Creszentia (11 Schauergeschichten) - Alexander Lorenz Golling - E-Book

Creszentia (11 Schauergeschichten) E-Book

Alexander Lorenz Golling

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Beschreibung

In dieser Kurzgeschichtensammlung geht es um Unheimliches und Übernatürliches aus dem Donaumoos und dem Städtedreieck Ingolstadt-Augsburg-Neuburg. Es handelt sich um spannende Gruselgeschichten, die sich stilistisch an Klassikern wie Poe, Blackwood, King oder M.R. James orientieren, aber größtenteils in der Gegenwart spielen und teilweise auf tatsächlich vorhandenen regionalen Legenden basieren.

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Inhalt

Ein Vorwort – oder: Wie die Geister mich fanden

Adele mit den großen Augen

Das letzte Fresko

Klassentreffen

Lethargie des Nachmittags

Irrlicht

Die Wächter von Veruda

Schneetreiben

Blick in den Abgrund

Ab-teilungen

Creszentia

Andreasnacht

Ein Vorwort – oder: Wie die Geister mich fanden

Es ist manchmal schon eine Qual, anderen Menschen zu erklären, warum man das tut, was man tut. In meinem Beispiel also das Schreiben.

Tatsächlich wäre mir noch bis zu meinem vierzigsten Lebensjahr niemals in den Sinn gekommen, ein Buch zu verfassen, geschweige denn es auch in den Handel zu bringen. Nicht einmal die kürzeste Kurzgeschichte wäre drin gewesen.

Jetzt, nach der Veröffentlichung dreier meiner Romane, könnte es ein Leichtes sein, meine Geschichte in diesem Punkt schönzufärben und zu behaupten, das alles wäre Teil eines größeren Plans gewesen. Seien Sie sicher: Einen solchen Plan hat es nie gegeben. Und es gibt ihn auch heute noch nicht, obwohl ich eigentlich ein sehr gut organisierter Mensch bin.

Das kreative Element war anscheinend schon immer in mir vorhanden. Als Augsburger Musiker in den neunziger Jahren schrieb ich bereits die Songtexte für meine Rockgruppe; später spielte ich als Bassist für eine Heavy-Metal-Band in Schwäbisch Gmünd.

Doch das Schreiben an sich begann ich erst, als ich wegen eines akuten Burnout-Syndroms für drei Wochen in einer Klinik in Neuburg an der Donau behandelt wurde.

Warum?

Ehrlich gesagt geschah es aus purer Langeweile. Und weil ich Zeit hatte, mich endlich auf mich selbst zu konzentrieren und alle unwichtigen Dinge außen vor zu lassen. Da kam mir eine Rückbesinnung auf einige Passagen meines Lebens als Kind in den Siebzigern gerade recht.

Ich verschlang damals geradezu jene Kurzgeschichten, die in Form zweier englischer Anthologien im Wohnzimmerschrank meiner Eltern standen. Sie waren in Schwarz gehalten (typisch, könnte man sagen), und der Inhalt drehte sich in beiden Bänden ausschließlich um das Übernatürliche. Ich hatte keine Ahnung davon, dass es sich hierbei um eine Auswahl der großen englischen und amerikanischen Meister der Gruselgeschichte handelte. Aber M. R. James, Edgar Allen Poe oder E. F. Benson sagten mir damals mit meinen sieben, acht Jahren noch nichts.

In den späteren Jahren waren King und Lovecraft unumgänglich. Dennoch war ich ein reiner Konsument; meine Interessen lagen in den zwanziger und dreißiger Jahren meines Lebens noch fast ausschließlich bei der Musik.

Doch nun, allein in jenem Krankenzimmer, begann ich, etwas vollkommen Neues auszuprobieren. Warum nicht das alte Leben endlich hinter mir lassen? Tatsächlich hatte ich ja zu diesem Zeitpunkt schon seit Jahren keine Musik mehr gemacht, sondern lediglich die schlechten Begleiterscheinungen dieses Jobs (also Rauchen und starker Alkoholkonsum) beibehalten. Also passte ich mein Verhalten endlich der Realität an. Was insgesamt auch gesünder war. Doch was nun? Irgendwohin musste ich ja mit meiner Kreativität. Ich besann mich auf meine alte und immerwährende Faszination in puncto Gruselgeschichten – und begann einfach, eine zu verfassen. Es war eine Vignette, die sich um den Friedhof eines kleinen, nicht mehr existenten Dorfes in der Nähe meines Wohnorts drehte und später die Grundlage meines ersten Romans »Die letzte Rauhnacht« wurde.

Ich fand die Idee reizvoll, direkt über die Umgebung, in der ich lebte und arbeitete, zu schreiben. Dies ist auch der Grund, warum meine Romane und auch der größte Teil meiner Kurzgeschichten sich geografisch im Dreieck zwischen Augsburg, Neuburg und Ingolstadt bewegen. Man könnte auch sagen: im Donaumoos. Diese Landschaft hat bis heute, trotz Flurbereinigung und einigen anderen unverzeihlichen Kultivierungsmaßnahmen, immer noch etwas Unheimlich-Mystisches an sich, das sich nur schwer einordnen oder beschreiben lässt.

Nach der Veröffentlichung meines zweiten Romans »Keltenmord« hatte sich in meinem Kopf der Stoff für etliche Geschichten angesammelt. Aber nicht alle Ideen haben automatisch das Potenzial für einen dicken Wälzer. Manche sind nur gut genug für eine knackige kurze Story; zu einem Roman aufgebauscht, würden wahrscheinlich große Strecken nur aus langweiligen Lückenfüllern bestehen. So begann ich, ab Ende 2015 zwischen der Arbeit an meinen Romanen immer wieder auch Kurzgeschichten zu schreiben. Und daran hat sich bis heute nichts geändert.

Dies ist nun der erste Sammelband, in dem ich die überzeugendsten Geschichten dieser Art zusammengefasst habe.

So weit, so gut.

Dennoch wurde und wird mir immer wieder eine Frage gestellt:

Warum, Herr Golling, ausgerechnet dieses dunkle Zeug?

Oftmals antworte ich darauf mit einer Gegenfrage: »Warum denn nicht?« Es gibt meines Erachtens schon genug Liebesromane auf dieser Welt. Und auch schon genug Kriminalromane, die man eher als humoristisch einordnen könnte. So vom Stil her wie die »Rosenheim-Cops«. Beides ist nicht mein Ding.

Ich finde, dass fiktive Geschichten in erster Linie zur Unterhaltung da sind. Und was unterhält einen am ehesten? Das Unbekannte zum Beispiel. Das Rätselhafte. Das Geheimnisvolle. Das Abgründige und manchmal auch der pure Horror. Die Kralle der Vergangenheit, die unerwartet in die Gegenwart greift. Aber niemals das Offensichtliche. So bin ich also nur konsequent, wenn ich mich darauf konzentriere, Gruselgeschichten und dunkel-mysteriös angehauchte Kriminalromane zu schreiben.

Eine weitere Frage, die mir manchmal gestellt wird, ist diejenige, ob ich denn an das Übernatürliche auch wirklich glaube.

Und mir fällt dazu nur die gleiche Antwort von vorhin ein: Warum denn nicht?

Ich lasse dies hier einfach mal so stehen und will Sie nicht länger vom Lesen abhalten. Dennoch zum Schluss zu jeder Geschichte ein paar kurze Sätze:

Bei »Adele mit den großen Augen« geht es um eine unheimliche Fantasiefreundin, die den Protagonisten der Geschichte zu einem bestimmten Zweck heimsucht. Sie spielt in Augsburg und an Orten und Plätzen, die ich noch aus meiner Kindheit kenne.

In »Das letzte Fresko« lüftet ein Hobbyforscher ein Geheimnis, das ihm nicht gut bekommt. Aber war nicht alles schon vorherbestimmt? Die Inspiration zu dieser Geschichte bekam ich durch die alte Ruinenkapelle im Spindeltal (für Nicht-Ortskundige: Es ist ein Seitental des Urdonautals); allerdings habe ich mir die künstlerische Freiheit genommen, aus einer Kapelle gleich eine ganze Abtei zu machen.

Beim »Klassentreffen« geht es selbstredend genau darum. Nur, dass jenes zu einer grauenhaften und bizarren Reise in die Vergangenheit führt. Auch diese Geschichte ist wieder ein wenig autobiografisch, da als Vorbild für das Schulgebäude meine alte Volksschule in Augsburg-Lechhausen herhalten musste.

Ich weiß nicht, ob schon jemals eine Horrorgeschichte mit sozialkritischem Anstrich geschrieben wurde. Wenn nicht: Mit »Lethargie des Nachmittags« habe ich wohl etwas Derartiges geliefert. Die Idee dazu kam mir übrigens beim Einkaufen an einem regnerischen Tag in Neuburg.

Dass die Protagonisten einer Geschichte dem Leser immer sympathisch sein müssen, ist anscheinend zu einer Art ungeschriebenem Gesetz im Literaturbetrieb geworden. Doch was tun, wenn der Hauptfigur eine gehörige Lektion erteilt werden muss? So wie zum Beispiel in »Irrlicht«. Die Story spielt im Donaumoos und ist eine Abrechnung mit der Oberflächlichkeit eines gewissen Charaktertypus, der uns im Alltag immer wieder mal begegnet: dem Narziss.

Im Falle von »Die Wächter von Veruda« gibt es, zumindest in geografischer Hinsicht, eine Ausnahme, denn die Geschichte spielt auf einer kleinen Insel vor der kroatischen Küste in der Nähe von Pula. Ich kenne sie seit meiner Kindheit und habe sie schon immer ein wenig als geheimnisvoll empfunden. Verwoben mit der Erscheinung einer antiken Sagengestalt, ist mir hier ein interessantes Experiment gelungen.

Doch nun zurück ins Donaumoos: »Schneetreiben« ist eine fast schon ironische Beschreibung der Arbeit einer selbst ernannten Geisterjägertruppe in der Nähe der kleinen Gemeinde Pöttmes in Schwaben. Die Story basiert auf der dort lokal bekannten Brautlachlegende.

»Blick in den Abgrund« hat einen psychologischen Ansatz. Wie gut können wir unsere Schwächen verbergen? Und was passiert, wenn jemand (oder etwas) uns diese hart und glasklar vor Augen führt und uns sogar zwingt, Dinge zu tun, die wir im Normalzustand niemals tun würden? Wie – am Beispiel dieser Geschichte – einen wahrlich abgrundtiefen Handel einzugehen, um nicht sterben zu müssen?

Ähnlich geht es in »Ab-teilungen« zu: Das, was man nicht mehr braucht, wird von einem Bereichsleiter in einem Ingolstädter Betrieb auf Anweisung von oben gnadenlos wegrationalisiert. Alles ganz toll und wirtschaftlich – was aber empfindet er, als es ihn an empfindlicher Stelle plötzlich selbst trifft?

»Creszentia« ist hingegen vollkommen anders. Zum ersten Mal habe ich hier eine Briefnovelle verfasst. Der Hauptprotagonist schreibt über die eigenartigen Vorgänge auf einem alten Wasserschloss im Donaumoos, wo er eine Stelle als Hilfskoch angenommen hat, an seine Frau in Neuburg. Dies spielt Ende des 19. Jahrhunderts, und dementsprechend habe ich auch die Sprache der Briefe an diese Epoche angepasst. Was nicht immer leicht war und sich für heutige Ohren vielleicht ungewöhnlich anhört – aber so war es damals nun mal.

In die letzte Geschichte dieser Sammlung, »Andreasnacht«, habe ich gleich mehrere Elemente der klassischen Gruselgeschichte eingebaut: das abgelegene Landhotel, eine einsame, mystisch angehauchte Umgebung und den dämonischen schwarzen Hund, der in so vielen lokalen Legenden und Sagen auftaucht.

So weit, so gut – ich will Sie jetzt wirklich nicht mehr länger aufhalten. Ich wünsche Ihnen viel Spaß beim Lesen und Gruseln!

A. L. Golling, Neuburg an der Donau, im Winter 2020

***

Adele mit den großen Augen

Es war im Januar.

Der Winter 1978 war lang und kalt. Die verschneiten Straßen wirkten trostlos; kein Weihnachtsschmuck machte sie mehr heimelig, keine Sterne hingen mehr in den Fenstern, und kein Tannenbaum war mehr erleuchtet.

Wir lebten damals in einer kleinen Mansardenwohnung im tristen Augsburger Vorort Lechhausen.

Die Weihnachtsgeschenke lagen auf dem Boden meines Kinderzimmers und hatten für mich ihren Reiz schon verloren; nur das Piratenschiff fand ich noch ganz toll. Ich spielte gerne damit.

Freunde hatte ich kaum welche. Ab und zu kamen ein paar Klassenkameraden vorbei, mit denen ich mich dann im Viertel herumtrieb. Ansonsten war da aber niemand, der meine Vorliebe für Bücher hätte teilen können. Und Fußball war nicht mein Ding. Ist es auch heute noch nicht, aber ich schweife gerade ab.

Wenn ich gesagt habe, dass unsere Wohnung klein war, so ist dies aus meiner heutigen Perspektive betrachtet. Denn damals war sie für mich natürlich riesengroß. Und meine Eltern reich wie Krösus. Was auch etwas übertrieben war.

Mein Vater arbeitete in der Informatikbranche (würde man heute sagen – ich denke, damals hieß es schlicht und ergreifend Datenverarbeitung), und meine Mutter war Hausfrau.

Nach der Schule bin ich, sobald die Hausaufgaben erledigt waren, entweder in die Traumwelt meiner Bücher entschwunden, oder ich streifte alleine durch die nahen Lechauen. Dort trieb ich mich am Ufer oder auf den Kiesbänken herum und suchte seltene Pflanzen oder Viehzeugs; manchmal fing ich sogar einen Frosch oder ertappte eine Ringelnatter beim Verspeisen eines solchen.

Aber dafür war es ja nun zu kalt.

Also ging ich zum Spielen nur in den Hinterhof oder in die Dachkammer, die nichts anderes als die Fortsetzung unserer Mansardenwohnung war. Dort suchte ich nach den alten Wespennestern des vergangenen Jahres oder hing meinen Gedanken nach.

An einem besonders dunklen Tag – ich glaube, es war kurz nach Dreikönig – fühlte ich mich nicht wohl. Ich hatte schon die ganze Zeit Kopfweh gehabt und meine Mutter voll gejammert, sodass ich nichts zum Abendessen wollte und schon ziemlich früh zu Bett ging. Aber erst als die drückenden und pulsierenden Schmerzen nachließen, konnte ich einschlafen.

Ich bin mitten in der Nacht wieder aufgewacht. Aus dem Wohnzimmer konnte ich gedämpft den Fernseher hören. Also waren meine Eltern noch nicht im Bett.

Durch das Fenster schien der Mond. Er tauchte mein Zimmer in bläuliches Licht. Etwas hatte mich geweckt. Aber was?

Die Umrisse der Möbel und Gegenstände konnte ich nur schemenhaft erkennen. Es war nichts zu sehen. Warum auch?

Ich drehte mich auf die andere Seite, um weiterzuschlafen. Dann hörte ich es.

Ein leises Flüstern nahe an meinem Bett.

Geschockt war ich sogleich hellwach und riss die Augen auf. Doch ich sah immer noch nichts.

Es war aber jemand anwesend. Oder etwas. Ich spürte es deutlich.

Ein Klackern kam vom Ende meines Schreibtischs her, welcher mir gegenüber im rechten Winkel zum Bett stand.

Lachen. Ganz eindeutig das Lachen eines Mädchens.

Ich schrie auf.

Nur wenige Sekunden später, für mich eine halbe Ewigkeit, ging meine Zimmertür auf, das Licht an, und mein Vater trat ein.

»Was ist los? Hast du schlecht geträumt?«

»Nein – da waren Stimmen. Ich habe sie gehört, ganz deutlich. Ich habe Angst.«

»Du hast einen Albtraum gehabt. Es ist nichts passiert, Tommy. Schau, siehst du oder hörst du irgendwas? Ich nicht. Also ist da auch nichts. Geht es wieder?«

»Ja … schon.« Die Worte meines Vaters hatten mich beruhigt. Er wandte sich wieder zum Gehen.

»Du, ist da wirklich nichts?«

»Nein, es ist alles in Ordnung. Kann ich jetzt das Licht wieder ausmachen?«

»Ja.«

Nachdem er die Tür geschlossen hatte, rollte ich mich in der hintersten Ecke meines Bettes zusammen und wartete, ob nicht doch noch ein grausiges Scheusal hinter dem Sessel hervorkriechen würde. Doch es kam nichts. Ich schlief wieder ein.

Am nächsten Morgen hatte ich die unheimlichen Vorkommnisse schon wieder vergessen. Doch als während des Anziehens mein Blick auf den Schreibtisch fiel, sah ich meine normalerweise sorgsam geordneten Buntstifte wild durcheinandergeworfen herumliegen. Ein wenig wie Mikado.

Also war doch etwas hier gewesen.

Schnell räumte ich sie wieder auf. Meinen Eltern wollte ich nichts davon erzählen, denn sie würden mir sicherlich nur einen Anschiss verpassen und sagen, ich sollte besser auf meinen Kram aufpassen.

»Hast du schon wieder keinen Appetit heute, Tommy? Normalerweise schmecken dir doch Spiegeleier gut!«

»Nein, heute nicht. Ich habe Bauchweh«, antwortete ich auf die Frage meiner Mutter. Natürlich hatte ich keine Bauchschmerzen. Mir gingen lediglich die Geschehnisse der letzten Nacht durch den Kopf. Also stocherte ich gelangweilt in meinem Essen herum.

»Du hast doch schon gestern Abend nichts gegessen. Das wird der Grund sein, warum dir nicht wohl ist. Ich glaube, ich stelle dir nachher noch ein wenig Zwieback und Kamillentee hin. Das hilft ganz gut bei Übelkeit.«

Die Spiegeleier waren in Rekordgeschwindigkeit verschwunden …

Es war ein trüber Samstag. Mein Spieltrieb wollte sich nicht so recht entfalten. Also setzte ich mich an meinen Schreibtisch und begann zu malen, was ich als Kind generell ziemlich oft tat; so ziemlich alles, was mich beschäftigte oder faszinierte, von der Springspinne angefangen bis zum Schlachtschiff, bannte ich auf Papier. Was ich heute zeichnete, war jedoch etwas ganz anderes, als ich bisher aufs Tapet gebracht hatte. Ich malte ein Monster, das sich hinter dem Sessel in meinem Zimmer verbarg. Nur die Klauen und Hörner konnte man hinter der Lehne hervorlugen sehen. Meine Mutter schaute kurz herein. Sie lächelte.

»Du, ich gehe jetzt mal einkaufen. So in einer halben Stunde bin ich wieder da. Was malst du da eigentlich?«

Sie blickte mir über die Schulter. Dann veränderte sich ihr Gesichtsausdruck.

»Tommy, was ist das? Der Teufel?«

»Nein, das ist ein Monster, das sich hinter meinem Sessel versteckt. Das sieht man doch, oder?«

Sie lächelte nicht mehr. Stattdessen blickte sie mich besorgt an, etwa so, als hätte ich gerade Mumps und Masern auf einmal bekommen.

»So was malst du? Wie kommst du denn darauf?«

»Das – das weiß ich nicht, einfach so halt«, log ich.

»Hm. Einfach so. Du hast eine blühende Fantasie, weißt du das? Ich gehe jetzt aber. Papa ist unten in der Garage und werkelt am Auto herum. Wenn was sein sollte …« – » …gehe ich hinunter zu ihm«, vollendete ich ihren Satz.

»Genau! Bis dann.«

Als die Haustür ins Schloss gefallen war, malte ich nur noch für eine kurze Zeit weiter.

Unsere Wohnung war, so ganz ohne meine Eltern, ziemlich unheimlich. Und auf einmal so still.

Mich beschlich das stetig intensiver werdende Gefühl, beobachtet zu werden. Zwar blickte ich mich immer wieder verstohlen um, konnte aber niemanden sehen. Die Luft schien sich auf eine seltsame Art und Weise zu verdichten.

Ich atmete schwerer.

Ein Liedchen pfeifend, um nicht vorhandenen Mut vorzutäuschen, packte ich nun meine Stifte zusammen und ging nach unten in den Hof.

Mein Vater lag unter dem aufgebockten Auto und schraubte am Auspuff (oder so) herum.

»Ist dir langweilig geworden?«, fragte er mich; seine Stimme klang in der Garage verhallt und irgendwie blechern.

»Ja, schon. Mama ist beim Einkaufen. Ich wollte nicht alleine sein.«

»Du wolltest nicht alleine sein? Aber das bist du doch normalerweise gerne, Tommy, stimmt’s? Passt was nicht?«

»Doch, alles O. K.«

Ich ging aus der Seitentür der Garage hinaus auf den angrenzenden Hinterhof. Meine Blicke schweiften umher und blieben an einem Fenster des Dachgeschosses hängen.

Meinem Fenster.

Denn dort hatten sich die Vorhänge bewegt.

Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. Ich wusste, dass niemand oben sein konnte. Ein Luftzug? Angestrengt fixierte ich die Vorhänge. Für einen kurzen Augenblick hatte ich den Eindruck, einen schwarzen Haarschopf zu sehen – und war da nicht auch das schemenhafte Oval eines Gesichts? Doch eine Sekunde später war wieder alles wie weggewischt.

Ich ging zurück in die Garage, nicht ohne hin und wieder einen Blick auf mein Zimmerfenster zu werfen. Aber ich sah nichts mehr.

Nach dem Abendessen versuchte ich mich so lange wie möglich davor zu drücken, ins Bett zu gehen. Was natürlich nicht von Erfolg gekrönt war. Um neun Uhr war Schluss.

Ängstlich zog ich meine Bettdecke über den Kopf. Und das, obwohl ein anderer Teil in mir sagte, dass so was feige ist. Denn das Flüstern und auch das Gesicht hatte ich mir ja nur eingebildet. Es konnte nur so sein. Alles andere wäre … nun, was denn?

Dennoch muss ich irgendwann weggedriftet sein. Denn in den frühen Morgenstunden erwachte ich voll ausgeschlafen und geistesgegenwärtig.

Ich konnte im kalten Mondlicht jedes Detail meines Zimmers genau erkennen. Und es war still. Wie am toten Grund eines tiefen Sees.

Ich betrachtete den Sessel. Er stand auf der anderen Seite des Zimmers, die Sitzfläche mir zugewandt. Ein beklemmendes Gefühl kam in mir auf. Was, wenn es das Monster, das ich heute Mittag gemalt hatte, wirklich gab? Lauerte es hinter diesem Ding?

Nein. So etwas gibt es nicht.

Und wenn doch?

Ich begann zu schwitzen. Kälteschauer rasten durch meinen Körper, den Rücken hinunter. Mein Atem war nur noch flach. Sollte ich meinen Vater rufen?

So ein Unsinn. Komm, beruhige dich wieder. Es ist nichts passiert. Willst du, dass er dich auslacht? Oder böse wird?

Dann nahm ich meinen ganzen Mut zusammen.

»Du bist nicht da. Du kannst gar nicht da sein, weil es dich nicht gibt. Lass mich also schlafen!«

Das Zwielicht bewegte sich.

Gemessenen Schrittes trat eine kleine, zerbrechliche Gestalt hinter der Rückenlehne meines Sessels hervor.

Ein Mädchen.

Sie war in ein helles Nachtkleid gehüllt (ob es weiß war, kann ich nicht sagen), und ihr langes, offenes Haar war pechschwarz.

Gebannt starrte ich auf die Erscheinung, die sich im Mondlicht deutlich vor mir abzeichnete. Irrtum ausgeschlossen.

Mir stockte der Atem.

Sie strich sich die Haare aus ihrem fahlweißen Gesicht und lächelte mich an.

»Hallo, Tommy. Hab keine Angst. Ich will dir nichts tun.«

Das waren ihre Worte. Sie klangen gleichzeitig nah und doch weit entfernt.

Ich saß erstarrt in meinem Bett, zu keiner Antwort fähig. Aus meiner Kehle kam, glaube ich, nur ein heiseres Krächzen.

Sie setzte sich auf den Boden.

»Ich kenne dich schon, seit du auf die Welt gekommen bist, Tommy. Weißt du, ich habe früher auch hier gewohnt. Dies war mein Kinderzimmer. Es ist schön hier, nicht?«

Ich nickte zur Bestätigung mit dem Kopf. Dann fand ich endlich meine Stimme wieder.

»Wer – wer bist du?«

»Ich bin Adele. Meine Mama hat mir diesen Namen gegeben, weil sie ihn so toll gefunden hat. Aber ich finde ihn doof.«

»Äh – ich finde ihn auch schön. Gar nicht doof. Ehrlich. Wie kommst du hierher – hast du dich in meinem Zimmer versteckt?«

Adele lächelte breit.

»Warum sollte ich?«

Daraus wurde ich nicht schlau. Doch bevor ich etwas sagen konnte, stand sie wieder auf und bedeutete mir, zu schweigen.

»Still! Deine Eltern sind aufgewacht. Sie kommen, um nach dir zu sehen. Wir sehen uns schon morgen wieder. Bis dann!«

Sie verschwand wieder hinter dem Sessel.

Plötzlich öffnete sich die Zimmertür. Mein Vater machte das Licht an.

»Führst du Selbstgespräche, Tommy? Was ist los? Schon wieder schlecht geschlafen?«

Er klang sauer.

»Nein. Ich habe nur auswendig wiederholt, was am Montag in der Schule drankommt. Sonst nichts.«

»Könntest du das in Zukunft bitte sein lassen? Deine Mutter und ich wollen schlafen. Es ist jetzt vier Uhr morgens!«

»Entschuldigung. Tut mir leid.«

»Schon gut. Bis morgen zur Kaffeestunde. Schlaf noch schön.«

Als mein Vater wieder gegangen war, machte ich meine kleine Leselampe an und stand auf. Langsam, auf Zehenspitzen, schlich ich zum Sessel.

»Adele?«

Keine Antwort.

Vorsichtig veränderte ich meinen Standpunkt, sodass ich hinter die Sessellehne spähen konnte.

Es war niemand da.

Ich ging hin, untersuchte den Winkel zwischen Sessel und Wand, fand aber keine Spur von einem Mädchen. Und auch kein Versteck, wo sie sich hätte hinflüchten können. Es wurde mir wieder mulmig in der Bauchgegend.

Als ich ins Bett ging, ließ ich die Leselampe vorsichtshalber an. Sie brannte noch, als ich Stunden später wieder erwachte.

Die Sonne begrüßte den neuen Tag mit wärmenden Strahlen. Am Frühstückstisch waren meine Eltern ziemlich einsilbig. Was war das nur gewesen gestern Nacht? Je länger die Ereignisse zurücklagen, desto eher kam ich zu der Überzeugung, dass es wohl doch ein Traum gewesen sein musste. Ein Mädchen, das in meinem Zimmer erscheinen und wieder verschwinden konnte, wann es wollte? Quatsch!

Aber mit wem hatte ich dann gestern gesprochen und meine Eltern damit aufgeweckt? Diese Fragen konnte und wollte ich für mich nicht beantworten.

Außerdem konnte ich mich an ihr Gesicht nicht mehr erinnern. Dafür an den Namen, den sie mir genannt hatte: Adele.

So etwas träumt man nicht, Tommy.

Sie musste in meinem Zimmer gewesen sein. Sie. Es. Oder was auch immer …

Mit einigem Unbehagen sah ich der kommenden Nacht entgegen. Würde ich wieder ungebetenen Besuch bekommen?

Diesmal wollte ich wach bleiben. Tapfer lag ich also in meinem Bett und las in einem Buch. Verstohlen blickte ich immer wieder in Richtung Sessel. Doch es tat sich nichts. Nach etwa einer Stunde wurde ich müde und des Lesens überdrüssig.

Kurz darauf muss ich wohl eingeschlafen sein. Als ich aufwachte, war es stockfinster.

Schon allein diese Tatsache jagte mir einen unbändigen Schrecken ein. Wer hatte meine Leselampe ausgemacht? Aber es war nicht nur das. Ich spürte eine Anwesenheit.

Langsam gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit.

Auf dem Bettrand, rechts neben mir, saß im Mondlicht eine Gestalt.

Adele.

»Warum hast du das Licht angelassen? Hast du geglaubt, es hält mich von dir fern?«

»Das … das war keine Absicht. Ich …«

»Doch, es war Absicht. Ich habe dir doch gesagt, dass du keine Angst vor mir zu haben brauchst. Ich tue dir nichts. Ich will nur einen Freund, mit dem ich reden kann. Das ist alles. In Ordnung?«

Überrascht richtete ich mich auf. Meine Angst ließ spürbar nach.

»Ja, schon. Aber wer bist du? Ich meine: Woher kommst du? Und warum immer nur nachts? Können wir uns nicht auch tagsüber sehen und spielen?«

»Ach, Tommy, nein – das geht leider nicht. Obwohl ich dir am helllichten Tag genauso nahe bin wie jetzt. Ich stehe dir überhaupt sehr nahe …«

Sie sprach wieder in Rätseln.

»Hast du das Licht ausgemacht?«

»Ja. Du könntest mich sonst nicht bemerken. Aber lassen wir das Thema, es ist so anstrengend.«

In diesem Augenblick wurde es plötzlich sehr dunkel. Eine Wolke musste sich vor den Mond geschoben haben.

Und dann sah ich es. Nun hatte ich keinen Zweifel mehr, was sie war.

Zwei silbrig leuchtende, scheinbar körperlos im Raum schwebende mandelförmige Scheiben starrten mich an. Augen. Ohne Pupillen. Riesig. Trotz ihrer Kälte höllisch, Leben vortäuschend, aber aus dem Reich des Todes. Sie waren nicht menschlich.

Es waren die Augen eines Dämons.

Sie musste bemerkt haben, was geschehen war.

»Erschrecke dich nicht, Tommy. Ich wollte es dir sagen. Aber jetzt siehst du es ja. Ich kann nichts dafür, dass sich meine Augen bei vollkommener Finsternis verwandeln. Ich weiß auch nicht, warum dies so ist. Bitte …«

Ich war zurückgewichen und biss verzweifelt in meine Bettdecke, um nicht laut aufschreien zu müssen. Sie kam näher.

»Tu’s nicht. Schrei nicht, sonst muss ich wieder verschwinden wie gestern. Aber ich will bei dir bleiben!«

Adele klang so traurig.

Ich sah hin. Die grausigen Augen waren immer noch da. Dieser seelenlose Blick. Mich fröstelte.

Dann kam das Mondlicht wieder durch. Von einer Sekunde zur nächsten waren sie verschwunden. Die Augen, meine ich. Adele hatte wieder ihre normale Erscheinung. Sofern an ihr überhaupt etwas normal war.

»Du bist – bist du … ein Geist?«

Als Antwort kam nur ein spöttisches Lachen.

»Ist es so wichtig, was ich bin? Wichtig ist, dass ich dich mag. Willst du mein Freund sein?«

Ich nickte.

Es ist immer wieder erstaunlich, an welche Umstände sich die menschliche Seele anpassen kann. Was gestern noch undenkbar erschien, kann heute schon der Normalität entsprechen, und umgekehrt. So erging es mir zu dieser Zeit. Ich verbündete mich mit einem Wesen, das zwischen Jenseits und Diesseits wechselte, das nicht mehr dieser Welt angehörte. Ich verlor nach und nach alle Berührungsängste. Der Schrecken wurde alltäglich und verlor dadurch an Wirkung. Doch wer sich auf einen Handel mit dem Unfassbaren einlässt, wird dafür eines Tages bezahlen müssen. Nur wusste ich das als Kind natürlich noch nicht.

Adele besuchte mich nun fast jede Nacht. Ich wurde langsam vertraut mit ihr. Wir redeten über alles, was Kinder in diesem Alter interessant finden – über die Schule, über Tiere, Filme und so weiter. Ich stellte dabei überrascht fest, dass sie, obwohl sie zur Welt der Toten gehörte, erstaunlich wenig darüber wusste.

Sie konnte mir beispielsweise nicht erklären, warum sie mal unsichtbar, mal sichtbar für uns Menschen war. Meistens, so sagte Adele, konnte man sie tagsüber nicht sehen, des Nachts jedoch schon. Aber eben nur meistens. Manchmal verhielt es sich auch anders.

Genauso wenig konnte (oder wollte) sie mir den Grund nennen, weshalb sie überhaupt umging. Sie hätte hier noch etwas zu erledigen, meinte sie. Und ich wäre ganz wichtig dabei. Aber sie verriet mir nicht, warum.

Auch den Fragen, die sich auf ihre Herkunft bezogen, wich sie ganz aus. Sie konnte mir lediglich sagen, dass nur ich sie sehen konnte und sonst niemand.

»Kinder sind sensibler und offener für die andere Seite, Tommy. Als Erwachsener, glaube ich, verliert man diese zweite Sicht. Sie sind zu sehr mit ihren Erwachsenenproblemen beschäftigt – Rechnungen zahlen und so.« Wie sehr sie im Recht war, weiß ich heute.

Es war unvermeidlich, dass auch meine Eltern von Adele erfahren sollten.

Ich kam, wie immer unter der Woche, zur Mittagszeit von der Schule nach Hause, und meine Mutter hatte mir schon das Essen zubereitet. Es gab Bratwürste mit Sauerkraut.

Ich hasse Sauerkraut.

Erstens schmeckt es grauenvoll, und zweitens bekomme ich Durchfall davon. Meine Ansichten über das Zeug haben sich bis heute übrigens nicht verändert.

Die Hälfte davon ließ ich stehen.

»Komm, jetzt iss doch bitte auch den Rest auf, Tommy. Ich habe dir schon tausendmal erklärt, dass es wichtig ist für dich, es sind viele Vitamine drin«, meckerte meine Mutter. Sie war gerade dabei, abzuspülen.

»Ich will aber nicht. Und außerdem hasst Adele Sauerkraut auch.«

Meine Mutter stutzte.

»Wer ist Adele?«

»Eine Freundin von mir.«

»Du hast eine Freundin? Aus der Schule, oder?«, fragte meine Mutter weiter.

»Nein, nicht aus der Schule. So halt.«

»Wie, so halt? Lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen. Ist sie nett?«

»Ja.«

»Aber das ist ja wunderbar! Es freut mich, dass du endlich auch einen Spielkameraden hast, so wie andere Kinder auch, und nicht immer nur liest oder alleine am Fluss herumstreifst. Sie kann ruhig mal vorbeikommen, Tommy. Ich habe bestimmt nichts dagegen.«

»Nein. Ich glaube nicht, dass sie das will.«

»Aber warum denn?«

»Sie – sie ist eben was Besonderes.«

Die Neugier meiner Mutter ging mir gehörig auf den Keks.

»Was Besonderes? Kommt sie aus einem reichen Elternhaus?«

»Nein, Mama, lass es einfach. Ich will jetzt nicht darüber reden.«

Damit glaubte ich, die Diskussion beendet zu haben. Doch dies war ein Irrtum. Und auch das Sauerkraut musste ich nun erst recht aufessen.

Wenige Tage später – ich denke, es war ein Freitag – wollte mich meine Mutter mit zum Einkaufen nehmen. Ich hatte, wie so oft, keine Lust darauf. Denn meistens traf sie dabei irgendwelche Bekannten von ihr, mit denen sie dann unwichtiges Zeug tratschte und über andere lästerte, während ich wie ein Anhängsel danebenstand und wenig tun konnte, außer dumm schauen. Ach ja, manchmal musste ich auch noch Kommentare wie »Mein Gott, ist der Tommy schon groß geworden, na so was!« über mich ergehen lassen. Punktum, es war ein Graus für mich.

Meine Mutter drängelte. »Komm, zieh dich jetzt an, es wird Zeit.«

»Nein, ich will aber nicht zum Einkaufen mitkommen. Außerdem regnet es draußen. Ich habe keine Lust, nass zu werden.«