Clara und die Legende vom Heiligen Reinoldus - Andrea Gramckow - E-Book

Clara und die Legende vom Heiligen Reinoldus E-Book

Andrea Gramckow

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Beschreibung

Kurz bevor ihre Mutter stirbt, erfährt Clara, dass sie nicht deren leibliches Kind ist. Den Nachstellungen ihres Stiefvaters hilflos ausgeliefert, flieht sie nach einem traumatischen Erlebnis aus ihrem Elternhaus. Eine Gruppe von Kaufleuten findet das verstörte, schwer verletzte Mädchen und nimmt sie mit nach Dortmund. Im Haus des Pelzhändlers Berthold Rensinck heilen ihre Wunden langsam und sie verliebt sich in Philipp, den Sohn und Erben. Auch Philipp empfindet viel für Clara, aber er ist verlobt und seine Hochzeit soll in wenigen Wochen stattfinden. Als Clara schwanger wird, trifft sie eine folgenschwere Entscheidung, die beide in einen Strudel von verhängnisvollen Ereignissen reißt. Am Ende steht ein Verrat und ein blutiger Kampf um die Freie Reichsstadt Dortmund!

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Inhaltsverzeichnis

Handelnde Personen

Prolog

Die Geschichte

Epilog

Nachwort

Zur Handlung (Vorsicht, Spoileralarm!)

Rezept „Pfefferpotthast“

Literaturverzeichnis

In eigener Sache

Handelnde Personen

Historisch belegte Personen sind mit* gekennzeichnet

Die gräfliche Familie derer von der Mark:

Graf Engelbert III von der Mark* geb. um 1330, † 21. Dezember 1391

Richardis von Jülich, Engelberts erste Frau, geb. 7. März 1314, † 7. März 1360

Margarete, Tochter von Engelbert und Richardis, geb. 1360, † 1410

Graf Wilhelm II von Berg*

Graf Dietrich von Dinslaken, der jüngere Bruder Engelberts* geb. 1336, †1406

Die Dortmunder Bürger:

Philipp Rensinck, Pelzhändler

Margret, seine Schwester

Berthold Rensick, Vater der beiden

Agnes von der Vierbecke, verwitwete Sudermann* geb. um 1341, † 4. Oktober 1378

Arndt*, ihr Sohn geb. ca. 1361, † 4. Oktober 1378

Die Swartes*, Muddepennings*, Berswordts*, von Wickedes*, Spissenagels*, Patrizier und Kaufleute in Dortmund

Dorfbewohner von Ascheberg:

Clara, Tochter von Gertrud und Stieftochter von Sewolt

Sewolt, verdient seinen Unterhalt als Drechsler

Gertrud, sein Weib

Willbert, sein Sohn

Die alte Irmel, Kräuterfrau, Honigsammlerin und Vertraute von Gertrud

Kaiser Karl IV und Kaiserin Elisabeth

Kaiser Karl IV * geb. 14. Mai 1316, † 29.

November 1378 in Prag an einer Lungenentzündung

Kaiserin Elisabeth * geb. um 1347, † 14, Februar 1393

Wenzel IV, König vom Böhmen * , Karls Sohn aus seiner dritten Ehe mit Anna von Schweidnitz geb. 1361, † 1419

Prolog

Gegend um Ascheberg, Mai 1360

„Der Herr ist mein Fels und meine Burg und mein Erretter...“, presste die leichenblasse junge Frau mit einer schmerzhaften Wehe heraus. Sie hatte einen harten Akzent und kam offensichtlich nicht aus der Gegend. Schweißperlen standen auf ihrer Stirn, und nicht nur ihre Wagen waren bereits von einer Todesblässe überzogen, inzwischen hatte diese auch ihre Lippen erreicht. Sie atmete flach und Gertrud, die vor ihr hockte und verzweifelt versuchte, das Ungeborene an den Beinen aus dem Leib der Frau zu ziehen, wusste, dass sie sich beeilen musste, wenn sie wenigstens das Leben des Kindes retten wollte. Die Gebärende hatte keine Kraft mehr zu pressen und das Kind lag falsch herum. Gertrud hatte zwar selbst keine Kinder und auch keine Ahnung von Geburtshilfe, aber dass hier etwas ganz und gar nicht so lief, wie normalerweise, war ihr recht schnell klar geworden.

Ein Kutscher hatte sie auf dem Weg zum Markt mitten im Wald abgefangen. Ein Rad war gebrochen und im Wagen lag, schweißgebadet, eine Hochschwangere, die sich anschickte, just in diesem Augenblick ihr Kind zu gebären. Panisch hatte er Gertrud herangewunken und sie unfreundlich aufgefordert, seiner Herrin zu helfen. „Hilf mir, Herr, so ist mir geholfen.“ Die Stimme der jungen Frau war nur mehr ein Flüstern, ein Hauch, gleich dem, der nur ein einzelnes Blatt bewegt, nicht den ganzen Ast.

Wenn du helfen willst, Herr, dann beeile dich, dachte Gertrud grimmig. Aber sie hielt es für ziemlich unwahrscheinlich, dass er ausgerechnet bei dem Vorgang, den er seit Evas Sündenfall als ewige Erinnerung an ihre Verfehlung für alle Frauen mit Schmerzen und Pein belegt hatte, helfend eingreifen würde. Eva hatte das Paradies verlassen müssen und alle ihr nachfolgenden Frauen mussten ihre Kinder fortan unter Schmerzen zur Welt bringen. Und nicht Wenige von ihnen überlebten gar eine Geburt nicht. So war das nun einmal. Darüber hinaus hatte sie aber auch keine Vorstellung, wie diese Hilfe aussehen könnte. Erneut bäumte sich die schöne blonde Frau auf und riss angstvoll die Augen auf. In eine erneute Wehe hinein zog Gertud an einem Bein des Ungeborenen und endlich glitt das Kind aus dem Leib seiner Mutter.

Herr im Himmel, wie klein es war! Gertrud wickelte schnell die Nabelschnur vom Hals des kleinen Mädchens und wischte das blau angelaufene Gesichtchen mit einem Zipfel ihres Rockes ab. Da es kein Lebenszeichen von sich gab, klopfte Gertrud ihm sanft auf die Wange, aber noch immer wollte es nicht schreien.

„Was ist mit ihm?“ Gertrud konnte die junge Frau kaum verstehen, legte ihr aber das zarte Bündel Mensch auf die Brust.

„Es ist ein Mädchen!“

Der Anflug eines glücklichen Lächelns huschte über das leichenblasse Gesicht.

„Nimm sie mit dir, bitte, sag dem Kutscher, sie sei gestorben! Bitte, ich flehe dich an!“ Es kostete sie das letzte bisschen Kraft, das ihr geschwächter Körper aufbringen konnte, dann sank ihr Kopf zur Seite.

Gertrud blieb eine Weile neben ihr sitzen, das Kind in den Armen, das zwar immer noch nicht geschrien hatte, aber immerhin flach atmete. Sie durchtrennte mit einem schmutzigen, stumpfen Messer die Nabelschnur und wickelte das kleine Mädchen in ein Stück Stoff, das sie aus ihrem Unterkleid herausgerissen hatte. Die Geschichte, die ihr die vornehme Dame zwischen den kraftraubenden Wehen erzählt hatte, wirbelte durch Gertruds Kopf und wenn sie auch nicht alles verstanden hatte, so war ihr doch klar geworden, dass das Kind einer unstandesgemäßen Liebschaft entsprungen war. Weder die Familie der Frau, die wohl weit weg im Norden wohnte, noch die Familie des Vaters des Kindes hatten ein Interesse daran, dass das Kind am Leben blieb. Zärtlich drückte Gertrud das kleine Bündel an ihre Brust. Eine unendliche Wärme und Kraft durchströmte ihren Körper und plötzlich wusste sie, was sie zu tun hatte.

Ascheberg, August 1377

Sewolt war gerade im Begriff, sein Haus zu betreten, als er Clara einige Schritte weiter in seine Werkstatt gehen sah. Beim Anblick ihrer zierlichen Gestalt mit den langen blonden Haaren, die unter ihrem Kopftuch hervorlugten und ihr fast bis an ihr wohlgerundetes Hinterteil reichten, regte sich fast augenblicklich seine Männlichkeit. Sollte das nun seine Gelegenheit sein, die Kleine endlich zu besteigen? Schon seit geraumer Zeit brachte es ihn fast um den Verstand, wenn er an ihre vollen Brüste dachte, die sie stets sittsam unter ihrer Cotte und dem Kittel versteckte, und dass sie sehr wahrscheinlich noch Jungfrau war, ließen ihn ein ums andere Mal lüstern Hand an sich legen und ihn davon träumen, wie er diesen Zustand ändern würde. Dann rief er sein Weib zu sich, schlug ihre Röcke hoch und reagierte sich an ihr ab. Da sie seine Grobheiten aber immer klaglos über sich ergehen ließ, blieb seine Befriedigung nur oberflächlich.

Darüber hinaus wachte sein Weib mit Argusaugen über ihre Tochter, denn es war ihr nicht verborgen geblieben, mit welchen Blicken Sewolt seine Stieftochter immer öfter bedachte. Aber nun lag die Alte mit Fieber und Husten im Bett und notgedrungen hatte Clara ihre Aufgaben übernehmen müssen. Und dazu gehörte das Aufstapeln und Sortieren der Holzlieferung, die er am frühen Morgen erhalten hatte.

Lüstern grinsend änderte er die Richtung und ging auf seine Werkstatt zu, in der Clara inzwischen verschwunden war. Noch einmal blickte er sich verstohlen um, dann trat er ein und schloss die Tür. Als Clara erschrocken herumfuhr, schob er schnell mit dem Fuß einen dicken Holzbalken vor die Tür und baute sich vor ihr auf.

„So, mein Täubchen, jetzt werden wir eine Menge Spaß zusammen haben. Du wirst sehen, am Ende wirst du darum betteln, dass ich es dir besorge!“

Er trat auf Clara zu und griff grob ihre Handgelenke.

„Es liegt an dir, ob ich dir weh tue oder nicht. Du kannst dich wehren, aber das wird dir nichts nützen, denn es ist niemand in der Nähe, der dir helfen könnte!

Wenn du aber schön brav bist und mich ranlässt, dann wird es dein Schaden nicht sein!“ Er hatte sie inzwischen an die Wand gedrängt und begann, seine gierigen Hände über ihren Körper gleiten zu lassen.

„Nein, Vater, nicht. Bitte!“ Verzweifelt versuchte Clara, sich aus dem Griff ihres Vaters zu befreien.

„Ich bin nicht dein Vater, und jetzt halt still!“ Angst und Übelkeit stiegen in Clara auf, als der massige Mann seine Lippen auf ihren Mund presste und gleichzeitig seine Hand in ihren Ausschnitt gleiten ließ.

Sie versuchte verzweifelt, sich zu befreien, aber seine riesigen Hände hielten sie so fest wie seine Werkstücke in dem Wippdrehstuhl steckten, mit dem er als Drechsler den Familienunterhalt verdiente.

Inzwischen hatte er ihren Kittel und die Cotte so weit eingerissen, dass er ihre Brust mit seiner schwieligen Hand umfassen konnte und er begann, diese so heftig zu kneten, dass Clara vor Schmerz aufschrie.

„Ich habe dir doch gesagt, du sollst den Mund halten!“ Kurz löste er seinen Griff, um ihr einen heftigen Schlag ins Gesicht zu verpassen. Gleichzeitig zerrte er sie auf den Boden, wo er augenblicklich begann, ihre Brustwarzen mit seinen Lippen zu umfassen und, seinem sadistischen Impuls nachgebend, heftig zuzubeißen. Clara schrie vor Schmerz laut auf. Vor Entsetzen und der Welle der Pein, die sie durchflutete, war sie wie gelähmt. Wie konnte ihr eigener Vater ihr so etwas antun? Zwar stimmte es, dass er nicht ihr Erzeuger war, aber immerhin hatte er sie fast siebzehn Jahre lang ernährt und erzogen, wenn er auch nie besonders viel Interesse an ihr gezeigt hatte. Aber er hatte ihr und ihrer Mutter ein Zuhause geboten, ohne das sie sonst wahrscheinlich auf der Straße hätten leben müssen. War das hier nun der Preis, den sie für ein Dach über dem Kopf und karge Mahlzeiten zahlen musste?

Er hatte inzwischen begonnen, keuchend und schwitzend ihre Röcke hochzuschieben und seine Hand wanderte gierig ihren Schenkel hoch. Clara wand sich und schlug mit ihren Fäusten auf ihn ein, was ihn aber nur noch mehr erregte, und nach einem erneuten, wuchtigen Schlag in ihr Gesicht, begann er, seine Bruche aufzunesteln um sich endlich Erleichterung zu verschaffen.

„Du magst es wohl gerne härter, was? Das kannst du gerne haben! Deine vertrocknete alte Mutter hält immer still, wenn ich sie besteige. Das macht nur halb so viel Spaß wie mit dir, mein Täubchen!“ In diesem Augenblick klopfte es laut und vernehmlich an der Tür.

„Vater, was machst du da drinnen? Mach die Tür auf, hier ist ein Kunde, der will Teller und Schalen für seinen Hausstand in Auftrag geben!“ Sewolt presste seiner Tochter die Hand auf den Mund und hielt kurz in seinen Bewegungen inne. Laut rief er: „Ich bin beschäftigt, Willbert! Das muss warten!“

„Vater?“ Das Klopfen wurde nun heftiger und unwillig setzte der Sprecher nach: „Was immer du da gerade tust, das muss warten. Es ist ein wirklich sehr großer Auftrag!“ Gleichzeitig wurde die Tür von außen ein kleines Stück weit aufgeschoben, gerade so weit, wie der schwere Holzbalken es zuließ, und ein heftiges Rütteln verriet, dass der Außenstehende nicht eher ruhen würde, bevor er sich nicht Zutritt verschafft hätte.

Leise fluchend ließ Sewolt von Clara ab und beeilte sich, seine Bruche wieder hochzuziehen. Gleichzeitig zischte er: „Wenn du auch nur ein Sterbenswörtchen zu deiner Mutter sagst, wird sie es büßen, das schwöre ich dir! Und denk ja nicht, dass du davonkommst! Dieses Mal hast du noch Glück gehabt, das wird aber nicht immer so sein.“ Er trat zu der Holztür und drückte sich durch die schmale Öffnung, bevor sein Sohn Willbert sie ganz öffnen konnte.

Clara begann am ganzen Körper zu zittern und ein heftiges Schluchzen schüttelte sie. Langsam rollte sie sich auf die Seite und krümmte sich vor Schmerz. Ihre Brüste und auch ihr Gesicht schmerzten fürchterlich und da, wo die Finger ihres Vaters ihren Körper berührt hatten, meinte sie ein verzehrendes Feuer zu spüren. Sie lauschte eine Weile dem Gespräch der Männer und als diese sich langsam entfernten, kam sie mühsam auf die Beine und schleppte sich zur Tür.

Notdürftig bedeckte sie ihre Brust mit den Fetzen ihres Kittels und band sich ihr Kopftuch wieder um. Was sollte sie jetzt tun? Sie zweifelte keinen Augenblick daran, dass ihr Vater es ihre Mutter büßen lassen würde, wenn sie sich ihr anvertraute. Zu oft schon war sie Zeugin geworden, wenn er wegen eines nichtigen Anlasses auf seine Frau einprügelte und mit ihr verfuhr, wie es ihm gerade passte. Stets hatte ihre Mutter alles mit zusammengebissenen Zähnen ertragen, wenn sie auch danach oft bitterlich geweint hatte. Aber aus Angst, dass er sie und Clara verstoßen könnte und sie fortan kein Zuhause mehr haben würden, hatte sie klaglos seine Launen ertragen.

Vorsichtig spähte Clara durch die Tür und als sie niemanden mehr auf dem kleinen Hof sah, lief sie in Richtung des kleinen Wäldchens davon, das sich nicht weit entfernt von dem Dörfchen Ascheberg erstreckte. Sie musste in Ruhe nachdenken, was sie jetzt tun sollte.

Denn dass es nur eine Frage der Zeit war, bis ihr Stiefvater den nächsten Versuch starten würde, ihr Gewalt anzutun, war so sicher wie das Amen, das der Dorfpfarrer jeder Predigt folgen ließ. Und ob sie noch einmal so viel Glück haben würde, wie es ihr gerade eben in Gestalt ihres Stiefbruders Willbert zur Seite gestanden hatte, glaubte sie nicht.

Sie hatte die ersten Bäume erreicht und bahnte sich zielstrebig einen Weg durch die dicht stehenden Stämme, hin zu dem kleinen Bach, der manchmal fast ganz ausgetrocknet sein Dasein fristete, aber nun seit einem heftigen Regenguss vor ein paar Tagen munter vor sich hin sprudelte. Aufgewühlt ließ Clara sich an dem flachen, von Sumpfdotterblumen und Knöterich bewachsenen Ufer nieder und schöpfte sich das klare, kalte Wasser ins Gesicht. Wenn ihr Gefühl sie nicht trog, war inzwischen nicht nur ihre Wange angeschwollen sondern auch ihr Auge in Mitleidenschaft gezogen. Als sie sich Kittel und Cotte herunterzog, um ihre schmerzenden Brüste zu betrachten, stellte sie fest, dass sich die ehemals weiße Haut an mehreren Stellen bereits rot verfärbte und in einigen Tagen wahrscheinlich in einen heftigen Bluterguss übergehen würde. Ihre Brustwarzen waren blutig und so spritzte sie sich das kalte Wasser mit der Hand auf die empfindlichen Stellen, was erneut einen stechenden Schmerz verursachte, so dass sie heftig die Luft einsog. Immerhin war das Wasser so kalt, dass sie schon nach kurzer Zeit kein Gefühl mehr in den betroffenen Stellen hatte. Den körperlichen Schmerz hatte sie damit einigermaßen eingedämmt, aber gegen die Gefühle in ihrem Inneren konnte auch das kalte Wasser nicht helfen. Sie konnte nicht fortgehen, denn dann würde ihr Stiefvater ihre Mutter wahrscheinlich totschlagen. Und da Clara mit zärtlicher Liebe an ihrer Mutter Gertrud hing, die sich schon so oft schützend vor sie gestellt hatte, wenn Willbert oder ihr Stiefvater sie drangsalierten, konnte sie dieses Risiko nicht eingehen. Aber bleiben hieß, über kurz oder lang ihrem Vater zu Willen sein zu müssen, und der Gedanke erfüllte sie mit so großer Abscheu, dass sie sich unwillkürlich schütteln musste. Und so drehten sich ihre Gedanken im Kreis, ohne dass ihr eine Lösung einfallen wollte, und als die schon tief stehende Sonne den nahenden Abend ankündigte, machte Clara sich notgedrungen und mit klopfendem Herzen auf den Heimweg. Der Gedanke an das, was sie dort erwarten würde, schnürte ihr die Kehle zu und eine überwältigende Übelkeit machte sich in ihr breit.

Dortmund, August 1377

Philipp blickte ungläubig auf das Geschehen, das sich hinter der der eigentlichen Stadtmauer vorgelagerten hölzernen Palisade abspielte. Seit zwei Tagen belagerten die Grafen Wilhelm der Zweite von Berg, Adolf von Kleve und Herzog Wilhelm der Sechste von Jülich die Reichsstadt Dortmund. Die streitlustigen Herren waren mit etwa siebenhundert bis an die Zähne bewaffneten Reitern und einer ungezählten Schar an Fußsoldaten auf Dortmund vorgerückt und hatten begonnen, die schwer befestigte Stadt zu belagern. Um die Ernsthaftigkeit ihres Ansinnens zu unterstreichen, hatten einige mitgeführte Katapulte gut zwei Dutzend schwere Steinkugeln gegen die Mauern der Stadt geschleudert, ohne jedoch ernsthaften Schaden anzurichten. Das war zum Einen der überaus solide gebauten, etwa 28 Fuß hohen Stadtmauer zu verdanken, die bisher noch jedem feindlichen Angriff standgehalten hatte. Zum Anderen verstanden es die selbstbewussten und wehrhaften Bürger dieser freien Reichsstadt, ihr vom Kaiser anerkanntes und bereits seit etwa hundertdreißig Jahren bestehendes Recht auf Selbstverwaltung durch einen gewählten Rat gegen jeden zu verteidigen, der den Versuch wagte, die Stadt zu unterwerfen und sich an ihrem Wohlstand zu bedienen. Aufgrund der sowohl wirtschaftlich wie auch strategisch bedeutenden Lage an dem von Ost nach West verlaufenden Hellweg und der von Köln nach Norden führenden Nord-Süd-Straße war Dortmund schon früh zu Ansehen und Wohlstand gekommen und damit zum Ziel der Angriffe durch die umliegenden Landesherren geworden. Genauer gesagt ging die größte Gefahr von Graf Engelbert von der Mark aus, der die Stadt am liebsten seinem Herrschaftsgebiet einverleiben wollte, da sie nicht nur unvorstellbar vermögend war, sondern auch wie eine Insel inmitten seines Territoriums lag. Zwar zahlte die Stadt ihm jährlich die Summe von 60 Mark an Schutzgeld, damit er sich friedlich verhielt, aber diese Vereinbarung war in etwa so viel wert wie der Vertrag, den die Stadt erstmals am 28. Februar 1364 und, um diesen zu bekräftigen, noch einmal im letzten Jahr mit Graf Engelbert von der Mark geschlossen hatte. Beide enthielten Regelungen zum gegenseitigen Umgang miteinander und waren von gräflicher Seite nicht das Pergament wert, auf dem sie verfasst waren.

Umso erstaunter war Philipp, als er sah, dass sich die gräflichen Truppen sammelten und augenscheinlich ihren Abzug vorbereiteten. Eine derart kurze und unkoordinierte Belagerung war ihm, zumindest seit er zurückdenken konnte, noch nicht vorgekommen! Die letzte Fehde mit Dietrich von Dinslaken, einem Bruder des machthungrigen Engelbert von der Mark, die Dortmund im letzten Herbst überstanden hatte, hatte der Stadt weitaus mehr Standfestigkeit abverlangt.

„Hurra, sie ziehen ab!“ Zunächst ungläubig, dann zunehmend spöttisch hallten die Rufe der siegreichen Stadtsoldaten und der zur Verteidigung verpflichteten Bürger von den Zinnen des Wehrganges, auf dem auch Philipp seinen Dienst versah. Bald erscholl ein vielstimmiger, von höhnischen Gesten begleiteter Chor hunderter Stimmen hinter den abziehenden Reitern und Fußsoldaten her und wurde von den begeisterten Bürgern innerhalb der Stadtmauern aufgenommen.

Müde betrat Philipp durch eine kleine Tür in Höhe des Wehrganges den Adlerturm, stieg die ausgetretenen Steinstufen hinab und tauchte in die singende und feiernde Menge ein, die sich in Windeseile in den Straßen und Gassen versammelt hatte. Auf dem kurzen Weg zu seinem Zuhause am Alten Markt wurde er immer wieder bedrängt, den ein oder anderen Becher Bier oder Wein anzunehmen und auf den neuerlichen Sieg über die Grafen von der Mark zu trinken und mehr als einmal klopften ihm dankbare Bürger, die an seinem Kettenhemd und dem eisernen Helm erkannten, dass er einer der Verteidiger war, auf die Schulter und gratulierten ihm. Gerade so, als ob er alleine dafür verantwortlich war, dass sich die Belagerer zurückgezogen hatten. Dabei war er nur seiner Bürgerpflicht nachgekommen, die im Verteidigungsfall alle Bürger zu den Waffen rief. Wenn Dortmund nicht gerade in irgendeine Fehde verwickelt wurde und er, wie auch alle anderen Bürger, je nach Stand und Ausrüstung, gezwungenermaßen zur Verteidigung herangezogen wurde, war er nämlich mit Leib und Seele Kaufmann. Der Pelzhandel seines Vaters, den er einmal übernehmen würde, war sein Lebensinhalt und er liebte es, nach Nowgorod zum dortigen Handelshof, dem Peterhof, zu reisen und mit den dort ansässigen Ostmännern zu feilschen. Zobel-, Hermelin- und Nerzfelle kaufte er dort, allesamt von hoher Qualität und so ganz anders als die in seiner Heimat verwendeten Schaf- oder Kaninchenfelle! Die Felle, mit denen seine Familie handelte, konnten sich nur reiche Kaufleute, Patrizier oder Adelige leisten!

Erschöpft betrat er sein Elternhaus am Alten Markt und warf seinen Helm achtlos auf eine der Truhen in der Halle. Noch während er sich das Kettenhemd über den Kopf zerrte kam seine Schwester die Treppe hinunter und sah ihn mit gerunzelten Brauen an.

„Was machst du denn schon hier, Bruderherz? Bist du desertiert oder hat man dich wegen Unfähigkeit weggeschickt?“ Spöttisch lächelnd kam sie auf ihn zu und half ihm, auch den Gambeson auszuziehen.

„Weder noch, Schwesterherz. Es war leider ganz unspektakulär. Die Herren haben es sich anders überlegt und sind einfach abgezogen.“

„Was?! Aber warum? Sie haben doch gerade erst mit der Belagerung begonnen!“ Ungläubig strich sich Margret eine Strähne ihres dunklen Haares hinter das Ohr und sah ihn aus ihren grauen Augen fragend an.

„Wenn ich das wüsste! Vielleicht hat Graf Engelbert sie zurückgepfiffen? Es wäre immerhin möglich, dass Graf Wilhelm den Angriff ohne Wissen seines lieben Verwandten begonnen hat um sich bei ihm lieb Kind zu machen. Man munkelt ohnehin, dass Wilhelm es auf Graf Engelberts Tochter abgesehen hat und da wäre eine Unterwerfung der Stadt doch eine gelungene Bewerbung um die Hand der Holden. Aber Engelbert ist nun einmal kein Mann, der sich gerne übergehen lässt, zumal die Grafen, so sie denn erfolgreich gewesen wären, garantiert nicht ohne reiche Belohnung das Feld geräumt hätten. Und warum sollte Graf Engelbert sich in Bezug auf Dortmund mit weniger zufrieden geben als ihm nach seiner Ansicht zusteht?!“

„Vielleicht möchte er sich auch nur nicht den Unmut des Kaisers zuziehen, wenn dieser im Spätherbst Dortmund besucht! Gerüchten zufolge soll er darüber nachdenken, den Bürgern der Stadt zuzusichern, dass Dortmund niemals ohne ihre Zustimmung an einen anderen Landesherren verpfändet oder verkauft werden kann. Als Gegenleistung wünscht er sich einen Teil der Reliquie des Heiligen Reinoldus.“

Philipps Vater war hinzugetreten und schlug seinem Sohn auf die Schulter.

„Womit Reinoldus dann mal wieder Dortmund gerettet hätte!“ Trotz seiner Erschöpfung musste Philipp lachen.

Der Legende nach hatte es Reinold als jüngster Sohn des mit Karl dem Großen verfeindeten Haimon mit seinen drei Brüdern geschafft, sich sieben Jahre in der von ihm erbauten Festung Montalban zu verschanzen.

Wenn das mit seiner heiligen Hilfe auch den Dortmundern gelingen könnte, brauchte man sich wohl um die Zukunft der Stadt keine Gedanken zu machen!

Darüber hinaus hatte Reinold nach einem bewegten Leben, das in Köln sein Ende gefunden hatte, durch ein Wunder seine letzte Ruhestätte in der zu seinen Ehren erbauten Kirche Sankt Reinoldus gefunden. Der Karren mit seinem Leichnam hatte sich der Legende nach nämlich selbstständig in Richtung Dortmund aufgemacht und war durch nichts aufzuhalten gewesen, so dass er seine letzte Ruhe in der Stadt gefunden hatte, in der der Wagen stehen geblieben war.

Es gab sogar einige Bürger, die behaupteten, sie hätten selbst gesehen, wie der Heilige Reinoldus bei so mancher Fehde leibhaftig auf den Wehrgängen der Stadtmauer gestanden und die Steingeschosse, welche die Angreifer auf die Stadt katapultierten, gefangen und dann mit großer Wucht auf diese zurückgeschleudert hätte. Das wagte Philipp zwar zu bezweifeln, aber schaden konnte dieser Glaube schließlich nicht, wenn er dazu beitrug, die Zuversicht der Leute an die eigene Unbesiegbarkeit zu stärken.

Sein Vater unterbrach seine abschweifenden Gedanken, indem er seine Hand federnd auf die Schulter seines Sohnes legte und mit seiner sonoren Stimme, in der unterschwellig Stolz mitschwang, sagte: „Philipp, ich habe eine Aufgabe für dich, die dir wesentlich mehr liegen wird als die Verteidigung der Stadt. Der Rat hat beschlossen, dem Kaiser eine Abordnung entgegen zu schicken, die ihn bei Unna willkommen heißen und dann nach Dortmund begleiten soll. Es ist zwar noch eine Weile bis dahin, aber es gibt noch einige Dinge vorzubereiten, denn der Kaiser kommt mit großem Gefolge. Und da Kaiserin Elisabeth ihn bei dieser Reise begleitet, müssen wir noch wachsamer sein. Sollte einem von ihnen auf dem Weg nach Dortmund oder in der Stadt etwas passieren, werden die ständigen Angriffe durch den Grafen von der Mark unser kleinstes Problem sein! Ich glaube zwar nicht, dass Graf Engelbert unter falschen Farben einen Angriff auf seinen Kaiser wagt, um Dortmunds Position zu schwächen, aber ganz traue ich ihm und dem Rest seiner gräflichen Verwandtschaft nicht über den Weg!

Es gilt also auch hier, ein wachsames Auge auf die Herren in Hamm zu haben!“ Er schob seinen Sohn auf Armeslänge von sich und blickte stirnrunzelnd an ihm herab.

„Wie ich sehe, könnte es aber nicht schaden, wenn du dich etwas frisch machst. Ich erwarte dich dann im Kontor, damit wir die Einzelheiten besprechen können!“ Er wandte sich um und ließ Margret und Philipp stehen.

„Warum fallen die spannenden Aufgaben immer den Männern zu? Du gehst auf Abenteuerreise und ich muss hier zuhause bleiben und mich in Haushaltsführung üben!“, schmollte Margret.

„Immerhin heißt dein Abenteuer schon sehr bald Vermählung und dein Zukünftiger würde es sicherlich nicht gut heißen, wenn seine Braut in voller Rüstung durch die Gegend reitet um feindlichen Rittern den Garaus zu machen!“, neckte Philipp sie. Dabei tippte er ihr mit seinem Zeigefinger auf die Nasenspitze, was sie mit einem ärgerlichen Schnaufen quittierte.

„Pah, Hermann ist ein Langweiler! Für den ist es schon ein Abenteuer, wenn er zu Fuß durch die Stadt gehen muss!“

Philipp musste unwillkürlich schmunzeln. Margret hatte das ungestüme Temperament ihrer Mutter geerbt, die leider viel zu früh verstorben war. Da war Margret gerade fünf und er selbst erst zehn Jahre alt gewesen.

Seitdem waren die Geschwister unzertrennlich und Philipp hing mit zärtlicher Liebe an Margret, die diese bedingungslos erwiderte.

„Philipp? Willst du ihn denn gar nicht verteidigen, so wie du es sonst immer tust?“ Herausfordernd sah Margret ihn an und stemmte die Hände in die Hüften.

Er drückte ihr schnell einen Kuss auf die Wange und winkte ab.

„Das muss ich gar nicht. Ich finde es klug, wenn er einen Knecht mitnimmt. Bei seiner Stellung und dem ganzen Gesindel, das sich in manchen Gassen herumtreibt, hält er sich so von Anfang an jeden Ärger vom Hals.“

„Pah, ich will aber einen furchtlosen Gatten, der mich im Notfall mit dem Schwert...“

„Liebes Schwesterherz, du solltest dich weniger mit diesen romantischen Gedanken befassen als vielmehr ganz praktisch bei der Vorbereitung der Feierlichkeiten helfen. Und wie könnte Hermann feige sein,wenn er dich zur Frau nimmt? Dazu braucht man schon eine Menge Mut!“, neckte er sie und wich geübt einem Knuff aus.

„So, und nun lass mich bitte in meine Kammer gehen, damit ich Nase und Augen unseres Vaters nicht über Gebühr strapaziere, wenn ich gleich zu ihm ins Kontor gehe!“ Philipp drückte ihr einen Kuss auf den dunklen Schopf und schob sie sanft beiseite. Sein Bett würde wohl noch geraume Weile auf ihn warten müssen, denn so wie er seinen Vater kannte, hatte dieser bereits sehr detaillierte Vorstellungen von der bevorstehenden Reise ins benachbarte Unna!

Hamm, August 1377

„Ihr seid ein verdammter Narr!“ Graf Engelberts Stimme donnerte durch die gewaltige Halle seiner Burg und hallte von den Wänden wieder. Sein Cousin dritten Grades, Graf Wilhelm, kniete wie vom Donner gerührt vor der imposanten Gestalt des fast Fünfzigjährigen, dessen Züge vor Zorn bebten. Zwar bestand für den fast gleichaltrigen Grafen von Jülich keine Veranlassung, vor dem aufgebrachten Landesherren zu knien, denn immerhin war Wilhelm nicht Engelberts Untertan, aber in Anbetracht der Laune des für seine Wutausbrüche bekannten Cousins hielt Wilhelm es für klug, ein wenig Demut zu demonstrieren, wenn er auch nicht einsah, was er falsch gemacht haben könnte. Seit Jahrzehnten schon versuchten die Grafen von der Mark, die freie Reichsstadt zu unterwerfen und er hätte doch gedacht, dass seine, wenn auch eigenmächtig eingebrachte, Hilfe den mächtigen Engelbert erfreut hätte.

Stattdessen hatte dieser, kaum dass seine Späher ihm von dem Ausfall seines Cousins gegen Dortmund berichtet hatten, einen Boten geschickt, der die sofortige Einstellung der Belagerung und Beschießung der Stadt befohlen hatte. Wie stand er denn nun vor seinen Verbündeten da, denen er reiche Beute für den Erfolgsfall versprochen hatte!

Graf Engelbert durchmaß seine Halle mit großen Schritten und blieb vor Wilhelm stehen.

„Was habt Ihr Euch bloß dabei gedacht, ohne mein Wissen auf meinem Gebiet eine Fehde vom Zaun zu brechen? Seid Ihr in Eurem Alter so schwanzgesteuert, dass die Aussicht auf das Brautlager mit meiner blutjungen Tochter alle Säfte aus Eurem Hirn in Euer verschrumpeltes Ding fließen lässt?“

„Graf Engelbert, ich...“, weiter kam der so Gescholtene nicht, denn der erboste Landesherr gebot ihm mit einer herrischen Geste zu schweigen.

„Natürlich erwarte ich keine Antwort von Euch, Graf Hasenhirn! Habt Ihr etwa gedacht, was meine Familie in Jahrzehnten nicht geschafft hat, würde Euch im Handumdrehen gelingen? Dortmund ist mit Belagerung und Beschuss nicht in die Knie zu zwingen.

Da bedarf es anderer Mittel, das habe ich in den vergangenen Jahren gelernt!“

„Ich wollte Euch doch nur einen Gefallen tun! Ich habe gedacht...“

„Das ist Euer größtes Problem: Ihr denkt! Ich brauche keine Männer, die denken. Das besorge ich lieber selber! Ich brauche Männer, die tun, was ich sage! Und zwar dann, wenn ich es sage!“ Er bedeutete Wilhelm, aufzustehen. „Jetzt steht schon auf. Ihr werdet meine Tochter heiraten, ihr ein paar Kinder machen und fortan nur noch dann eingreifen, wenn ich Euch rufen lasse. Habt Ihr das verstanden?“

Verdutzt sah Wilhelm den gleichaltrigen Grafen an.

Hatte er sich verhört? Würde er ihm wirklich die Hand seiner Tochter geben, obwohl er ihn doch für einen Versager hielt? Hatte er ihn mit dem Donnerwetter nur einschüchtern wollen, um ihm seinen Platz im Familiengefüge zu verdeutlichen? War er am Ende gar nicht so wütend, wie er tat?

„Ich... Graf Engelbert, ich fühle mich geehrt, Eure Tochter...“

„Jetzt hört schon auf zu stammeln! Wo Ihr gerade schon einmal hier seid, schlage ich vor, dass die Hochzeit in den nächsten Wochen stattfindet. Dann könnt Ihr mit Margarete noch vor dem Winter wieder in Euer Heim nach Jülich reisen.“ Und da so lange bleiben, bis ich Euch brauche, fügte er in Gedanken hinzu.

Denn natürlich wollte er Dortmund endlich unterwerfen, seine Geduld mit dieser Stadt voller Goldscheißer und Speichellecker war vorbei! Und obwohl dessen törichter Vorstoß ebenso unsinnig wie erfolglos gewesen war, hatte Wilhelm damit aber doch bewiesen, dass er auf ihn zählen konnte. Und die Vermählung mit Margarete würde das Band zwischen ihnen noch einmal verstärken. Es würde zwar noch eine Weile dauern, bis er einen genauen Plan ersonnen hatte, denn nur durch Belagerung oder einen unkoordinierten Überfall war die Stadt nicht einzunehmen. Aber dann würde Dortmund endlich fallen und ihm Untertan sein! Das unermesslich reiche, stolze Dortmund, das wie ein Geschwür inmitten seiner gräflichen Besitzungen thronte und sich seinem Zugriff immer wieder entzog, würde ihn bald als Herren anerkennen müssen! Er winkte einen Diener herbei und ließ sich einen Becher von dem schweren, roten Bordeauxwein bringen, den er gerade erst mit einer Lieferung aus Köln erhalten hatte. Genüsslich schwenkte er den Pokal vor seiner Nase, sog das fruchtige Aroma, das leicht an Johannisbeeren erinnerte, ein, und trank dann in kleinen Schlucken.

Die etwas überstürzt anberaumte Hochzeit seiner Tochter Margarete mit Graf Wilhelm würde er zum Anlass nehmen, sich der Unterstützung einiger Verbündeter zu versichern und vielleicht hatte ja einer von diesen sogar eine nützliche Idee, wie man Dortmund unterwerfen konnte. Immerhin würden einige seiner Mitstreiter trotz der Kürze der Zeit anreisen können und er würde die Zusammenkunft nutzen, um bei ihnen vorzufühlen, was sie für ihre Unterstützung fordern würden und wie diese aussehen könnte. Und so hatte das eigenmächtige Handeln seines Schwiegersohnes in Spe am Ende doch noch sein Gutes!

Ascheberg, August 1377

Zu Claras großer Erleichterung waren weder ihr Stiefvater noch ihr Stiefbruder Willbert zu sehen, als sie den elterlichen Hof betrat. Die kleine Werkstatt und das nicht viel größere, lehmverputzte Wohnhaus lagen wie ausgestorben da. Wahrscheinlich feierten Vater und Bruder das am Nachmittag abgeschlossene Geschäft in dem schäbigen Wirtshaus, das etwas abseits des Dorfes an einem kleinen Weg lag, den nur selten fremde Reisende fanden. Vorsichtig öffnete sie die Tür zu der Schlafkammer der Eltern und trat an das Bett ihrer Mutter um nach ihr zu sehen. Zärtlich streichelte sie die faltige Hand. Unendlich langsam öffnete ihre Mutter daraufhin die Augen und ein zärtliches Lächeln huschte über ihre bleichen Züge, das jedoch in dem Augenblick erlosch, als sie in Claras Gesicht sah.

„Was ist passiert?“, fragte sie mit brüchiger Stimme. Clara wandte sich ab und schüttelte nur hilflos den Kopf, während sie mühsam versuchte, die Tränen zurückzuhalten.

„Nichts, Mutter!“, log sie, aber ihre erstickte Stimme strafte ihre Worte Lügen. Und als ihre Mutter ihr mitfühlend über die blonden Locken streichelte, brachen der Schmerz und die Verzweiflung aus Clara heraus und sie begann, haltlos zu weinen.

Eine Weile war nur ihr Schluchzen und der rasselnde Atem ihrer Mutter zu hören.

„Hat er dich...?“ Gertrud konnte oder wollte das Unvorstellbare nicht aussprechen. Clara schüttelte schnell den Kopf.

„Aber er wird es tun! Er hat es mir schon lange angedroht aber bisher konnte ich es immer verhindern. Aber jetzt kann ich dich nicht mehr beschützen, mein Kind. Du musst fort von hier!“

„Ich kann dich hier nicht alleine lassen! Du bist krank und...“

„Ich werde sterben, mein Kind, das fühle ich. Aber vorher musst du noch etwas wissen!“ Man merkte ihr an, wie sehr das Sprechen sie anstrengte und doch gebot sie Clara Einhalt, als diese protestieren wollte.

„Ich habe nicht mehr viel Zeit und ich kann nicht gehen, bevor du nicht... die Wahrheit kennst.“

„Mutter, du wirst nicht sterben, das lasse ich nicht zu!“

„Ich habe nicht mehr viel Zeit, Kind, und daran kann niemand etwas ändern! Darum muss ich es dir jetzt sagen, bevor es zu spät ist! Danach wird es dir leichter fallen, von hier fort zu gehen.“ Gertrud hustete und einige blutige Sprenkel benetzten das Laken. „Ich liebe dich, das musst du mir glauben, auch wenn...“, sie hustete erneut und ihre dunkel unterlaufenen Augen füllten sich mit Tränen, „auch wenn du nicht meine leibliche Tochter bist!“ Die letzten Worte hatte sie so leise gesprochen, dass Clara glaubte, sich verhört zu haben.

„Aber...“, verwirrt sah sie ihre Mutter an, die immer beschwerlicher atmete.

„Bitte, geh zu der alten Irmel, sie...“, Gertruds Augen weiteten sich und ein erneuter Hustenanfall nahm ihr den Atem.

„Ich fürchte, ich habe nicht mehr genug Zeit, dir das Alles zu erklären. Irmel weiß es... Geh... schnell!“ Sie sank in die Kissen zurück und zuerst dachte Clara, der Allmächtige hätte ihre Mutter in sein Himmelreich geholt, aber nach einer schier unendlich lange erscheinenden Zeit entrang sich der Brust der Kranken ein tiefes Seufzen und sie atmete, wenn auch unregelmäßig, weiter. Allerdings hatte sie die Augen geschlossen und schien sich in einer tiefen Ohnmacht zu befinden, was Clara gleichermaßen beruhigte wie erschreckte. Während sie auf die flachen Atemzüge ihrer Mutter lauschte, sickerten langsam die Worte zu ihr durch, die Gertud mit scheinbar letzter Kraft gesprochen hatte. Was hatte das zu bedeuten, dass sie nicht ihre Mutter war? Clara konnte sich nicht daran erinnern, irgendwo anders als bei ihren Eltern gelebt zu haben, was aber natürlich nicht ausschloss, dass Gertrud nicht ihre leibliche Mutter war. Dass Sewolt nicht ihr Vater war hatte sie schon vor einiger Zeit erfahren, als sie sich voller Verzweiflung über die immer wieder kehrenden Erniedrigungen an ihre Mutter gewandt hatte, nicht verstehend, wie ein Vater seiner Tochter das immer wieder antun konnte. Das schien seine Ablehung ihr gegenüber zu erklären und eine unendliche Erleichterung, nicht leiblich mit diesem grausamen Mann verwandt zu sein, hatte sich in ihr breit gemacht. Aber wenn Gertrud nicht ihre Mutter war, wer war es dann? Kurz versuchte Clara sich mit dem Gedanken zu trösten, dass ihre Mutter vielleicht im Fieber gesprochen hatte, aber ganz tief in ihrem Bewusstsein wusste sie, dass das nicht so war.

Da waren zu viele Ungereimtheiten, denen sie nie Beachtung geschenkt hatte, die aber im Lichte dieser Eröffnung ein anderes Gewicht bekamen! Nicht nur, dass sie ihrer Mutter ganz und gar nicht ähnlich sah, ihre Mutter wäre zum Zeitpunkt der Empfängnis auch bereits ziemlich alt gewesen, worüber Clara bis heute allerdings niemals nachgedacht hatte.

Aber alles Grübeln half im Moment nichts, Gertrud konnte ihr im Augenblick keine Antworten auf die vielen Fragen geben, die durch ihren Kopf schossen.

Irmel! Clara erinnerte sich, dass ihre Mutter die alte Kräuterfrau früher oft besucht und ihr manchmal etwas Wurst oder Käse vorbeigebracht hatte. Als Gegenleistung hatte die Alte Gertrud immer ein paar Kräuter oder etwas selbst gesammelten Honig aus den Waben wild lebender Bienen mitgegeben. Für Clara und Willbert waren das immer ganz besondere Tage gewesen, wenn das frisch gebackene Brot dick mit Honig bestrichen auf den Tisch kam. Allerdings hatte ihr Vater seiner Frau bald verboten, sein sauer verdientes Geld für Almosen für die alte Vettel auszugeben und so hatte Gertud Irmel bald nur noch heimlich besuchen können. Clara erinnerte sich daran, dass ihr Vater ihre Mutter einmal nach einem solchen Besuch abgefangen und fürchterlich verprügelt hatte Danach hatte ihre Mutter die Besuche wohl eingestellt, jedenfalls so weit Clara wusste. Es konnte also durchaus sein, dass die alte Kräuterfrau mehr über Claras Herkunft wusste.

Nach einem letzten Blick auf die blasse, jetzt wieder etwas ruhiger atmende Gertrud, verließ Clara die Schlafkammer. Sie musste Irmel aufsuchen, auch wenn die Sonne bald untergehen würde. Die Hütte der Alten war nicht allzu weit entfernt und Clara hoffte, noch vor Einbruch der Nacht wieder zurück zu sein.

Sich vorsichtig nach allen Seiten umsehend, schlich sie sich aus dem Haus und überquerte den ausgestorben daliegenden Hof. Bis zu Irmels kleiner Kate am anderen Ende des Dorfes war es nur ein kurzer Fußweg und wenn sie Glück hatte, konnte sie wieder zurück sein, bevor ihr Vater und Willbert nach Hause kamen.

Das Schaudern, das sie bei dem Gedanken an eine Begegnung mit Sewolt überkam, ignorierte sie. Sie würde so lange draußen ausharren, bis sie sicher sein konnte, dass ihr Vater und ihr Stiefbruder schliefen.

Das würde ihr die nötige Zeit verschaffen, darüber nachzudenken, was sie tun konnte.

Irmels kleine Hütte stand, windschief und mit nur notdürftig geflicktem Dach, abseits des Weges am Waldrand. Die Sonne war bereits untergegangen, aber noch war es hell genug, die dünne Rauchsäule zu erkennen, die sich träge gen Himmel schraubte. Also war die Alte zuhause.

„Irmel?“ Clara trat auf die windschief in den Angeln hängende Tür zu und klopfte leise an. Als sich nichts rührte rief sie nochmal: „Irmel? Ich bin es, Clara.“

„Ist die gute Gertrud schon vor ihren Schöpfer getreten?“ Die Stimme der Alten klang rau und müde und Clara fuhr erschrocken herum. Irmel stand unmittelbar hinter ihr und wischte sich die dreckigen Hände an ihrem ebenfalls nicht ganz sauberen Kittel ab. Augenscheinlich hatte sie trotz der späten Stunde noch in ihrem kleinen Garten Unkraut gejätet.

„Nein, Irmel, ich bin hier...“

„Weil du die Wahrheit wissen willst! Komm rein und setz dich.“

Dortmund, August 1377

Verärgert betrat Philipp die kühle Halle seines Elternhauses. Er hatte gerade die letzte Pelzlieferung begutachtet, die von Lübeck aus auf dem Landweg in Dortmund eingetroffen war. Es handelte sich ausschließlich um teure sibirische Eichhörnchen- und Zobelfelle und Barabinsker Hermelin. Die besten Stücke dieser Lieferung waren dazu bestimmt gewesen, einen kostbaren Umhang zu zieren, der als Gastgeschenk für den anstehenden Kaiserbesuch vorgesehen war. Aber daraus würde nun nichts werden, denn die Ware war minderwertig. Philipp hatte nicht lange gebraucht, um festzustellen, dass die Hermelinfelle am Rücken leicht bräunlich schimmerten und an den Seiten und dem Kopf gelbliche Unterwolle aufwiesen. Sommerfelle! Diese waren zwar nicht wertlos, aber im Gegensatz zu den bläulich weiß schimmernden Winterfellen, die zudem noch längeres und dichteres Haar aufwiesen, nur zum Füttern der Umhänge zu gebrauchen. Ähnlich verhielt es sich mit der restlichen Lieferung, alles Sommerfelle und nicht von höchster Qualität. Philipp konnte sich nicht erklären, warum sein Onkel Hinrich, der von Lübeck aus den Handel der Familie Rensinck mit den Partnern in Nowgorod betreute, sich derart hatte übervorteilen lassen. Er würde mit seinem Vater darüber sprechen müssen und gegebenenfalls könnte eine Reise nach Lübeck, und, wenn das keine Klärung brachte, möglicherweise sogar zum Petershof in Nowgorod erforderlich werden, um dort nach dem Rechten zu sehen. Gott sei Dank hatte er ausreichend erstklassige Hermelinfelle im Lager, so dass die Ausstattung des Mantels für den Kaiser gesichert war. Eine Lieferung minderwertiger Ware würden sie verschmerzen können, aber auf Dauer lebte ihr Geschäft von der Qualität und dem ausgezeichneten Ruf der Familie Rensinck und ihre Kunden erwarteten stets einwandfreie Ware.

So in Gedanken versunken sah er erst jetzt, dass seine Schwester mit dem Ohr an der Tür zum Kontor lehnte und offensichtlich einem Gespräch lauschte, denn hinter der verschlossenen Tür waren Stimmen zu vernehmen.

„Margret, schäm dich!“, schmunzelte Philipp, der die Neugier seiner Schwester kannte. Margret fuhr ertappt herum, doch als sie ihren Bruder erkannte, glitt ein schelmisches Lächeln über ihr hübsches Gesicht.

„Gut dass du gerade kommst! Dann kann ich dir gleich gratulieren!“

„Schwesterlein, wann wird endlich ein ernsthaftes, zurückhaltendes Weib aus dir, so wie es der Anstand fordert?! Es gehört sich nicht, an verschlossenen Türen zu lauschen! Diese unbändige Neugier hat schon einmal vor langer Zeit ein hübsches Wesen namens Eva aus dem Paradies vertrieben, weil...“

„Weil sie verbotenerweise Früchte vom Baum der Erkenntnis gegessen hat, ich weiß! Aber hätte sie das nicht getan, würden wir noch heute alle nackt im Garten Eden hocken und...“

„Margret! Das sind ketzerische Ansichten und du solltest dich in Acht nehmen, so etwas auch nur zu denken!“, schalt Philipp seine Schwester. Sie waren freigeistig erzogen worden, denn ihr Vater war der Ansicht, dass durch Zweifeln und in Frage stellen mehr Fortschritte in Wissenschaft und Medizin erzielt worden waren als durch Glauben. Aber ob er diese Ansicht auch in Bezug auf die Heilige Schrift teilen würde, wagte Philipp doch stark zu bezweifeln!

„Ach was, Eva hat uns Frauen schon genug eingebrockt, weil sie dieser verbotenen Frucht nicht widerstehen konnte, da fällt so eine kleine Lauscherei an der Tür gar nicht ins Gewicht. Und dieses Haus hat ohnehin Augen und Ohren!“ Sie kicherte leise. „Ich meine damit die Hübschen von der kleinen Trine und die Großen von Hedwig!“

Jetzt musste auch Philipp grinsen. Trine war die junge Magd bei den Rensincks und bekannt dafür, dass sie manchmal vor lauter Lauschen und Staunen den Mund nicht wieder zu bekam. Und die alte Hedwig war in ihrer Position als Köchin unbenommen die graue Eminenz unter den lasterhaft Neugierigen!

„Margret, Margret, du wirst das ein oder andere Vater Unser beten müssen um Buße zu tun. Besonders wenn sich zu der sündigen Neugier auch noch die üble Nachrede gesellt!“

Philipps Ärger über die Pelzlieferung war schon fast verflogen. Seine kleine Schwester verstand es immer wieder, ihn mit ihrer fröhlichen Art auf andere Gedanken zu bringen.

„Was haben denn deine überaus niedlichen Ohren durch diese hinderlich dicke Tür hindurch gehört, dass du mir gratulieren kannst, bevor ich auch nur ahne, um was es geht?“

„Mein geliebtes Bruderherz, du wirst bald der stattliche Ehegatte einer stadtbekannten Schönheit und überaus guten Partie sein, wenn ich Vater und Herrn Swarte richtig verstanden habe!“

Philipps gute Laune verflog so schnell wie sie gekommen war. Die Swartes waren erfolgreiche Tuchhändler und eine familiäre Verbindung mit ihnen wäre eine glückliche Erweiterung des eigenen Pelzhandels. Tuch und Pelz, das passt!, hatte sein Vater vor geraumer Zeit gesagt, als er begann, passende Ehepartner für seine Kinder zu suchen. Damals schien eine Verlobung für beide Kinder noch in weiter Ferne, aber wie das Verlöbnis von Margret gezeigt hatte, wurde es jetzt ernst.

„Birgitta?“ Verzagt sah Philipp seine Schwester an.

„Wer denn sonst? Hermine ist bereits verheiratet und die kleine Irmhild ist noch zu jung, wenngleich...“, sie grinste ihn frech an, „ich deine Vorlieben da nicht so genau kenne!“

„Margret!“

„Bleibt also noch die schöne Birgitta.“

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür zum Kontor und Philipp war heilfroh, dass er seine Schwester bereits zu Anfang des Gespräches von der Tür weg in die Halle hineingezogen hatte. Heraus traten ein überaus zufrieden wirkender Berthold Rensinck und auch der alte Swarte grinste erleichtert. Hinter den beiden Herren erspähte Philipp die zierliche Gestalt Birgittas. Lange, kastanienbraune Locken fielen ihr bis auf die Hüfte, nur zusammen gehalten durch einen schmalen goldenen Reif. Der himmelblaue Surcot aus Seide umschmeichelte ihre schmale Gestalt und betonte die Farbe ihres Haares und die ihrer blauen Augen.

Ohne Zweifel war Birgitta eine außergewöhnliche Erscheinung, aber Philipp hatte ihrer überheblichen Art bei den wenigen gesellschaftlichen Anlässen, bei denen sie sich begegnet waren, nichts abgewinnen können.

Stets war sie dabei von einer Schar heiratswilliger junger Männer umgeben gewesen und auch der ein ober andere Bewerber fortgeschrittenen Alters um ihre Hand hatte auf einen Beweis ihrer Gunst gehofft. Und nun schien es so, als sei die Wahl ausgerechnet auf ihn gefallen. Er seufzte.

„Philipp?“

Erst jetzt registrierte er, dass sein Vater ihn angesprochen hatte und Birgitta mit scheinbar züchtig gesenktem Haupt vor ihm stand.

„Willst du deine zukünftige Gemahlin nicht begrüßen?“ Damit war jede noch so kleine Hoffnung, der Besuch der Swartes könnte vielleicht doch einen anderen Grund gehabt haben, zunichte gemacht.

„Äh, entschuldigt bitte, aber ich war in Gedanken im Lagerhaus bei der Pelzlieferung, die gerade aus Lübeck eingetroffen ist.“

„Stimmt etwas damit nicht?“ Misstrauisch sah sein Vater ihn an.

„Äh nein, ich berichte Euch gleich.“ Dann verbeugte er sich seinerseits vor Birgitta.

„Jungfer Birgitta, ich fühle mich geehrt, dass Ihr geruht, mich als Gemahl in Erwägung zu ziehen.“

Irgendwie hatte er diese steifen Worte über seine Lippen gebracht, obwohl er genau das Gegenteil dachte. Niemals wäre seine Wahl auf diese Frau gefallen, wenn er frei hätte wählen dürfen, aber da bei einer Vermählung nun einmal andere Dinge als Zuneigung eine Rolle spielten, würde er sich dem Willen seines Vaters fügen und das Beste daraus machen.

Birgitta hob den Kopf und sah ihm direkt in die Augen.

Ihr eiskalter Blick traf ihn so unverhofft, dass er verdutzt die Brauen runzelte. Sie beugte ihren Kopf leicht vor und noch bevor Philipp diese Geste einordnen konnte, zischte sie so leise, dass ihr Vater und der alte Rensinck es nicht hören konnten: „Niemals! Ich heirate keinen kleinen Pelzhändler! Da sei Gott vor!“

Ascheberg, August 1377

Als Clara die Hütte der alten Irmel verließ war die Dämmerung bereits so weit fortgeschritten, dass man den Abendstern am Himmel ausmachen konnte. Die abgestandene, schwüle Luft des Tages war einer angenehm kühlen, nach Rosen und Levkojen duftenden Brise gewichen und am fernen Waldrand freute sich ein Waldkauz mit einem langgezogenen Ruf über seinen ersten Fang.

Clara war zu sehr mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt, um das alles wahrzunehmen, als sie sich auf den Heimweg machte. In ihrem Kopf schwirrten Bilder und Gedanken, denn die Geschichte, die die Alte ihr erzählt hatte, hatte mehr Fragen aufgeworfen als geklärt. Wenn die Geschichte stimmte, dann war ihre leibliche Mutter fortgeschickt worden, um heimlich ihr Kind zur Welt zu bringen. Ihre Mutter war schwanger geworden und ihr Verlobter war offenbar nicht der Vater des Kindes. Auf dem Weg war dann ein Rad an der Kutsche gebrochen und im weiteren Verlauf hatten die Wehen eingesetzt. Der Kutscher hatte in seiner Verzweiflung Gertrud, die zufällig mit einer Stiege voller Obst und Gemüse, die sie auf dem Markt in Unna verkaufen wollte, festgehalten und ihr befohlen, der jungen Frau zu helfen. Und so kam es, dass wenige Stunden später ein kleines Mädchen das Licht der Welt erblickte, während seine Mutter diese gleichzeitig verließ. In den kurzen Atempausen zwischen den Wehen hatte ihre Mutter Gertrud gebeten, sich des Kindes anzunehmen, wenn ihr etwas zustieße, denn auf keinen Fall wollte sie das uneheliche Kind in die Obhut ihrer Familie geben. Aus Furcht, Getrud könnte es sich irgendwann anders überlegen, hatte sie ihr ihren Namen nicht genannt und Gertrud stattdessen nur einen kleinen Beutel übergeben, den sie am Gürtel bei sich trug. Und dann war sie kurz nach der Geburt tatsächlich gestorben. Gertrud hatte geistesgegenwärtig den Säugling fest in einen Fetzen ihres Kittel gewickelt, den sie kurz vorher abgerissen hatte, und das kleine Mädchen abseits der Kutsche in ihre Kiepe gelegt. Dem verzweifelten Kutscher hatte sie eine wirre Geschichte von Kindern erzählt, die, wenn sie tot in einem Wald geboren würden, als Wiedergänger Unglück über die gesamte Familie brächten und das nur abgewendet werden könnte, wenn man sie sogleich am Ort ihrer Geburt beerdige, was bereits geschehen wäre. Der entsetzte Mann hatte schnell ein Kreuzzeichen geschlagen und sie davongejagt, als ob sie an allem Übel die Schuld trüge. Gertrud hatte ihre Kiepe gegriffen und war, ohne sich noch einmal umzudrehen, davongeeilt. Und damit begannen ihre Probleme, denn natürlich hatte sie keine Milch, um das Neugeborene zu säugen und auch sonst hatte sie keine Ahnung, wie sie ihr Versprechen, sich um das Kind zu kümmern, einhalten sollte. Sie war eine einfache Magd bei einem Bauern und dessen Familie würde sich garantiert nicht über den zusätzlichen Esser freuen. Zumal sie jetzt auch nicht mehr auf den Markt konnte, um das Obst und Gemüse zu verkaufen, was einen weiteren herben Verlust für den Bauern bedeutete. Sie entschloss sich, nicht mehr dorthin zurückzukehren, denn wie sollte sie die Sache mit dem Kind auch erklären? Und so war sie ohne Ziel durch den Wald und über staubige Wege gelaufen, das greinende Kind mit dem Wasser versorgend, das sie bei sich trug. Sie wusste, dass der kleine Wurm das nicht lange durchhalten würde, und wenn sie nicht bald irgendwo Milch für das Kind auftreiben konnte, würde es verhungern. Und dann war da plötzlich dieser kleine Bauernhof aufgetaucht und sie hatte verzweifelt an die Tür geklopft und um Hilfe gebeten. Die Bäuerin hatte eine Magd herbeigerufen, die selbst gerade einen kleinen Jungen bekommen hatte und ihr befohlen, das fremde Kind zu säugen. Da sie Mitleid mit der Frau hatte, die da mit einem Säugling und augenscheinlich ohne Dach über dem Kopf vor ihr stand, hatte sie der Fremden angeboten, den Sommer über bei der Arbeit auf den Feldern zu helfen und so für ihren Unterhalt aufzukommen. Und so war Gertrud nach Ascheberg gekommen, wo sie wenig später den Drechsler Sewolt kennenlernte, dem die Frau gestorben war und der sie zum Weib nahm. Anfangs hatte Gertrud noch geglaubt, das Schicksal hätte sich für sie und das Kind zum Guten gewendet, doch schon bald nach der Hochzeit war sie eines Besseren belehrt worden, denn Sewolt hatte sie wie eine Leibeigene behandelt und seine sadistische Art hatte ihr besonders auf dem ehelichen Lager zu schaffen gemacht. Aber weil sie das kleine Mädchen, das Gott ihr auf diese Weise geschenkt hatte, inzwischen abgöttisch liebte und in dem Bewusstsein, dass, wenn Sewolt sie verstoßen würde, ein Leben auf der Straße ihr sicherer Tod sein würde, hatte sie seine Grausamkeiten klaglos ertragen.

Inzwischen war Clara fast zuhause angelangt und erst jetzt erinnerte sie sich an den fadenscheinigen Beutel, den Irmel die ganze Zeit aufbewahrt hatte, weil Gertrud ihrem Gatten nicht traute. Zu wertvoll waren diese Erinnerungsstücke für sie und das Mädchen, als dass sie Gefahr laufen wollte, Sewolt würde ihn entdecken und an sich nehmen, um den Inhalt zu verkaufen. Vorsichtig öffnete Clara das Band, das den Beutel aus festem Wachstuch und Leder verschloss und steckte ihre Hand hinein. Es war inzwischen so dunkel, dass sie nicht erkennen konnte, was sich darin befand, aber sie fühlte etwas, das Pergament sein konnte und etwas Hartes, vielleicht ein Anhänger. Und dann war da noch etwas, das sich anfühlte wie ein Ring, aber sicher war sich Clara da nicht. Sie sah sich um, denn wenn ihre Mutter den Beutel schon vor ihrem Vater versteckt hatte, dann würde sie nicht so dumm sein, den Beutel bei sich zu tragen. Weil sie auf die Schnelle nichts Besseres fand, stopfte sie alles unter einen dichten Brombeerbusch, der am Rande des Drechslerschuppens wuchs und sein dichtes Gestrüpp verbarg den Beutel gut genug. Vorsichtig schlich sie sich zur Tür und horchte. Alles schien ruhig zu sein und so wagte sie es, einzutreten. Immer noch blieb es still im Haus und so huschte sie so leise wie möglich zu ihrer Kammer. Gerne hätte sie noch einen Blick auf ihre kranke Mutter geworfen, aber da sie auf dem ehelichen Lager ruhte, war es immerhin wahrscheinlich, dass ihr Stiefvater inzwischen zurückgekehrt war und ebenfalls dort schlief. Und ihn wollte sie um nichts in der Welt aufwecken! Sie hatte gerade die Tür erreicht, als ein wuchtiger Hieb sie zu Boden streckte.

„Ach, kommt die kleine Hure auch schon nach Hause?

Wo hast du dich rumgetrieben, du missratenes Weib?“

Vor Entsetzen brachte Clara keinen Ton heraus. Sewolt packte sie bei den Haaren und schleifte sie zu der elterlichen Schlafkammer. Was um Himmels Willen hatte er vor? Er würde es doch wohl nicht wagen...?!

Claras Kopfhaut brannte wie Feuer und sie versuchte, auf die Beine zu kommen und sich aus dieser misslichen Lage zu befreien, aber sie schaffte es nicht.

Dann lockerte ihr Stiefvater plötzlich für einen kurzen Augenblick seinen Griff und stieß die Tür zur Schlafkammer auf. Clara riss sich los und rannte auf die Tür zum Hof zu, aber mit zwei schnellen Schritten hatte Sewolt sie eingeholt und erneut traf sie ein wuchtiger Hieb. Ihr wurde schwarz vor Augen und sie sackte hilflos zusammen. Als sie wieder zu sich kam, brauchte sie einen Augenblick, um die Situation zu erfassen. Sie lag auf dem Bett ihrer Eltern und zu ihrem Entsetzen musste sie feststellen, dass es die Seite war, auf der noch vor wenigen Stunden ihre Mutter gelegen hatte. Sewolt stand vor dem Bett und sah sie aufmerksam an.

„Wo... wo ist meine Mutter?“, keuchte Clara und versuchte, sich aufzurichten.

„Die alte Vettel hat endlich die Gelegenheit ergriffen, ihren Schöpfer kennenzulernen. Aber Gott sei Dank hat sie mir ja ihr süßes Töchterlein dagelassen. Und damit du weißt, wo ab jetzt dein Platz ist, kannst du deinen Arsch schon mal dort betten. Und jetzt sieh zu, dass du mir ganz schnell zeigst, was du sonst unter deinem Kittel versteckst. Ich habe lange genug darauf gewartet, dich endlich vögeln zu können.“

Vor lauter Angst konnte Clara sich nicht rühren.

„Mach schon!“ Sewolt kam auf sie zu und jetzt sah sie auch, dass er ein Messer in der Hand hielt.

„Ich kann dir den alten Kittel auch vom Leib schneiden, allerdings könnte es sein, dass mir das Messer dabei ein wenig ausrutscht!“ Er packte Clara am Arm und zog sie auf die Beine. Blitzschnell setzte er das Messer an ihrem Ausschnitt an und mit einem einzigen schnellen Schnitt hatte er ihr Gewand bis zur Taille aufgeschlitzt. Entsetzt sah Clara, dass sich eine dünne Blutspur von ihren Brüsten hinab bis zum Bauchnabel zog. Dann kam der Schmerz und sie stöhnte laut auf.

„Hab ich doch gesagt, könnte weh tun!“ Er grinste sie an und sie konnte seinen alkoholgeschwängerten Atem riechen. Eine unbändige Wut auf diesen grausamen Mann und ihre aussichtslose Situation ließen sie die Fäuste ballen und auf ihn einschlagen. Sie trat, schlug und kratzte, aber gegen den muskulösen Sewolt hatte sie keine Chance. Er gab ihr eine heftige Ohrfeige, die sie zurück auf das Bett warf und war im gleichen Augenblick über ihr. Sein Gewicht presste alle Luft aus ihren Lungen und als sie um Atem rang legte sich seine riesige Hand um ihren Hals und drückte zu. In Panik strampelte sie und wand sich, aber das schien ihn nur noch mehr zu erregen.

„Ja, so mag ich`s gern, du kleine Wildkatze! Und jetzt zeige ich dir, wie viel Spaß wir beide zusammen haben können und danach wirst du darum betteln, dass ich es dir immer wieder besorge!“ Er ließ von ihrem Hals ab, nestelte an seiner Bruche und schob gleichzeitig mit der anderen Hand ihren Rock hoch.

„Dann bleibst du diesmal halt angezogen, es geht auch