Sündensommer - Andrea Gramckow - E-Book

Sündensommer E-Book

Andrea Gramckow

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Beschreibung

Köln, Juli 1484: Katharina, Tochter eines Kölner Kaufmanns, verlobt sich auf Drängen der Eltern mit Lenhart Seger, dem Erben eines Tuchhandels. Kurz darauf begegnet sie Simon Verbeek und ihre Gefühle geraten durcheinander. Als man erst den toten Matthis und kurz darauf ein weiteres Opfer findet, kocht die Stimmung in Köln hoch. Wer ist der Unbekannte, der scheinbar wahllos mordet? Als dann auch noch Katharinas Verlobter vergiftet wird, gerät schnell Simon in Verdacht, der Mann, dem Katharinas Herz gehört. Der Ermittler Emundus Frunt kann ihm eine Verbindung zu allen drei Opfern nachweisen und Simon landet im Kunibertsturm. Katharina versucht, gegen den Willen ihres Vaters, Simons Unschuld zu beweisen. Als ihr allerdings klar wird, welches Motiv wirklich hinter den Morden steckt, gerät nicht nur ihr Weltbild ins Wanken...Sie steckt plötzlich mitten in einem Skandal, der Köln erschüttert und stellt fest, dass vieles nicht so ist, wie es scheint ...

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Inhaltsverzeichnis

Handelnde Personen

Dies Irae

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Epilog

Nachwort

Zur Handlung (Vorsicht! Spoileralarm!)

Literaturverzeichnis

Handelnde Personen

Historisch belegte Personen sind mit* gekennzeichnet

Arndt van Westerburg*, Kölner Ratsherr von 1481-1513

Druytgin*, sein angetrautes Weib

Katharina van Westerburg, einziges Kind der beiden

Johann Greveroide*, Kaufmann und Ratsherr zu Köln, Schwager des Arndt van Westerburg

Lijsbet, seine Gemahlin

Simon Verbeek, Tuchhändler, erbt die Schulden seines Vaters

Cristine Verbeek, Stiefmutter von Simon

Dr. Emundus Frunt*, Stadtsyndikus, Ratsschreiber und mit den Mordermittlungen betraut

Lenhart Seger, Kaufmann, verlobt mit Katharina van Westerburg

Hieronymus, Pfarrer von Klein Sankt Martin

Matthis, erstes Opfer

Herr Kruysgin*, auch ein Opfer

Ratsherren:

Hermann Rinck*, Ratsherr 1468-1480, zwischen 1480 und 1490 mehrfach Bürgermeister

Godart von dem Wasservasse*, Fernhändler

Gesinde:

Ursel, Köchin bei den van Westerburgs

Katlin, Magd bei Selbigen

Gertrud, noch eine Magd

Trin, Köchin im Hause Verbeek

Clara, Magd im Hause Verbeek

Büttel, Nachtwächter, Schneider, Bäcker, giftiges Weibsvolk, sündige und tugendhafte Bürger, Hurenwirte und und und...

DIES IRAE

Der Tag des Zorns, jener Tag löst die Welt in Asche auf…

Wieviel Schaudern wird sein, wenn der Richter kommen wird, um gnadenlos zu richten…

Wenn die Verdammten verflucht sind und den scharfen Flammen übergeben, rufe mich mit den Gesegneten!

Frommer Herr Jesus, schenke ihnen Ruhe,

Amen.

Mittelalterlicher Lobgesang über das Jüngste Gericht, Strophen 1, 6, 16, 19, vermutlich von Thomas von Celano

1

Das Feuer der Hölle verbrannte ihn.

Seine Finger, seine Zehen, der ganze Körper brannte.

Er stand in Flammen und er wusste, das war das Fegefeuer, in dem er für die Sünde, die er begangen hatte, brennen würde.

Der Schweiß brach ihm aus und ihm wurde übel.

Wie hatte es nur soweit kommen können?

Der Abend war schön gewesen.

Er hatte sich zwar etwas über die Einladung in das reiche Haus gewundert, aber immerhin war er mit dem Hausherren seit längerem bekannt.

Sie waren über dessen Handelsgeschäft in Kontakt gekommen, er hatte für seinen Gastgeber einige lukrative Geschäfte eingefädelt und auch hin und wieder in dessen Namen selbst erlesene Gewürze oder Schmuck gekauft, immer dann, wenn es ratsam erschien, um eines besseren Preises willen nicht persönlich in Erscheinung zu treten.

Zum Dank hatte dieser ihn nun am heutigen Abend zu einem Essen in sein Haus eingeladen und er hatte diese Einladung sehr erfreut angenommen.

Man hatte in größerer Runde Wein und ausgesuchte Speisen zu sich genommen und viel gelacht.

Dann, nachdem alle anderen Gäste bereits in bester Laune nach Hause gegangen waren, hatte der Abend diese tragische Wende genommen, die ihn jetzt zu einem verdienten Opfer des Fegefeuers machte.

Eine Armee von tausenden von Ameisen marschierte durch seinen Körper und verteilte das Feuer der Verdammnis darin.

Gleichzeitig begann er zu frösteln und kalter Schweiß rann ihm in die Augen.

Ja, es hatte ihm gefallen, und zur Strafe lud ihn nun der Höllenfürst zum Tanz in sein Reich.

Er taumelte über die nächtlich leeren Straßen Kölns, die wenigen Gestalten, die in ihre Umhänge gehüllt, die Gugeln tief ins Gesicht gezogen, selbst noch unterwegs waren, schenkten ihm keine Beachtung.

Zu sehr waren sie auf der Hut vor den Nachtwächtern, die mit Hellebarde und Fackel ausgestattet durch die nächtlichen Gassen Kölns patrouillierten, um für Ruhe und Ordnung zu sorgen.

Er litt Höllenschmerzen, sein Herz raste, dann wieder schien es, als hätte es sich entschlossen, das Schlagen ganz einzustellen.

Er ahnte, dass er sterben würde, hier und jetzt.

Dagegen hatte er keine Vorstellung davon, wie das Teufelszeug in seinen Körper gelangt war. Er hatte sich immer wieder an den erlesenen Köstlichkeiten bedient, die zunächst in der Stube und dann später auch in der kleinen Kammer auf dem Tisch standen. Seine Vorliebe für süße Speisen hatte ihn allerdings vornehmlich zu den himmlischen Datteln, die er niemals zuvor gekostet hatte, und von denen er gar nicht genug bekommen konnte, greifen lassen. Und zu den kandierten Rosenblättern, und…

In Erinnerung an diesen Genuss hatte er das Gefühl, dass ihm das Wasser im Mund zusammenlief, aber als er schlucken wollte, durchflutete ihn eine neue Welle dieses unerträglichen Schmerzes und sein Mund blieb trocken.

Vielleicht war das Gift aber auch in dieser sündhaft teuren Süßigkeit gewesen, die er sozusagen als Abschiedsgruß aus der kleinen Konfektschachtel genommen hatte?

Nie und nimmer hätte er gedacht, dass er in dieser Nacht und auf diese Weise dem Tod ins Auge sehen würde, und doch war sein Schicksal hier und heute besiegelt.

Der süße Geschmack der Sünde wich einem pelzigen Gefühl auf der Zunge, und seine Qualen erreichten ihren Höhepunkt, als er jegliche Kontrolle über seinen Körper verlor und, sich heftig erbrechend, dem Höllenfürsten gegenüber sah, der lächelnd seinen schwarzen Umhang über ihn warf und ihn mitnahm in sein Reich.

2

Katharina van Westerburg stürmte durch die Tür zum Kontor ihres Vaters.

„Vater habt Ihr schon gehört...?“

Arndt van Westerburg sah von einem Stapel Papiere auf und musterte seine Tochter mit leisem Unmut.

„Katharina, wo warst du denn so lange? Deine Mutter und ich müssen mit dir reden!“

Etwas irritiert über diese Begrüßung schüttelte sie ihren Kopf und strich sich ein paar dunkle Strähnen hinter die Ohren, die sich aus ihrem geflochtenen Zopf gelöst hatten.

Auf ihrem Gesicht hatte sich eine feine Röte breit gemacht, die ihrer Aufregung und der Eile, mit der sie hereingeplatzt war, zuzuschreiben war.

„Auf dem Markt mit Ursel.“ Kurz holte sie Luft um dann fortzufahren:

„Vater, sie haben den Bäckermeister Bongart gerade der Bäckertaufe unterzogen! Stellt Euch vor, er soll seine Brote mit weißem Ton versetzt haben, damit sie mehr wiegen und auch die Farbe heller wird! Sie haben ihn im Schandkorb durch stinkenden Unrat gezogen, den sie vorher aufgeschüttet hatten!“

Arndt van Westerburg sah seine Tochter entsetzt an.

Er sah es gar nicht gern, wenn Katharina bei derartigen öffentlichen Zurschaustellungen, die schon einmal den Charakter eines Volksfestes annehmen konnten, zugegen war.

Für ihn gehörte es sich einfach nicht, dass man sich an dem Unglück der so Bestraften weidete, auch wenn sie natürlich selbst daran schuld waren.

Sie würden allein wegen der öffentlichen Demütigung ohnehin nicht mehr in der Lage sein, ihrem Handwerk in Zukunft noch nachgehen zu können, jedenfalls nicht mehr in Köln. Und das hatte nicht selten zur Folge, dass die Delinquenten ihre Familien nicht mehr ernähren konnten und betteln mussten.

„Katharina!“

Arndt van Westerburg sah seine Tochter ernst an. „Du weißt ganz genau, was ich davon halte, wenn du dir solche Spektakel ansiehst! Es gehört sich für eine anständige Jungfer nicht, sich dem gemeinen Pöbel gleich zu machen und bei so etwas zuzusehen!“

Er fragte sich, woher seine Tochter wohl die Vorliebe hatte, diesen öffentlichen Bestrafungen beizuwohnen und sich dazu unter das gemeine Volk zu mischen, als wäre sie eine von denen!

Er war ein angesehener Tuchhändler und Mitglied im Rat der Stadt Köln.

Sein Kontor am Heumarkt war eine der besten Adressen für feine Tuche und seine Kunden waren allesamt gut situierte Bürger und sogar der Adel kaufte bei ihm die feinen Stoffe aus Flandern und Brabant, Seide aus dem Orient und allerfeinste englische Ware.

Seine Frau und er hatten daher auf Katharinas Erziehung ein besonderes Augenmerk gelegt, da sie einmal diesen Tuchhandel erben würde. Natürlich würde sie vorher heiraten müssen und dann würde ihr Ehegatte die Geschäfte führen, während sie als tüchtige Gemahlin im Hintergrund den Haushalt bestellte und für ein gemütliches Heim zu sorgen hatte.

Zwar gab es unter den Kölner Tuchhändlern einige Frauen und auch Katharina stellte sich in Geschäftsdingen ganz geschickt an, aber Arndt van Westerburg war, wenn auch im Fernhandel durchaus immer neuen Ideen gegenüber aufgeschlossen, in dieser Hinsicht sehr konservativ eingestellt und konnte sich Katharina als selbstständige Geschäftsfrau beim besten Willen nicht vorstellen. Oder wollte es nicht, denn in seinem Weltbild waren Frauen für den Haushalt und nicht den Tuchhandel zuständig.

Und so war es unabdingbar, dass sie über gute Manieren und einen untadeligen Ruf verfügte, um einen geschäftstüchtigen Gatten für sie zu finden.

Sicherlich hatten er und seine Frau, nachdem zwei ihrer Söhne das erste Lebensjahr nicht überlebt hatten und eine Tochter mit gerade einmal fünf Jahren an einem Fieber gestorben war, Katharina zu sehr verwöhnt.

Und so hatte seine Tochter zwar unter Anleitung seiner Gemahlin gelernt, einen Kaufmannshaushalt wie den ihren zu führen, aber schon immer hatte ihr Interesse an diesen hausfraulichen Tugenden das Maß des Notwendigen nicht überschritten.

Ihre Begeisterung hatte mehr seinem Geschäft gegolten; sie war schon als kleines Mädchen zwischen den Tuchballen herumgetobt und später dann hatte ihr Gespür für erstklassige Ware und vorteilhafte Geschäftsabschlüsse für milden Spott bei seinen Ratskollegen gesorgt.

Sein Schwager, Johann Greveroide, hatte schon des Öfteren gemutmaßt, dass Katharina ihren zukünftigen Ehegatten wohl nicht mit ihren hausfraulichen Tugenden für sich einnehmen würde, sondern eher durch ihr kaufmännisches Talent.

Bislang hatte es noch keine ernstzunehmenden Bewerber um ihre Hand gegeben, allerdings hatte Arndt van Westerburg eine Verlobung auch nicht unbedingt vorangetrieben. Zu sehr hatte er es genossen, sein einziges Kind um sich zu haben.

Nun aber würde es Zeit, bevor seine Tochter noch eine alte Jungfer würde.

Katharina war eine außergewöhnliche Schönheit mit ihren dunklen Locken und den grünen Augen.

Ihre helle Haut bildete dazu einen hübschen Kontrast. Jedenfalls wenn sie nicht vor Aufregung gerötet war, aber auch das stand ihr ausnehmend gut zu Gesicht.

Das lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf seine Tochter, die immer noch etwas außer Atem vor ihm stand.

„Katharina, ich verbiete dir ein für allemal, in Zukunft solche Spektakel zu verfolgen. Es steht dir nicht an, dich an dem Unglück dieser Menschen zu weiden, auch wenn es nötig ist, diesen Betrug an den ehrlichen Leuten zu bestrafen.“

„Ich weiß Vater, aber diesmal hatte ich keine Gelegenheit, nicht hinzusehen! Ursel und ich waren derart zwischen den Schaulustigen eingezwängt, dass wir den Platz gar nicht hätten verlassen können.“

Das war nur die halbe Wahrheit, denn Ursel und sie hatten es gar nicht erst versucht! Ursel hatte als Köchin im Hause der van Westerburgs ein verständliches Interesse an der Bestrafung dieses Betrügers.

Zwar kochte und backte sie in der Regel selbst, was im Hause ihrer Herrschaft auf den Tisch kam, dennoch wurden bei größeren Feierlichkeiten auch schon mal Brote und Kuchen bei den hiesigen Bäckern eingekauft.

„Sei es drum, du weißt jetzt, was ich in Zukunft von dir erwarte und Schluss!“

„Ja, Vater.“

Katharina hatte durchaus Verständnis für die Sorgen ihres Vaters, aber es lag ihr nun einmal nicht, nur in ihrer Kammer zu sitzen und Säume zu besticken und erbauliche Texte zu lesen.

Und auch der Stachel der Neugierde piekste sie immer dann ganz doll, wenn so etwas wie heute geschah.

Ihr Vater sah sie immer noch ungehalten an.

„Katharina, wie ich schon sagte, müssen deine Mutter und ich mit dir reden. Sei bitte so gut und hole sie hinunter. Sie wollte oben mit Gertrud Wäsche heraussuchen, die ausgebessert werden muss. Wir treffen uns dann zum Abendessen in der Stube.“

Katharina stieg nachdenklich die Stufen zu den Schlafkammern hinauf.

Irgendetwas in der Miene und dem Tonfall ihres Vaters hatte sie aufhorchen lassen. Für gewöhnlich kam sie nicht so ungeschoren davon, wenn sie sich über die gesellschaftlichen Konventionen hinweg setzte.

Mindestens eine längere Predigt über das sittliche Verhalten ehrbarer Jungfern hatte sie erwartet.

Stattdessen hatte ihr Vater eher so gewirkt, als wäre er nicht ganz bei der Sache.

„Mutter, ich bin zurück!“, rief sie und öffnete die Tür zu ihrer Schlafkammer.

Sie war etwas überrascht, als sie Gertrud und ihre Mutter vor ihrer Aussteuertruhe stehen und Wäsche sortieren sah.

„Mutter…?“ Ein flaues Gefühl machte sich in Katharinas Magen breit. Wenn ihre Mutter ihre Aussteuer durchsah, dann…

Druytgin van Westerburg sah kurz auf und lächelte ihrer Tochter zu.

Sie hatte das gleiche dunkle Haar wie ihre Tochter, durch das sich bei ihr bereits die ersten grauen Strähnen zogen, und ihre Augen waren grau, während Katharina die grünen Augen ihres Vaters geerbt hatte.

Ansonsten sahen sich die beiden Frauen sehr ähnlich, wenn auch Druytgin fülliger war als ihre Tochter, aber das war nach den Schwangerschaften nicht ungewöhnlich.

„Da bist du ja, Kind. Lass uns hinunter gehen, dann wirst du erfahren, welche Neuigkeit wir für dich haben!“

3

Simon Verbeek blieb vor seinem Elternhaus am Heumarkt stehen und sah die schmale Fassade hinauf.

Er war gerade aus Flandern eingetroffen, wo er in Gent die Zweigstelle des Tuchhandels seines Vaters geführt hatte.

Er hatte sich einer Gruppe von Kaufleuten angeschlossen, die von Gent aus zunächst nach Maastricht gereist waren, um dort einen Teil ihrer Waren zu verkaufen oder gegen die begehrte Maastrichter Keramik einzutauschen.

Von dort waren sie weiter nach Aachen gezogen, um dann entlang des Fernhandelsweges über Bergheim nach Köln zu gelangen.

Da die Reisegruppe von bewaffneten Söldnern begleitet worden war, waren ihnen größere Unannehmlichkeiten erspart geblieben, wenn man einmal von dem Zwischenfall mit den zerlumpten Bauern kurz vor Merzenich absah, die versucht hatte, etwas Essbares zu stehlen.

Da sie aber nur mit Knüppeln bewaffnet und deutlich in der Unterzahl waren, hatten sie es nicht auf einen Kampf ankommen lassen und waren unverrichteter Dinge in dem kleinen Wäldchen verschwunden, aus dem sie gekommen waren.

Simon war müde und staubig von der Reise und hatte nicht das Gefühl, nach Hause zu kommen.

Vor etwa zehn Jahren hatte sein Vater ihn nach Gent geschickt, damit er bei einem befreundeten Kaufmann nach seiner Lehre in Köln Erfahrungen im hart umkämpften Auslandsgeschäft mit den kostbaren Tuchen, die die Grundlage des väterlichen Geschäfts darstellten, sammeln konnte.

Dass er keine innige Beziehung mehr zu seiner Heimatstadt Köln und seinem Elternhaus hatte, lag aber nicht nur an der Entfernung, die die beiden Städte voneinander trennte, sondern vor allem daran, dass sich die Beziehung zu seinem Vater in den zurückliegenden Jahren merklich abgekühlt hatte.

Nachdem sein Lehrherr festgestellt hatte, dass er ihm nun nichts mehr beibringen könne, hatte sein Vater ihm zwar die Aufsicht über die Handelsniederlassung in Gent übertragen, aber Simons Hoffnungen, seinem Vater nun beweisen zu können, dass ein fähiger Kaufmann in ihm stecke, hatten sich ziemlich schnell zerschlagen.

Statt sich eigenverantwortlich einen Namen im Tuchhandel machen zu können, hatte sein Vater stets jede von Simons Entscheidungen vorgegeben.

Meistens, nein, eigentlich immer, hatte sich die Verantwortung, die ihm sein Vater übertragen hatte, auf das Einstellen fähiger Knechte und Mägde beschränkt.

Das hatte sein Vater nun wirklich nicht von Köln aus veranlassen können!

Nahezu wöchentlich hatten ihn Briefe mit Anweisungen aus dem väterlichen Kontor über Boten erreicht, was nicht nur unverhältnismäßig hohe Kosten verursacht, sondern auch Simons Handlungsspielraum erheblich eingeschränkt hatte.

So hatte sein Vater zum Beispiel verfügt, dass sich Simon auf den Handel mit flandrischem Tuch zu beschränken hatte, weil das nach Ansicht des Älteren seit jeher ein einträgliches Geschäft gewesen war.

Simon selbst dagegen hätte sich den veränderten Bedingungen auf dem Tuchmarkt gerne angepasst und vielleicht auch darüber nachgedacht, andere Waren in sein Sortiment aufzunehmen, wie etwa teure Gewürze und Spezereien aus den arabischen Ländern.

Das flandrische Tuch war zwar immer noch von guter Qualität, aber es wurde zunehmend von dem feineren englischen Tuch verdrängt.

Sein Vater hatte auf diese veränderten Erfordernisse nur mit Ablehung reagiert.

Er keine Notwendigkeit gesehen, sein Handelsgeschäft um die englischen Stoffe oder andere Handelsgüter zu erweitern.

Dabei musste doch auch er erkannt haben, dass der Handel in Flandern seit einiger Zeit fast nichts mehr abwarf!

Dass es sich überhaupt noch lohnte, ausschließlich mit flandrischem Tuch zu handeln, hatte er dabei nur Simon zu verdanken, der durch geschicktes Verhandeln das Geschäft mehr schlecht als recht am Leben erhielt.

Aber nun war sein Vater plötzlich verstorben und Simon hatte als sein Erbe vor, den Tuchhandel in naher Zukunft endlich den veränderten Bedingungen anzupassen.

Dazu musste er nach Köln zurückkehren, die Bücher durchsehen und Entscheidungen treffen.

Die Geschäfte für die Handelsniederlassung in Gent hatte er treuhänderisch einem befreundeten Kaufmann übertragen, dem er vertraute.

Simon betrat sein Elternhaus durch die reich verzierte hölzerne Eingangstür, die sein Vater extra hatte anfertigen lassen, weil es ihm schon immer wichtig war, dass man ihm seinen Erfolg auch äußerlich ansah. Als er die Halle betrat, fiel ihm zuerst auf, wie kahl sie wirkte.

Als er sein Elternhaus verlassen hatte, hatten an den Wänden kunstvoll geknüpfte Teppiche gehangen, auf großen Regalen hatte sich allerlei wertvoller Zierrat, wie silberne Becher und Schalen befunden, und in allen vier Ecken des Raumes zeugten prunkvolle Kerzenständer von dem Reichtum des Hauses Verbeek. Irritiert blieb er mitten in der Halle stehen.

Als einziges Relikt dieser Zeit hatte sich ein Regal erhalten, auf dem nun allerdings nur einige Zinnbecher standen, und ein einzelner Kerzenständer fristete in einer dunklen Ecke sein Dasein, der aber mit den Simon bekannten ursprünglichen Haltern nur den Standort gemein hatte, denn es war eine einfache Schmiedearbeit aus Eisen.

Er fuhr sich mit der rechten Hand durch sein dichtes dunkles Haar und versuchte, sich einen Reim darauf zu machen.

Vielleicht hatte die zweite Frau seines Vaters es einfach nur noch nicht geschafft, ihren eigenen Geschmack hier einzubringen?

Immerhin lag die Eheschließung erst wenige Monate zurück, wie er aus dem letzten Brief seines Vaters erfahren hatte.

Erstaunlicherweise waren die Briefe seines Vaters mit Anweisungen, die den Tuchhandel betrafen, immer öfter ausgeblieben. Das schrieb Simon der Einsicht seines Vaters zu, dass dieser ihn nun für alt und erfahren genug hielte, mehr Verantwortung zu übernehmen.

Darüber hinaus hatte ihn die Nachricht von der Hochzeit seines Vaters dann doch überrascht.

Zwar hatte man nicht davon ausgehen können, dass sein Vater nach dem frühen Tod von Simons Mutter unverheiratet bleiben würde, aber nachdem er nun inzwischen fast zwanzig Jahre alleine gelebt hatte, war Simon davon ausgegangen, sein Vater habe kein Interesse an einer neuen Verbindung.

Und nun war sein Vater so kurz nach der Hochzeit ziemlich überraschend gestorben und hatte ihm den Tuchhandel und dieses Haus am Heumarkt hinterlassen.

Und eine Stiefmutter.

Die Tür zur Küche öffnete sich und ein runzeliges Gesicht, das Haar unter einem Leinentuch verborgen, schob sich durch die Türöffnung, zusammen mit einem unwiderstehlichen Duft nach gebratenem Fleisch und Gemüse.

„Wer…?“

Simon drehte sich um und ein warmes Gefühl machte sich in ihm breit, als er die alte Trin erkannte.

Und auch die Köchin hielt einen sprachlosen Moment inne, nachdem sie erkannt hatte, wer der unerwartete Gast war.

„Meiner Treu, Simon!“

Ihre Augen wurden groß, dann senkte sie verlegen den Blick.

„Entschuldigt bitte, Herr. Ihr seid ja jetzt erwachsen und zudem der Herr dieses Hauses! Wir...also die Herrin erwartet Euch erst in einer Woche! Das hat sie uns jedenfalls gesagt, als Euer letzter Brief hier eingetroffen ist.“

Verlegen stand Trin in der Halle und zupfte an ihrer Schürze.

Simon ging lächelnd auf sie zu und schloss sie in seine Arme.

„Gute alte Trin, du bist ja noch hier. Der Rest...“, er zwinkerte ihr zu und wies mit seinem Arm in Richtung der leeren Wände, „...der Rest hat wohl der neuen Gemahlin meines Vaters nicht gefallen!“

Verlegen befreite sie sich aus der Umarmung und sagte:

„Herr Simon, Ihr könnt doch nicht… also das geht nicht, dass Ihr...ich meine, Ihr seid doch jetzt der Herr hier!“

„Meine liebe Trin, ich werde doch wohl noch meine alte Liebe aus Kindertagen umarmen dürfen! Früher hast du doch auch nichts gegen meine Avancen gehabt! Ich hatte sogar das Gefühl, dass dir meine Umarmungen durchaus nicht unangenehm waren!“

Er lachte sie spitzbübisch an.

„Meine Gefühle für dich haben sich jedenfalls in den letzten Jahren nicht verändert!“

„Herr Simon, Ihr wart damals fünf Jahre alt!“

„Und deswegen zweifelst du an meinen Gefühlen für dich?“, neckte er sie.

„Schluss jetzt mit dem Unsinn, Herr Simon. Ihr seid jetzt der Herr und ich bin die Köchin! Und als solche habe ich dafür zu sorgen, dass Ihr nach der langen Reise in Eurem Heim etwas zu essen bekommt!“

Resolut stemmte sie die Hände in die Hüften.

„Wir haben zwar noch nicht mit Euch gerechnet, aber ich werde doch wohl noch etwas Essbares auf den Tisch bringen!“

Bevor sie in der Küche verschwand drehte sie sich noch einmal um.

„Herzlich willkommen, Herr Simon. Wir freuen uns von ganzem Herzen, dass Ihr wieder hier in Köln weilt. Das gilt für das ganze Gesinde, oder jedenfalls für diejenigen, die noch hier sind. Die letzten Wochen seit Euer Herr Vater - Gott hab ihn selig - zu seinem Schöpfer abberufen wurde, waren…“, sie suchte nach einem passenden Ausdruck, „...waren bedrückend. Frau Cristine ...“

Sie hielt inne als die Haustür mit einem Schwung aufgestoßen wurde und eine Stimme laut schimpfte: „Trin, Clara, wo seid ihr? Herrgott, warum ist das Gesinde denn nie da, wenn man es braucht?! Vielleicht könnte sich jemand herablassen, mir den Korb abzunehmen! Und Trin soll mir ein Mahl breiten, ich bin hungrig. Vielleicht Eiersuppe mit Safran, ich...“

Abrupt hielt sie in ihrem Redefluss inne als sie den Kopf hob und Simon erblickte.

„Haben wir Besuch, Trin?“

Fragend schaute sie auf die Köchin.

„Herrin, das ist…“

Simon unterbrach sie.

„Ihr müsst Frau Cristine sein, die Gemahlin meines Vaters. Wenn ich mich meinerseits vorstellen darf, Simon Verbeek!“

Leider hatte sich noch keine Gelegenheit ergeben, die zweite Frau seines Vaters persönlich kennenzulernen, da er bei der Hochzeit der beiden unabkömmlich in Gent festgesessen hatte. Überdies hatte die Hochzeit nicht in Köln stattgefunden, soweit Simon wusste.

Als er der Frau seines Vaters nun gegenüberstand war er doch einigermaßen überrascht.

Cristine Verbeek war nicht nur eine außergewöhnlich schöne Frau, sie war darüber hinaus auch noch sehr jung.

Er selbst war dreiundzwanzig Jahre alt, und er schätzte seine Stiefmutter sogar noch jünger.

Zwar war es durchaus nichts Ungewöhnliches, wenn alte Männer junge Frauen ehelichten, aber seinen Vater hatte er nicht so eingeschätzt.

Cristine war fast so groß wie er und sehr erlesen gekleidet. Ein tiefblauer enganliegender Surkot aus Samt betonte ihre durchaus vorhandenen körperlichen Vorzüge.

Ihr Haar hatte sie dagegen züchtig unter einer weißen Haube aus Leinen verborgen.

Sie stand sehr aufrecht in der Halle und musterte Simon mit einem Blick aus ihren blauen Augen.

Dabei hielt sie seinem Blick unschicklich lange stand, bevor sie die Augen niederschlug und sagte: „Simon, wir hatten dich noch gar nicht so schnell hier in Köln erwartet! Wenn ich gewusst hätte, dass du heute eintriffst, hätte ich doch Vorbereitungen treffen lassen! Warum hast du uns nicht eine kurze Nachricht zukommen lassen, dass du heute ankommst?“

In ihrer Stimme lag etwas, was Simon nicht zu deuten wusste, und darüber hinaus irritierte ihn, wie sie ihn ansprach.

Schließlich kannte er die Frau - die Witwe - seines Vaters ja gar nicht und die vertrauliche Anrede war ihm unangenehm, jedenfalls zu diesem Zeitpunkt des Kennenlernens.

„Verzeiht, Frau Cristine, ich wollte Euch durch meine verfrühte Ankunft nicht in Verlegenheit bringen. Macht Euch bitte keine Umstände, mir reicht ein einfaches Mahl und danach möchte ich sowieso erst im Kontor meines Vaters nach dem Rechten sehen!“

„Nicht doch, Simon. Du solltest dich nach der Reise erst vernünftig stärken und ausruhen, bevor du dich in die Geschäfte stürzt! Zwar war dein Vater in der letzten Zeit ein sehr...“, sie machte eine bedeutungsvolle Pause bevor sie mit anzüglichem Lächeln weitersprach, „...na ja, er war in den letzten Monaten ein sehr beschäftigter Mann! Er hat den Tuchhandel vielleicht ein wenig vernachlässigt, aber es wird schon alles seine Ordnung haben!“

Sie schaute wieder zu ihm auf und ihm direkt in die Augen.

„Wir sollten uns erst einmal richtig kennenlernen!“

4

Katharina ahnte bereits, welche Neuigkeit ihre Eltern ihr gleich eröffnen würden und stieg mit einem flauen Gefühl im Magen die Treppe hinunter.

Sie war jetzt siebzehn Jahre alt und schon lange im heiratsfähigen Alter.

Dass sie bislang noch nicht verheiratet worden war, hatte sie einer Sentimentalität ihres Vaters zu verdanken, wie sie sehr wohl wusste.

Er hatte sich bisher nicht von seinem kleinen Mädchen trennen wollen, aber sie ahnte, dass dieser Zustand nicht ewig dauern würde.

Zwar war sie nicht unbedingt gegen eine Ehe eingestellt, aber sie genoss es auch, noch nicht die Pflichten einer Ehefrau und Mutter übernehmen zu müssen.

Von ihrem zukünftigen Gatten hatte sie keine genaue Vorstellung. Nur dass es keine Rolle spielen würde, ob sie ihn liebte oder nicht, das war ihr bewusst.

Liebe gab es in Minneliedern und Gedichten, im richtigen Leben aber galten andere Werte.

Sie war in dem Bewusstsein erzogen worden, eine Heirat diene ausschließlich geschäftlichen Interessen und der Zeugung von Erben.

Aber immerhin bedeutete eine Ehe eine lebenslange unauflösbare Verbindung, und wenn auch schon keine Liebe im Spiel war, so erwartete sie doch schon ein gewisses Maß an Sympathie.

Auch ihre Eltern waren verlobt worden, ohne sich vorher gekannt zu haben, und inzwischen waren sie einander sehr zugetan, was dafür sprach, dass solche Verbindungen durchaus glücklich werden konnten.

Was Katharina allerdings schwer im Magen lag, war die Tatsache, dass ihr Zukünftiger ihr wohl nicht erlauben würde, weiterhin Zeit im Tuchhandel ihres Vaters oder sogar ihres Ehegatten zu verbringen.

Sie liebte die Stunden mit ihrem Vater im Kontor und konnte sich schwerlich vorstellen, dass ein Ehemann ihr erlauben würde, sich weiterhin mit den Rechnungsbüchern oder dem Einkauf von Stoffen zu befassen anstatt dem Haushalt vorzustehen.

Nach Ansicht der überwiegenden Mehrheit aller Männer, die Katharina kannte, gehörte eine Frau ins Haus und hatte sich ausschließlich um Dinge zu kümmern, die diesen Bereich betrafen.

Leider gehörte ihr Vater auch dazu, und obwohl er ihr erlaubte, ein paar Korrespondenzen, ein wenig Buchführung und hin und wieder die Begutachtung der verschiedenen Handelswaren zu übernehmen, ließ er doch keinen Zweifel daran, dass sie dies nur seiner väterlichen Nachsicht zu verdanken hatte.

Schließlich waren zumindest die beiden ersten Tätigkeiten durchaus von Nutzen für ihr späteres Leben als Hausfrau.

War sie erst einmal verheiratet, würde sie sich in ein Leben fügen müssen, das ihr jetzt schon verhasst war. Sie würde sich um den Haushalt kümmern müssen und ein Kind nach dem anderen zur Welt bringen, falls sie nicht irgendwann im Kindbett starb, was ein gar nicht so seltenes Vorkommnis war.

Ganz zu schweigen von den Pflichten, die sie erfüllen musste, um diese Kinder zu empfangen!

Ihre Mutter hatte ihr erklärt, dass der eheliche Beischlaf eine Pflicht war, die man durchaus ertragen und mögen könne, wenn man dem Ehepartner nur ein wenig zugetan war.

Und auch die junge Magd ihres Onkels hatte nicht den Eindruck erweckt, dass ihr nicht gefiel, was der Knecht da mit ihr tat.

Katharina hatte die beiden zufällig im Stall erwischt und die rosigen Wangen der Magd und ihr lustvolles Stöhnen, als der Knecht sich rhythmisch zwischen ihren hochgeschobenen Röcken bewegte, war Beweis genug.

Nur konnte - und wollte! - sie sich gar nicht vorstellen, dass ihr zukünftiger Gemahl das auch mit ihr tun würde! Und diese eheliche Pflicht war nicht die einzige, die schon bei dem bloßen Gedanken daran ihren Widerstand wachsen ließ.

Es langweilte sie, stundenlang mit der Köchin den Speiseplan zu erörtern, Vorräte zu kontrollieren und aufzufüllen.

Wozu hatte ihr Vater sie denn dann Lesen und Rechnen lernen lassen?!

Anfangs hatte er es strikt abgelehnt, ihr diesen Wunsch zu erfüllen.

Eine Tochter aus gutem Hause müsse einen Mann mit anderen Tugenden zu beeindrucken wissen.

Schließlich aber hatte ihr Vater, nachdem sie heimlich in seinem Kontor die ersten Buchstaben mit krakeliger Schrift kopiert hatte, ihrem Wunsch nachgegeben und sie sogar, wenn er etwas Zeit erübrigen konnte, das Schreiben, Lesen und sogar das Rechnen gelehrt.

Auch ihre Mutter hatte nur verständnislos auf ihren Wunsch reagiert, Zeit mit ihrem Vater im Kontor zu verbringen.

„Sei bescheiden und demütig und versuche, den Wünschen deines Ehegatten in allem zu entsprechen, denn das ist die Bestimmung einer guten Ehefrau!“, hatte sie gesagt.

„Das Führen der Geschäfte überlasse indes vollkommen deinem angetrauten Gatten, denn er ist vom Herrn dazu bestimmt, nicht du.“

Gespannt betrat Katharina die Stube.

Ihr Vater hatte bereits am Tisch Platz genommen und auch ihre Mutter ließ sich gerade auf einem Stuhl nieder.

Ungeduldig wartete sie auf das, was man ihr nun eröffnen würde.

„Setz dich, mein Kind. Und dann lass uns speisen.“

Ihre Mutter wandte sich an Ursel.

„Du kannst auftragen.“

„Was wolltet Ihr mir denn mitteilen?“

„Katharina, du musst langsam lernen, dich wie eine erwachsenen Frau aufzuführen. Übe dich in Geduld und lass uns erst etwas essen. Es ziemt sich nicht, so ungeduldig zu sein!“

Da hatte ihre Mutter mal wieder genau den Finger in die Wunde gelegt.

Geduld gehörte ebenso wenig zu ihren Stärken wie Haushaltsführung.

Ursel brachte Schalen mit gesottenem Aal mit Pfeffer und gebratenes Gänsefleisch mit roten Rüben.

Und während ihr Vater und ihre Mutter herzhaft zulangten, brachte Katharina kaum einen Bissen herunter. Da Mutter und Vater schweigend speisten und das auch von ihr erwarteten, verging die Zeit für Katharinas Empfinden viel zu langsam.

Endlich räumte Ursel den Tisch ab und ihr Vater wandte sich ihr zu.

„Katharina, wir haben mit dir zu reden. Du bist jetzt siebzehn Jahre alt und es wird Zeit, dass du dich deinen Pflichten gegenüber dem Hause van Westerburg stellst und heiratest. Wir haben dir lange genug Zeit gelassen, dich an diesen Gedanken zu gewöhnen und nun gibt es einen ernsthaften Bewerber um deine Hand.“

Ernst sah ihr Vater sie an und Katharina wurde es heiß.

„Du wirst mir zustimmen, dass es langsam Zeit wird, einen Ehemann für dich zu finden. Das Kontor braucht einen Erben und ich würde gerne noch erleben, wie sich dein Ehegatte und vielleicht sogar mein Enkel hier im Kontor zurechtfinden.“

Sie wollte sagen, dass das noch viel Zeit hätte, aber im Grunde hatte er Recht. In Zeiten wie diesen war es von großer Bedeutung, die Nachfolge möglichst zu Lebzeiten zu sichern.

„Ja Vater“, sagte sie deshalb nur und schluckte den Kloß hinunter, der ihr im Halse steckte.

Es wurde also ernst.

„Ich bin sehr froh, dass du das auch so siehst. Morgen werden dein Onkel Johann und deine Tante Lijsbet zu Gast sein. Sie werden Herrn Lenhart Seger mitbringen. Er ist erst seit kurzem in Köln ansässig und dein Onkel hat ihn quasi unter seine Fittiche genommen, um ihm den Einstand hier etwas zu erleichtern. Herr Lenhart ist der Erbe eines Tuchhandels und führt hier die Geschäfte in Köln.

Dein Onkel lobt ihn in den höchsten Tönen und wir haben ihm zugesagt, seine Tätigkeit hier in Köln nach Kräften zu unterstützen.“

Und ihm eure einzige Tochter und Erbin zur Frau zu geben, was ihm den Einstieg natürlich noch viel mehr erleichtern wird, dachte Katharina.

„Wir erwarten von dir, dass du dich von deiner besten Seite zeigst, Katharina. Haben wir uns verstanden?“

Mit milder Strenge sah ihr Vater sie an.

„Ich werde mich bemühen, die Erwartungen, die Ihr in mich setzt, zu erfüllen, Vater.“

„Katharina, nun schau nicht so als würdest du morgen schon verheiratet!“, ließ sich ihre Mutter vernehmen.

„Aber dein Vater hat Recht. Es wird Zeit, dass du heiratest und endlich mit einem Ehemann für einen Erben sorgst!“

Die Röte auf Katharinas Wangen verstärkte sich noch. Sie hatte diesen Herrn Lenhart noch nicht einmal kennen gelernt und ihre Mutter sprach schon von Erben!

Katharina wurde schlagartig bewusst, wie ernst die Situation war.

Wahrscheinlich war man sich bereits handelseinig geworden und das Kennenlernen war nur reine Formsache!

Und wie um diesen Verdacht zu bestätigen, fügte ihre Mutter hinzu:

„Wir haben Herrn Lenhart bereits kennenlernen dürfen und können die hohe Meinung, die Johann von ihm hat, nur bestätigen!“

Katharina schlug das Herz bis in den Hals und ihr wurde abwechselnd heiß und kalt.

Die Entscheidung, die sie so lange hatte aufschieben können, schienen ihre Eltern ihr nun abgenommen zu haben.

In Grunde war es überhaupt außergewöhnlich, dass sie sich so lange vor einer Ehe hatte drücken können.

Jungfern in ihrem Alter waren meist längst unter der Haube und standen einem Haushalt vor, hatten bereits Kinder.

Sie wusste, dass ihre Eltern sie innig liebten und ihr immer viele Freiheiten gelassen hatten.

Auch weil sie schmerzlich hatten erfahren müssen, wie ein geliebtes Kind nach dem anderem gestorben war, ohne dass sie etwas dagegen hätten tun können.

Sie war verwöhnt worden und hatte das genossen.

Nun war es also an der Zeit, sich ins Unvermeidliche zu fügen. Das war sie ihren Eltern schuldig.

Eine kleine Tür wollte sie sich aber dennoch offenhalten und so bat sie:

„Ich verspreche Euch, diesen Herrn Lenhart unvoreingenommen als Ehegatten in Betracht zu ziehen, aber sollte er wider Erwarten doch...“

„Mein liebes Kind, Herr Lenhart wird wider deines Erwartens nicht...was auch immer!“, polterte ihr Vater nun und Katharina war wie vom Donner gerührt.

So hatte ihr Vater noch nie mit ihr gesprochen!

„Geh jetzt in deine Kammer und denke über unseren Vorschlag nach, liebes Kind.“

Ihre Mutter wollte offensichtlich die Situation etwas entschärfen.

„Und lösche früh das Licht, morgen wird ein anstrengender Tag. Wir müssen die Vorräte kontrollieren und vielleicht noch einmal zum Markt. Schließlich haben wir morgen Gäste!“

Über unseren Vorschlag nachdenken!

Die Stimme ihrer Mutter hallte ihr noch im Kopf nach, als sie die Stufen zu ihrer Kammer hochstieg.

Einen Vorschlag konnte man in die eine oder die andere Richtung abwägen und sich dann dafür oder dagegen entscheiden.

Katharina hatte nach dem Gespräch mit ihren Eltern allerdings nun nicht mehr das Gefühl, dass sie noch irgendetwas abwägen konnte.

Was ihr blieb, war die Hoffnung auf einen ganz passablen Herrn Lenhart!

In der Nacht hatte Katharina nicht viel geschlafen und entsprechend zerschlagen erwachte sie am nächsten Morgen.

Sie hatte von ihrem Zukünftigen geträumt und das hatte nicht dazu beigetragen, ihr die Angst vor der Begegnung mit Herrn Lenhart zu nehmen.

In ihren Träumen war er klein, kleiner noch als sie selbst, und hatte ein ungesund gerötetes Gesicht und einen Bauch wie ein Weinfass. Er hatte dem Wein reichlich zugesprochen und ihr dann vertraulich ins Ohr geraunt, er wolle gleich heute Abend mit ihr noch einen Erben zeugen.

Sie müsse ihn nur kurz nach draußen begleiten, dann wolle er ihr die Freuden des Ehelebens zeigen.

Als sie sich weigerte, packte er sie am Arm und zwang sie unter dem Beifall ihrer Eltern, ihm zu folgen.

Gott sei Dank war sie schweißgebadet aufgewacht, bevor er sein Vorhaben - wenn auch nur im Traum! - in die Tat umsetzen konnte.

Sie wusch sich kurz mit kaltem Wasser um einen klaren Kopf zu bekommen und zog sich dann ihren Surkot über.

Sie hatte ihn gestern achtlos auf den Boden fallen lassen, so dass er nun arg zerknittert war.

Sie war viel zu sehr mit ihren Gedanken beschäftigt, um das zu bemerken und so betrat sie verzagt die Wohnstube, wo ihre Mutter schon am Tisch saß und Milchbrei mit Honig und eingelegten Birnen aufgetragen waren.

„Ah, Katharina, da bist du ja! Dein Vater ist schon in Geschäften fort und wir müssen auch gleich noch mit Ursel auf den Markt. Ich möchte heute selbst den Einkauf überwachen, du weißt ja, wie wichtig das Abendessen heute ist!“

Sie sah kurz auf und kniff die Augen zusammen.

„Kind, so kannst du aber nicht mit auf den Markt! Dein Surkot ist ja ganz zerknittert und dein Haar...“

Katharina hatte ihre dunkle Haarflut nur notdürftig hochgesteckt, denn diese komplizierten Flechtgebilde, die Katlin oder Gertrud zu zaubern im Stande waren, wollten ihr einfach nicht gelingen.

„Du gehst jetzt sofort hinauf und ziehst dich um. Und Gertud soll dir dein Haar ordentlich kämmen und hochstecken!“

Katharina sah an sich herab und ärgerte sich über ihre Unachtsamkeit, aber da sich ihr Magen erstaunlicherweise dann doch meldetet, fragte sie schnippisch:

„Darf ich vorher wenigstens noch etwas essen, Mutter?“

Frau Druytgin schaute sie nachsichtig an. Es war ein Wesenszug ihrer Tochter, trotzig zu reagieren, wenn sie sich bei einer Nachlässigkeit ertappt fühlte.

„Aber ja, mein Kind. Soviel Zeit muss sein!“

5

Simon fuhr sich durch sein wirres schulterlanges Haar und rieb sich die Augen.

Der Abend war anstrengend gewesen.

Er hatte sich im Kontor einen ersten Überblick über die laufenden Geschäfte seines Vaters verschafft und das Ergebnis dieser ersten Sichtung war alles andere als erfreulich gewesen.

Danach hatte seine Stiefmutter ihn mit Beschlag belegt. Stiefmutter!

Alles in ihm sträubte sich, sie so zu nennen.

Sie hatte etwas Anziehendes an sich und war sich dessen überaus bewusst.

Zudem benahm sie sich in seiner Gegenwart ganz und gar nicht, wie man es wohl von einer trauernden Witwe erwarten konnte.

Er konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, als hätte Cristine die Ehe mit seinem Vater bereits in den hintersten Winkel ihres Bewusstseins verbannt.

Sie hatte ihren verblichenen Ehegatten noch mit keinem Wort erwähnt, weder im Guten noch im Schlechten.

Fast schien es Simon so, als hätte diese Ehe niemals bestanden.

Stattdessen hatte sie ihn ausgefragt, nach seiner Zeit in Flandern und ob dort eine Gattin auf ihn warten würde.

Sie wollte wissen, was er nun vorhatte, ob er das Kontor in Köln aufgeben und nach Gent zurückkehren wolle oder umgekehrt…..

Alles Fragen, auf die er selbst im Moment noch keine Antworten hatte.

Im Augenblick wusste er nur, dass in Gent niemand auf ihn wartete, jedenfalls keine Gemahlin. Aber das hatte er, wie auch die anderen Fragen, offen gelassen oder nur ausweichend beantwortet.

Er konnte sich im Moment noch keinen Reim auf diese Frau machen und da war es gewiss schlauer, sich nicht in die Karten schauen zu lassen.

Er hatte sich schließlich entschuldigt und war zu Bett gegangen, aber Schlaf hatte er nur wenig gefunden.

So wie es dem ersten Anschein nach aussah, stand es noch viel schlimmer um das Geschäft seines Vaters, als er befürchtet hatte.

Es konnte sogar sein, dass nicht nur das Kontor hier in Köln nahezu bankrott war, sondern dass er auch das Geschäft in Gent würde aufgeben müssen, um hier in Köln seine Schulden zu bezahlen.

Dabei schmerzte ihn mehr als der finanzielle Ruin, dass er vielleicht beide Geschäfte würde aufgeben müssen, denn er war in den letzten zehn Jahren zu einem leidenschaftlichen Kaufmann geworden.

Er liebte es, Tuche zu begutachten, Preise auszuhandeln und dann, wenn die Ware in seinem Kontor lagerte, verbrachte er viele Stunden damit, die bunten Stoffe durch seine Finger gleiten zu lassen, um ihre Dichte und Qualität zu ertasten und sie auf die entsprechenden Stapel umzulagern.

In Flandern hätte er für derartige Arbeiten auch Knechte gehabt, aber er war der Meinung, dass ihm körperliche Anstrengung nach den langen Stunden, die er über seinen Papieren verbrachte, guttat.

Hier in Köln hatte er feststellen müssen, dass es keine Knechte mehr gab; sein Vater hatte den Lohn nicht mehr zahlen können.

Dass er die kräftezehrende Arbeit mit den schweren Tuchen liebte, sah man ihm auch an, denn im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen war er nicht nur groß gewachsen sondern auch sehr muskulös.

Er wusch sich mit dem kalten Wasser aus der bereitstehenden Schüssel, streifte sein Hemd über und stieg in seine Beinlinge.

Er würde den Vormittag im Kontor verbringen und nochmals alle Vermögenswerte gegen die Verpflichtungen aufrechnen. Große Hoffnung, dass er bei seinem ersten Studium der Unterlagen große Posten auf der Habenseite übersehen haben könnte, hatte er allerdings nicht.

So wie es schien, hatte sein Vater in der letzten Zeit fast alles zu Geld gemacht, was ihm früher viel bedeutet hatte und seinen Wohlstand verkörperte.

Das erklärte im Nachhinein auch die leere Halle.

Nur wo die vielen Gulden geblieben sein könnten, die er als Erlös für die Gegenstände erhalten haben musste, ließ sich aus den Rechnungsbüchern nicht entnehmen.

Stattdessen waren immer wieder große Posten als Ausgabe verbucht, ohne eine Notiz, für wen oder was sie ausgegeben worden waren.

Müde stieg er die Treppe hinab und öffnete die Küchentür.

Sofort stieg ihm der Geruch seiner Kindheit in die Nase.

Trin hatte Wecken gebacken; die hatte er als kleiner Junge über alles geliebt.

So oft er konnte war er zu der alten Köchin in die Küche geschlichen und hatte das noch heiße Gebäck so sehnsüchtig angestarrt, dass sie ihn mit einem Lachen ermahnt hatte:

„Herr Simon, ich weiß nicht, ob Euer Vater begeistert wäre, wenn er wüsste, dass Ihr schon wieder vor dem Essen in meiner Küche herumschleicht und mich mit großen Augen anseht, nur um eine Leckerei zu ergattern. Ihr werdet noch aufgehen wie ein Hefekuchen und dann wollen Euch die schönen Jungfern nicht mehr zum Gemahl haben!“

Natürlich hatte sie ihm immer etwas zugesteckt, denn sie hatte einen Narren an ihm gefressen.

Und die schönen Jungfern waren ihm in diesem Alter sowieso egal gewesen!

„Guten Morgen, Herr Simon! Ich habe Wecken gebacken, die habt Ihr früher immer so geliebt! Möchtet Ihr gleich eine aus dem Ofen haben? Sie sind auch noch warm.“

Verschwörerisch zwinkerte sie ihm zu.

„Oder habt Ihr am Ende da in Flandern etwas Besseres bekommen?“

„Guten Morgen, Trin! Was könnte es Besseres geben als deine Wecken? Nein, ich nehme gleich eine, so wie früher!“ Lachend setzte er sich an den Küchentisch, aber Trin hob abwehrend die Hände.

„Herr Simon, Ihr könnt doch nicht hier in der Küche essen! Ihr seid jetzt die Herrschaft und es schickt sich nicht, dass Ihr hier in der Küche seid!“

„Wer sagt das?“ Simon hatte sich einen Wecken genommen und biss genüsslich hinein.

„Es würde der Herrin nicht gefallen. Sie ist...also sie würde niemals...Wisst Ihr, Euer Herr Vater war in der letzten Zeit seines Lebens nicht mehr so, wie Ihr ihn kanntet. Er hat sich nicht mehr gekümmert, hat alles ihr überlassen.“

„Wie meinst du das? Es ist doch ihre Aufgabe, für den Haushalt zu sorgen.“ Er schob sich den Rest in den Mund und wischte sich anschließend die Krümel vom Kinn.

„Ja schon, aber ich meine, sie hat alles umgekrempelt.

Sie wollte nur noch die feinsten Speisen auf dem Tisch haben, nichts war ihr gut genug. Euer Vater hat früher nie so ein Gewese um das Essen gemacht, da wurde gegessen, was ich auf den Tisch brachte. Und das war gut genug für die Herrschaft!“

Ihre Stimme hatte einen beleidigten Tonfall angenommen.

Ihre Kochkünste zu kritisieren kam in etwa einer Gotteslästerung gleich.

Simon wusste, dass Trin sich persönlich angegriffen fühlte, wenn man an ihrem Essen etwas auszusetzen fand, aber in ihrer Stimme klang ein Unterton mit, der ihm sagte, dass die Diskussion über ihre Kochkünste hier nur ein Nebenschauplatz war.

„Trin, was ist hier eigentlich los? Ich kenne dich noch gut genug um zu merken, wenn etwas nicht stimmt!“

„Ach, Herr Simon, ich will ja auch nicht schlecht über die Herrschaft reden, aber seit Frau Cristine hier die Herrin im Haus ist, kann ihr keiner etwas recht machen. Sie hat die kleine Clara sogar schon verprügelt, nur weil die das Bett der Herrschaft abends nicht aufgeschlagen hatte. Dabei musste Clara mir zur Hand gehen und auf dem Markt Besorgungen machen.“

Sie schlug die Augen nieder.

„Meine Beine wollen in letzter Zeit nicht mehr so“, fügte sie verlegen hinzu.

„Ich sollte jetzt aber wieder an meine Arbeit gehen, Herr Simon. Sonst ist das Mittagessen nicht rechtzeitig fertig! Es ist halt nicht mehr so wie früher.“

Sie wischte sich müde über die Augen.