Racheengel - Alexander Lorenz Golling - E-Book

Racheengel E-Book

Alexander Lorenz Golling

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Beschreibung

Der zweite Fall von Kommissar Brauner In einem unheimlichen Wald bei Neuburg werden auf einem verfallenen Friedhof kurz nacheinander die Leichen von zwei Mädchen gefunden. Kommissar Brauner und sein Team gehen von einem ritualisierten Serienmörder aus - jedoch gestalten sich die Ermittlungen schwieriger als erwartet: Ein Institut und ein heimlicher spiritistischer Kreis scheinen ebenfalls in die Verbrechen verwickelt zu sein. Wird es Hendrik Brauner gelingen, den Sumpf aus gegenseitigen Abhängigkeiten und Verstrickungen zu durchschauen? Die Recherchen führen zu einem überraschenden Ende...

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Epilog

Prolog

Kurz nach eins.

Der Herbstregen nieselte leicht auf die nächtliche Straße. Es war Ende Oktober, die Blätter hatten sich bereits gelb verfärbt und waren am Fallen; ein frostiger Wind machte den Aufenthalt draußen unangenehm.

Doch die junge Frau konnte sich das Wetter leider nicht aussuchen. Langsam schritt sie auf ihrem Platz auf und ab.

Auf jeden und niemanden wartend.

Gegenüber, auf der anderen Straßenseite, lag der Englische Garten. Allerdings nicht jener in München, sondern ein Auwald, der sich in Neuburg an der Donau südlich des besagten Flusses entlangzog. Immer wieder kam es dort zu Überfällen, auch tagsüber; war nicht dort, erst vor ein paar Wochen, eine junge Frau vergewaltigt worden?

Kalter Schauer kroch über ihren Rücken. Sie mochte jetzt nicht an so etwas denken. Doch je mehr sie diese unwillkommenen Gedanken wegzudrücken versuchte, desto penetranter setzten sie sich in ihrem Gehirn fest.

Schwarz und undurchdringlich lag der Wald vor ihr.

Ein Knacken.

Erschrocken blieb sie stehen und spähte ängstlich in die Dunkelheit. Doch da war nichts. Oder vielleicht doch? Kauerte da im Schatten der Bäume nicht eine Gestalt?

Nein, Unsinn. Ihre Angst und Einbildung ließen sie Dinge sehen, die gar nicht dort waren. Wahrscheinlich war es nur ein kleines Tier gewesen.

Wahrscheinlich.

Wie sie es hasste, hier herumzustehen. Dazu der Ekel vor ihrem »Job«, wie sie es beschönigend ausdrückte, und der Ekel vor sich selbst.

Aber es geht nicht anders. Ich brauche die Kohle. Ansonsten schmeißt mich Eva aus der Wohnung. Und der Stoff … ich habe keine Wahl. Shit happens.

Sie blickte auf ihr Handy. Es ging auf halb zwei zu.

Mist. Kommt denn heute keiner mehr? Verschlafenes Nest …!

In einiger Entfernung blitzten die Scheinwerfer eines Autos auf, das um die Kurve fuhr.

Arbeit oder die Bullen?

Es fuhr an ihr vorbei. Sie wartete weiter. Fünf Minuten, zehn Minuten.

Dann, leise und fast schon verstohlen, kam ein Wagen aus einer Seitenstraße und hielt an.

Na endlich, Kundschaft.

Die Seitenscheibe fuhr leise surrend herunter. Sie stutzte, als sie erkannte, wer den Wagen fuhr. Dann wurden ein paar Worte gewechselt. Angebot traf Nachfrage.

Sie stieg ein. Der Wagen fuhr an und wurde von der Dunkelheit verschluckt.

Es regnete weiter.

***

Anton Felgenhauer hatte bis jetzt noch kein Frühstück gehabt. Seine Laune war schlecht, aber nicht nur deswegen. Das Wetter war lausig. Nasskalter Novemberwind blies ihm den Regen ins Gesicht, und überhaupt schien sich an diesem dunklen Morgen die ganze Natur gegen ihn verschworen zu haben. Eine Rodung, die ein Stück nördlich des Waldrands lag, musste noch von alten Ästen und vom allgegenwärtigen Wildwuchs gesäubert werden. So der Auftrag, den er vom Förster bekommen hatte. Persönlich hielt er nicht sonderlich viel davon. Als ob das irgendjemanden kümmern würde hier draußen! Dann hatte er sich nach einer schnellen Tasse Kaffee im alten Forsthaus, das mitten im umfangreichen Baringer Forst lag, an die Arbeit gemacht. Ständig blieb er im Dickicht des Unterholzes hängen; aber der Waldarbeiter kämpfte sich langsam weiter voran, Ast- und Wurzelwerk beiseiteschaffend.

Auf dem Gelände, das er bearbeitete, lag ein uralter Friedhof aus dem neunzehnten Jahrhundert, der aber schon seit einer halben Ewigkeit nicht mehr benutzt worden war. Für ihn bedeutete dieser Umstand nur weiteren Ärger: Zusätzlich zu den weißgrauen toten Baumstümpfen und den Fußfallen der dornigen Brombeersträucher musste er auch noch auf die alten, größtenteils umgestürzten Grabsteine Acht geben, wenn er nicht plötzlich auf der Nase landen wollte. Der kleine, gerade mal fünfzehn Grabstätten umfassende Gottesacker war vor über hundertfünfzig Jahren von einer geheimnisvollen religiösen Gruppe, die sich in dieser Einöde niedergelassen hatte, angelegt worden.

Da sieht man ja mal wieder, dass diese Sektenheinis doch alle einen Vogel haben. Bauen mitten im Wald einen Friedhof. Wo gibt’s denn so was?

Mit einem Fluch riss er sein rechtes Bein aus einer Windenschlinge am Boden. Es kam ihm fast schon so vor, als würden sich die Toten über die Störung ihrer Ruhe beklagen und ihn absichtlich festhalten wollen.

Unsinn. So etwas gibt es nicht.

Er bückte sich und versuchte, einen Ast aus dem verrottenden Ast- und Schlingpflanzengewirr zu befreien.

Dann hielt er jäh inne.

Er war in etwas getreten, das mit einem schmatzenden Laut nachgegeben hatte. Und es stank plötzlich ekelerregend nach Fäulnis.

Er sah genauer hin. Dann fuhr ihm ein eisiger Schreck durch die Knochen.

Er prallte zurück.

Fiel hin. Rappelte sich wieder auf und floh von diesem Ort. Erst kurz vor dem Forsthaus hielt er an. Sein keuchender Atem war in der kalten klaren Luft als Dampf deutlich zu sehen.

Anton Felgenhauers Kehle entwich ein nicht klar zu definierender Laut. Eine Mischung aus unterdrücktem Schrei, ersticktem Weinkrampf und Schluchzen; das, was er da unten gesehen hatte, war mehr als nur das pure Grauen.

Es hatte sich in seine Seele eingebrannt.

Für immer. Hastig öffnete er die Tür.

Ich muss Meldung machen. Schnell … wo ist das Handy? Verdammt noch mal, nie ist das Mistding da, wenn man es braucht!

Er suchte unkoordiniert.

Und der eiskalte Wind heulte, Schwaden aus Regen an die Fenster peitschend, weiter um das kleine Forsthaus.

***

1

Das Telefon klingelte und klingelte.

»Verdammt noch mal, was ist denn?«, fluchte Hendrik Brauner.

Schlaftrunken hatte er sich gerade aus dem Bettzeug gekämpft. Wütend packte er das Gerät und drückte die Annahmetaste.

»Ja?«

»Guten Morgen, der Herr. Auch schon ausgeschlafen? Kommst du heute noch?«

Es war sein Mitarbeiter Max Ingram. Und dessen Tonfall war übertrieben freundlich. Pure Ironie. Wie immer, wenn Brauner verschlafen hatte.

»Warum … weshalb? Sollte ich … ach, du Scheiße!«, stammelte er, noch immer nicht ganz wach, vor sich hin. Dann bemerkte er die Kopfschmerzen. Und erinnerte sich an die Nacht zuvor, wenn auch nur lückenhaft, in Schlaglichtern.

»Ich komme sofort. Tut mir leid.«

»Beeil dich. Es ist dringend. Hartmann hat auch schon nach dir gefragt. Und ich glaube, er ist angesäuert.«

Mist. Auch das noch. Mensch, fühle ich mich schlecht.

»Gut, bin schon unterwegs. Bis gleich.«

Damit beendete er das Gespräch und sprang regelrecht aus seinem Bett. Heftiger Katerkopfschmerz fuhr durch seinen Schädel.

Zu viel erwischt gestern. Wer veranstaltet denn auch unter der Woche ein Klassentreffen? Trotzdem war es schön, mal wieder die ganzen alten Nasen zu sehen. Was haben wir heute? Mittwoch.

Nach einer sehr oberflächlichen Katzenwäsche verließ er das Haus. Tochter Emily war schon lange weg.

Eigentlich hätte sie mich wecken können, dachte Brauner. Aber egal. Meine eigene Schuld, nicht ihre.

Er ging schnellen Schritts durch die Ingolstädter Altstadt in Richtung des Polizeipräsidiums Oberbayern-Nord, seiner Dienststelle. Die kalte herbstliche Luft machte ihn endgültig wach und milderte ein wenig seine Kopfschmerzen. Es dämmerte bereits, als er den Zentralen Busbahnhof, der dem Präsidium vorgelagert war, überquerte. Gedankensplitter jagten ihm durch den Kopf.

Das macht keinen guten Eindruck. Es ist ja nicht das erste Mal, dass ich zu spät in den Dienst komme. Das kann so nicht weitergehen. Unzuverlässigkeit steht einem Kriminalbeamten schlecht. Vor allem dann, wenn er selbst ein Vorgesetzter ist. Irgendwann werde ich mir eine Abmahnung dafür einfangen. Ich Trottel.

So und so ähnlich ging es weiter. Schließlich hetzte er die Treppe hoch zum Büro. Er hatte nun ein flaues Gefühl im Magen.

Am liebsten würde ich auf der Stelle umkehren.

Brauner öffnete die Tür. Ingram blickte von seinem Schreibtisch auf und zog seine Augenbrauen nach oben.

»Schon da? Nicht schlecht, wenn man bedenkt, dass ich erst vor einer Viertelstunde angerufen habe.«

Der Spott in seiner Stimme war nicht zu überhören.

Es wäre besser, wenn er nur ruhig wäre, dachte Brauner.

»Was ist denn so wichtig?«, fragte er Ingram, als er sich seinen Mantel auszog.

»Ich vermute, du kannst gleich angezogen bleiben. Wir haben einen mutmaßlichen Mordfall. Es …«

Er hörte auf zu reden, weil gerade die Bürotür aufging. Dominik Pfahls kam herein. Und zwar nicht alleine. Er hatte Inspektionsleiter Hartmann im Schlepptau.

Ach, du grüne Neune.

Brauners Herz fiel in die Hose. Aber vielleicht kam er noch einmal davon. Der Erste Kriminalhauptkommissar hatte seine Stirn nicht in Falten gelegt, wie es normalerweise bei Anspannung der Fall war. Brauner wünschte den beiden erst mal einen guten Morgen.

Hartmann räusperte sich kurz.

»Folgendes, meine Herren – heute Vormittag wurde im Baringer Forst bei Neuburg die Leiche einer jungen Frau gefunden. Das Ganze scheint ziemlich rätselhaft zu sein. Mordverdacht steht auf jedem Fall im Raume. Brauner, Sie kümmern sich bitte mit Ihrem Team darum. Die Spurensicherung ist auch schon informiert. Die Kollegen aus Neuburg warten vor Ort auf Sie.«

Aha.

»Wo ist das denn genau, wenn ich fragen darf?«

»Ihr Kollege, Herr Ingram, ist über die genaue Örtlichkeit schon informiert. Ist, glaube ich, nicht so einfach zu finden. Liegt mitten im Wald.«

Hartmann lächelte schadenfroh.

Er hat keine schlechte Laune, dachte Brauner.

Glück gehabt.

»Ach ja, Herr Brauner – könnten Sie bitte mal kurz mit mir mitkommen? Ich muss mit Ihnen reden.«

O nein. Mist.

Ingram und Pfahls sahen sich vielsagend an. Hendrik Brauner folgte seinem Vorgesetzten auf den Flur.

Jetzt hatte er die Stirn in Falten gelegt.

»Herr Brauner, diese Situation ist mir etwas unangenehm. Aber ich muss ein paar Sachen jetzt doch mal ansprechen. Mir und auch anderen Kollegen ist aufgefallen, dass Sie in den letzten Wochen wiederholt zu spät zum Dienst erschienen sind.«

»Ja, ich weiß, es tut mir leid.«

»Dazu kommt noch, dass Sie einen unkonzentrierten und auch bisweilen ungepflegten Eindruck machen. Woran könnte das liegen, wenn ich fragen darf?«

Brauner fühlte sich elend. Ihm blieb regelrecht die Luft weg.

Ist das Existenzangst?

»Ich … ich hatte in letzter Zeit etwas viel um die Ohren. Sie wissen ja, ich bin alleinerziehend.«

»Ja, ja, das weiß ich sehr wohl. Aber andere Kolleginnen und Kollegen sind das auch und vernachlässigen sich nicht, anders als Sie. Im Übrigen: Haben Sie heute etwas getrunken, Herr Brauner? Ich dachte, ich hätte da vorhin was gerochen.«

»Nur das Klassentreffen gestern Abend. Ich hatte da zu viel erwischt und habe verschlafen, ja. Entschuldigung.«

Hartmann musterte ihn von oben bis unten mit einem kurzen Blick.

»Na, wenigstens sind Sie ehrlich und verrennen sich nicht in haltlosen Ausreden. Gut. Bitte reißen Sie sich in Zukunft zusammen. Ihr Ansehen geht sonst verloren, und ich wäre gezwungen, Ihnen eine Abmahnung zu erteilen. Verstanden?«

»Ja, verstanden.«

»Gut. Und jetzt kümmern Sie sich bitte um die Sache bei Neuburg. Viel Erfolg.«

Hartmann drehte sich abrupt um und ging den langen Flur entlang zurück zu seinem Büro.

Brauner musste sich erst mal sortieren.

Was war das eben jetzt gewesen? Der hat mich ja zusammengeschissen wie einen kleinen Schuljungen. Was fällt dem eigentlich ein? Glaubt der, er wäre fehlerfrei? Aber ich habe es ja kommen sehen. Hätte mich krankmelden sollen. Oder am besten gleich alles hingeschmissen. Nein – ich bin doch selbst schuld daran. Ich … ach Dreck, rutscht mir doch alle den Buckel runter!

Damit begab er sich ebenfalls zurück in seine Dienststelle.

Pfahls und Ingram blickten ihn ernst an, als er zur Tür hereinkam.

Schweigen.

Ingram hüstelte kurz in sich hinein.

»Hast du einen Anpfiff bekommen?«

»Ja. Aber ich will jetzt nicht darüber reden. Wo befindet sich der mögliche Tatort? Du weißt schon Genaueres?«

»Ja«, sagte Ingram.

»Nachdem du ja nicht da warst, wurde ich von Hartmann informiert. Er befindet sich bei Gietlhausen, ziemlich tief im Baringer Forst. Auf einem alten Friedhof.«

»Auf einem alten Friedhof? Na toll, das passt ja wie die Faust aufs Auge. Gut, wir fahren hin. Mach dich fertig, den Rest kannst du mir dann während der Fahrt erzählen.«

Wenige Minuten später befanden sich die beiden Polizisten auf dem Weg nach Neuburg.

Brauner zog gierig die frische Novemberluft in seine Lungen, die hier nach Tannennadeln roch.

Ja. Das tut gut. Jetzt geht es mir besser.

Sie waren nicht auf der B 16, sondern auf der nördlich der Donau verlaufenden Landstraße über Friedrichshofen nach Neuburg gefahren. Der Berufsverkehr stadtauswärts war nur gering gewesen, während sich in die Ingolstädter Richtung wie fast an jedem Tag die Autos en masse gestaut hatten.

Max Ingram hatte ihm noch die wesentlichen Dinge zu diesem mutmaßlichen Mordfall geschildert. Viel war es nicht. Eine junge Frau war heute Morgen tot von einem Forstarbeiter auf dem besagten alten Friedhof mitten im Baringer Forst aufgefunden worden. Dieser hatte sofort die Schutzpolizei in Neuburg angerufen, und die Polizisten dort hatten dann die Kripo in Ingolstadt informiert.

Jetzt gingen Brauner und Ingram auf einem mit Split bestreuten Waldweg in Richtung des alten Forsthauses, in dessen Nähe der Auffindeort der Leiche lag. Es hatte mittlerweile zu regnen aufgehört, aber es blieb dennoch ein windiger und feuchter Herbsttag, der hier im Wald noch dunkler wirkte, als er es eh schon war.

Es ging einen Hügel hinunter. Dann um eine Kurve. Sie konnten zwischen den Baumstämmen einen kleinen See erkennen.

»Das muss der Forsthofweiher sein«, murmelte Ingram in sich hinein.

»Jetzt ist es nicht mehr weit, glaube ich.«

Wie zur Bestätigung seiner Annahme kam nur einige Augenblicke später ein grau gestrichenes Gebäude in Sicht. Es war das alte Forsthaus.

Einige Polizeiautos waren davor geparkt. Auch den Bus der Spurensicherung konnte Brauner erkennen.

Die Leute vom Wengerer sind auch schon da. Sehr gut. Wenigstens der hat nicht verschlafen.

Bei den Wagen standen einige Schutzpolizisten. Sie betrachteten Ingram und Brauner mit prüfendem Blick. Diese suchten nach ihren Dienstausweisen.

»Kriminalpolizei Ingolstadt, ich bin KHK Brauner, und dies ist mein Kollege, Kriminalkommissar Ingram. Hier wurde eine Leiche gefunden?«

»Ah – wir haben Sie bereits erwartet, kommen Sie doch bitte mit. Es ist gleich um die Ecke. Aber passen Sie auf, es ist ziemlich matschig.«

Sie folgten den beiden über einen kleinen Rübenacker, welcher gleich unterhalb der Giebelseite südlich des Forsthauses angelegt war. Dann ging es einen kurzen Hügel hinab nach unten; sie befanden sich nun in einem kleinen lichten Laubwaldbestand, in dem Birken und Ahorn dominierten. Er wirkte irgendwie fremdartig in jenem fast reinen Nadelwald.

Ein Stück weiter erkannte Brauner durch die Baumstämme mehrere Beamte in den weißen Schutzanzügen der Spurensicherung.

Aha, da sind sie ja. Aber hieß es nicht, die Frau wurde auf einem alten Friedhof gefunden? Ich sehe hier nichts davon. Seltsam.

Brauner ging auf die Gruppe zu.

»Guten Morgen. Kriminalpolizei – wir kennen uns ja, Herr Wengerer. Wo ist die Tote?«

Der Angesprochene wies wortlos auf eine Stelle am Boden. Dort lag der Leichnam einer jungen Frau.

Er war durch den beginnenden Verwesungsprozess bereits stark bläulich verfärbt. Als Brauner näher kam, bemerkte er auch einen starken Fäulnisgeruch. Er zog ein Taschentuch aus der Manteltasche, hielt es sich vor die Nase und ging in die Hocke, um die Tote genauer betrachten zu können. Sie war jung; bekleidet war sie mit einem Minirock, Netzstrümpfen, Stiefeln und einer Bluse, die irgendwann wohl einmal weiß gewesen war, jetzt aber vor Dreck nur so starrte. Ihre Arme waren weit ausgebreitet, als ob sie mit ihren gebrochenen Augen etwas empfangen wollte, das vom Himmel herab kommen würde.

Aber da war noch etwas anderes.

Zum einen befand sich da ein Loch im Bauchraum. Eine nicht eindeutig zuzuordnende Mischung aus verwesenden Muskeln und Gedärmen war teilweise herausgetreten.

Brauner wurde wieder flau im Magen.

Zum anderen war da ein seltsames Signum auf ihrer Stirn aufgemalt. Schwarz, einige Stellen dicker, andere dünner.

Was soll denn das sein? Sieht aus wie ein chinesisches oder japanisches Schriftzeichen.

Und dann stellte er fest, dass er sich doch am richtigen Ort befand. Denn am Kopfende der Leiche befand sich ein kleiner, schon schräg stehender Grabstein mit einem stark verrosteten Gusseisenkreuz auf der Spitze. Der Name darauf war schon kaum mehr zu lesen. Er war stark mit allen möglichen verrottenden Pflanzen überwachsen und daher auf den ersten Blick nur schwer zu erkennen.

Er stand wieder auf und wandte sich an Wengerer.

»Puh, einfach furchtbar. Haben Sie etwas gefunden, das auf die Identität der Toten schließen lässt? Einen Ausweis oder Führerschein? Und wie lange sie hier schon liegt?«

»Ja, allerdings. Sie hatte ihre Handtasche dabei. Es handelt sich um eine gewisse Jaqueline Bernauer aus Neuburg. Wie lange sie schon an diesem Ort ist, kann ich nicht konkret sagen – aber so geschätzt mal eine Woche, ihrem Zustand nach zu urteilen. Dr. Heinrichs von der Rechtsmedizin ist aber auch schon auf dem Weg.«

Damit hielt er Brauner den Ausweis hin.

»Danke – den nehme ich mit. Wo ist denn eigentlich der Waldarbeiter, der den Leichnam gefunden hat?«

»Der befindet sich im Forsthaus mit einem Kollegen. Er ist, glaube ich, schwer angeschlagen.«

Wengerer trat näher an Brauner heran und flüsterte:

»Wissen Sie – er hat die Frau nicht nur einfach gefunden. Er ist aus Versehen direkt auf die Leiche getreten. Deshalb der aufgeplatzte Bauchraum.«

»Ich hab’s gesehen, danke.«

Brauner wandte sich an Max Ingram, der mit ernstem Gesicht die ganze Zeit über wortlos dabeigestanden hatte.

»Könntest du bitte mit dem Präsidium telefonieren? Wir müssen noch herausfinden, wo ihre Verwandten wohnen, und sie von diesem traurigen Vorfall informieren. Ich befrage mal den Zeugen.«

Er warf noch mal einen Blick in die Umgebung. Das Laubwäldchen grenzte nur ein paar Meter weiter an eine große Wiese, die sich leicht hügelaufwärts erstreckte. Weit entfernt sah er einen Mann mit blauem Anorak laufen, der einen Korb bei sich trug.

Wahrscheinlich ein Pilzsammler. Wenn der wüsste, was hier los ist. Einfach furchtbar. Ein junges Leben, einfach so ausgelöscht. Grauenhaft. Ich könnte losheulen. Manchmal frage ich mich, ob dieser Job der richtige für mich ist.

Auf dem Boden erkannte Brauner nun auch mehrere umgestürzte Grabsteine und alte, kaum mehr erkennbare Grabeinfassungen.

Schon eigenartig, dachte er.

Warum liegt das Mädchen ausgerechnet hier? Und: War das auch der Tatort? War es überhaupt Mord? Und dieses seltsame Zeichen auf der Stirn? Da wird es jetzt einiges zu ermitteln geben.

Er machte sich auf den Weg zum Forsthaus. Links neben einer größeren Tür, ähnlich einem Scheunentor, befand sich der eigentliche Eingang. Brauner öffnete die Tür. Ein muffiger Geruch, feucht und holzig, schlug ihm entgegen. Es waren einige Stapel Holz an der gegenüberliegenden Wand aufgestellt; links neben ihm lag ein halbfertiger neuer Jägerstand auf dem Boden.

Schon gleich rechts hinter der Eingangstür führte eine dunkle steile Treppe nach oben. Er hörte gedämpfte Stimmen von dort.

Die hölzernen Stufen knarrten bedenklich, als er den engen Aufgang nach oben ging.

Nichts für Klaustrophobiker, dachte er.

Und kalt ist es auch hier drin.

Oben angekommen, ging es bei einem hölzernen Geländer kurz links um die Ecke. Er betrat einen offenen Raum, in dem drei Männer an einem rustikalen Tisch saßen. Zwei von ihnen rauchten. Ein Kanonenofen in der hinteren Ecke gab knackende Geräusche von sich. Er verbreitete eine angenehme Wärme.

Einer der Männer am Tisch war ein Schutzpolizist. Er sprach ihn sogleich an.

»Kripo Ingolstadt, KHK Brauner. Kann ich mal den Waldarbeiter sprechen, der die Tote heute Morgen entdeckt hat?«

Der Schupo wies auf einen anderen Mann neben ihm, der gebeugt über seiner Tasse schwarzen Kaffees saß und mit leerem Blick vor sich hin stierte.

»Guten Tag, Brauner ist mein Name. Kann ich den Ihrigen erfahren?«, fragte er freundlich.

Der Angesprochene antwortete nicht. Er schien von Brauner noch nicht einmal Notiz zu nehmen.

»Ich glaube, er hat einen ziemlichen Schock erlitten«, sagte ein Dritter, der neben ihm saß.

»Ach? Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?«

»Mein Name ist Josef Meißner. Ich bin der für dieses Waldgebiet zuständige Förster. Der Herr Felgenhauer hat mich heute Morgen ebenfalls verständigt, gleich nachdem er Sie informiert hatte. Ich bin dann auch so schnell wie möglich hierhergefahren. Anfangs war er noch ganz gut ansprechbar, aber jetzt scheint er vollständig in sich selbst zurückgezogen zu sein.«

Er hustete und drückte seine Zigarette in einem schönen, fein ziselierten bronzefarbenen Aschenbecher aus, der mitten auf dem Tisch stand. Brauner kam die gestrige verrauchte und versoffene Nacht wieder in den Sinn. Er schluckte den aufkommenden Ekel hinunter.

Dann setzte er sich an den Tisch und holte seinen Notizblock aus der Mantelinnentasche.

»Ich sehe es, ja. Was hat er denn erzählt? Haben Sie selbst den Auffindeort in Augenschein genommen?«

»Ja, aber nur ganz kurz. Ich bin da etwas empfindlich, verstehen Sie? Und angefasst habe ich gar nichts. Soll man ja auch nicht, wegen der DNA-Spuren. So weiß ich es zumindest mal aus den Vorabendkrimis.«

Aha, ein Schlaumeier.

»Und was mein Angestellter so erzählt hat? Nun, also …«

»Das kann ich auch selbst sagen«, fiel ihm Felgenhauer unerwartet ins Wort.

Brauner lächelte.

»Geht es Ihnen besser?«

Schweigen. Felgenhauer atmete vernehmbar aus. Dann:

»Nein, nicht wirklich. Es … es ist einfach grauenhaft. Ich habe so etwas noch nie gesehen, noch nie. Und ich werde die Scheiße auch nie wieder aus meinem Hirn herauskriegen. Verstehen Sie das? Ich bin anders als Sie. Für Sie gehören solche Anblicke zu Ihrem Job.«

»Ja, das mag sein. Aber auch mich trifft es jedes Mal tief, wenn ich zu einem mutmaßlichen Tatort gerufen werde und dann eine schlimme Situation vorfinde. Wann genau haben Sie denn heute zu arbeiten angefangen, Herr Felgenhauer?«

Der richtete seinen Blick nach innen.

»So gegen halb acht. Vorher ist es ja noch dunkel um diese Jahreszeit, und ein wenig Licht brauche ich für diese Tätigkeit schon.«

»Gut. Was haben Sie dann konkret dort gemacht?«

»Verrottende Äste beiseitegeschafft und versucht, das Dickicht ein wenig zu lichten. So war mein Auftrag.«

Der Förster nickte zustimmend.

»Und dabei haben Sie die Tote auf jenem alten Friedhofsgelände gefunden.«

»Ja. Ich bin auf sie getreten, aus Versehen, Herr Kommissar, verstehen Sie? Nein, Sie tun’s nicht. Halt, Moment, alles falsch: Ich bin in die Frau hinein getreten. Es hat so komisch geschmatzt. Als wäre es ein Kuhfladen oder Pudding, ha, ha …«

Dann begann Felgenhauer haltlos zu weinen. Er sank vornüber auf den Tisch, sein Gesicht in seinen Händen verbergend.

Der ist total fertig, dachte Brauner.

Wundert mich auch nicht.

»Vielen Dank, Herr Felgenhauer.«

Er wandte sich an den Förster.

»Und Sie sind zuständig für dieses Waldgebiet? Wie war noch mal Ihr Name?«

»Meißner, Josef Meißner«, antwortete dieser.

»Und ja, das stimmt, ich bin für den Baringer Hochwald zuständig. Muss schauen, dass hier alles in Ordnung ist. Einen ähnlichen Vorfall hatte ich, glaube ich, zum letzten Mal vor fast zehn Jahren.«

»Aha. Wie lange arbeiten Sie denn schon in dieser Stellung?«

»Seit etwa fünfzehn Jahren. Damals, das war auch schlimm. Ein einsamer Wanderer, der einem Herzinfarkt erlegen war, mitten im Wald. Schlimm, aber natürlich nicht so heftig wie das jetzt. War es ein Verbrechen? Warum liegt die Frau denn auf dem alten Grab?«

Brauner verdrehte die Augen. Die aufgestaute Wut dieses Morgens bahnte sich ihren Weg nach oben.

»Erstens versuchen wir genau das herauszufinden – wir wissen es selbst ja noch nicht, Herr Meißner – und zweitens stelle ich Ihnen jetzt die Fragen, nicht umgekehrt. Verstanden?«, sagte er sehr bestimmt.

Meißner stand vor Erstaunen der Mund offen.

Okay, das war unfreundlich. Jetzt mal schnell ein paar Gänge herunterschalten. Der Mann hat keine Schuld an meiner schlechten Laune.

»Entschuldigen Sie. Ich habe heute einen schlechten Tag erwischt.«

Es klang knochentrocken.

Meißner nickte.

Brauner sah in die Runde.

»Gut, dann weiß ich jetzt schon ein wenig mehr. Sollte Ihnen noch was einfallen, melden Sie sich bitte bei uns – Ihre Adressen und Telefonnummern hätten wir aber auch noch gerne. Keine Angst, ist reine Routine.«

Damit legte er seine Visitenkarte auf den Tisch.

»Soll ich Ihnen einen Arzt rufen, Herr Felgenhauer?«

»Nein, danke«, sagte dieser. Er hatte sich zwischenzeitlich wieder beruhigt und entrückt aus dem Fenster gesehen.

»Ich gehe nachher zu einem. Passt schon.«

Nachdem er die Anschriften der beiden eingesteckt hatte, verabschiedete sich Brauner und ging vorsichtig die steile Treppe wieder hinunter.

Allzu viel war das nicht. Aber mal sehen, was die Spusi schon herausgefunden hat.

Draußen empfing ihn wieder die Kälte. Ein leichter Nieselregen hatte eingesetzt. Und ein Auto mehr stand nun auch da: der Leichenwagen.

Brauner ging über den kleinen Acker zu Wengerer und Ingram zurück. Die Tote wurde gerade von den Mitarbeitern eines Bestattungsinstituts vorsichtig und so pietätvoll wie möglich in einen Transportsarg aus Hartplastik gelegt.

»Und, wie sieht es aus?«, rief er den beiden schon aus einiger Entfernung zu. Auch Dr. Heinrichs, Gerichtsmediziner aus Ingolstadt, befand sich nun bei ihnen. Er empfing Brauner mit einem lakonischen Gesichtsausdruck.

»Guten Morgen, Herr Brauner. Nun – so einiges konnten wir nach der ersten Leichenbeschau finden. Wenn auch die Witterung schon etliche Spuren verwischt haben dürfte.«

»Ja, das ist mir klar. Was konnten Sie bis jetzt feststellen?«

Dr. Heinrichs blickte mit einem traurigen Gesicht auf den Sarg, der gerade geschlossen wurde.

»Also«, sagte er dann leise zu Brauner, »da war definitiv Gewalt im Spiel. Etwas anderes kommt eigentlich nicht in Frage. Dafür spricht die Tatsache, dass das Opfer an den Händen gefesselt worden war – ich konnte eindrückliche Spuren davon an den Handwurzeln feststellen. Tief hineingepresste längliche Druckstellen, wahrscheinlich verursacht durch Kabelbinder. Außerdem wurde die junge Frau auch gefoltert, und zwar durch Aufdrücken von brennenden Zigaretten an den Armen und auf dem Oberkörper.«

Brauner sah Heinrichs mit einem gefassten Gesichtsausdruck an und nickte. Damit war ein Suizid oder Unfall ausgeschlossen.

»Furchtbar. Und die eigentliche Todesursache?«

»Konnte ich bis jetzt noch nicht feststellen. Nichts Offensichtliches also. Sie scheint keine großen äußeren Wunden zu haben, auch Blut ist nicht in signifikantem Maß ausgetreten – außer eben auf den Boden direkt unter ihr, auf das alte Grab. Es ist dort ihm Rahmen der Verwesung zusammen mit anderen Körperflüssigkeiten eingesickert. Ein ganz natürlicher Vorgang, weil unmittelbar nach dem Verscheiden jene körpereigenen Säfte nach unten sacken und …«

»Ja, schon gut«, unterbrach ihn Brauner und winkte ab.

So genau wollte er das jetzt nicht wissen, zumindest heute, an diesem Ort nicht. Er kniff seine Augen zusammen und sah in den dunkelgrauen Himmel. Nieselregen benetzte sein Gesicht.

Heinrichs fuhr fort.

»In der Gerichtsmedizin werde ich aber ganz bestimmt den Grund für ihren Tod finden. Eigenartig ist auch jenes Schriftzeichen auf ihrer Stirn. Könnte auf einen Ritus hindeuten. Aber das ist Ihr Metier, Herr Brauner.«

»Ja, ich weiß«, entgegnete dieser müde.

»Halt, eines noch: Die Tote wurde an dieser Stelle nur abgelegt. Getötet aber ganz bestimmt nicht. Darauf weist die Tatsache hin, dass ihr Körper ganz absichtlich mit ausgebreiteten Armen auf das Grab gelegt wurde. Auch die Handtasche wurde nicht irgendwohin geworfen, sondern sauber aufrecht danebengestellt. Alles sorgsam drapiert. Weiß Gott, warum.«

Wengerer, der neben Heinrichs stand, nickte bejahend.

Wenn es Gott weiß, würde ich es auch gerne wissen wollen, dachte Brauner.

Warum auf jenem alten Grab, mitten im Wald?

Max Ingram riss ihn aus seinen Gedanken.

»Nochmals zur Handtasche, Hendrik. Ihr Inhalt ist sehr interessant. Ich habe dort so einige Utensilien gefunden, die Aufschluss über den Hintergrund der Frau geben könnten.«

»Na, dann schieß mal los.«

Er hielt einen durchsichtigen Plastikbeutel der Kriminaltechnik hoch und öffnete ihn mit seinen behandschuhten Händen.

»Also – hier haben wir zwei Packungen Kondome, eine davon bereits angebrochen. Dann das übliche Schminkzeug, Kopfschmerztabletten und eine Packung Antibabypillen. Aber das Interessanteste kommt erst noch …«

Jetzt macht er es wieder besonders spannend. Typisch Max.

Er nestelte an einem weiteren, gesonderten Asservatenbeutel herum.

»Und ihr Handy?«, fragte Brauner dazwischen.

»Keines da«, erwiderte Wengerer.

Komisch. Eine junge Frau ohne Handy? Heutzutage so gut wie unmöglich.

»Dies hier«, sagte Ingram fast schon triumphierend, »dies hier ist eine so genannte Icepipe. In der Drogenszene bestens bekannt. Unsere Tote war offensichtlich auf Crystal Meth.«

Brauner begutachtete kurz das unschuldig wirkende Pfeifchen. Es war schon gebraucht worden. Er erkannte eine rußig-kristalline Substanz darin, als er hindurchsah.

»Ach du liebe Zeit. Dann werden wir auch in diesen Kreisen ermitteln müssen, schätze ich mal. Sonst noch was?«

»Ja, das hier.«

Damit hielt er Brauner ein kleines Kärtchen unter die Nase.

Club Amora

Rund um die Uhr Hartes und Zärtliches

Industriestraße 12 b

85055 Ingolstadt-Unterhaunstadt

»Dann war sie anscheinend im Rotlichtbezirk tätig. Und darüber hinaus drogenabhängig. Damit würde, den Indizien nach zu urteilen, alles zusammenpassen: ihre Kleidung, die Pfeife, die Kondome. Hat sich Dominik schon gemeldet?«

»Ja, während du den Waldarbeiter vernommen hast. Sie ist in der Schanzenstraße 8 in Neuburg wohnhaft. Und war seit vorletztem Donnerstag – dem 22.10. – vermisst gemeldet auf einem anderen Kommissariat.«

»Welche Verwandten hat sie denn?«

»Die Mutter und zwei Schwestern, soweit uns bekannt. Auch die wohnen in Neuburg. Vermisst gemeldet wurde sie aber von einer gewissen Eva Linartz, mit der die Tote offenbar zusammenwohnte. Scheint eine WG dort zu sein, denn es sind mehrere Mieter auf diese Adresse eingetragen.«

»Gut. Dann werden wir die schlechten Nachrichten gleich überbringen müssen, Max. Mal sehen, ob wir bei dieser Gelegenheit mehr herausfinden können.«

Und schon wieder spielen wir die Todesboten, dachte Brauner. Wie die Unglücksraben in früheren Zeiten. Wie ein Menetekel, das plötzlich durch unsere Erscheinung wahr wird.

Sie verabschiedeten sich von Dr. Heinrichs und Wengerer. Ingram marschierte motiviert auf dem Waldweg zurück zum Dienstwagen. Brauner folgte ihm in gedrückter Stimmung. Schleppend.

Der kalte Novemberwind, der durch die Bäume hindurchfegte und sein trauriges Lied sang, drückte am besten die Stimmung aus, in der er sich befand. Sein Gedankenkarussell begann sich wieder zu drehen.

Widerwärtiger Tag. Widerwärtiges Wetter. Warum in dieser Wildnis, warum auf diesem gruseligen Friedhof? Wer weiß denn überhaupt von diesem Platz?

»Wir sollten vielleicht den Förster und seinen Waldarbeiter noch mal gesondert auf dem Kommissariat vernehmen, Max. Sie sind so ziemlich die Einzigen, die diesen abgelegenen Ort kennen. Was hältst du davon?«

Ingram blickte sich im Laufen um.

»Vielleicht. Welchen Eindruck hast du gehabt, Hendrik? Du hast die beiden vorhin vernommen.«

»Der Förster war ein wenig besserwisserisch, und der Herr Felgenhauer total fertig. Der bekommt so schnell diesen grausigen Anblick nicht mehr aus seinem Kopf raus. Sie scheinen nichts damit zu tun zu haben – aber man kann nie wissen. Also?«

Die Kriminalbeamten waren am Wagen angekommen und stiegen ein, froh, dem Schmuddelwetter nicht mehr länger ausgesetzt zu sein.

»Gut, dann laden wir die beiden noch mal vor. Wer fährt?«

»Ich nicht.«

Brauner setzte sich auf den Beifahrersitz. Er wollte jetzt nicht fahren, da er sich zu niedergeschlagen fühlte und außerdem Bauchschmerzen bekam.

Das tote Mädchen. Die Arme weit offen. Als ob sie auf Erlösung warten würde. Der Anpfiff heute Morgen. Dieser verdammte Hartmann. Aber selber schuld …

Ingram startete den Motor. Dann bewegte sich der Wagen langsam den Waldweg entlang Richtung Neuburg.

***

2

»So ein Mist. Können die denn nicht ihre Namen auf die Klingeltasten schreiben?«

Brauner schimpfte. Auf dem metallenen Klingelschild fand er weder die Namen Linartz noch Bernauer. Die Polizisten standen in der Unteren Altstadt Neuburgs vor einem etwas heruntergekommenen, älter wirkenden Zeilenhaus aus dem 17. Jahrhundert unweit der Donau. Es war die letzte Meldeadresse der Toten aus dem Wald.

»Dann müssen wir uns eben durchklingeln. Sind nur sechs Parteien. Irgendeiner wird schon aufmachen«, entgegnete Ingram.

Brauner stampfte kurz mit seinen Beinen auf dem nassen Kopfsteinpflaster auf. Es war ihm kalt. Und es ging ihm immer noch nicht besonders gut.

»Schön, dann kannst du ja gleich damit anfangen.«

Ingram erwiderte diesen schnippischen Kommentar nur mit hochgezogenen Augenbrauen und leistete seinem Vorgesetzten Folge.

Nach den ersten beiden Versuchen geschah nichts. Niemand öffnete die Tür oder machte sich anderweitig bemerkbar. Erst beim dritten Klingelschild hatten sie Erfolg.

Ein Fenster direkt unter dem Dach wurde quietschend geöffnet. Das Gesicht einer älter wirkenden Frau erschien in der Öffnung.

»Ja, was wollen Sie?«

»Guten Tag. Kriminalpolizei. Wir müssen zu einer Frau Linartz. Sie ist doch hier wohnhaft, oder?«, rief Brauner zu ihr hoch.

»Ja. Das bin ich selbst.«

»Das ist gut. Würden Sie uns bitte reinlassen, wir haben ein paar wichtige Fragen an Sie.«

»Um was geht es denn?«

»Um eine Frau Jaqueline Bernauer.«

Das Gesicht verschwand wieder. Das Fenster wurde geschlossen. Dafür summte kurze Zeit später der elektrische Türöffner.

Ingram stieß die Tür mit einer sanften Handbewegung auf. Die beiden Kriminalpolizisten traten ein.

Es roch nach altem Holz und den Küchenausdünstungen der letzten fünfzig Jahre.

Sie stiegen die knarzenden Stufen einer dunkelbraun verfärbten Holztreppe nach oben. Auf dem Absatz im ersten Stock schreckten sie eine dort schlafende schwarz-weiß gescheckte Katze auf. Sie sprang böse fauchend zwischen ihren Beinen nach unten.

Wenn das mal kein schlechtes Omen ist, dachte Brauner. Im zweiten Stock wurden sie an der offenen Tür erwartet. Er nahm seine Mütze ab und sagte bedächtig:

»Frau Linartz? Guten Tag noch mal, wir sind von der Kriminalpolizei und haben Ihnen etwas mitzuteilen. Dürfen wir in Ihre Wohnung kommen?«

Frau Linartz sagte nichts darauf; stattdessen zeigte sie Brauner und Ingram mit einer einladenden Handbewegung, dass sie hereinkommen konnten. Sie betraten eine kleine Mansardenstube unter dem Dach. Das Wohnzimmer befand sich gleich rechts neben dem Eingang. Sie setzten sich auf ein Ledersofa. Auf dem kleinen flachen Tisch davor herrschte, wie in der ganzen Wohnung, eine ziemliche Unordnung. Leere und halb ausgetrunkene Wein- und Sektflaschen, Zigarettenschachteln und Frauenmagazine lagen wild durcheinander darauf herum. Der verschlissene graue Teppichboden schien schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesaugt worden zu sein.

Frau Linartz folgte den Polizisten. Kein Wort war bisher über ihre Lippen gekommen. Ihr Gesicht hatte etwas lakonisch Sphinxartiges mit den langen Längsfalten beiderseits ihres zusammengekniffenen Mundes. Gekleidet war sie in einer ehemals schwarzen, nun verwaschenen Jeans und einer ebensolchen Bluse. Sie setzte sich auf einen Sessel den beiden gegenüber.

Ingram begann das Gespräch.

»Frau Linartz, Sie haben am 27. Oktober diesen Jahres die Frau Bernauer bei uns vermisst gemeldet. In welchem Verhältnis stehen Sie noch mal genau zu ihr?«

»Sie ist meine Mitbewohnerin. Und war auf einmal verschwunden. Einfach weg. Und das, obwohl ich alleine die Miete für die Wohnung nicht stemmen kann. Die Jacky hat einen Haufen Probleme. Ich mache mir große Sorgen um sie. Haben Sie was herausgefunden?«

Ihre Stimme klang zwar brüchig, aber um einiges jünger als erwartet.

»Ja, das haben wir. Frau Linartz, wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass die Frau Bernauer in einem abgelegenen Waldgebiet tot aufgefunden wurde.«

Die Stille war mit den Händen zu greifen.

»Herzliches Beileid.«

Es wirkte genauso förmlich und unpassend.

Lange sah Frau Linartz auf den dreckigen Teppichboden unter dem Tisch.

Dann schüttelte sie langsam den Kopf.

»Ich habe es kommen sehen. Habe es gespürt. Manche sind einfach nicht für ein langes Leben bestimmt. Man sieht es solchen Menschen an. Sie kennen das doch auch, nicht?«

Dann rollte eine einsame Träne ihre Wange hinab. Dann noch eine. Schließlich brach alles aus ihr heraus. Sie weinte laut und herzzerreißend.

Brauner und Ingram sahen betreten zu Boden. So oft sie solche und ähnliche Situationen schon erlebt hatten, so ergriffen und betroffen waren sie dennoch, wenn es mal wieder so weit war.

Ich fühle mich fehl am Platz, dachte Brauner.

Ist es, weil ich Gefühle an sich verdränge? Oder kann ich einfach nur keine Frauen weinen sehen?

Frau Linartz’ Weinkrampf dauerte indes nicht lange. Sie wischte sich die Tränen mit einer entschlossenen Handbewegung aus dem Gesicht.

»Was ist mit Jacky passiert?«

»Nun, Genaueres wissen wir bis jetzt auch noch nicht. Sicher ist nach ersten Erkenntnissen nur, dass die Frau Bernauer offensichtlich ermordet wurde. Wir sind uns im Klaren darüber, dass Sie unsere Nachricht sehr getroffen hat, Frau Linartz. Aber wir haben, die Jaqueline betreffend, ein paar Fragen an Sie. Reine Routine. Geht das in Ordnung?«

Sie blickte erst jetzt wieder hoch und Brauner direkt in die Augen.

»Ja, natürlich. Müssen Sie ja. Machen Sie schon!«

Sie wippte mit ihrem rechten Bein nervös auf und ab.

Brauner fing an.

»Welcher Art waren denn die Probleme der Frau Bernauer?«

»Tja, da gab es etliche gleichzeitig, würde ich sagen. Ihr größtes war auf jeden Fall dieses Scheißzeug. Crystal, meine ich. Der Pillendreck auch. Und dann die Schule, die sie geschmissen hat. Ihre bescheuerte Mutter. Einfach alles, verstehen Sie?«

Ingram nickte. Und machte weiter.

»War die Frau Bernauer stark abhängig von diesen Drogen? Und wie lange schon? Wie hat sie ihren Konsum finanziert? Auf welcher Schule war sie in Neuburg?«

Mensch, mach mal langsam, Max, dachte Brauner.

Du bombardierst die Frau ja geradezu mit Fragen.

»Na, wie wohl? Von Hartz IV, in erster Linie. Hin und wieder hat sie aber was mitgehen lassen, bei ihren Freunden und Kumpels. Die waren danach natürlich keine mehr. Auch mich hatte sie schon mal beklaut, aber ich habe ihr verziehen.«

»Warum?«, fragte Brauner.

»Na, wie schon gesagt, weil ich sonst die Miete für dieses Loch nicht zahlen kann. Der andere Kerl, der hier auch noch gewohnt hat, ist schon vor zwei Monaten ausgezogen. War ein Alkoholiker. Hat gemeint, in Ingolstadt wäre es besser. Dabei ist es dort mit den Mieten ja noch viel schlimmer als hier. Wird ja alles immer teurer dank den Audianern.«

Er lehnte sich auf dem Sofa zurück.

»Und auf welche Schule ging die Jaqueline?«

»Auf so ein Institut für soziale Berufe in der Monheimer Straße. Wollte dort irgendwas Soziales lernen. Absolut lächerlich. Hat doch ihr eigenes Leben nicht auf die Reihe bekommen, wie sollte sie da anderen helfen können?«

»Manchmal wirkt ein solcher Beruf stabilisierend«, warf Ingram ein.

»Auf normale Menschen vielleicht schon. Aber nicht auf Jacky. Die hat sich von niemandem was sagen lassen, auch nicht von irgendwelchen Lehrern. Kam und ging, wann sie wollte. Klar, dass sie dann rausgeschmissen wurde.«

»Wann war das denn?«, fragte Brauner.

Eva Linartz überlegte und zündete sich nebenher eine Zigarette an.

»Schon vor zwei, zweieinhalb Monaten. Oder so um den Dreh rum.«

»Danke. Und sonst?«

»Was sonst?«

Brauner sah sie direkt an.

Jetzt wieder zurück zum eigentlichen Thema.

»Sonst hatte sie keine Einkünfte außer Hartz IV? Kaum zu glauben, Crystal Meth ist doch teuer, oder?«

Sie blickte wieder zu Boden.

»Okay, da gab es noch was.«

»Was?«

Es ist immer wieder eine Geduldsprobe.

»Na, die Jacky ist auch auf den Strich gegangen. Ich weiß aber nicht, wie oft und wo. War mir schließlich keine Auskunft schuldig.«

»Gut«, sagte Max Ingram. Er blinzelte Brauner kurz zu.

»Sagt Ihnen diese Adresse was?«

Damit holte er die Visitenkarte des Ingolstädter Etablissements aus seiner Tasche und zeigte sie ihr.

Die Frau warf nur einen kurzen Blick darauf.

»Nein, kenne ich nicht.«

»Ganz sicher? Schauen S’ doch noch mal genau hin.«

»Nein.«

Ingram warf Brauner einen genervten Blick zu.

»Gut. Wir würden dann wieder gehen wollen, da wir auch noch die Mutter von Frau Bernauer in Kenntnis setzen müssen. Wenn Sie Hilfe brauchen oder sich doch noch an etwas erinnern sollten …«

»Weiß ich noch nicht. Muss das Ganze erst mal verkraften.«

Sie nahm eine der geöffneten Rotweinflaschen vom Tisch und schenkte sich ein Glas ein.

»Ja. Herzliches Beileid nochmals. Vielen Dank.«

Damit standen Brauner und Ingram auf und gingen zur Tür.

Als sie schon im Treppenhaus standen, sagte Frau Linartz noch:

»Ihrer Mutter brauchen S’ eigentlich gar nix sagen. Die Alte war froh, dass die Jacky weg war, und sie selbst hat sie auch nicht mehr sehen wollen.«

Brauner drehte sich auf dem Treppenabsatz um.

Er war gereizt.

»Und genau deshalb werden wir auch dort vorstellig werden. Vielen Dank noch mal, Frau Linartz, und auf Wiedersehen.«

Dann gingen beide das Treppenhaus hinunter und schlossen die Haustür hinter sich.

»Mann, du bist vielleicht neben der Kappe. Das wäre in so einem patzigen Tonfall nicht nötig gewesen«, sagte Max Ingram.

»Ich weiß. Es ist einfach nicht mein Tag heute. Wundert dich das?«

»Nein. Aber die Frau kann nichts dafür. Und auch sonst niemand.«

Wut brodelte wieder in Hendrik Brauner hoch. Jetzt Max auch noch? Hatten sich alle gegen ihn verschworen? Wollten die ihn hinausmobben?

Ruhig. Ganz ruhig. Mit deinem Team darfst du es dir jetzt nicht auch noch verscherzen. Alles gut.

»Ja, du hast recht«, hörte er sich einige Momente später überrascht antworten.

Ingram grinste und nickte bestätigend. Schweigend stiegen sie wieder in den Wagen. Jetzt fuhr Brauner.

»Wo wohnt eigentlich die Mutter von der Jaqueline?«

»Laut Dominik in Heinrichsheim. Einfach auf der Grünauer Straße geradeaus zurück nach Ingolstadt und dann rechts weg. Dürften gleich da sein.«

Während der Fahrt grübelte er vor sich hin. Etwas an der Visitenkarte des Bordells gefiel ihm nicht. War da nicht schon mal was gewesen? Schon seit er sie auf dem alten Friedhof das erste Mal gesehen hatte, waren ihm gewisse Assoziationen gekommen. Aber was war nur der Grund dafür?

Amora. Woher kenne ich diesen blöden Namen?

»Wir müssen hier abbiegen, Hendrik. Bist du abwesend?«

Brauner schaltete den Blinker ein und bog rechts ab.

»Nein, das nicht. Ich denke nach. Irgendwas kommt mir an dieser Visitenkarte, oder besser gesagt: am Namen dieses Clubs, bekannt vor. Aber ich glaube, wir sind da.«

Er hielt an.