Racheengel - Graham Masterton - E-Book

Racheengel E-Book

Graham Masterton

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Beschreibung

In einer schmutzigen Wohnung in Cork wird eine männliche Leiche gefunden. Das Gesicht ist von Schüssen vollständig zerfetzt. Doch Ermittlerin Katie Maguire findet bald heraus, um wen es sich handelt: Der Tote war ein somalischer Zuhälter. Kurz darauf wird einer seiner Komplizen ermordet. Katie muss den Mörder finden. Aber die Toten waren erbarmungslose Männer, die blutjunge Mädchen nach Irland holten, um sie dort für Sex zu verkaufen. Und jetzt, da sie tot sind, ist die Stadt ein viel sicherer Ort geworden. Brutal und schockierend – das ist die Handschrift von Graham Masterton, Englands Großmeister der Angst. Daily Mail: 'Masterton hat das Talent, Opfer, die unfassbare Brutalität erleben, absolut überzeugend zu schildern.' Peter James: 'Graham Masterton ist einer der originellsten und furchteinflößendsten Erzähler unserer Zeit.' The Examiner: 'Katie Maguire gehört zu den besten Ermittlern im Thrillergenre.' Irish Independent: 'Ein harter und düsterer Thriller mit einer interessanten, lebendigen Hauptfigur.'

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Seitenzahl: 560

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Aus dem Englischen von René Ulmer

Impressum

Die englische Originalausgabe Red Light

erschien 2014 im Verlag Head Of Zeus Ltd.

Copyright © 2014 by Graham Masterton

Copyright © dieser Ausgabe 2019 by Festa Verlag, Leipzig

Titelbild: Arndt Drechsler

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-726-4

www.Festa-Verlag.de

Für Dawn Harris,

in Liebe und Optimismus

Coiméad fearg ar bhean a bhifuil foighne

Hüte dich vor der Wut einer geduldigen Frau

Irisches Sprichwort

1

Kaum dass Ciaran die Tür öffnete, schlug ihnen der Gestank auch schon entgegen. Ein faulig süßer Geruch, der sie einen Schritt zurück auf den Bürgersteig trieb.

Ciarans zukünftiger Pächter zerrte ein zerknülltes Taschentuch aus der Tasche seines Regenmantels und drückte es sich auf Nase und Mund.

»Heilige Maria, Muttergottes, als würd da drin ’ne beschissene Banshee hausen«, sagte er mit gedämpfter Stimme, wobei er in den dunklen Flur deutete.

Ciaran entgegnete: »Heftig, oder? Mein Gott, da geb ich Ihnen recht.«

»Auf keinen Fall miet ich ’ne Bude, in der’s so stinkt, darauf können Sie einen lassen. Meinen Kunden würden noch vorm ersten Bissen die Augen ausm Kopf fallen.«

Ciaran hob den Blick zu den verblassten roten und grünen Buchstaben über dem Eingang des Ladens. »Ich sag Ihnen, was das vermutlich ist.« Er räusperte sich, versuchte möglichst autoritär zu klingen. »Die letzten Pächter hatten ’nen ungarischen Feinkostladen. Können Sie ja am Schild sehen. Ungarische Spezialitäten. Würde sagen, die ham beim Auszug was im Gefrierschrank vergessen, aber Bord Gáis hat den Strom abgestellt, und das vor über ’nem Monat. Das sind vergammelte Würstchen oder so, da geh ich jede Wette ein.«

»Mir egal, was es ist«, machte sein Interessent deutlich. »Ich werd mich da drin nicht mal umsehen, solange Sie den Gestank nicht losgeworden sind.«

Ciaran lenkte ein: »Okay, Mr. Rooney, alles klar. Versteh ich völlig. Ich kümmer mich drum, kein Problem. Aber was sagen Sie zu der Lage?«

Sein potenzieller Pächter blickte sich um. Er war ein kleiner Mann um die 55 mit breiter Brust, dichten grauen Locken, tief eingesunkenen, kleinen Augen und silbrigen Stoppeln am Kinn. Er trug einen grauen, um die Hüfte mit einem Gürtel geschlossenen Regenmantel, wodurch er wie ein menschliches Bierfass aussah.

»Ach, die Umgebung ist so ziemlich genau das, was ich gesucht hab. Ich will so was wie Kebab, Curry und Fish ’n’ Chips anbieten.« Er zögerte einen Moment, folgte mit dem Blick der steil abfallenden Straße in Richtung Stadtzentrum. Dann drehte er sich um und verkündete: »Meine Güte, wollen Sie die verdammte Tür irgendwann wieder zumachen?«

»Ist ja gut.« Aber als Ciaran die Hand nach dem Türgriff ausstreckte, fiel ihm sein Schlüsselbund auf die Eingangsmatte. Er war gerade mal 21, dürr und ungeschickt, hatte kurzes rotes Haar, eine Hakennase und einen entzündeten roten Fleck am Kinn. Er war schon immer ungeschickt gewesen, und da er seit gerade mal zwei Wochen für das Immobilienbüro Lisney arbeitete und jetzt erst zum dritten Mal alleine mit einem Kunden unterwegs war, war er noch immer sehr nervös. Es half auch nicht, dass der Flur neben diesem Ladenlokal so stank. Sein Magen zog sich zusammen und hinten in der Kehle schmeckte er Galle.

»Hören Sie, Mr. Rooney, ich schwör Ihnen, bis morgen hab ich den Laden auf Vordermann gebracht. Ist ’n klasse Angebot. Sie ham den Laden, die Küche und den Lagerraum im Keller, und hinten gibt’s noch Toiletten. Und das für gerade mal 12.000 Euro im Jahr. Ich weiß, zurzeit werden im Stadtzentrum jede Menge Ladenlokale angeboten, aber nicht viele zu diesem Preis.«

Ciarans Boss, Blathnaid, hatte ihm gesagt, dass die Besitzer der Gebäude wegen der Rezession die Miete bereits um 2000 Euro gesenkt hatten, und sollten sie nicht bald einen Pächter auftreiben, müssten sie noch weiter runtergehen. In der Lower Shandon Street gab es noch ein paar andere kleine Geschäfte. Links von diesem Gebäude befand sich Denis Nolans Metzgerei, mit Drisheen und Schweinehälften im Schaufenster, und rechts davon lag Hennessys Zeitschriftenladen und direkt gegenüber dieses Orosin African Restaurant. Aber genauso gab es die Straße rauf einige verrammelte Ladenfronten, und sogar die, die noch geöffnet waren, hatten es nicht leicht.

»Was ist mit dem Laden in der Ballyhooly Road?«, fragte Mr. Rooney und schniefte. »Ist der noch zu haben?«

»Ich will ehrlich mit Ihnen sein, Mr. Rooney, Sie werden nichts bekommen, was zu Fuß auch nur annähernd so gut zu erreichen ist wie hier in der Shandon Street. Und wenn Sie Kebab und Curry verkaufen wollen, würden Sie auch nicht dieselbe Klientel bekommen.«

»Ja, nun, das behauptet man von der Shandon Street, oder? Genau wie ’n Pint Guinness – unten schwarz, in der Mitte schwarz und oben weiß.«

Dazu sagte Ciaran nichts. Er hatte bei Lisney eine strikte Einweisung in Political Correctness bekommen, und gleichzeitig machte ihm das Chubb-Sicherheitsschloss zu schaffen. Es klemmte und er konnte den Schlüssel nicht drehen, als er ein seltsames Heulen hörte. Ziemlich hoch, wie von einer Frau oder einem Kind. Vielleicht war es auch nur eine Katze.

Was es auch war, es kam aus dem Inneren des Gebäudes.

»Genau, machen wir also weiter«, sagte Mr. Rooney mit einem Blick auf seine Armbanduhr. »Ich will keine Zeit mehr verschwenden. Gegen zwölf soll ich in Ballincollig sein.«

Aber Ciaran drückte gerade das Ohr an die Tür und lauschte angestrengt. »Halten Sie mal die Klappe«, sagte er, wobei er eine Hand hob.

»Was erlauben Sie sich?«, empörte sich Mr. Rooney.

»Entschuldigung. Halten Sie mal den Mund, bitte. Ich glaub, ich hör jemanden.«

»Kommen Sie, Junge, ich bin ’n viel beschäftigter Mann und schon spät dran.«

»Nein, nein, hören Sie. Da ist es wieder! Klingt wie Weinen!«

Mr. Rooney schnalzte abfällig mit der Zunge, verdrehte die Augen und ging zur Tür zurück. Im selben Moment rollte ein vor Schmutz starrender Pick-up-Truck, beladen mit Holzstämmen und Waschmaschinen, die Straße herauf. Aus seinem Auspuff qualmten die Abgase und aus den Fenstern Zigarettenrauch.

»Ich hör gar nichts«, widersprach Mr. Rooney. »Das ist Ihre Einbildung, Junge.«

Aber als sich der Pick-up die Church Street entlangkämpfte und der Lärm seines löcherigen Auspufftopfs langsam leiser wurde, ertönte aus dem Inneren des Gebäudes ein weiterer Schrei aus Schmerz und Verzweiflung.

Er war so lang gezogen, dass es fast wie aus einer Oper war, und dieses Mal hörten sie ihn beide.

»Ich dachte, Sie hätten gesagt, das Gebäude sei unbewohnt«, sagte Mr. Rooney in einem Ton, als würde er Ciaran des Vertragsbruchs beschuldigen.

»Sollt’s auch sein. Die oberen beiden Stockwerke sind Mietwohnungen, aber soweit ich weiß, wohnt da zurzeit niemand.«

»Dann wissen Sie nicht gerade viel. Scheint so, als müssten wir rein und mal nachsehen.«

»Ich sollte erst im Büro anrufen«, widersprach Ciaran.

»Ach, und was sollen die machen? Besser wär, Sie rufen gleich die Polizei.«

Ciaran zögerte ein paar Sekunden, dann drehte er wieder den Schlüssel im Schloss und öffnete die Eingangstür. Dieses Mal schien der Gestank sogar noch schlimmer zu sein. Er war so stark, dass er erst den Eindruck hatte, er könnte ihn tatsächlich als eine Art orangefarbenen Nebel sehen. Aber das war nur das Licht, das durch ein Buntglasfenster auf dem ersten Treppenabsatz in den Flur fiel.

Der Gestank ließ ihn würgen. Er verklebte seine Nasenlöcher, seine Kehle und seine Lunge. Er erinnerte ihn an damals, als eine Ratte unter den Bodendielen von Tantchen Kathleens Cottage in Clash verreckt war, nur hundertmal stärker.

Der Flur war eng und schlauchförmig, mit Prägetapete an den Wänden, die man mit senfgelbem Glanzlack versiegelt hatte, und abgewetztem grünem Linoleum auf dem Fußboden. Links führte eine Tür in den Laden.

Zuerst wehrte sie sich, aber Ciaran stemmte sich kräftig mit der Schulter gegen die Tür und drückte sie stockend weiter auf. Wegen der Stahljalousien vor dem Fenster war es dunkel im Laden. Zwei Essensauslagen mit Glasfront standen im rechten Winkel zueinander. Das Glas war staubig und die Auslagen leer. Mitten auf dem Boden lag ein Stuhl und an der gegenüberliegenden Wand hing noch immer ein zerrissenes Poster mit einer Burg in Budapest darauf. Abgesehen davon wies nichts darauf hin, dass man hier mal ungarische Spezialitäten bekommen hatte. Ciaran erkannte, dass er sich mit den Würstchen wohl geirrt hatte. Hier stank es bei Weitem nicht so schlimm wie auf dem Flur.

»Wenn Sie den Gestank loswerden, wird das hier ’ne super Fish-and-Chips-Bude«, stellte Mr. Rooney nach einem Rundumblick fest. Er wollte noch etwas sagen, als ihn ein weiteres dünnes, hohes Heulen, das fast an einen Schrei erinnerte, davon abhielt. Es klang, als käme es aus dem Zimmer genau über ihnen, und Ciaran glaubte, er hörte auch Bewegungen, Absätze auf dem Boden.

Beide sagten kein Wort, aber Mr. Rooney ging zurück auf den Flur und machte sich daran, die Stufen hinaufzustampfen, wobei er sich am klapprigen Handlauf festhielt, um sich daran entlangzuhangeln. Ciaran folgte ihm und fühlte sich ziemlich unreif. Immerhin war er der Agent des Maklers und sollte das Sagen haben.

Sie erreichten den Treppenabsatz. Das Licht vom Buntglasfenster malte ihnen Flecken ins Gesicht, als würden beide an irgendeiner unheilbaren Hautkrankheit leiden. Links von ihnen war eine Tür, von deren Rahmen die braune Farbe abblätterte, und vor ihnen noch eine Tür, halb geöffnet. Ciaran sah einen rostigen Waschzuber und eine altmodische Eisenbadewanne mit einem großen, tropfenden Hahn.

»Ist da jemand?«, rief Mr. Rooney. »Ich hab gefragt, ob da jemand ist!« Er atmete keuchend ein, aber bevor er ein drittes Mal rufen konnte, fing er zu husten an und musste sich auf die Brust klopfen, bevor er aufhören konnte. »Mein Gott. Keiner würde mir glauben, dass ich die Kippen an den Nagel gehängt hab.«

»Ich würde sagen, dass es von da drin kommt, dieses Weinen.« Ciaran nickte zu der Tür links von ihnen.

»Na dann los, Junge.« Mr. Rooney unterdrückte einen weiteren Hustenanfall. »Wir ham nicht den ganzen verdammten Tag Zeit.«

Ciaran packte die Klinke aus Bakelit und schob die Tür auf. Die Vorhänge waren zugezogen und er konnte kaum erkennen, ob jemand drin war, aber selbst wenn das Heulen nicht aus diesem Zimmer kam, der Geruch tat es auf alle Fälle. Er musste würgen und sich erst sammeln, um die Tür weiter aufzuschieben, da er befürchtete, er müsste ansonsten in das Badezimmer stürzen und sich heftig übergeben.

»Hallo?«, fragte er vorsichtig. »Ist da jemand?«

Er hörte das Summen von Schmeißfliegen. Dann ein Wimmern und noch ein Stöhnen. Dieses Mal wurde es leiser, als hätte der Stöhnende Angst. Ciaran atmete durch, um all seinen Mut zusammenzunehmen, und wünschte sich augenblicklich, er hätte es nicht getan, weil es so entsetzlich stank. Er griff nach dem Lichtschalter, aber nichts passierte. Wie er selbst es gesagt hatte, der Strom war abgestellt.

»Ach, zur Hölle noch mal«, platzte es aus Mr. Rooney heraus. Er schob sich an Ciaran vorbei, ging zum Fenster und riss die dicken grünen Vorhänge zur Seite, um das helle Morgenlicht hereinzulassen. Mindestens ein Dutzend Schmeißfliegen flogen am Fenster herum oder liefen daran hinauf.

Was sie sahen, ließ beide vor Schock erstarren. Ciaran fühlte sich, als wäre ihm das ganze Blut in die Füße gesackt. Der Raum war ein Wohnschlafzimmer. An der Wand mit der Tür stand ein lilafarbenes Schlafsofa. Abgesehen davon bestand die Möblierung aus einem schmuddeligen Armsessel in der Farbe von Haferschleim, einem Kaffeetisch, der wie eine Malerpalette geformt war, und einer billigen Garderobe aus furniertem Pressspan. In der Ecke neben dem Fenster stand ein dreieckiges Spülbecken und daneben ein Regal mit einer Mikrowelle und einem olivgrünen Wasserkocher aus Plastik.

An der Wand über dem Sofa hing ein verblasstes Bild von Saint Patrick, der hinter seinem weißen Rauschebart wohlwollend lächelte, mit einem Haufen Schlangen um die Füße, die dabei waren, ins Meer zu kriechen. Auf dem Schlafsofa selbst lag die Leiche eines nackten Schwarzen und daneben kniete eine junge Schwarze mit aufgerissenen Augen. Sie war noch ein Mädchen und bis auf einen lilafarbenen Satin-BH nackt und so abgemagert, dass ihre Arme und Beine wie schwarze Schüreisen aussahen, und ihr Bauch war ganz faltig.

Sie jammerte erneut, hob einen Arm, um ihr Gesicht zu bedecken: »Ba a cutar da ni!«, sagte sie so leise, dass es mehr ein Pfeifen war. »Ba a cutar da ni!«

Der Anblick und der Geruch des Mannes hatten Ciaran und Mr. Rooney so sehr erschüttert, dass keiner von ihnen etwas sagte. Als er etwas sagte, brachte Mr. Rooney nur ein »Heilige Maria, Muttergottes. Sieh sich den einer an« zustande.

Dem Mann fehlten beide Hände und unter seinen Handgelenken war das Laken schwarz von geronnenem Blut. Auf den Stümpfen wimmelte es nur so vor Maden, die zuckten und sich wanden, während sie sich gegen die anderen wehrten, um mehr von seinem verfaulenden Fleisch zu fressen.

Aber sein Gesicht sah noch schlimmer aus – oder was davon übrig war. Der Unterkiefer war intakt, mitsamt einem sauber getrimmten Kinnbart, aber alles darüber war nur eine blutrote Blume mit Blütenblättern aus Fleisch. Maden krochen über die Blüte und Schmeißfliegen brummten dicht darüber und legten eifrig mehr Eier.

Zwischen den Beinen des Mannes befanden sich noch mehr Maden, unzählige, sodass es aussah, als würde er eine riesige, wabernde Windel tragen.

»Rufen Sie die Polizei, Junge«, sagte Mr. Rooney heiser, aber Ciaran hatte sein Handy bereits in der Hand und tippte die Notrufnummer ein.

Mr. Rooney streckte die Hände nach dem Mädchen aus. »Komm her, Kleines, wir tun dir nichts. Was in Jesus’ Namen machst du hier mit dem toten Burschen?«

»Sie nicht töten«, sagte sie. »Bitte, Sie nicht töten.«

»Hey, wir werden dich nicht töten. Warum sollten wir das tun?«

»Bitte, Sie nicht töten.«

»Natürlich werden wir dich nicht töten. Komm, du musst hier raus.«

»Lower Shandon Street«, sagte Ciaran in sein Handy. »Über dem Laden steht ›Ungarische Delikatessen‹. Nun, hier ist ’ne Leiche, ein Schwarzer ohne Kopf. Und ’n Mädchen, sie lebt noch, aber ich würde sagen, sie braucht etwas Hilfe. Sie ist auch schwarz. Genau. Nein, ich glaub nicht, dass sie verletzt ist. Ja. Ciaran O’Malley. Ja.«

Er sah Mr. Rooney an. »Die Bullen sind auf dem Weg. Wir sollen nichts anfassen und die Leiche nicht bewegen.«

»Och schade, dabei hatte ich das doch vor. Ich werd ihn aufheben und mit ihm durch das beschissene Zimmer tanzen.«

»Ich glaub, ich muss hier raus«, sagte Ciaran. Er hob sich eine Hand vor das Gesicht, um die Leiche auf dem Schlafsofa nicht sehen zu müssen. »Ich ertrag diesen Geruch einfach nicht mehr. Und die Maden.« Schon allein die Erwähnung des Wortes »Maden« beförderte einen weiteren Mundvoll Galle nach oben und ließ seine Augen tränen.

Mr. Rooney öffnete den Gürtel seines Regenmantels und zog diesen umständlich aus. Er hielt ihn dem Mädchen hin. »Hier, Liebes. Zieh dir das an. Zumindest hast du dann was am Leib.«

Kraftlos griff das Mädchen nach dem Armsessel und schaffte es, auf die Füße zu kommen. Sie war so dürr, ihr Becken sah wie die Klinge eines Pflugs aus.

Mr. Rooney hängte ihr seinen Regenmantel über die Schultern, aber nicht bevor Ciaran sehen konnte, dass ihr Rücken voller dicker, diagonal verlaufender Narben war, als hätte man sie geschlagen oder verbrannt oder beides.

Sie verließen das Zimmer und staksten ungeschickt die Treppe nach unten. Als sie den Flur erreichten, blieb das Mädchen stehen und fragte: »Ba za ta komo, yana ta? Yarinyar?«

»Ich hab keinen Schimmer, was du da erzählst, Liebes«, erwiderte Mr. Rooney. Obwohl sie barfuß war, führte er sie durch die Eingangstür nach draußen auf die Straße. Über die Schulter sah er zu Ciaran zurück. »Machen Sie doch bitte die Tür zu, Junge, bevor mir das Frühstück für ’ne Zugabe wieder hochkommt.«

Mittlerweile regnete es, nicht stark, aber genug, um die Straße glänzen zu lassen und dass es im Rinnstein gurgelte.

Das Mädchen schaute sich ständig um, sehr nervös, als würde sie jeden Augenblick damit rechnen, dass jemand auftauchte und sie angriff. Ein Mann in einem schmutzigen roten Hoodie stellte sich beim Wettbüro gegenüber unter und rauchte eine. Ciaran konnte erkennen, dass seine Anwesenheit das Mädchen beunruhigte, weil sie ihm den Rücken zukehrte und den Kragen von Mr. Rooneys Regenmantel aufstellte, um ihr Gesicht zu verstecken.

»Die Bullen werden gleich da sein«, sagte er ihr. Er legte ihr eine Hand auf die Schulter, versuchte ihr Zuversicht zu vermitteln, aber sie zuckte vor ihm weg.

»Wie heißt du, Kleine? Wie nennt man dich? Du verstehst doch ein bisschen Englisch, oder?«

Sie nickte. »Ja. Verstehen. Die Frau kommen nicht zurück?«

»Welche Frau?«

Das Mädchen deutete nach oben, zu dem Zimmer mit der Leiche. »Die Frau töten Mawakiya.«

Ciaran sah Mr. Rooney an, der seine dichten grauen Augenbrauen hob.

»Eine Frau hat deinen Kerl allegemacht?«

»Mit Bindiga. Pistole. Ja. Zweimal in Kopf.«

»Na, überrascht mich nicht, so wie der aussieht. Mit ’nem Gesicht wie aufgeplatzte Fleischpastete.«

»Er wurde abgeknallt?«, fragte Ciaran. »Unglaublich, dass keiner was gehört hat.«

»Das überrascht mich kein Stück. In diesen Städten bekommt niemand jemals irgendwas mit. Nicht wenn man weiß, was gesünder ist. Gilt überall.«

»Kennst du die Frau?«, fragte Ciaran.

Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Ich nicht kennen. Aber sie sagen mir, nicht bewegen. Nicht bewegen! Wenn du kommen aus Zimmer, ich auf dich warten. Ich machen dir dasselbe wie Mawakiya.«

»Also bist du dringeblieben?«

Sie nickte erneut, dann kräuselte sich plötzlich ihre Unterlippe und sie fing an zu weinen. »Ich solche Angst. Ich solche Angst. Sie sagen mir, wenn du kommen aus Zimmer, ich töten dich wie Mawakiya. Das ein Versprechen.«

»Mein Gott«, sagte Mr. Rooney. »Darum bist du dringeblieben. Wann war das? Ich meine, wie lange warst du da drin?«

Sie zeigte ihm drei schlanke Finger mit Silberringen daran. Ihre Nägel waren in Lilametallic lackiert, aber der Lack war ziemlich mitgenommen.

»Drei Tage? Heilige Scheiße. Und die ganze Zeit hat dein Kerl immer schlimmer gestunken. Und du hattest nichts zu essen oder zu trinken?«

»Ich haben Wasser. Ich haben Kekse.«

»Na, ich glaub nicht, dass der Typ mit dem weggeblasenen Gesicht besonders appetitanregend war. Ich wollte heute in Ballincollig im White Horse Inn etwas Bacon mit Salat essen, aber ich glaub nicht, dass ich in nächster Zeit irgendwo was essen werde.«

»Wie heißt du?«, hakte Ciaran nach. »Woher kommst du? Wie lange bist du schon in Cork?«

Das Mädchen starrte ihn über den Kragen von Mr. Rooneys Regenmantel hinweg an. Ihre Wimpern waren gelb verkrustet und ihr linkes Auge blutunterlaufen. Sie antwortete nicht, stattdessen starrte sie ihn weiter an, als würde sie ihm nicht vertrauen, oder irgendeinem Mann, oder irgendwem – und würde es nie wieder tun.

»Du willst mir nicht mal deinen Namen verraten?«, fragte Ciaran. »Nun, wie alt bist du? Das kannst du mir doch sagen, oder? Oder weißt du das nicht?«

Das Mädchen hob beide Hände, die Finger gespreizt. Dann hob sie die rechte und klappte zwei Finger ein.

Als Ciaran verwirrt die Stirn runzelte, wiederholte sie es. Zwei Hände, zehn Finger, dann eine Hand, drei Finger.

»Muttergottes«, sagte Mr. Rooney. »Sie ist gerade mal 13.«

In diesem Augenblick zuckte ein Blitz über die Hügel im Südwesten und das Mädchen drückte sich die Hände auf den Mund, als hätte es gerade die schlimmste Lüge von allen erzählt.

2

Katie betrat das Befragungszimmer. Es war schummrig, aber nicht dunkel genug, um das Licht einzuschalten. In einem der Parker-Knoll-Armsessel auf der rechten Seite des Zimmers saß eine Frau mittleren Alters in einem roten Tweed-Anzug. Sie hatte gefärbtes Haar, feuerrote Wangen und um den Mund die Falten einer Frau, der man als Hochzeitsgeschenk sämtliche Zähne gezogen hatte.

Als Katie hereinkam, stand sie halb auf, aber Katie bedeutete ihr, sitzen zu bleiben.

»Mary ó Floinn, Superintendent«, flüsterte sie hörbar. »Wir haben telefoniert.«

Katie nickte. Sie interessierte sich mehr für das junge Mädchen, das am hohen Fenster stand und hinaussah. Auf der Scheibe sammelten sich Regentropfen und die schwarzen Dachschindeln draußen glänzten nass. Unten stapelte ein Mann mit einer kakifarbenen Windjacke über dem Kopf Ziegelsteine und rauchte dabei. Katie konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, ob das Mädchen ihn beobachtete, oder ob es einfach ins Leere starrte.

Aus der Akte, die ihr das Nasc zur Verfügung gestellt hatte, wusste sie, dass es acht Jahre alt war, aber es sah nicht älter als fünf aus. Sein braunes Haar war unordentlich und strähnig und in den Locken erkannte Katie braunen Schorf. Es war nur Haut und Knochen und sein langes graues Kleid betonte seinen abgemagerten Zustand nur noch mehr. Das Kleid selbst war sauber, ordentlich gebügelt, mit rosafarbener Smokarbeit auf der Vorderseite, aber zwei Nummern zu groß.

Katie ging zu ihr ans Fenster. Das Mädchen sah sie nicht an, starrte stattdessen weiter hinaus. Es hatte eine hohe Stirn, ausgeprägte Wangenknochen und riesige braune Augen.

Sie erinnerte Katie an eine der Feen aus den Märchenbüchern, die ihr ihre Mutter früher vorgelesen hatte, allerdings waren auf ihrer linken Wange und um ihren Mund verblassende gelbliche Prellungen zu erkennen und auf ihrem Hals erkannte sie lilafarbene Druckstellen, die wie von Fingern aussahen.

»Corina?«, sagte Katie sehr leise.

Das Mädchen sah sie an und dann schnell wieder weg.

»Corina, ich bin Katie. Hast du schon was zu essen bekommen?«

»Sie hatte Fischstäbchen zu Mittag«, meldete sich Mary ó Floinn zu Wort. »Aber sie hat nur ein einziges gegessen. Ich hatte das Gefühl, mehr als eines hat sie nie bekommen, und sie hat sich davor gefürchtet, was passieren könnte, wenn sie mehr isst.«

Katie sah Corina lange an. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal solchen Schmerz empfunden hatte. Sie musste sich vom Fenster abwenden, weil sie einen Tocht, einen Kloß im Hals, und Tränen in den Augen hatte.

Nach einer Weile schluckte sie, lächelte und fragte: »Corina, warum setzen wir uns nicht da drüben hin und unterhalten uns ein wenig?«

Sie ging zu dem durchgesessenen weinroten Sofa auf der anderen Seite des Zimmers und setzte sich. Corina zögerte einen Moment, dann folgte sie ihr gehorsam und setzte sich neben sie. Sie hielt den Kopf gesenkt und betrachtete den Teppich.

»Möchtest du etwas Schokolade?«, fragte Katie.

Corina schüttelte den Kopf.

»Sicher? Du hast doch zu Mittag gegessen, also ist es in Ordnung.«

Mary ó Floinn flüsterte wie zuvor: »Es gibt da ein kleines Problem mit Schokolade, Superintendent.«

»Was meinen Sie mit ›kleines Problem‹?«

»Sie hat sich mal ein Stückchen aus dem Kühlschrank geholt, nur ein winziges Stück, aber Mânios hat sie so brutal geschlagen, dass sie sich auf der Betontreppe den Kopf angeschlagen hat, und dann hat er sie fast erwürgt. Also … Sie verstehen vermutlich, dass sie etwas besorgt ist, wenn es um Schokolade geht.«

»Verstehe.« Katie lächelte Corina an, aber jenseits ihres Lächelns war ihr Schmerz zu Wut geworden. Eine Wut, die beinahe größer als jede andere Wut war, die sie bislang empfunden hatte, und in ihrer Vorstellung sah sie sich, wie sie den Raum verließ, Mânios Dumitrescu in irgendeiner Kneipe in Cork auftrieb, in der er sich diesen Nachmittag einen hinter die Binde kippte, vermutlich im The Idle Hour. Sie zückte ihren 38er Revolver und platzierte ihm ohne zu zögern eine Kugel zwischen die Augen.

Sie öffnete die Klappe ihrer Handtasche und holte den Milkybar raus, den sie sich unterwegs am Zeitungskiosk gekauft hatte. »Wir teilen, okay? Eine Hälfte für dich, die andere für mich.«

Corina sah sie mit ihren schmachtenden braunen Augen an. Dann nickte sie schließlich.

Während sie zusammensaßen und Schokolade aßen, fragte Katie: »Weißt du, wo du geboren wurdest?«

Wieder schüttelte Corina den Kopf.

»Weißt du, wo du gerade wohnst?«

Sie nickte.

»Und wo, Corina?«

Das Mädchen schloss die Augen und verkündete mit leiser, heiserer Stimme: »Nummer 37, St. Martha Avenue, Gurranabraher, Cork. Telefonnummer 021 4979951.«

»Na zumindest haben die Dumitrescus dafür gesorgt, dass sie nicht verloren geht«, stellte Katie fest. Sie wartete einen Moment, bis Corina ihre Schokolade aufgegessen hatte und den Saum ihres Kleids hob, um sich den Mund abzuwischen. Dann fragte sie: »Wie heißt deine Mutter, Süße?«

»Marcela.«

»Marcela ist die Frau, bei der du gelebt hast. Ich meine deine richtige Mutter.«

Corina runzelte verständnislos die Stirn. Katie sah zu Mary ó Floinn, die mit den Schultern zuckte und sehr leise sagte: »Sie hält Marcela für ihre richtige Mutter, Superintendent. Denken Sie dran, sie war erst drei, als die Dumitrescus sie adoptiert haben. Wir haben die Sozialstellen in Bukarest kontaktiert, hoffen aber, dass Sie sich mit der rumänischen Polizei in Verbindung setzen können, um herauszufinden, ob die ihre richtige Familie ausfindig machen kann.«

»Das werden wir auf alle Fälle machen«, versprach Katie. »Dort gibt es, genau wie hier, eine Spezialabteilung, die sich nur mit Menschenhandel befasst. In der Zwischenzeit möchte ich ein paar Gespräche mit Corina vereinbaren, sobald Sie denken, dass sie dazu in der Lage ist. Aber zu lange können wir das nicht hinausschieben. Wie Sie in Ihrem Bericht hier geschrieben haben, die Dumitrescus haben Adoptionspapiere und bereits Beschwerde eingereicht, um sie zurückzubekommen.«

»Aber das Gericht wird uns doch nicht zwingen, sie zurückzugeben, oder? Sehen Sie sie doch an.«

Katie zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Sofern wir keine wirklich stichhaltigen Beweise gegen sie auftreiben, können wir nicht viel machen. Nun … Sie sind die Rechtsexperten, wenn es um Einwanderer geht. Wenn sie sie zurückbekommen, kann’s gut sein, dass die Dumitrescus zusammenpacken und nach England verschwinden, oder zurück nach Rumänien, oder wo sie auch hinwollen, und dann sehen wir sie nie wieder.«

»Gott bewahre«, keuchte Mary ó Floinn. »Die ISPCC hat sie im Moment in Douglas bei richtig tollen Pflegeeltern untergebracht, Mr. und Mrs. Brennan. Ich bringe sie nachher dorthin. In zwei oder drei Tagen sollte sie mit Ihnen reden können, vielleicht auch früher. Sie muss nur ihre Angst überwinden, dass sie geschlagen wird, wenn sie Ihnen erzählt, was die Dumitrescus ihr angetan haben. Ich hab Ihnen auch die Nummer der Nachbarin notiert, die sich bei uns gemeldet hat. Ich weiß nicht, ob sie vor Gericht aussagen würde, aber vielleicht kann sie Ihnen ein paar Hinweise geben, die zu anderen Zeugen führen.«

Katie nahm Corinas Hand und drückte sie. Lächelnd versprach sie: »Wir sehen uns wieder, Corina, ja? Ein paar nette Leute werden sich um dich kümmern. Du wirst dein eigenes Bett haben, in dem du schlafen kannst, und musst nicht mehr kochen, putzen oder Windeln wechseln. Und wir werden nicht zulassen, dass dich Marcela oder Mânios noch mal schlägt. Du bist jetzt in Sicherheit.«

Sie wusste nicht, ob Corina alles begriff, was sie sagte, aber das kleine Mädchen sah zu ihr auf und grinste breit. Es brach Katie das Herz, als sie sah, dass alle ihre Zähne bis aufs Zahnfleisch von Karies zerfressen waren.

Während sie sich ihre dunkelrote wasserdichte Jacke anzog, unterhielt sich Katie auf dem Flur mit Mary ó Floinn.

»Alle Achtung, Mary, Sie haben damit ganz schön Mut bewiesen. Die meisten wagen es nicht, sich mit den Dumitrescus anzulegen. In den vergangenen vier Jahren haben wir Mânios Dumitrescu schon dreimal wegen Körperverletzung und Erpressung vor Gericht gestellt und jedes Mal hat man unseren Zeugen gedroht sie abzustechen oder zusammenzuschlagen, und alle erlitten ganz plötzliche Fälle von Amnesie.«

»Glauben Sie etwa, wir beim Nasc hätten keine Angst? Wir haben schon ein paar üble Anrufe von den Dumitrescus bekommen. Keine offenen Drohungen. Sie sind bösartig, aber nicht blöde. Und für uns ist das natürlich auch kein alltäglicher Fall. Meistens versuchen wir, Roma-Familien zusammenzuhalten, nicht sie auseinanderzubringen. Aber letzten Endes, ja – ich vermute, es hängt alles davon ab, was Sie aus der kleinen Corina rausbekommen und was für Zeugen Sie auftreiben.«

Sie zögerte, dann sagte sie: »Übrigens, Superintendent, ich hätte nicht gedacht, dass Sie persönlich vorbeikommen. Das weiß ich sehr zu schätzen.«

Katie schenkte ihr ein knappes, verkniffenes Lächeln. »Ich hatte vor, Detective Sergeant ó Nuallán zu schicken – Sie haben sie doch kennengelernt, oder? Aber dann wollte ich doch selbst vorbeikommen und Corina mit eigenen Augen sehen. Ich bin gegen diese Dumitrescus allergisch, aber ich wollte mich daran erinnern, warum genau und wie sehr. Mânios ist der leibhaftige Teufel, anders kann man ihn nicht bezeichnen. Und seine Mutter, was für ein Miststück!«

Sie sah zum Befragungszimmer zurück und bemerkte, wie Corina mit hängendem Kopf alleine auf dem Sofa saß und irgendein Spiel spielte, bei dem sie mit den Fingern wackelte. Detective O’Donovan hatte ihr berichtet, als man Corina letzten Freitag aus dem Haus der Dumitrescus in Gurranabraher geholt hatte, habe sie keine andere Kleidung außer dem schmutzigen T-Shirt und dazu passenden Shorts an ihrem Leib gehabt und keine Schuhe außer ausgelatschten Gummislippern, die ihr zwei Nummern zu klein waren, und keinerlei Spielzeug. Bücher habe sie keine gebraucht, da sie nie zur Schule gegangen sei und weder lesen noch schreiben könne. Sie könne nicht einmal auf Rumänisch bis zehn zählen.

Katie ging die steil abfallende Betontreppe der Ferry Lane zum Pope’s Quay runter, der am Lee entlangführte. Hier hatte sie ihren metallicblauen Fiesta geparkt. Die Sonne schien, wodurch die Bürgersteige und die Straßenoberfläche sie beinahe blendeten. Nachdem sie auf der Fahrerseite eingestiegen war, zog sie die Sonnenblende runter und betrachtete sich im Spiegel. Die letzten Wochen war es für die Jahreszeit ungewöhnlich kalt, und ihre Lippen waren rissig. Ihrer Meinung nach sah sie müde aus, und ihr kurzes kupferrotes Haar war ganz durcheinander. Manchmal fragte sie sich, was John jemals an ihr gefunden hatte, obwohl er immer wieder sagte, dass sie aussah, als wäre sie mit den Elfen verwandt: zierlich grüne Augen und »unvorstellbar schön«. »Meinst du nicht eher ›ganz schön unvorstellbar‹?«, fragte sie dann jedes Mal.

Sie trug sich etwas Lypsyl auf die Lippen auf und zupfte an ihrem Haar herum. Sie beschloss, nicht noch einmal für einen Haarschnitt zu Advantage zu gehen, obwohl es vermutlich nicht die Schuld der Friseurin gewesen war, dass sie so viel abgehackt hatte. Das arme Mädchen hatte versucht, den Schnitt und die Stufen gerade hinzubekommen, während Katie telefoniert hatte. Und wenn Katie telefonierte, regte sie sich immer auf und wurde wütend und saß nie still.

Kein Wunder, dass ihre verstorbene Mutter sie immer »Zappelfee« genannt hatte.

3

Wenn ihr Handy zurzeit klingelte, spielte es den Refrain von »The Wild Rover« von The Dubliners. And it’s no, nay, never – no, nay, never no more …

Sie zog es aus der Tasche und fragte: »Ja, Liam? Was gibt’s Neues? Konnten Sie sich mit Gerrety unterhalten?«

Es war Inspector Liam Fennessy. Er sollte sich diesen Morgen mit Michael Gerrety und dessen Anwalt treffen, um über die 39 Anschuldigungen zu sprechen, die man gegen Michael Gerrety wegen Betreibens des größten Online-Sex-Services der Stadt, Cork Fantasy Girls, vorbrachte. Es war ein verzwickter Fall, der sich schon Monate hinzog.

»Gerrety ist nicht aufgetaucht. Überrascht mich nicht besonders. Sein Anwalt hat irgend’nen Mist erzählt, dass es seiner Mutter nicht gut geht. Aber deswegen ruf ich nicht an. In ’ner Wohnung über ’nem Laden in der Lower Shandon Street hat man ’ne Leiche gefunden. Horgan ist schon da und ó Nuallán ist auf dem Weg. Horgan sagt, der Tote liegt schon mindestens drei Tage dort, kann aber auch ’ne Woche sein. Man hat ihm beide Hände amputiert und es sieht so aus, als hätte man ihm mit ’ner Schrotflinte direkt ins Gesicht geschossen.«

»Mein Gott.«

»Hab ich auch gesagt. Wie’s aussieht, ist unsere Leiche ’n männlicher Schwarzer. Wir haben seinen Namen, weil ’n junges Mädchen bei ihm war, ist aber kein Name, den ich schon mal gehört hab. Das Mädchen behauptet, sie hat mit angesehen, wie er erschossen wurde, aber sie hatte zu viel Angst, das Zimmer zu verlassen. Angeblich hat die Täterin ihr damit gedroht, wenn sie rauskommt, bläst sie ihr auch den Kopf weg.«

»Wie bitte? Haben Sie gerade Täterin gesagt?«

»Genau. Das Mädchen hat den beiden, die sie gefunden haben, gesagt, es war ’ne Frau, ganz eindeutig.«

»Kennt sie die Frau?«

»Angeblich nicht. Aber sie sind sich nicht sicher.«

»Hat sie irgendeine Beschreibung gegeben? Würde sie sie wiedererkennen?«

»Nein. Sie sagen, dass sie danach gar nichts mehr gesagt hat. Kein Sterbenswörtchen.«

»Wo genau in der Lower Shandon Street?«

»Ich glaub nicht, dass es schwer zu finden ist, Ma’am. Wir haben schon drei Wagen und ’nen weißen Transporter dort und mehr sind unterwegs. Das Forensik-Team sollte auch jeden Moment da sein. Horgan sagt, dass sich schon ’ne Menge Schaulustige versammelt haben.«

»Okay, Liam. Ich fahr gleich hin. Was ist mit Ihnen?«

»Ich muss noch die Aussagen wegen den Ringaskiddy-Drogen durchgehen. Morgen ist die Verhandlung. Michael Gerretys Anwalt hat gesagt, dass er morgen Nachmittag vielleicht Zeit hat, aber ich glaub nicht, dass ich mich da mit ihm treffen kann. Freitag vielleicht, wenn ich es schaffe.«

»Dann machen Sie sich in dem Fall keinen Kopf. Ich fahr hin. Höchste Zeit, dass ich ein ungezwungenes Gespräch mit Mr. Gerrety hab.«

»Widerwärtiger Hurensohn. Ich kann gut verstehen, warum Dermot ihn nicht ausstehen kann.«

»Ruhig bleiben, Liam. Lassen Sie die Akte einfach auf meinem Schreibtisch und ich bitte Shelagh, mir einen Termin zu vereinbaren.«

»Ja, Ma’am. Wir sehen uns später.«

Katie startete ihren Wagen, verließ die Parklücke vor der alten Cork Button Company und fuhr den Kai entlang in Richtung Lower Shandon Street. Früher an diesem Morgen hatte sie sich gewünscht, sie hätte vor dem Verlassen des Hauses noch etwas gegessen. Wenn sie das Frühstück ausfallen ließ, war sie für gewöhnlich gegen elf Uhr reizbar und mürrisch, besonders in der Woche vor ihrer Periode. Nach dem, was sie von Inspector Fennessy erfahren hatte, war sie allerdings froh, nichts im Magen zu haben. Es gab nur wenig, was sie noch unangenehmer fand, als wenn ihr lauwarmer Kaffee und halb Verdautes hochkamen.

Fennessy hatte nicht zu viel versprochen – in der Lower Shandon Street tummelten sich bereits drei Streifenwagen, ein gelber Krankenwagen, ein weißer Mercedes Vario Transporter von der Spurensicherung, ein Übertragungswagen von RTÉ, zwei Motorräder der Garda und mindestens 70 oder 80 Schaulustige, viele von ihnen schwarz oder asiatisch. Sie standen auf dem Bürgersteig gegenüber dem ungarischen Feinkostladen, als würden sie damit rechnen, dass jeden Moment irgendeine mäßige Berühmtheit herauskam.

Eine Motorrad-Garda winkte Katie durch und wies ihr einen Platz vor O’Donelly’s Turf Accountancy zu, wo sie mit zwei Reifen auf dem Bordstein parken konnte. Detective Horgan stand vor dem ungarischen Feinkostladen, unterhielt sich mit Dan Keane vom Examiner und einer Reporterin in einem silberfarbenen Anorak mit Fellbesatz auf dem Kragen, die Katie nicht kannte. Er kam sofort rüber und öffnete ihr die Tür. Katie bemerkte den blauen Mundschutz um seinen Hals.

»Nun, wow, Sie haben sich ja ganz schön beeilt herzukommen, Ma’am. Sie haben doch hoffentlich keine Geschwindigkeitsbegrenzungen übertreten?«

Katie ignorierte das. Sie war Detective Horgans schrecklichen Sinn für Humor gewohnt. Er hatte blaue Augen und sein jugendliches Gesicht in Verbindung mit der Tolle aus strohigem blondem Haar ließ ihn wie das Mitglied einer zweitklassigen Boyband aussehen. Allerdings entwickelte er sich trotz seiner unreifen Bemerkungen zu einem äußerst aufmerksamen und hartnäckigen Detective, den man nur sehr schwer mit polternden Entschuldigungen oder hastig zusammengestückelten Alibis abwimmeln konnte.

»Wie sieht’s aus?«, fragte Katie, während sie zusammen in Richtung des Ladens gingen.

Detective Horgan deutete auf Ciaran O’Malley und dessen Pächter, Mr. Rooney, die unter der Markise des Gebäudes neben dem Feinkostladen standen und wirkten, als hätten sie die Schnauze voll und wollten nur noch weg. »Der Junge arbeitet für Lisney und hat dem Älteren den Laden gezeigt, um ihn als Fish-and-Chips-Bude zu vermieten. Sie sagen, sie haben die Tür geöffnet, und der Gestank hat sie fast aus den Socken gehauen.«

»Wo ist die Leiche?«

»Oben, im ersten Stock.« Horgan zeigte zum Fenster über dem Schild für den ungarischen Feinkostladen. Als sie den Blick hob, sah Katie blaues Laserlicht, das sich in Zickzackmustern über die Decke zog, und dann kurz den Rücken eines Kriminaltechnikers der Garda in seinem weißen Tyvek-Anzug.

»Ich sag Ihnen ganz offen, Ma’am, da drin summt es wie beim Chor der St. Mary’s Church. Ich rate Ihnen, schmieren Sie sich ’n wenig Mentholcreme unter die Nase.«

»Inspector Fennessy hat was von einem Mädchen gesagt.«

»Ja, sie saß praktisch nackt neben der Leiche auf dem Boden. Sie ist hinten im Krankenwagen. Ich hab mit einem der Sanitäter geredet und wie’s aussieht, ist sie unverletzt, aber sehr unterernährt. Die letzten drei Tage hat sie von Leitungswasser und Bolands Rasperry Creams gelebt. Als Nächstes bringt man sie für ’ne ausführliche Untersuchung ins Wilton Hilton.«

»Okay, als Erstes spreche ich mit ihr. Haben Sie mit den beiden gesprochen, die die Leiche gefunden haben?«

»Ja, hab ich, mit beiden. Haben mir aber nicht viel gesagt. Als sie die Leiche gefunden haben, hat das Mädchen irgendwas in ’ner Sprache gesagt, die keiner von ihnen verstanden hat. Der Ältere meint, es klang afrikanisch.«

»Afrikanisch? Welche afrikanische Sprache?«

»Na, da war er sich auch nicht sicher. Aber die, die Schwarze sprechen.«

»Detective, ich kann Ihnen aus dem Stegreif nicht einmal sagen, wie viele Sprachen es in Afrika gibt, aber bestimmt mehr als eine. Um Gottes willen, wir sprechen schon in Cork 20 verschiedene Sprachen. Zumindest klingt es so.«

»Er hat den Namen des Opfers mitbekommen, weil das Mädchen ihn zwei- oder dreimal gesagt hat. Mah-wah-kee-yah.«

»Mah-wah-kee-yah? Und er ist sich sicher?«

Detective Horgan nickte und hielt ihr sein iPhone entgegen. »Ich hab es ihn mehrmals sagen lassen und aufgenommen, und der Junge meint, dass es genau so geklungen hat.«

»Na schön. Ich glaub, Sie können ihnen sagen, dass sie jetzt gehen können. Sie sehen beide so aus, als hätten sie genug für einen Tag mitgemacht. Haben Sie schon versucht, selbst mit dem Mädchen zu sprechen?«

»Ja, aber sie hat kein Wort zu mir gesagt. Die beiden sagen, das Letzte, was sie von ihr erfahren haben, war ihr Alter. Sie haben sie gefragt, wie alt sie ist, und sie hat ihnen 13 Finger gezeigt. Nun … ich mein, sie hat ihre Finger hochgehalten. Zehn und dann drei.«

Das war einer der Momente, in denen sich Katie nicht sicher war, ob Detective Horgan scherzte oder nicht, aber sie fragte nicht nach.

Sie ging zum Heck des Krankenwagens und klopfte an die Tür. Eine junge Sanitäterin in ihrer grellen gelb-grünen Uniform öffnete. Ihr Gesicht war kantig, blass und sie trug ihr dunkles Haar so kurz, dass es den Anschein machte, sie würde zurzeit eine Chemotherapie mitmachen.

»Detective Superintendent Maguire«, stellte sich Katie vor und zeigte der Sanitäterin ihren Ausweis. »Wenn ich darf, würde ich mich gerne kurz mit Ihrer Patientin unterhalten, bevor Sie sie ins CUH bringen. Ich nehm an, dass Sie sie dorthin bringen?«

»Stimmt genau.«

»Wie ist ihr Zustand? Ich meine allgemein.«

»Wir haben ihren Puls und Blutdruck überprüft und nach offensichtlichen Traumata gesucht. Sie ist dehydriert und für ’n Mädchen ihrer Größe mindestens 25 Pfund untergewichtig. Abgesehen davon hat sie offenbar zwei gebrochene Rippen und mehrere Prellungen sowie Dutzende alte Narben.«

Katie stieg in den Krankenwagen und setzte sich neben die Trage mit dem Mädchen darauf. Es starrte zu ihr hoch, klammerte sich an die hellblaue Baumwolldecke, die es bedeckte, als hätte es Angst, sie loszulassen. Das Haar der Kleinen war dreckig und verknotet und sie hatte nässende Verletzungen um die Lippen. Sie hatte sich offensichtlich längere Zeit nicht mehr gewaschen, da sie nach altem Schweiß und Urin roch.

»Hallo, Süße.« Katie schenkte ihr ein Lächeln. »Wie geht’s dir?«

Das Mädchen antwortete nicht, stattdessen zog es die Decke höher unter das Kinn.

»Diese nette Frau wird dich ins Krankenhaus bringen. Dort werden dich die Schwestern duschen und dir die Haare waschen, und dann bekommst du was zu essen und zu trinken. Glaub mir, du wirst dich dann hundertmal besser fühlen.«

»Sie hat kein Wort gesagt«, meldete sich die Sanitäterin zu Wort. »Nicht mal ihren Namen verrät sie mir.«

»Nun, das ist kaum verwunderlich. Ich glaub, seit man sie verschleppt hat, hat man sie nur belogen, ihr gedroht und sie nach Strich und Faden verprügelt, wenn sie nicht gemacht hat, was man ihr gesagt hat. Warum sollte sie denken, dass Sie oder ich anders sind?«

Kurz dachte sie darüber nach, das Mädchen nach »Mah-wah-kee-yah« zu fragen, entschied sich aber dagegen. Selbst wenn sie sie dazu bringen konnte, irgendwas zu sagen, war offensichtlich, dass sie zutiefst traumatisiert war, und Katies Erfahrung nach waren Zeugen in diesem Zustand fast immer unzuverlässig. Sie wollte nicht wertvolle Stunden Polizeiarbeit damit verbringen herauszufinden, was wirklich geschehen war und was nichts weiter als die Albträume eines jungen Mädchens waren.

»Ich komm später vorbei, wenn du dich im Krankenhaus ein wenig eingelebt hast«, versprach sie dem Mädchen lächelnd. Das Mädchen hingegen starrte sie nur weiter schweigend an und zog die Decke so hoch, dass nur noch die Augen zu sehen waren.

Aber als Katie aus dem Krankenwagen stieg, sagte das Mädchen etwas, auch wenn die Stimme so gedämpft war, dass Katie sie kaum hören konnte. Draußen herrschte ebenfalls Lärm, eine Polizeisirene heulte plötzlich los und Dutzende Menschen sprachen durcheinander.

»Sag das bitte noch mal, Süße«, bat Katie.

Das Mädchen schob die Decke ein wenig runter, holte zwei- oder dreimal Luft, dann flüsterte es: »Rama Mala’ika!«

»Tut mir leid, Kleines, ich verstehe dich nicht. Was heißt das? Oder ist das dein Name? Rama Mal-ah-eeka?«

Sie wartete, aber das Mädchen wiederholte die Worte nicht. Schulterzuckend sah Katie die Sanitäterin an.

»Ist es okay, wenn wir sie jetzt wegschaffen?«, fragte die Sanitäterin.

»Natürlich. Vielen Dank.«

Es setzte wieder Regen ein, also beeilte sich Katie, über die Straße zum Feinkostladen zu kommen, und ging hinein. Detective Horgan wartete auf sie und mittlerweile war auch Detective Sergeant ó Nuallán eingetroffen. Sie standen zusammen im Laden, unterhielten sich mit dem Techniker, dessen Rücken Katie im oberen Fenster gesehen hatte.

Kyna ó Nuallán war erst letzten Monat aus Dublin zu Katies Team gestoßen, um Detective Sergeant Jimmy O’Rourke zu ersetzen, der im Dienst erschossen worden war. Sie war eine schlanke, groß gewachsene junge Frau mit ausgeprägten Gesichtszügen, vorstehendem Kinn, einem geometrisch geschnittenen Bob und fast farblosen Augen. Detective O’Donovan hatte zugegeben, sie würde ihm durchaus gefallen, wenn sie ihm nicht ständig das Gefühl geben würde, er hätte etwas Dummes gesagt, noch bevor er den Mund aufmachte.

Das war einer der Gründe, warum sich Katie für sie entschieden hatte, abgesehen von der Tatsache, dass sie eine Frau war. Sie hatte eine Art, Zeugen zuzuhören – nickend, nicht unterbrechend, aber immer eine fein säuberlich gezupfte Augenbraue gehoben, als würde sie ihnen kein Wort glauben. Sie ließ sie ständig daran arbeiten, sie zu überzeugen, dass sie ihr die Wahrheit sagten. Und das war ein seltenes Talent. Horgan hatte ihr bereits den Spitznamen Sergeant O’Polygraph verpasst.

»Ich bin so schnell ich konnte hergekommen, Ma’am. Ich bin mit Councillor Parry fast fertig. Bis Freitag sollten Sie meinen vollständigen Bericht darüber auf dem Schreibtisch haben, nachdem ich mit den Cremin-Brüdern gesprochen hab. Ich versuche immer noch herauszufinden, wohin die Zahlung für die Donnybrook-Entwicklung verschwunden ist, aber die find ich schon.«

Katie wandte sich an den Techniker, den sie nie anders als erschöpft erlebt hatte – als würde er jeden Abend nach Hause gehen, versuchen, mit seinem Abendessen aus Spaghetti auf dem Schoß etwas fernzusehen, aber alles, was er sah, waren glänzende Gedärme, und er schmeckte nichts als Wick VapoRub.

»Nun«, sagte sie, »dann wollen wir uns diesen unglückseligen Kerl mal ansehen. Was denken Sie, wie lange ist er schon tot?«

Der Techniker reichte ihr einen Mundschutz und gab Detective Sergeant ó Nuallán auch einen. Er hob ein Töpfchen mit Wick, aber Katie schüttelte den Kopf und holte stattdessen eine Sprühflasche Lancôme Miracle aus der Tasche. Sie sprühte die Innenseite der Maske ein und band sie sich dann um. Obwohl die meisten Kriminaltechniker und Gerichtsmediziner Wick benutzten, öffnete es die Nasengänge, während es die Verwesungsgerüche überdeckte, und ihrer Meinung nach blieb der Geruch dann nur länger in der Lunge. Sie hatte keine Lust, heute Nacht im Bett zu liegen und noch immer den Gestank von Tod zu riechen.

»Dem Befall von Calliphora vomitoria nach zu urteilen würd ich sagen, dass dreieinhalb Tage ungefähr hinhauen sollten«, sagte der Techniker. »Es war nicht allzu warm, aber sie hatten genug Zeit, ihre Eier zu legen, und dass ihre Larven schlüpfen und voll auswachsen konnten. Immerhin haben sie jede Menge zu fressen. Fleisch und Exkremente, ihre Leibspeisen.«

Der Techniker führte sie die Treppe hoch und Katie folgte dicht hinter ihm.

»Ich hab mit jemandem bei Lisney gesprochen«, sagte Detective Horgan, als sie den Treppenabsatz im ersten Stock erreichten. »Das ganze Gebäude steht seit ungefähr ’nem Monat leer. Das Erdgeschoss war an die Leute von diesem ungarischen Feinkostladen verpachtet und Clancy versucht rauszufinden, ob sie dann nach Ungarn zurück sind. Die beiden Wohnungen oben waren an ’ne Firma namens Merrow Holdings mit Sitz in Limerick vermietet.«

»Irgendeine Ahnung, wer dahintersteckt?«, fragte Katie. Das Parfüm in ihrem Mundschutz war so stark, dass sie niesen musste, zweimal. Es ließ ihre Nase laufen, aber sie war nicht so dumm, ihn abzunehmen, also schniefte sie.

»Merrow Holdings? Noch nicht. Aber bei Lisney hat man mir versprochen, man würde sich noch vor Feierabend bei mir melden.«

Der Techniker führte sie ins Wohnschlafzimmer. Wolframlampen erhellten die Szenerie so sehr, als wäre es das Bühnenbild für eine Morgensendung im Fernsehen. Der junge Assistent des Technikers war auf allen vieren und suchte mit einer Labino-Nova-Lampe mit blauem Filter nach Blutspuren oder Faserrückständen, die sich möglicherweise unter die Fußbodenleisten verirrt hatten. Als sie das Zimmer betraten, setzte er sich auf die Hacken. Seine Stirn war so voller entzündeter Akne, dass Katie immer den Eindruck hatte, man hätte ihn mit einem Luftgewehr unter Beschuss genommen. Aber im Vergleich zur Leiche auf dem Schlafsofa war sein Gesicht nur leicht gesprenkelt.

Katie ging zum Schlafsofa und betrachtete die Leiche eingehend. Sie war sehr dunkel und die Haut wirkte ein wenig staubig, weswegen sie annahm, es handelte sich um einen Somali oder Nigerianer, da der Großteil der afrikanischen Einwanderer Corks aus diesen beiden Gruppen bestand. Sie erkannte, dass man ihm zweimal aus nächster Nähe ins Gesicht geschossen hatte – vermutlich mit einer doppelläufigen Schrotflinte –, einmal in die rechte Wange und einmal ins linke Auge. Oberhalb seines Kinns mit dem präzise getrimmten Bart gab es nichts, außer dem konkaven Labyrinth seiner Nebenhöhlen. Die Techniker hatten die ausgewachsenen Schmeißfliegen aus dem Zimmer entfernt, aber auf dem Gesicht des Opfers krochen noch vereinzelt Maden wie winzige Höhlenforscher herum.

Der Mann war sehr schlank, wohingegen sein Bauch aufgrund der Verwesungsgase dick angeschwollen war. Auf seiner rechten Schulter prangte eine Tätowierung einer Schwarzen Witwe in ihrem Netz, und sein langer, schlaffer Penis war mit dem Muster und Kopf einer Klapperschlange verziert, komplett mit Schuppen, Augen und der gespaltenen Zunge. Der Körper der Schlange verlief durch sein dichtes schwarzes Schamhaar und wand sich um seine Hüfte höher, bis zur Klapper am Schwanzende, die auf seinem Brustbein lag.

Auf jedem Knie hatte er einen einzelnen braunen Stern tätowiert.

Katie beugte sich vor, unterzog sein Gesicht einer genaueren Betrachtung. »Seine Lippen sind sehr rosafarben«, stellte sie fest. Der Techniker kam zu ihr und warf ebenfalls einen Blick darauf.

»Stimmt, sind sie. Ich würde sagen, die sind tätowiert. Ist scheinbar zurzeit Mode unter jungen Nigerianern. Die denken, das macht sie für die Mädels attraktiver.«

»Was, strahlend rosa Lippen?«

»Und ob. ’n Kumpel von mir arbeitet im Tattoo Zoo in der South Main Street. Er hat mir vor ’n paar Tagen von den Nigerianern erzählt. Die stehn auch drauf, sich ihren Dong verzieren zu lassen, genau wie der Typ hier.«

»Was ist mit seinen Händen?«, fragte Katie mit einem Blick auf die Stümpfe an den Enden seiner Arme. Die Knochen, die aus seinem linken Unterarm ragten, hatte man grob und unregelmäßig in einem rechten Winkel durchgesägt, während die des rechten einen sauberen, schrägen Schnitt aufwiesen.

»Seine Hände? Nun, fehlen beide. ’n paar Beamte haben das ganze Haus von oben bis unten durchsucht, aber nichts gefunden. Sieht so aus, als hätte der Täter sie als Andenken mitgenommen.«

»Der Zeugin zufolge war es eine Frau.«

Der Techniker betrachtete erneut die abstoßenden Überreste des Gesichts des Toten. »’ne Frau? Mein Gott. Die muss ja stinkwütend gewesen sein. Aber ich will Ihnen was Interessantes verraten. Wer immer das war, er hat den Typen abgeknallt, während er gelegen hat, genau so. In situ.«

»Beide Schüsse?«

Der Techniker nickte. »Genau. Durch seinen Kopf in die Sofapolster.«

»Aber sie hat eine Schrotflinte benutzt … und selbst wenn es eine abgesägte war …«

»Erfasst, Ma’am. Dafür müsste man schon auf dem Bett über ihm gestanden und die Flinte auf sein Gesicht gerichtet haben. Besonders dann, wenn’s ’ne Frau war und vermutlich kleiner als ’n Mann.«

»Und gibt es Anzeichen für Fußspuren?«

»Interessanterweise nicht. Keine Abdrücke in den Polstern, keine Schmutzspuren auf den Laken, nichts.«

Katie hob langsam die Arme, als würde sie in der Kirche stehen und neben dem Altar ein Kruzifix hochhalten. »Vielleicht hat sie auch hier gestanden, wie ich, und hat die Schrotflinte so auf ihn gerichtet, Kolben in die Luft und den Lauf auf sein Gesicht gerichtet. Dann hätte sie den Abzug mit dem Daumen betätigen können.«

»Möglich. Aber die haben ’nen ganz schönen Rückstoß, diese Schrotflinten. Das Durchschnittsmodell trifft mit 20 Pfund – je nach Ladung auch mehr. Das ist, wie wenn man von ’nem Mittelgewichtsboxer eine verpasst bekommt.«

Katie sah sich im Wohnschlafzimmer um. »Verstehe. Sonst noch was, das Sie mir zeigen wollen?«

»Es gibt über tausend Blutspritzer, Ma’am, sowie Gewebestücke, Knochensplitter und Hirngewebe. Es gibt auch Urin, Exkremente und Haare, die vermutlich von dem Mädchen stammen, das sich hier versteckt hat. ’n Gesamtbild bekommen wir erst, wenn wir die Leiche vom Bett nehmen. Aber was wir bis jetzt vom Laken und der Bettdecke untersuchen konnten, weist ’ne Vielzahl von Samenspuren auf.«

»Vielzahl? Wie viele?«

»Zu viele, um überhaupt ’ne grobe Einschätzung zu geben, aber ich würde sagen, es geht in die Hunderte.«

»Man muss kein Genie sein, um zu kapieren, was hier abgegangen ist.« Katie ging zum Fenster und sah zur Straße runter, wo sich mittlerweile noch mehr Leute versammelt hatten. »Mein Gott, haben diese Leute nichts Besseres zu tun? Wissen die nicht, dass Elev8 gleich anfängt?« Sie sprach vom Kinderprogramm auf RTÉ2.

Sie drehte sich um. »Was ist mit der Tür?«, fragte sie den Techniker.

»Sehen Sie’s sich an, das Schloss taugt nicht viel, das billigste vom Ramschtisch, aber es wurde nicht aufgebrochen und der Schlüssel steckt noch.«

»Okay, das könnte helfen. Aber es bringt uns nichts zu versuchen, mit den Spuren, die wir hier haben, ein Szenario auszuarbeiten. Wir wissen nicht, ob die Täterin reingekommen ist und das Opfer und das Mädchen überrascht hat, oder ob sie die beiden von woanders hergebracht hat, oder ob das Mädchen und die Täterin zuerst hier waren und das Opfer hereingestolpert ist.«

»Den beiden Männern zufolge, die sie gefunden haben, kennt das Mädchen das Opfer, zumindest seinen Namen, aber wir wissen nicht, ob sie die Täterin kennt. Das ist unsere oberste Priorität. Je früher wir die Identität des Opfers rausfinden, umso früher haben wir einen Anhaltspunkt, warum man ihn getötet hat und wer es war.«

Sergeant ó Nuallán kritzelte etwas in ihren Notizblock. »Ich geh zum Tattoo Zoo und frag nach ’ner Liste afrikanischer Kunden, die sich vor Kurzem die Lippen haben tätowieren lassen, und ob sich von denen auch einer seine Genitalien tätowieren ließ. Das ist zumindest ’n Anfang.«

»Wenn Sie da kein Glück haben, gibt’s noch ’n paar andere Studios, wo Sie sich umhören können«, sagte Detective Horgan. »Body and Soul in der Rahilly Street und Magic’s in der Robert Street. Oh, und dann wär da noch Dark Arts in der Maylor Street … Ich weiß, die haben ’ne Menge nigerianische Kunden.«

»Nigerianer schreibt man mit einem ›g‹, Horgan«, entgegnete Katie, »nur mit einem, man spricht es weich aus.«

»Oh, ’tschuldigung, Ma’am.« Detective Horgan tat überrascht. »Man will ja nicht des unbeabsichtigten Rassismus beschuldigt werden. Oder des absichtlichen.«

»Halten Sie die Klappe, Horgan. Und fangen Sie an, an ein paar Türen zu klopfen, auf beiden Straßenseiten. Wir wollen wissen, ob jemand gesehen hat, wie jemand dieses Gebäude betreten oder es verlassen hat und wann und ob jemand etwas Ungewöhnliches gehört hat, egal ob es zwei Schüsse waren oder etwas anderes. Und ob jemand einen Streit oder Geschrei gehört hat.«

»Ja, Ma’am.«

Der Techniker holte hinter seinem Mundschutz hörbar Luft. »Wir werden hier noch mindestens drei Stunden brauchen, vermutlich länger. Ich sag Bescheid, sobald wir das Opfer in die Pathologie bringen.«

»Danke«, antwortete Katie. »Ich ruf besser in der Gerichtsmedizin in Dublin an. O Gott, wenn Reidy den Fall bekommt, wird er gehörig was zu meckern haben. Wenn er eins nicht ausstehen kann, dann ist es eine zweifelsfrei offensichtliche Todesursache.«

4

Als sie wieder auf die Straße kam, wartete Dan Keane vom Examiner bereits auf sie, und auch die Frau in dem silberfarbenen Anorak mit Fellbesatz am Kragen. Wie üblich hing Dan eine Zigarette im Mundwinkel, die beim Sprechen auf und ab wippte, und sein Gesicht hatte noch mehr als sonst die Farbe einer Pflaume.

»Was machen die Formulare, Dan?«, fragte sie. »Hab ich nicht was läuten gehört, dass Sie in den Ruhestand gehen?«

»Kann ich mir nicht leisten, Superintendent. Nicht bei dem, was Powers heutzutage kosten.«

»Sie könnten das Rauchen auch einfach aufgeben.«

»Klar, und wenn ich schon dabei bin, auch das Atmen.«

»Wollen Sie mich nicht vorstellen?«

»Klar, ja, ’tschuldigung. Superintendent, das ist die liebreizende Branna. Sie hat gerade beim Echo angefangen, obwohl ich bezweifle, dass sie auch nur den geringsten Schimmer hat, worauf sie sich da eingelassen hat. Detective Superintendent Maguire, darf ich Ihnen Branna MacSuibhne vorstellen? Branna, Kleines – das ist die über alle Maßen respektierte und ungemein Furcht einflößende Detective Superintendent Maguire.«

Branna reichte ihr die Hand, aber Katie war gerade dabei, sich den Mundschutz abzunehmen, und ergriff sie deswegen nicht. »Was immer Sie machen«, sagte sie mit einem Nicken zu Dan, »überprüfen Sie alles, was er Ihnen sagt, lieber hundertmal, bevor Sie es glauben.«

Branna MacSuibhne war viel jünger, als sie auf den ersten Blick gewirkt hatte. Vielleicht lag es an ihrem aufgebauschten aschblonden Haar, das sie sich zu beiden Seiten ihres Gesichts mit Haarspray wie die Hörner eines Wasserbüffels fixiert hatte, oder am dicken schwarzen Mascara auf den Wimpern. Sie hatte ein fülliges, herzförmiges Gesicht und war eigentlich recht hübsch, auch wenn ihr Kinn nur schwach ausgeprägt war und Katie annahm, dass sie nicht viel älter als 19 war.

»Wissen wir schon, wer sich vorm Himmelstor angestellt hat?«, fragte Dan mit einem Nicken in Richtung des Zimmers im ersten Stock. Branna zückte aus der Tasche ihres Anoraks einen nagelneuen Notizblock und wartete mit frisch gespitztem Bleistift.

Fionnuala Sweeney kam zu ihnen rüber und brachte ihre roten Locken und die für sie typische grüne Windjacke mit. Ihr unrasierter Kameramann folgte ihr hustend. Fionnuala reckte Katie ihr RTÉ-Mikrofon entgegen und lächelte freundlich.

Mit einem Mal bemerkte Katie, wie unordentlich ihr Haar war, und sie zupfte zwei-, dreimal daran, um zumindest ansatzweise etwas Ordnung hineinzubringen. Fionnuala sah sie mit großen Augen an, lächelte weiter, als wollte sie ihr versichern, dass sie klasse aussah und sich keine Gedanken machen sollte.

Katie räusperte sich. »Das Opfer … das Opfer ist ein afrikanischer Mann unbestimmten Alters, der allem Anschein nach tödlichen Schussverletzungen erlegen ist, auch wenn wir auf den Befund des Gerichtsmediziners warten müssen, um eine genaue Todesursache festzulegen.«

»Ihm wurde sein beschissener Kopf weggepustet.« Dan blies aus dem Mundwinkel Rauch aus. »Für die meisten wäre das eine genaue Todesursache, denken Sie nicht?«

»Soweit wir wissen, könnte er bereits tot gewesen sein, als man ihm die Schussverletzungen beigebracht hat«, widersprach Katie. »Wie ich gesagt habe, wir warten auf den Befund des Gerichtsmediziners.«

»Bei der Leiche war auch ein Mädchen eingesperrt«, sagte Fionnuala. »Wissen Sie, wer sie ist? Ist sie eine Verdächtige?«

»In der Wohnung hat man zusammen mit dem Opfer eine afrikanische Frau gefunden. Sie war nicht eingesperrt, aber es macht den Anschein, dass sie seit seinem Tod bei ihm war.«

»Wie lange war das?«

»Das wissen wir noch nicht mit Sicherheit, aber mindestens 72 Stunden, möglicherweise länger.«

»Wenn sie nicht eingesperrt war, warum hat sie nicht versucht rauszukommen? Die Leiche muss doch schon gestunken haben!«

»Noch mal, wir wissen es nicht mit Sicherheit.«

»Wenn Sie sagen ›afrikanisch‹, was ist sie?«, fragte Dan. »Nigerianerin? Senegalesin? Somali?«

»Auch das haben wir bisher nicht festgestellt. Wie Sie sich vorstellen können, ist sie schwer traumatisiert, und wir hatten noch nicht die Möglichkeit, sie ausführlich zu befragen. Aber sobald sie dazu in der Lage ist, werden wir das nachholen.«

»Hat sie wirklich mit angesehen, wie das Opfer erschossen wurde?«, fragte Branna.

Katie dachte: Gute Frage, Kleines. Aber ihre Antwort lautete: »Im Moment können wir das noch nicht sagen, nicht bevor sie mit uns spricht.«

Sie zögerte und sah direkt Fionnualas Kameramann an. »Wenn Sie während der vergangenen drei oder vier Tage in der Gegend der Lower Shandon Street etwas Ungewöhnliches gesehen oder gehört haben, bitte zögern Sie nicht, sich mit uns in Verbindung zu setzen. Melden Sie sich einfach unter der Telefonnummer 021 452 2000. Ihre Identität wird vertraulich behandelt und es ist unerheblich, ob Sie es für unwichtig halten oder nicht. Es ist immer wieder überraschend, wie kleine, unbedeutende Informationen dabei helfen können, zu einer Verhaftung zu führen.«

»Dieses afrikanische Mädchen«, hakte Branna nach. »Ist sie eine Prostituierte?« Meine Güte, du nimmst auch kein Blatt vor den Mund, dachte Katie. Sie sah Branna wieder an und antwortete: »Bislang wissen wir nicht, wer sie ist oder woher sie kommt, also können wir auch nicht sagen, ob sie eine Prostituierte ist oder nicht.«

»Sie war fast nackt, als man sie gefunden hat.«

»Branna, bei dieser Arbeit haben wir es oft mit Leuten mit runtergelassenen Hosen zu tun. Das bedeutet nicht zwangsläufig, dass sie auch im Sexgewerbe tätig sind.«

»Aber Sie werden in diese Richtung ermitteln?«

Katie schenkte ihr ein knappes, nichtssagendes Lächeln. »Sobald wir handfeste Informationen haben, werden wir es Sie wissen lassen.«

»Aber das ist ein großes Problem in Cork, oder etwa nicht? Laster und Prostitution? Ich meine, manche bezeichnen Cork als das Sex-Handelszentrum von Irland.«

»Das wäre vorläufig alles, Branna. Wenn wir Ihnen etwas Konkretes mitzuteilen haben, wird es in der Anglesea Street eine Pressekonferenz geben.«

»Allein im Stadtzentrum sind genau in diesem Moment mindestens zehn Bordelle in Betrieb, und locker über 100 Prostituierte am Werk. Ich meine, was unternehmen Sie deswegen?«

Katie ging auf Branna zu, nahm sie am Arm und zog sie beiseite.

»Branna, wenn Sie mit mir über Laster reden wollen, dürfen Sie sich gerne einen Termin geben lassen und zu mir in die Anglesea Street kommen. Jetzt im Moment befasse ich mich mit einem Gewaltverbrechen, und ich werde nicht hier auf der Straße stehen und Spekulationen darüber anstellen, wer es getan hat oder ob es mit dem Sexgewerbe in Verbindung steht.«

»Aber …«, setzte Branna an, aber Katie brachte sie mit einem Finger zum Schweigen.

»Wie lang sind Sie schon beim Echo?«

»Eine Woche. Nun, letzte Woche und gestern und diesen Morgen.«

»Ich wünsch Ihnen viel Glück, aber denken Sie dran, Sie sind hier in Cork, nicht in Limerick oder Dublin, und Sie sind nicht Donald Macintyre. Lernen Sie erst Ihre Kontaktpersonen kennen, bauen Sie etwas Vertrauen auf. Dann können Sie auf Kreuzzug gehen.«

Brannas Wangen röteten sich. »Tut mir leid, Superintendent. Ich wollte keine Grenzen überschreiten.«

»Schon in Ordnung. Und keine Bange. Das Laster in dieser Stadt macht mir genauso große Sorgen wie Ihnen. Aber es ist nicht leicht, dem Ganzen einen Riegel vorzuschieben, aus einer Menge Gründe. Und wenn Sie zu mir kommen, um darüber zu reden, verrat ich Ihnen, woran das liegt.«

Fionnuala Sweeney kam zu Katie rüber. »Entschuldigung, Superintendent. Könnten wir kurz ein paar Reaktionsaufnahmen machen?«

»Wie wollen Sie mich? Grinsend oder ernst?«

»Ach, so wie Sie ganz normal aussehen, bitte.«

Einen Augenblick lang schloss Katie die Augen und dachte: Mein normales Aussehen, und wie im Namen von allem, was heilig ist, soll das aussehen? Gemartert? Desillusioniert? Erschöpft?

Mit einem fettarmen Latte, einem Donut mit Zuckerguss und einer grünen Aktenmappe voller Fallnotizen unter dem Arm kehrte sie an ihren Schreibtisch in der Anglesea Street zurück. Sie saß noch nicht einmal, da klingelte ihr Handy. And it’s no, nay, never – no, nay, never no more …

»John?« Sie machte auf ihrem Schreibtisch etwas Platz. »Wart kurz, John. Wie ist es bei ErinChem gelaufen?«

Detective O’Donovan tauchte in ihrer offenen Tür auf, aber sie hob eine Hand, um ihm deutlich zu machen, dass sie ein paar Minuten brauchte, bevor sie mit ihm sprechen konnte.

John klang deprimiert. »Was denkst du, wie es gelaufen ist?«

»Keine Ahnung. Wollten sie dich nicht? Ich dachte, du wärst perfekt.«

»Nun, so hat man es ausgedrückt.«

»Wie? Perfekt?«

»Komm schon, Katie, du weißt, ich bin ein Genie! Man hat mir mehr als nur den Job gegeben. Ich soll eine ganz neue Internet-Vertriebsabteilung aufbauen und leiten.«

»Du nimmst mich auf den Arm.«