteck dich dort im Gebüsch und komm erst raus, wenn ich dich hole, hast du verstanden?“ Melissa packte Benni bei den Schultern und schob den Jungen hinter einen dichten Vogelbeerbusch. Benni machte große Augen und schob den Daumen in den Mund, gehorchte aber widerstandslos. Nach einem kurzen Blick zurück, mit dem Melissa sich davon überzeugte, dass Benni auch wirklich nicht zu sehen war, schlich sie vorsichtig durch das Unterholz zurück. Der Lärm wurde immer lauter und Melissa stellten sich die feinen Härchen in ihrem Nacken auf. Das war eindeutig Kampflärm!

Laute Schreie, Stöhnen, Klirren von Metall auf Metall und dazwischen das aufgeregte Gebrüll der Zugochsen beschworen Bilder in Melissas Kopf herauf, die allerdings von der Wirklichkeit in ihrer Grausamkeit noch übertroffen wurden, als sie hinter dem dicken Stamm der Eiche hervorlugte, um zu sehen, was dort vor sich ging. Etwa ein knappes Dutzend Männer, auf kräftigen Pferden oder zu Fuß, mähten mit Schwertern und Messern alles nieder, was sich ihnen in den Weg stellte. Der Waldboden war bereits von dem Blut der Opfer aufgeweicht und als Melissa den Zugführer Hofmeister mit herausquellenden Eingeweiden neben seinem Wagen liegen sah, presste sie eine Hand vor den Mund, um nicht laut aufzuschreien. Der Zug war überfallen worden und es sah so aus, als wenn niemand dieses Gemetzel überleben würde. Was war mit ihrem Vater? Hatte er sich verstecken können?

Oder war er bereits tot? In dem Bewusstsein, dass sie hier nichts tun konnte, wandte sie sich um. Sie musste wenigstens Benni retten! Ganz plötzlich verstummten die Geräusche und sie hörte eine raue Männerstimme fragen: „Habt ihr alle erwischt? Es darf niemand überleben!“

Melissa duckte sich hinter den Stamm der Eiche und schickte ein Stoßgebet zum Himmel.

„Melli, bist du hier? Ich habe Angst!“ Benni! Melissas Herzschlag setzte einen Moment aus, aber noch bevor sie reagieren konnte, wurde sie auch schon hart am Handgelenk herumgerissen.

„Na, wen haben wir denn da?“ Sie blickte in ein bärtiges Gesicht, das von strähnigem Haar umrahmt wurde und als der Kerl seine rissigen Lippen zu einem lüsternen Grinsen verzog, entblößte er mehrere schwarze Zahnstummel. Er zerrte sie am Arm auf den Weg und gab ihr einen Stoß, so dass sie in einer Pfütze aus Dreck und Blut auf die Knie fiel. Ein Hüne, die Gugel seines schwarzen Umhangs tief in das Gesicht gezogen, wendete sein Pferd und ritt auf sie zu.

Langsam umkreiste er Melissa, die am ganzen Leib zitterte und sich nicht traute, hochzuschauen. Sie konnte auch nicht nach rechts oder links schauen, zu abscheulich waren die wenigen Bilder, die sich in der Kürze der Zeit in ihr Innerstes geschlichen hatten.

„Das ist ein appetitlicher Happen, Gernot! Mit ihr werden wir heute Abend diesen einträglichen Ausflug feiern. Fessle sie und dann nichts wie weg hier!“ Der Anführer der Truppe wendete sein Pferd.

„Warum so lange warten, Meister?“ Er zog Melissa wieder auf die Füße und drängte sie gegen ein Fuhrwerk. Seine gierigen Finger glitten in ihren Ausschnitt und betasteten ihre Brüste. Als der stinkende Atem des Mannes ihr ins Gesicht schlug, löste sich ihre Erstarrung und sie stieß mit ihrem Knie in Richtung Schritt des Mannes, aber da er sie um mehr als zwei Köpfe überragte, traf sie nur seinen Oberschenkel. Anstatt sie loszulassen, lachte er nur.

Dann schlug er ihr so heftig ins Gesicht, dass sie mit dem Kopf gegen das harte Holz des Karrens hinter ihr stieß. In ihrem Kopf explodierten tausend Lichter und als der nächste Schlag sie traf, sank sie hilflos zu Boden.

„Lass sie los, du böser Mann. Du tust ihr weh!“ Wie durch einen Nebel sah Melissa, dass Benni dem Kerl heftig vor das Schienbein trat. Benni! Das hatte ihr gerade noch gefehlt! Ohne Melissa loszulassen, trat der Kerl dem Jungen gegen die Brust, so dass er aufjaulend in den Matsch fiel. Inzwischen war der Hüne auf die Szene aufmerksam geworden. Wütend baute er sich vor Gernot und Melissa auf.

„Du stinkender Haufen Dreck lässt die Metze jetzt in Ruhe. Sie ist heute Abend für alle da, und ich...“, er beugte sich drohend aus dem Sattel zu seinem Mann herab, „bin dein Anführer. Ich bin der Erste, der sie besteigt und erst, wenn ich mit ihr fertig bin, seid ihr dran, verstanden?!“

„Ist ja schon gut.“ Murrend fing Gernot den Strick auf, den der Hüne ihm zuwarf. Wenn der Meister mit ihr fertig wäre, würde sie zu nichts mehr zu gebrauchen sein. Während er Melissa fesselte, deutete er mit dem Kinn auf den am Boden liegenden und sich vor Schmerzen windenden Benni.

„Und was machen wir mit der kleinen Kröte da?“

„Na was wohl?“ Der Hüne fuhr sich mit der Handkante über den Hals.

„Neeiinnn!“ Melissas Welt zerbarst mit den Worten des Hünen in tausend Scherben, der Boden unter ihren Füßen begann zu schwanken und ihr Kopf füllte sich mit einem zähen Nebel, bevor es schwarz um sie herum wurde.

***

Es war nun Zeit, seine Pläne erneut voranzutreiben.

Man hatte die süße Gerlin am Fuße der Kirche gefunden, erschlagen von einem maroden Heiligen aus Stein, der sich nach einem Sturm offensichtlich gelöst hatte. Man hatte sich nach eingehender Untersuchung darauf geeinigt, dass es sich bei Gerlins Tod um einen schrecklichen Unfall handelte, denn Beweise für das Gegenteil gab es nicht, allenfalls einige Ungereimtheiten. So hatte man einige Spuren gefunden, die darauf hindeuten konnten, dass die schwere Steinfigur möglicherweise von ihrem Sockel gelöst worden war, aber da gleichzeitig auch Ausbesserungsarbeiten an der Fassade der alten Kirche stattgefunden hatten, hatte man diese Spur nicht weiter verfolgt. Und so behandelte man den Tod der jungen Frau am Ende wie ein unabwendbares Unglück, tragisch zwar, vor allem für ihre Familie, aber eben ein Unglück, wie es jederzeit geschehen konnte. Und so hatte man Gerlin unter großer Anteilnahme der Bevölkerung zu Grabe getragen und nach und nach war auch das hartnäckigste Gerücht und die haarsträubendste Spekulation über ihren Tod verstummt und man ging seinen Tagesgeschäften nach, während die schöne Gerlin in ihrem Grab verfaulte.

Und nun erforderte der Zeitpunkt, dass er erneut handelte. In wenigen Tagen würde die liebliche Brida als Nonne in den Konvent der Prämonstratenserinnen eintreten und mit ihr würde eine beachtliche Mitgift in das Eigentum dieser bigotten, diebischen Elstern übergehen. Zwar war bereits bei ihrem Eintritt als Novizin eine Zahlung geleistet worden, aber die Umsicht ihres Vaters hatte die Möglichkeit berücksichtigt, dass seine jüngste Tochter, sollte sie doch keinen Gefallen an einem Leben als Braut Christi finden, nicht ohne eine üppige finanzielle Absicherung zurück ins weltliche Leben treten musste. Nicht, dass Bridas Entscheidung für oder gegen ein Leben im Kloster etwas an der Tatsache geändert hätte, dass ihr Leben ohnehin verwirkt war. Ihr Tod war notwendig und so unausweichlich wie der Tag auf die Nacht folgte. Dabei spielte es keine Rolle, ob das süße Geschöpf nun Jesus oder einen Mann aus Fleisch und Blut wählte, vielmehr würde in beiden Fällen eine beachtliche Summe Goldes den Besitzer wechseln, und das konnte er nicht zulassen.

Er hatte sich sorgfältig im Schatten einer alten Eiche verborgen und beobachtete die kleine Pforte an der Südseite des Katharinenklosters. Da er nichts dem Zufall überlassen konnte, hatte er das Kloster bereits seit einiger Zeit beobachtet. Dabei kam ihm der Umstand zugute, dass das kleine Dorf Kercklinde, das zu den Besitzungen des Klosters gehörte, nur wenige Meilen nordwestlich von Dortmund entfernt lag. Das machte es ihm leicht, diese kurze Entfernung regelmäßig zurückzulegen, ohne großes Aufsehen zu erregen. Und so hatte er herausgefunden, dass Brida regelmäßig zum Arbeiten auf der Obstwiese eingeteilt war und dazu durch eben diese Pforte das Kloster für kurze Zeit verließ. Während er wartete, dass sich der kleine Durchlass öffnete, versuchte er, der Empfindungen Herr zu werden, die ihn bei dem Gedanken an das Bevorstehende erfassten. Seit dem Tod seines Vaters, den er entscheidend beschleunigt hatte, hatte er zum ersten Mal wieder bei dem Blick in Gerlinds sterbende Augen diese besondere Erregung empfunden. Es hatte sich angefühlt wie damals, vor vielen Jahren, als er das erste Mal mit einer Magd im Heu verschwunden war. Diese Neugier, dieses erregte Prickeln auf seiner Haut. Und dann der Ausdruck in ihren Augen, als er ihr in seiner Erregung den Hals zugedrückt hatte... Seufzend schloss er die Augen und horchte auf die wieder erwachenden Gefühle. Er hatte damals früh genug die Kontrolle wieder erlangt und die Magd hatte nur um Luft ringen müssen. Aber an diesem Tag war der Hunger in ihm erwacht, dieser unstillbare Hunger, Grenzen zu überschreiten! Das erste Mal hatte er diesem Drang nachgegeben, als sein Vater ihm Vorhaltungen wegen seines Lebenswandels gemacht hatte. Er sei ein verfluchter, nutzloser Hurensohn, der das Vermögen, das er, sein Vater, im Schweiße seines Angesichts... Kalt lächelnd hatte er die üblen Beschimpfungen beendet, indem er seinem Erzeuger die Hände um den Hals legte und zudrückte, so lange, bis die wässrigen Augen des Alten fast aus ihren Höhlen traten und sich das fratzenhafte Gesicht blau verfärbte. Unbarmherzig hatte er den Griff erst gelockert, als er sicher sein konnte, dass sein Erzeuger niemals wieder dieses Gift versprühen würde, mit dem er ihn seit seiner Geburt verfolgte. Nichts, was er tat oder sagte, war jemals gut genug, kein Handel so, wie der Alte es sich von ihm wünschte... Und als endlich Ruhe war, tödliche Ruhe, hatte diese Empfindung alles andere verdrängt. Was blieb, war ein überwältigendes Gefühl der Macht, Macht über Leben und Tod, über Stärke und Schwäche, über Beherrschen und Unterwerfen...

Er spürte wieder dieses Kribbeln in seinem gesamten Körper, dieses vollkommene Gefühl der Macht, als sich die Pforte endlich öffnete und Brida heraustrat. Sie war nicht alleine, denn eine weitere Novizin schritt mit ihr durch die Pforte. Das Kichern der beiden erfüllte die schwüle Nachmittagsluft, der schwere Duft des Sommers, nach Levkojen und Rosen, wehte zu ihm herüber. Aber all das erreichte seine Sinne nicht. Er trat aus dem Schatten des alten Baumes heraus und schlenderte auf die beiden Mädchen zu. Zunächst bemerkten sie ihn nicht, aber dann hob Brida ihre Hand an die Augen, um sie vor dem gleißenden Sonnenlicht zu beschatten. Als sie ihn schließlich erkannte, glitt ein kleines Lächeln über ihr Gesicht.

„Ihr seid es!“ Dann kniff sie ihre schönen, blauen Augen zusammen. „Ist etwas passiert? Ist etwas mit Beata?“ Ein mächtiger Fausthieb beantwortete ihre Frage, und während sie zu Boden sank, wandte er sich dem anderen Mädchen zu, in deren Augen er diese köstliche Angst lesen konnte.

***

Der bohrende Schmerz in Melissas Kopf ließ nicht zu, dass sie etwas anderes wahrnahm als Übelkeit, Schwindel und seltsam gedämpfte Töne. Sie versuchte krampfhaft, die Augen zu öffnen, obwohl sie Angst vor dem hatte, was sie dann vielleicht zu sehen bekäme.

Tapfer kämpfte sie mit ihren schweren Lidern und es gelang ihr tatsächlich nach einiger Zeit, zu blinzeln.

Aber das, was sie sah, ließ sie erstarren. Ein riesiger Dämon hielt Benni in den Armen, schwarze Schwingen umfingen den leblosen Körper und als der Dämon sich zu ihr umdrehte, schienen seine schwarzen Augen Funken zu sprühen. Alles an dieser Gestalt war schwarz, das Haar, die Augen, der Umhang, die Beinlinge... Und obwohl Melissa nicht wirklich an Dämonen glaubte, so war das hier zweifellos einer! Es war ganz sicher Abaddon, der Ritter der Hölle, und um sie herum, das war die Apokalypse, ganz sicher! Als er langsam auf sie zukam, ihren leblosen Bruder fest an sich pressend, wusste sie, dass sie verloren war. Benni war tot und sie würde sein Schicksal gleich teilen! Bitte lass es schnell vorbei gehen!, dachte Melissa, bevor sie wieder das Bewusstsein verlor.

Melissa fühlte das Höllenfeuer in ihrem Körper wüten, sie wurde aufgefressen von der Hitze und ihre Kehle war so trocken wie der Sand am Ufer des Rheins in Köln nach einem Sommertag. Sie hatte das Gefühl, in ihrem Schädel hause ein böser Geist, der unablässig mit einem Hammer auf Eisen einschlug und dabei in dem Strudel ihrer Gedanken rührte. Im Augenblick konnte sie nicht einmal erfassen, ob sie bereits in der Hölle schmorte oder noch am Leben war. Sie öffnete probehalber die Augen ein kleines Stück, aber ihre Pupillen zuckten wie Blitze durch den Raum, unfähig, länger an einem Punkt zu verweilen. Alles drehte sich und ihr war hundeelend zumute, aber nach einiger Zeit gelang es ihr doch, ihre Umgebung wahrzunehmen.

Sie lag auf einem Lager aus Stroh, um sie herum war es dämmrig und ganz offensichtlich befand sie sich in einer kleinen Hütte, wie die einfachen Holzwände und der gestampfte Lehmboden verrieten. In einer Ecke hing über einem kleinen Feuer ein einfacher Kessel, dem ein appetitlicher Geruch entströmte. Plötzlich merkte sie, dass sie hungrig und durstig war. Konnte man tot sein, wenn man derart menschliche Gelüste verspürte? Melissa versuchte sich aufzurichten, was ihr Kopf mit einem stechenden Schmerz belohnte.

„Na, Kindchen, bist du endlich wach?“

Erschrocken wanderten Melissas Augen durch den kleinen Raum. Sie war nicht alleine! Mühsam drehte sie den Kopf in die Richtung, aus der die Stimme kam.

„Du hast sicherlich Durst.“ Eine kleine Gestalt schälte sich aus dem Halbdunkel und goss eine Flüssigkeit in einen Becher, den sie Melissa reichte. Dankbar nahm diese den Becher und es gelang ihr trotz ihrer zitternden Hände einige Schlucke zu trinken. Das Gebräu schmeckte seltsam, aber Melissa war zu durstig, um sich daran zu stören. Mit großen Schlucken stürzte sie die Flüssigkeit hinunter.

„Wo bin ich? Was ist geschehen?“ Noch zitterte ihre Stimme und hörte sich in ihren eigenen Ohren fremd an. Immerhin hatte der Schwindel etwas nachgelassen und Melissa gelang es, ihre Umgebung genauer zu mustern. Vor ihr hockte ein altes Weib in einem einfachen aber sauberem Kittel. Die grauen Haare waren zu einem einfachen Zopf geflochten und das faltige Gesicht wurde beherrscht von wachen, wasserblauen Augen, die sie nun aufmerksam musterten. Prüfend legte die Alte eine Hand an Melissas Stirn.

„Du hast noch etwas Fieber, aber ich glaube, das Schlimmste hast du überstanden. Du warst in keiner guten Verfassung, als Raban dich hierher gebracht hat!“

„Aber was ist passiert?“

Die Alte wiegte ihren Kopf und sah Melissa prüfend an. Dann reichte sie ihr erneut einen Becher, der diesmal aber nur reines Wasser enthielt.

„Ich hatte gedacht, du könntest mir sagen, was passiert ist. Du hast offensichtlich einen kräftigen Schlag auf den Kopf abbekommen bei dem Überfall.“

„Überfall?“ Nur ganz langsam stiegen Bilder in Melissas Erinnerung auf. Sie war mit ihrem Vater und ihrem kleinen Bruder auf dem Weg nach Dortmund zu ihrem Verlobten gewesen.

Vater! Benni! Ein unsagbarer Schmerz griff nach ihrem Herzen und schnürte ihr die Kehle zu. Sie konnte die Tränen nicht zurückhalten, die sich in ihren Augen sammelten und wollte das auch gar nicht.

„Wir waren auf dem Weg nach Dortmund als...als sie uns überfielen.“ Melissas Stimme war kaum mehr als ein Hauch.

„Es war...schrecklich! Überall Blut und...sind alle tot?“

Die Alte tätschelte beruhigend Melissas schmale, zitternde Hand. Dann räusperte sie sich.

„Ja, alle. Bis auf...einen kleinen Buben. Und dich. Raban konnte nichts mehr tun, aber immerhin hat er zwei von ihnen erwischt. Er konnte sie nicht verfolgen, weil er sich um dich und den Kleinen kümmern musste.“

Ganz langsam schob sich ein kleines Gesichtchen mit blonden Haaren und grünen Augen in ihr Bewusstsein.

War es möglich, dass Benni noch lebte?

„Benni, er lebt? Aber ich...ich dachte...weil doch der schwarze Dämon ihn geholt hat.“ Ängstlich sah Melissa sich um, gerade so, als ob sie den schwarzen Teufel damit herbeirufen würde.

Kopfschüttelnd sah die Alte sie an.

„Kindchen, was redest du denn da für einen Unsinn!

Welcher Dämon? Der Schlag auf deinen Kopf war doch wohl härter als ich dachte. Raban war auf dem Weg nach Hause als er die Räuber überraschte. Er fand den Kleinen und dich und brachte euch zu mir.“ Sie deutete mit dem Kopf auf eine Stelle im hinteren Teil der Hütte, der in vollkommener Dunkelheit lag.

„Benni!“ Melissa konnte kaum glauben, dass das undefinierbare Bündel, das sich schemenhaft in der dunklen Hütte abzeichnete, ihr Bruder war. Erneut versuchte sie aufzustehen, aber die Alte hielt sie davon ab.

„Er schläft, es geht ihm soweit gut. Er hat Schreckliches mit angesehen und wohl auch einige Schläge einstecken müssen, aber der kleine Kerl ist hart im Nehmen. Wie du übrigens auch. Einige Zeit lang dachte ich, du schaffst es nicht. Du warst ziemlich übel zugerichtet, als Raban dich brachte. Und dann kam dieses Fieber dazu, aber nun geht es dir offensichtlich besser.“ Die Alte deutete auf den Kessel, der über dem Feuer hing.

„Hast du Hunger?“

Melissa nickte schwach. Es duftete herrlich nach Hühnerbrühe und ganz allmählich kehrten ihre Lebensgeister zurück. Als die Alte mit einer Schale zurückkam, richtete Melissa sich auf, was diesmal gelang, und begann, hungrig die heiße Suppe zu löffeln. Viele Fragen, auf die sie dringend eine Antwort haben wollte, kreisten durch ihren Kopf. Wo war sie?

Wer war die Alte? Und wer war dieser Raban, der sie ganz offensichtlich vor den Räubern gerettet und hierher gebracht hatte? Plötzlich hielt sie inne, als ihr ein schrecklicher Gedanke kam. Hatten die Männer nicht davon gesprochen, sie mit ins Lager zu nehmen und...und sich dann an ihr zu vergehen? Hatte dieser Raban sie vorher oder doch erst nachher gefunden? Sie fühlte in sich hinein, aber alles war wie immer, sah man von den Kopfschmerzen und dem Schwindel einmal ab. Aber sie musste Gewissheit haben.

„Hat man mich...bin ich...also die Männer sprachen davon, dass...“, stotterte sie, aber die Alte legte ihr beruhigend eine Hand auf den Arm.

„Falls du wissen willst, ob sie dich geschändet haben:

nein. Dazu ist es nicht gekommen, weil Raban eingriff noch bevor sie dich wegschaffen konnten. Aber es war wohl um Haaresbreite, denn sie hatten ihre Beute schon auf einen Wagen geladen und waren gerade im Begriff, sich davon zu machen. Raban hat zwei von ihnen erwischt, aber dann musste er sich entscheiden, ob er sich um dich und den Kleinen kümmert, oder ob er die Schurken mit ihrer übrigen Beute verfolgt. Er kann sehr gut mit dem Schwert umgehen, aber gegen diese Burschen hätte wohl selbst er keine Chance gehabt, wenn sie nicht von sich aus geflohen wären.

Wahrscheinlich war ihnen am Ende die Beute wichtiger als du.“

„Und wer ist dieser Raban, dem ich offensichtlich mein Leben und das meines Bruders verdanke? Und wer seid Ihr und wo bin ich?“ Melissa stellte die Schüssel beiseite. Die Brühe hatte ihr gut getan und sie fühlte sich schon um einiges besser. Die Alte lächelte sie an, wobei sich viele kleine Fältchen um ihre Augen bildeten.

„Es zeugt von deiner guten Erziehung, wenn du mich so ehrerbietig anredest, aber ich heiße Hilde, einfach nur Hilde. Und Raban kümmert sich um mich, wann immer er Zeit dafür findet. Er ist ein guter Junge, wenn auch nicht alle so denken.“ Für den Bruchteil eines Augenblicks huschte ein trauriger Ausdruck über ihr faltiges Gesicht. Dann räusperte Hilde sich, griff nach einem hölzernen Becher und füllte ihn mit einem stark riechenden Gebräu, das in einem zweiten Topf über der Feuerstelle blubberte. Sie reichte Melissa den Becher bevor sie fortfuhr.

„Wir sind hier in meiner Hütte, knapp eine Tagesreise von Dortmund entfernt. Du warst auf dem Weg dorthin, sagtest du?“

Melissa nahm den Becher und roch an der trüben Flüssigkeit, bevor sie einen kleinen Schluck probierte und sofort das Gesicht verzog.

„Ja, mein Vater, mein Bruder und ich waren auf dem Weg zu meinem Verlobten. Die Hochzeit soll bald stattfinden...“ Heiße Tränen stiegen in ihr auf, als ihr bewusst wurde, dass es das vorbestimmte Leben, das sie noch vor wenigen Tagen erwartete, so nicht mehr geben würde. Ihr Vater war tot, grausam ermordet, und außer Benni hatte sie nun keine Familie mehr. Wie sollte es denn nun weitergehen?

„Ich weiß, was es bedeutet, alles zu verlieren, das einem etwas bedeutet. Aber glaub mir, das Leben geht weiter und es liegt an dir, in welche Richtung du gehst.“ Tröstend legte die Alte ihre Hand auf Melissas Arm und drückte ihn leicht. Aber Melissa wollte nicht getröstet werden, sie wollte einfach nur trauern. Um ihren Vater, das vertraute, sichere Leben, das sie noch vor wenigen Tagen erwartet hatte. Um das Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit, das ihr Vater ihr stets vermittelt hatte und das nun ein für alle mal mit ihm gestorben war. Nie wieder würde sie ihn um Rat fragen können, nie wieder würde er ihr tröstend über das Haar streicheln, wenn sie glaubte, alles falsch gemacht zu haben.

„Melli...“ Ganz dünn und ängstlich klang eine Kinderstimme an ihr Ohr und riss sie brutal in die Wirklichkeit zurück.

„Benni, lieber kleiner Benni!“ Sie wollte aufstehen und zu ihm gehen, ihn ganz fest in die Arme nehmen, aber als sie sich hinsetzte, kamen die Übelkeit und die hämmernden Kopfschmerzen mit solcher Macht zurück, dass sie unfähig war, sich auch nur eine handbreit zu bewegen. Stattdessen nahm sie wie durch einen Nebel wahr, dass Hilde sich ächzend erhob und zu Benni ging.

„Komm, mein Kleiner, ich helfe dir. Deiner Schwester geht es nicht gut, sie kann nicht aufstehen.“ Zuerst wehrte sich Benjamin heftig gegen die Berührung der alten Frau, schrie und trat um sich, aber als Melissa begann, leise ein altes Kinderlied zu summen, das sie ihm früher immer vorgesungen hatte, beruhigte er sich langsam und gab nach einiger Zeit seinen Widerstand gegen die Berührung der Alten auf. Behutsam half sie dem Kind, sich aus der Decke zu schälen, die sich noch bis vor wenigen Augenblicken wie eine schützende Hülle über ihm ausgebreitet hatte. Auf wackeligen Beinen kam Benni auf Melissa zu, gestützt von der alten Frau. Als er schließlich vor ihr stand, sog Melissa scharf die Luft ein. Himmel, wie sah der Kleine denn aus?! Sein kleines Gesicht war zugeschwollen, eine Augenbraue aufgeplatzt und verkrustetes Blut verstopfte seine Nase. Seine krumme Haltung sagte Melissa gleichzeitig, dass auch sein kleiner Körper von Schmerzen geplagt wurde. Fragend sah sie Hilde an.

Die zuckte bedauernd die Schultern.

„Bisher hat er sich von mir nicht anfassen lassen. Ich konnte ihn nicht waschen, er hat geschrien wie am Spieß, wenn ich auch nur in seine Nähe kam. Ich konnte ihn nur kurz untersuchen, als Raban euch brachte, als er noch bewusstlos war. Ich glaube, es ist Gott sei Dank nichts gebrochen, aber er hat wohl eine Menge Schläge wegstecken müssen, der arme Kerl.“

Melissa ergriff Bennis Hand und zog ihn zu sich heran.

Er zitterte am ganzen Körper und ein Blick in seine stumpfen, leeren Augen schmerzte Melissa mehr als alle Verletzungen, die sie davongetragen hatte.

„Benni, ich bin es, Melissa. Komm her zu mir. Hast du große Schmerzen?“ Aber Benni rührte sich nicht vom Fleck und starrte stattdessen an ihr vorbei, irgendwo auf einen Punkt hinter ihr.

„Er spricht nicht.“ Hilde schob ihn noch ein kleines Stück auf Melissa zu.

Die Berührung schien ihn aus seiner Abwesenheit zu reißen und er sah Melissa an. Plötzlich rannen Tränen aus seinen Augen und er warf sich schluchzend in die Arme seiner Schwester. Melissa begann wieder, das alte Kinderlied zu summen und drückte den kleinen zitternden Kerl fest an sich. Später wusste sie nicht mehr, wie lange sie so dagesessen waren, aber als sie am nächsten Morgen erwachte, lag Benni eng an sie gekuschelt auf dem einfachen Lager, den schmutzigen Daumen im Mund und schien sich etwas beruhigt zu haben.

Gott, was hast du uns nur angetan! Und wie soll es weitergehen? Was soll ich jetzt bloß tun?, dachte Melissa ein ums andere Mal, aber sie hatte auf all ihre Fragen keine Antwort, und auch Gott hielt sich mit einem Ratschlag zurück.

***

„Wenn Ihr mir bitte folgen würdet.“ Der Büttel verneigte sich vor Raban van Gehrden und trat einen Schritt zurück.

„Was gibt es denn so dringendes, Gerwin? Hat es mit dem Überfall auf den Handelszug vor ein paar Tagen zu tun?“ Raban griff sich seine Heuke, die neben der Tür auf einem Haken hing und warf sie sich über, bevor er dem Büttel folgte, der bereits einige Schritte voraus war.

„Gerwin, so warte doch! Meine Güte, was ist denn so eilig?“