Rachejagd - Zerstört - Nica Stevens - E-Book

Rachejagd - Zerstört E-Book

Nica Stevens

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Beschreibung

Es endet. Jetzt.

Es begann mit einer kleinen Rachefantasie und ist zu einer immer komplexeren Rachejagd geworden. Plan A, Plan B, Plan C – der Mann, der sich an Anna und Nick rächen will, ist bereit, sein perfides Spiel immer weiterzuspinnen, denn er hat viele Helfer. Und ein sehr persönliches Motiv. Jetzt ist er seinem Ziel ganz nah – es geht um alles oder nichts. Anna und Nick versuchen herauszufinden, wer der scheinbar allmächtige Strippenzieher ist. Dafür müssen sie tief in ihre gemeinsame Vergangenheit eintauchen. Doch die Wahrheit ist schockierend und der Preis dafür hoch. Kann es bei dem tödlichen Spiel am Ende überhaupt einen Gewinner geben?

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Das Buch

Es begann mit einer kleinen Rachefantasie und ist zu einer immer komplexeren Rachejagd geworden. Plan A, Plan B, Plan C – der Mann, der sich an Anna und Nick rächen will, ist bereit, sein perfides Spiel immer weiterzuspinnen, denn er hat viele Helfer. Und ein sehr persönliches Motiv. Jetzt ist er seinem Ziel ganz nah – es geht um alles oder nichts. Anna und Nick versuchen herauszufinden, wer der scheinbar allmächtige Strippenzieher ist. Dafür müssen sie tief in ihre gemeinsame Vergangenheit eintauchen. Doch die Wahrheit ist schockierend und der Preis dafür hoch. Kann es bei dem tödlichen Spiel am Ende überhaupt einen Gewinner geben?

Die Autor*innen

Nica Stevens (* 1976) leitete jahrelang ein Familienunternehmen und war zusätzlich als Dozentin tätig, bis sie nach der Geburt ihres zweiten Sohnes beruflich kürzertrat und durch die gewonnene Zeit zu ihrer Leidenschaft des Geschichtenerzählens zurückfand. Ihr Debüt Verwandte Seelen wurde auf Anhieb zum Bestseller. Seitdem lebt Stevens ihren Traum, arbeitet hauptberuflich als Autorin und schafft es immer wieder, mit ihren Büchern restlos zu begeistern.

Andreas Suchanek (* 1982) verfasste bereits in Jugendjahren seine ersten Geschichten und Romane. Nach dem Studium der Informatik begann er damit, seine Geschichten hauptberuflich zu veröffentlichen. Seinen bisher größten Erfolg hatte Suchanek mit der Urban-Fantasy-Reihe Das Erbe der Macht, die mit dem Deutschen Phantastik Preis und dem LovelyBooks Leserpreis ausgezeichnet wurde. Er ist für seine gemeinen Twists bekannt.

Mit Nica Stevens verbindet ihn eine enge, jahrelange Freundschaft. Als Autorenduo Stevens & Suchanek schreiben sie rasante Thriller.

Lieferbare Titel

Rachejagd – Gequält

Rachejagd – Verraten

Stevens & Suchanek

Rachejagd

Zerstört

Thriller

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

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Copyright © 2023 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Claudia Wuttke

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Adobestock/joephotostudio

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-27468-9V001 

www.heyne.de

Prolog

15 Jahre zuvor

Der Schmerz des Verrats grub sich tief in seine Seele, sein Magen fühlte sich an wie ein in Säure getauchter Klumpen.

Selbst der eisige Wind, der auf seinen nackten Körper traf, verlor an Bedeutung. Seine zitternden Glieder, die aufgeschürfte Haut, all das war bedeutungslos. Der Sitz des Bootes war sein einziger Halt und bot doch kaum Sicherheit.

Seine Peiniger standen am Rand des Sees und blickten ihm hinterher.

Das Boot drehte sich im Kreis, getrieben vom Wind. Der See lag ruhig unter ihm. Eigentlich hatte er gar nicht mehr nach draußen gewollt, die Hütten des Sommercamps waren im aufkommenden Regen die gemütlichere Wahl.

»Ich habe dir vertraut«, flüsterte er.

Die Dunkelheit verschluckte seine Peiniger, ließ sie eins werden mit den Schatten der Bäume. Sie gingen einfach davon.

Jetzt gab es nur noch die Sterne, die Wipfel in Sichtweite und das ferne Licht der einzelnen Hütten.

Sie ließen ihn tatsächlich allein. Entführt und gequält. Vergiftet mit Verrat. Zerstört. Weggeworfen wie Dreck. Ihr Lachen hallte ihm noch immer in den Ohren.

Der Wind wurde stärker, Regentropfen mischten sich hinein. Es wurde kälter, er zitterte. Zum ersten Mal seit dem Beginn seines Martyriums atmete er auf. Sie waren endlich weg. Jetzt musste er das Boot irgendwie zurücklenken.

Er hatte nicht gewagt, ihnen zuzurufen, dass er nicht schwimmen konnte, schämte sich sowieso schon für seine Schwäche. Dabei hätte er sich mit ihnen einen Faustkampf liefern sollen, sich wehren müssen.

»Ich bin schwach«, die Worte kamen brüchig und rau über seine Lippen.

Der Wind steigerte sich, die Regentropfen peitschten ihm nun ins Gesicht. Er musste zurück an Land, wollte sich unter seiner Decke zusammenrollen und nie wieder darunter hervorkommen. In Gedanken war er bereits dort, spürte den hauchdünnen Schutz, der ihn vor der Welt verbarg.

Es fiel ihm schwer, sich im Boot zusammenzukauern. Die abrupte Verlagerung des Gewichts ließ es schaukeln, er stolperte. Oben wurde unten. Lautlos kippte er über Bord, spürte den Aufprall. Eisige Kälte überall.

Er konnte nicht länger atmen und wollte es eigentlich auch nicht. Sein Körper wurde taub, das Wasser zog ihn hinab. Warum kämpfen? Wozu sich gegen all das sträuben? Er war schwach! So war es immer gewesen, so würde es immer sein.

Wie ein Stein sank er in die Tiefe. Vor seinem inneren Auge sah er seine Peiniger. Ihr Grinsen, das endlich verblasste; wie auch der Schmerz.

Immer tiefer sank er hinab.

Er war schwach.

1. Kapitel

Gegenwart, Virginia

Kalter Wind peitschte über das weite Feld. Das Grab befand sich am Rand des kleinen Gemeindefriedhofs, der nur von einer hüfthohen Steinmauer umgeben war. Der Boden wurde bedeckt von den verfaulenden Blättern der Bäume und Büsche; durch den beständigen Regen hatte sich die Zufahrtsstraße in braunen Matsch verwandelt.

Trotzdem waren sie alle gekommen.

Dicht an dicht, gekleidet in schwarze Anzüge, mit Mienen der Trauer.

Anna ließ ihren von Tränen verschleierten Blick wandern.

Lynettes Bruder stand in der ersten Reihe, hatte sich bei seiner Frau eingehakt. Er besaß die gleiche Haarfarbe wie Lynette, ein kupfern schimmerndes Braun. Seine drei Kids standen neben ihm.

Sie schluckte und wandte den Blick schnell dem nächsten Grüppchen zu. Es waren Lynettes Kollegen, ebenfalls forensische Psychologen, die dort beieinanderstanden. Sie alle wirkten erschüttert, zeigten ihre Emotionen ganz offen. Eine ältere Frau unter ihnen tupfte ihre Tränen mit einem weißen Spitzentaschentuch ab. Es war bereits feucht.

Der Pfarrer stand neben dem Grab und wartete geduldig. Noch ein paar Minuten, dann würde er sprechen. Von Psalmen und Gleichnissen, Anekdoten über die Verstorbene. Und doch war sie für alle hier eine Fremde, dessen war Anna sich sicher. Niemand hier kannte die wahre Lynette, die sie alle mit einem unbeugsamen Willen und zielgerichteter Stärke durch diesen verdammten Sturm gelotst hatte.

Ein Sturm aus Toten, Gewalt und einem wahnsinnigen Psychopathen, der sich noch immer auf der Flucht befand. Dessen Identität bisher niemand hatte aufdecken können.

Anna berührte Nick sanft am Arm. Er stand neben ihr, verkrampfte sich reflexartig, entspannte sich aber sofort wieder. Nach außen wirkte er hart wie Granit und kalt wie Stein. Nach innen ausgehöhlt und ohne jede Emotion, kein Lachen, keine Tränen, keine Wut; er mutete an wie eine Statue.

Nur in der Nacht zerbrach diese Schale und … Sie verbot sich den Gedanken. Andernfalls wären ihr die Tränen unkontrolliert über die Wangen geflossen, wie es in den ersten Tagen so häufig geschehen war. Ein Grau in Grau aus Verlust. Wut über einen Mann, der in seiner Grausamkeit kein Limit kannte. Machtlosigkeit, die sie zu erdrücken drohte.

Sie blickte nach rechts, zu Zane. Der Wind ließ sein blondes Haar flattern. Noch nie zuvor hatte er so verloren gewirkt. Während Nick nicht den Hauch eines Gefühls zeigte, wirkte Zane einfach nur tieftraurig. Jede Minute, jeden Tag. Sie sah es in seinen Augen, in denen sich ein Meer aus Hoffnungslosigkeit spiegelte. Sie hörte es in der Stille, in der sein Lachen nicht länger erklang.

Anna verstand es.

Sie selbst hatte Jahre in diesem Zustand verbracht. Ihre Entführung hatte sie zerbrochen, zerschmettert, zerschnitten. Die Ereignisse der vergangenen Wochen hatten sie dazu gezwungen, der Angst ins Antlitz zu sehen. Sie war daran gewachsen, hatte ihr gesamtes Leben auf ein neues Fundament gestellt. Auch dank Lynette.

Der Pfarrer räusperte sich.

Stille senkte sich über die Versammelten, nur durchbrochen vom Pfeifen des Windes.

»Liebe Gemeinde, wir sind heute hier zusammengekommen …«

Seine Worte waren für Anna bedeutungslos und wurden zu einem beständigen Einerlei aus Silben, deren Sinn sich ihr nicht länger erschloss.

Lynette.

Anna glaubte, ihr freundliches Lächeln zu sehen. Und als habe ein grausamer Magier mit dem Finger geschnippt, brachen die Bilder über sie herein.

Blut. Überall war Blut. Anna stand in Schockstarre in der Hotelzimmertür und blickte auf Lynette. Sie lag inmitten des Raums, ein Messer steckte in ihrem Oberkörper.

»9-1-1, sofort!«, brüllte Mike und riss sein Telefon ans Ohr.

Der Hotelangestellte, der sie ins Zimmer gelassen hatte, reagierte wie ein Roboter. Abgehackt und langsam wich er immer weiter zurück. Ganz im Gegenteil zu Nick, der mit einem Satz bei Lynette war und neben ihr auf die Knie sank.

Es krachte, der Teller mit dem Essen für Lynette zersplitterte, als Zane ihn fallen ließ. Das Geräusch durchbrach Annas Starre, sie rannte zu Nick.

»Sie hat keinen Puls mehr«, schrie er.

Lynettes Gesicht wirkte bleich wie Porzellan, ihre Augen starrten blicklos zur Decke. Eine Hand lag neben dem Körper, die andere auf ihrem Bauch, am Griff des Messers. Hatte sie noch versucht, es wieder herauszuziehen?

»Sie darf nicht bluten«, keuchte Nick.

Er drückte seine Hände auf die Wunde, obgleich nichts mehr aus ihr heraussickerte.

»Nick«, sagte Anna sanft, ihre Stimme brach.

»Wo bleibt der Krankenwagen?!«, brüllte er Mike an.

»G…gleich da«, presste dieser hervor.

Nick fuhr sich fahrig über die Stirn, hinterließ einen schmierigen Streifen Blut auf der Haut. Längst liefen ihm Tränen über die Wangen, doch er schien es gar nicht zu bemerken. Seine Hände legten sich wieder auf die Wunde, umschlossen auf diese Art ebenfalls das Messer. Als wollte er verhindern, dass Lynettes Leben irgendwie durch den Schnitt entkam.

Anna suchte nach einem Halt, lehnte sich mit der Schulter gegen die Wand. Sie blickte zum Eingang. Zane stand noch immer dort. Die Augen weit aufgerissen, der Körper wie erstarrt. Er regte sich nicht, betrachtete nur die Szene.

Ihre Erinnerung verblasste.

»… dass alles endlich ist«, sagte der Pfarrer. »Lynette McKenzie hat sich in ihrem Leben für die Aufklärung von Verbrechen eingesetzt, half Menschen, die in psychischer Not gefangen waren. Sie hat die Natur geliebt, weshalb sie einen Teil ihrer Einnahmen an verschiedene Umweltschutzorganisationen spendete. Ihre Arbeit war ihre Leidenschaft, da blieb für ein Familienleben keine Zeit. Sie hinterlässt ihren Bruder, ihre Schwägerin, ihre zwei Nichten Hailey und Kelly und ihren Neffen Jimmy.«

Überall wurden die Schluchzer lauter. Die Kinder klammerten sich an ihre Eltern. Selbst Mike, der direkt neben Zane stand, zog ein Taschentuch hervor und schnäuzte hinein. Da Mike nicht länger in die Ermittlungen involviert war, konnte er für Nick da sein. Längst hatte die Presse die Berichterstattung wieder aufgenommen, und es war dem Pfarrer zu verdanken, dass sich niemand bis hierher gewagt hatte. Kein Blitzlicht, keine neugierigen Blicke. Er hatte eindringlich darum gebeten, der Familie und den Freunden das Abschiednehmen nicht noch schwerer zu machen.

»Möchte jemand der hier Anwesenden der Verstorbenen noch ein paar Abschiedsworte mit auf den letzten Weg geben?«, fragte der Pfarrer und trat einen Schritt zur Seite.

Der Sarg war in die Grube hinabgelassen worden, aber erst wenn die Trauergäste den Friedhof verlassen hatten, würde das Grab zugeschüttet werden. Anna glaubte, das Prasseln von Erde bereits zu hören. Später käme dann der Stein und würde das Ende besiegeln.

Erst mit Verzögerung bemerkte sie, dass Nick sich nicht bewegt hatte. Sie berührte ihn am Arm, bedachte ihn mit einem fragenden Blick. Er hatte etwas sagen, hatte den Anwesenden klarmachen wollen, was Lynettes Verlust bedeutete. Doch unter ihren tastenden Fingern spürte sie nur verhärtete Muskeln. Nick war völlig verkrampft.

Er starrte auf das Grab, reagierte auf gar nichts.

Anna riss die Augen auf, als Zane sich stattdessen in Bewegung setzte. Zuerst zögerlich, dann schneller ging er zum Grab, wandte sich der Menge zu.

Die ersten Regentropfen fielen und mit ihnen wieder einzelne Erinnerungsbilder.

»Nick«, flüsterte sie und ging auf die Knie, da ihre zittrigen Beine sie nicht länger halten wollten.

»Nein.« Er schüttelte unentwegt den Kopf. »Es kann nicht sein. Wir haben gewonnen, er ist abgehauen. Irgendwohin nach Kanada. Wie soll er da hier hereinspazieren und Lynette einfach so … Sie kommt durch.« Nun nickte er. »Und dann schnappen wir ihn uns. Wir sind doch ein Team.«

Anna betrachtete Lynette und erkannte keinerlei Leben mehr in ihrem Blick. Was sie einst gewesen war, war fort. »Sie ist gegangen«, brach es aus ihr heraus, ihrer Kehle entwich ein kraftloses Schluchzen.

»Nein.« Nicks Stimme war nur noch ein heiseres Krächzen. »Nein.« Mit jedem Wort wurde er leiser, floss ein wenig mehr Kraft aus ihm heraus.

Vor der Tür erklangen Stiefelschritte.

Anna rang nach Atem. Sie hatte das Gefühl, jemand drückte ihr den Brustkorb zusammen. Vorsichtig umklammerte sie Nicks Handgelenke und löste sie von der Wunde. Die Rettungssanitäter stürmten herein, dicht gefolgt von Polizisten. Mike hatte wohl auch diese verständigt.

»Kein Puls«, sagte die Sanitäterin.

Kurz darauf schüttelte ihr Kollege den Kopf.

»Nein«, hauchte Nick wieder und wieder, doch kaum noch hörbar.

Eine letzte Träne rann über seine Wange, vermischte sich mit Lynettes Blut.

Anna zitterte. Ihr Blick suchte Zane. Er war verschwunden.

»Ich bin nicht gut darin, neue Freunde zu finden«, sagte Zane und holte Anna damit aus der Erinnerung zurück. Er räusperte sich und sprach dann lauter. »Es ist leicht, mit Menschen bei der Arbeit zu sprechen oder bei Dates. Aber echte Freunde zu finden, ich meine: echte Freunde!,das ist schwer. Irgendwann stand Lynette vor mir, und wir haben angefangen, uns zu unterhalten. Alle sagen immer: Du bist doch Informatiker, kannst du mir helfen? Oder: Kannst du dich da mal einhacken?«

Er musste kurz innehalten, die Tränen rannen unaufhörlich.

»Lynette wollte nichts von mir. Wir haben einfach geredet, und es war schön. Die letzten Wochen waren die schrecklichsten in meinem Leben. Jemand war bei mir eingebrochen und hat auf mich geschossen, ich lag im Krankenhaus. Dann wurde Anna entführt, später Nick. Es sind so viele Menschen gestorben, aber eine Sache hat sich nie verändert. Lynette. Sie war nie ängstlich, nie hektisch, nie traurig. Irgendwie behielt sie immer die Kontrolle. Wie ein Stein in einem Flussbett. Ein sanfter, freundlicher Stein.«

Anna wollte zu ihm gehen, ihn stützen und von ihm gestützt werden. Doch sie war wie festgenagelt.

»Und das hat es mir letztlich klargemacht«, fuhr Zane fort. »Alle Menschen wollten von Lynette, dass sie genau so ist. Sie wurde nicht gefragt: Kannst du mir helfen? Oder: Hackst du dich mal in eine Datenbank? Von ihr wurde einfach erwartet, dass sie die Kontrolle behält. Dass sie Wege vorgibt und stark ist. Dass sie Lynette ist.«

Anna riss die Hand vor den Mund und schluchzte auf, als sie Zanes Worte begriff.

»So haben wir Lynette alle gesehen. Ja, sie war eine Freundin. Und doch habe ich viel zu wenig von ihr gekannt. Das hätte ich gerne geändert, hätte sie gerne wirklich kennengelernt. Den Menschen Lynette McKenzie, nicht die Psychologin. Aber all das kann ich jetzt nicht mehr tun. Ihr Lachen, ihr Weinen, all die Facetten ihres Lebens sind fort. Was ist das für eine Welt, die einen Menschen hervorbringt, der so etwas Kostbares einfach zerstört?«

Damit ging er davon, wie er es bereits im Hotel getan hatte. Versunken in seiner eigenen, traurigen Welt.

Annas Herz zog sich zusammen, es fühlte sich kalt an, leer. Sie hatten an einen Sieg geglaubt und standen jetzt vor einem Trümmerhaufen.

Die Regentropfen wurden stärker.

Lynettes Bruder trat nach vorne, um ein paar Worte zu ergänzen. Über ihre gemeinsame Kindheit, das Leben im ländlichen Virginia und Lynettes frühe Fähigkeiten, andere zu durchschauen, die ihre Eltern oftmals zur Weißglut gebracht hatten. Er berichtete von einem Fall, bei dem die neunjährige Lynette sich die Brille des Vaters stibitzt hatte und beide Eltern im Verlauf eines Streits analysierte und Lösungen vorschlug.

Anna wollte Lynette auch gern ein paar letzte Worte mit auf den Weg geben. Aber sie hätte in diesem schmerzvollen Augenblick niemals die richtigen finden können. In Gedanken nahm sie von ihr Abschied, dankte ihr für die seelische Unterstützung. Sie würde Lynette nie vergessen.

Der Pfarrer schloss mit einem Gebet, dann war es an jedem Besucher, Erde auf den Sarg rieseln zu lassen und eine Blume daraufzuwerfen.

Nick hatte sich mittlerweile wieder unter Kontrolle, bewegte sich aber langsam. Sein Humpeln nach dem Sturz vom Dach des botanischen Gartens war von Tag zu Tag schwächer geworden, heute nahm Anna es kaum noch wahr.

Die Trauergemeinde löste sich auf, die Besucher strömten zu ihren Autos, um zu einem nahen Gasthaus zu fahren. Dort hatte Lynettes Bruder das Traueressen bestellt. Nick, Zane, Mike und sie würden nicht daran teilnehmen. Die Familie hatte klargemacht, dass sie niemanden von den Strafverfolgungsbehörden dabeihaben wollten. Immerhin hatten diese Lynette das Leben gekostet.

Der Pfarrer ging ebenfalls.

Anna, Nick und Mike standen noch immer vor dem Grab und sahen ein letztes Mal auf Lynettes mit Blumen geschmückten Sarg hinab.

»Am Ende sind wir alle gleich«, flüsterte Nick.

Anna wusste nichts zu sagen und schwieg.

2. Kapitel

Der Regen wollte einfach nicht nachlassen und prasselte mit der Macht eines typischen Wintertages gegen die Fenster des Cafés. Wie Tränen floss das Wasser herab. Die übrigen Häuser der verlassenen Straße zeichneten sich verschwommen dahinter ab.

Nick starrte hinaus. In seinem Inneren gab es nur noch Schwere und Verlust. Alles war in Grau getaucht.

»Das dürfte reichen.« Annas Finger berührten sanft seine Hand, hinderten ihn daran, weiter den Kaffee umzurühren. »Sonst wird aus der Milch Schlagsahne.«

Er stoppte die Bewegung, schlug den Löffel an der Tasse ab und legte ihn auf den Untersetzer. Mit dem ersten Schluck erinnerte er sich daran, dass Kaffee in der Regel heiß war. Das Porzellan klirrte, als er die Tasse wieder abstellte.

»Lippe verbrannt?«, fragte Mike, ein schiefes Lächeln auf dem Gesicht.

Nick schwieg.

Sie waren mit einem Leihwagen zur Beerdigung und dann hierhergefahren, das Café lag in der Nähe des Motels, in dem sie bis morgen untergekommen waren. Zane war nach seiner Grabrede zur alten Schweigsamkeit zurückgekehrt.

Seine Worte hatten Nick tief bewegt. Lynette und er waren mehr gewesen als bloße Arbeitskollegen. Zuerst hatten sie einander geschätzt, doch schnell war daraus gegenseitige Sympathie geworden.

Nick erinnerte sich noch gut an den Augenblick, als er endgültig realisierte, wie sie zu ihrem Ruf gekommen sein musste. Sie hatten in einer Wohnung vier junge Menschen tot aufgefunden. Allesamt Studenten einer nahe gelegenen Universität. Es hatte Befragungen gegeben. Einer von ihnen hatte eine Affäre mit einem Professor gehabt. Gleichzeitig lag die Wohnung in einem Gebiet, in dem auch Drogen verkauft wurden, und ein anderer der Studenten hatte gerne mal einen Joint geraucht. Die Dritte im Bunde wiederum war schwanger von einem verheirateten Mann. Spannend wurde es, als sich die Vierte als Nichte einer Unterweltgröße entpuppte.

Drei Wochen war ein Einsatzteam aus zwölf Personen damit beschäftigt gewesen, die Lebensläufe zu prüfen, Daten auszuwerten und Theorien zu entwickeln.

Lynette kam gegen Ende hinzu, um die Profile noch einmal zu schärfen. Sie betrat das Haus, setzte sich in die Wohnung und schwieg.

Schließlich war sie mit Nick ein Stockwerk nach unten gegangen, wo eine nette ältere Dame lebte. Im Laufe des Gesprächs hatte sie diese ganz nonchalant immer weiter in die Enge getrieben. Die Studenten waren zu laut gewesen. Deshalb hatte sie sie vergiftet. Lynette brachte die Giftmörderin dazu, eine Jacke überzustreifen, und gemeinsam lieferten sie sie auf dem Polizeirevier ab.

Das Ergebnis hatte einen Tobsuchtsanfall von Noriss zur Folge gehabt und Lynette gleichzeitig zur ungekrönten Königin ihres Fachbereichs gemacht. Danach hatte sie Nick ein Pint in einem britischen Pub in D.C. ausgegeben.

Nick setzte die Tasse erneut an die Lippen und trank. Dieses Mal verbrannte er sich nicht.

»Du hältst finanziell noch durch?«, fragte Mike und riss ihn damit aus der Melancholie.

»Rücklagen«, sagte Nick. »Erträgst du Noriss?«

»Der spricht aktuell kein Wort mit mir.« Mike winkte ab. »Auf meinem Schreibtisch stapeln sich die unwichtigen Fälle, und ich muss jeden Abend ein exaktes Protokoll abliefern. Einstweilen hänge ich an der kurzen Leine.«

Es war reines Glück, dass Mike nicht ebenfalls in den unbezahlten Urlaub versetzt worden war.

»Du hast also keine Ahnung, was sie gerade unternehmen?«, fragte Anna.

Nick hatte mit Mike bereits am Morgen kurz darüber gesprochen. Noriss hatte eine absolute Kontaktsperre selbst innerhalb des Departments verhängt. Tatsächlich hatte Nick aber gehofft, dass ein paar Kontakte ausreichten, um an Informationen zu gelangen.

»Keine«, sagte Mike bitter und nippte an seinem Cappuccino. »Da herrscht komplette Funkstille. Noriss hat jedem verdeutlicht, dass man beim FBI auch ans Limit seiner Karriere gelangen kann, wenn Interna abfließen. Du warst sein Beispiel.«

»Als ob ich das je getan hätte«, sagte Nick.

»Der Name Anna Jones fiel ebenfalls«, ergänzte Mike. »Als Journalistin gehörst du ja quasi zum Feind.« Er rollte mit den Augen.

»Euer Chef hat wirklich von vorne bis hinten Mist gebaut, und jetzt schiebt er es uns in die Schuhe.« Anna schnaubte. »Aber ehrlich gesagt, ist mir das egal. Solange sie diesen Scheißkerl nur kriegen. In Kanada war er auf jeden Fall nicht, als er Lynette ein Messer …« Ihre Stimme verebbte, und zum ersten Mal konnte Nick eine Ahnung von dem Schmerz erhaschen, der unter Annas Stärke durchschimmerte.

»Es kann auch eines seiner Werkzeuge gewesen sein«, warf Mike ein. »Vergessen wir nicht, dass er ein großes Netzwerk zu besitzen scheint. Doktor Falsi gehörte dazu, ebenso der Mann, der sich als Garry Thatcher ausgab. Wie wir mittlerweile ja wissen, ist sein richtiger Name Ted Hall, er war bei der Army, wurde aber aufgrund eines Vorfalls unehrenhaft entlassen. An die Details komme ich leider nicht ran, die Akte ist versiegelt. Es würde mich nicht wundern, wenn unser Unbekannter also einfach jemanden auf Lynette angesetzt hat.«

Mike hatte ihm diese neuen Informationen erst vorgestern Abend geschickt, doch gemeinsam mit Anna hatte Nick längst einen Plan gefasst.

»Die Spurensicherung hat nichts gefunden?«, fragte Anna.

»Laut Nancy nicht«, erwiderte Mike.

Nick war im Stillen dankbar, dass wenigstens der Kontakt zu Nancy Pane nicht unter den Ereignissen gelitten hatte. Sie gehörte zur Spurensicherung und besaß weitreichende Beziehungen zu Kollegen in anderen Bundesstaaten. »Hätte nicht gedacht, dass sie etwas aus dem SpuSi-Kerl aus Detroit rauskitzeln kann.«

Mike nickte zufrieden. »Nancy ist klasse. Hat nur leider nichts gebracht. Wer auch immer dafür verantwortlich war, hat nicht ein Haar zurückgelassen.«

»Seit CSI weiß doch jeder, wie er DNA-Rückstände vermeiden kann, Kameras umgeht und was sonst noch problematisch werden kann«, sagte Nick.

Die Kollegen von der Spurensicherung hätten die Ausstrahlung der Serie am liebsten gestoppt, was natürlich nur Wunschdenken war.

»Ob es jetzt er selbst war oder ein Werkzeug, das ist doch egal.« Seinen Milchkaffee hatte Zane nicht angerührt, die Hände zitterten leicht. »Wir müssen ihn kriegen! Das kann doch kein Idiot wie Noriss erledigen. Der prüft erst mal zwanzig Formulare, bevor er jemanden irgendwohin schickt.«

»Vergiss nicht, dass ihm jetzt die Presse des gesamten Landes und mehrere Polizeipräsidenten und Gouverneure im Nacken sitzen«, gab Mike zu bedenken. »Wenn das so weitergeht, klingelt irgendwann der Justizminister an.«

Nick hatte es satt, Annas oder sein eigenes Bild in der Zeitung zu sehen. Natürlich hatte die Presse längst alle Zusammenhänge hergestellt und breitete das Debakel genüsslich aus. Der Tod von Lynette hatte den Fokus verschoben, es gab sogar Artikel über sie und ihre Arbeit.

»Wir können das auf keinen Fall dem FBI überlassen«, stellte Zane klar. »Das sind wir ihr schuldig.«

»Zane …«, begann Mike.

Doch Nick schüttelte den Kopf. »Er hat recht. Wir mögen ja nicht mehr die Ressourcen des FBI im Rücken haben, aber das geht so nicht. Dieser Kerl hat Anna und mich gezielt attackiert. Und auch diese Sache mit Roger war seltsam. Er hatte ihn eindeutig als Ziel, schließlich begann das alles, als wir noch in Chicago mit Natalie beschäftigt waren. Aber er hat seinen Plan angepasst.«

»Und uns ins Visier genommen.« Anna nickte zustimmend und nahm den Faden auf. »Er hat deinen Dad beinahe getötet, deine Mom entführt und schließlich dich. Vergessen wir nicht das Nervengift. Dieser gesamte Plan muss verdammt gut vorbereitet worden sein.«

»Wie wollt ihr denn ganz ohne Hilfe vorankommen?«, fragte Mike.

»Willst du das als Freund oder als FBI-Agent wissen?«, hakte Nick nach.

»Dass du das nach allem, was passiert ist, überhaupt noch fragst.«

Nick spürte den Stich eines schlechten Gewissens. »Entschuldige. Aber noch kannst du abstreiten, irgendetwas gewusst zu haben.«

Mike lachte schallend. »Als ob mir Noriss das glauben würde.«

»Stimmt auch wieder«, gab Nick zu.

Noriss hatte Anna, Zane und ihm Personenschutz zuweisen wollen, aber sie hatten bewusst darauf verzichtet, um leichter untertauchen und weiterhin selbst ermitteln zu können.

Er wechselte einen kurzen Blick mit Anna, die sich bisher an einer Cola festgehalten hatte.

»Ich habe ein wenig die Fühler ausgestreckt«, sagte sie. »Mein Chefredakteur – Winston Brown – hat ein paar Kontakte spielen lassen. Da die Redaktion sowieso etwas über Garry Thatcher schreiben möchte, haben sie in dessen Vergangenheit gegraben. Wusstest du, dass er in der gleichen Basis gedient hat wie Rogers Vater?«

Mike verneinte. »Wie gesagt, meine Ermittlungen beschränken sich aktuell auf Zeugenbefragungen in Verdachtsfällen von Steuerhinterziehung im großen Stil.« Nick sah ihn mitleidig an. Eine derartige Herabsetzung war in der Regel nur schwer zu ertragen.

»Rogers Vater lebt in Detroit«, führte Anna weiter aus. »Nick und ich haben bereits darüber gesprochen, ich werde ihn aufsuchen und um Einsicht in die Akte von Hall bitten.«

Nick spürte, wie sein Magen sich verkrampfte. »Ein paar Tage kannst du aber noch warten.«

»Du weißt genau, dass jeder Tag zählt«, erwiderte sie. »Außerdem hat Rogers Vater mir heute Morgen den Termin auf der Basis bestätigt.«

Nick fuhr sich fahrig durch das Haar. »Ich muss nach meinen Eltern sehen. Das kann ich nicht aufschieben, nicht nach dem, was passiert ist.«

»Sie stehen doch unter Polizeischutz«, warf Mike ein.

»Und haben keine Ahnung, was eigentlich vorgeht«, stellte Nick klar. »Meine Mutter war in einem Glaskasten an eine Liege gefesselt und wurde beinahe durch Säure getötet. Ich muss nach ihnen sehen.«

»Darf ich einen Vorschlag machen«, sagte Mike. »Ich meine, bevor ihr euch an die Gurgel geht. Ich fliege mit Anna nach Detroit, wir besuchen Rogers Vater gemeinsam. Aber sobald ihr die Unterlagen durchgearbeitet habt, leitet ihr sie ans FBI weiter. Als Zeichen des guten Willens und so.«

»Klingt nach einem Plan«, sagte Nick. »Und in der Zwischenzeit kümmern Zane und ich uns um eine neue Unterkunft, in der dieser Irre uns nicht sofort findet.«

Und das Ganze möglichst ohne irgendeinen Polizeischutz, der an ihren Fersen klebte. Letztlich hatte der Unbekannte mehrfach bewiesen, dass Deputys für ihn lediglich Kanonenfutter waren. Er schaltete sie aus, um an sein Ziel zu gelangen.

»Vielleicht kann ich da was machen«, sagte Zane leise, starrte aber sofort wieder hinaus in den Regen.

In den herabrinnenden Wassertropfen spiegelten sich die Lichter der vorbeifahrenden Autos. Das Leben ging einfach weiter. Nur Lynette war nicht länger ein Teil davon.

Nick sah Annas entschlossenen Blick, den verlorenen von Zane. Und irgendwo dazwischen war er selbst. Müde, kraftlos, wenn auch nicht gänzlich gebrochen. Noch nicht.

Immer wieder dachte er an seine Mutter, wie sie in der Gaskammer lag. Sah Sarah in ihrem Hochzeitskleid, die sterblichen Überreste seines Bruders TJ.

In seinen Albträumen vermengte sich all das zu einer grausamen Realität. Er hatte aufgehört zu zählen, wie oft er schweißgebadet, mit Tränen auf den Wangen, erwacht war. Dann vermochten es nur Annas Arme, ihn vorm Ertrinken in der Verzweiflung zu bewahren. Sie hielt ihn, während er wieder wegdämmerte.

All das würde erst aufhören, wenn sie ihren Peiniger endlich stellten. Sie waren von Anfang an die Beute eines Jägers gewesen. Ihre einzige Chance zu überleben, bestand darin, selbst zu Jägern zu werden.

3. Kapitel

15 Jahre zuvor

Die Panik übermannte ihn, hielt ihn trotz seiner Schwäche am Leben.

Er riss die Augen auf. Schwärze hüllte ihn wie ein bleischwerer Mantel ein. Kälte stach ihm tausendfach in die Haut, wie spitze Nägel. Über ihm durchbrach ein Leuchten die Dunkelheit, rief ihn zurück ins Leben. Er strampelte ihm entgegen.

Schwimmen hatte er nie gelernt. Einzig fahrige Bewegungen ließen ihn durch die Wasseroberfläche brechen. Er schrie und hustete gleichzeitig kehlig auf. Bevor er auch nur einen Atemzug machen konnte, zog ihn erneut eine Welle hinab.

Er schlug mit den Armen um sich, tastete nach dem Boot, das ihn hart an der Schulter traf und über ihn hinwegtrieb. Noch einmal schaffte er es an die Oberfläche, hustete und würgte, während er der rettenden Insel aus Holz hinterherstrampelte und das angebrachte Seil zu fassen bekam.

Verzweifelt rang er nach Luft, doch seine Lunge streikte. Ein brennender Schmerz brannte in seinem Kehlkopf. Die wilde Strömung war gnadenlos, drückte ihn immer wieder nach unten. Nur durch das Seil hatte er noch eine Chance.

Er klammerte sich daran fest, zog sich Stück für Stück näher an das Boot heran, bis er die Arme über die Bordwand schlingen konnte. Im ersten Moment dachte er, das Ruderboot würde durch sein Gewicht kippen. Doch es blieb schräg auf dem Wasser, und er legte seinen Kopf erschöpft auf die Bootskante. Seine Kraft reichte unmöglich aus, um sich ins Boot zu hieven. Er musste so ausharren und konnte nur hoffen, dass der Sturm schnell nachließ und jemand ihn fand.

Sein Herz sprang ihm beinahe aus der Brust. Aber es schlug noch, wenn auch unregelmäßig. Er war schwach und doch stärker, als er geglaubt hatte. Niemand hatte ihm geholfen, er hatte es allein aus der verschlingenden Tiefe nach oben geschafft.

Er musste an seinen Vater denken, hörte ihn höhnisch lachen und ihm zurufen, dass er sowieso gegen das Unwetter verlieren würde und besser gleich aufgeben sollte; wahrscheinlich wäre er sogar dankbar, wenn sein Sohn verschwinden würde. Und seine Mutter befand sich im Dauerrausch. Die bemerkte gar nichts. Er war für alle nur Ballast. Obwohl er niemandem etwas tat, hatte er keine Freunde. Wer würde ihn vermissen?

Seine Gedanken schweiften zu Anna, von der er fast jede Nacht träumte und sich darauf freute, am Morgen mit ihr im Bus zur Schule zu fahren. Doch sobald sie dort eintrafen, wandte sie sich stets von ihm ab. Er passte nicht zu ihrer coolen Clique, und heute hatte sie ihn sogar verraten, hatte ihn ihren Freunden überlassen und stumm dabei zugesehen, wie sie ihn demütigten.

Trotz der Gischt, die ihm ins Gesicht peitschte, schmeckte er das Salz seiner Tränen. Er fror bitterlich, konnte nicht verhindern, dass seine Zähne immerzu gegeneinanderstießen.

Am Nachthimmel wachte zwischen Wolkenfetzen hindurch der Mond über ihn. Sein Licht schenkte ihm Trost. Die erhellten Fenster der Hütten in der Ferne schienen ihn hingegen zu verhöhnen. Er fürchtete sich davor, dorthin zurückzukehren. Sie hatten ihn bis ins Mark erniedrigt, hatten ihn nackt gesehen. Anna, Nick, Roger und Paige …

Er schaffte es kaum noch, die Augen offen zu halten. Seine Arme wurden zunehmend schlaffer, er drohte von der Bordwand abzurutschen. Allein der Gedanke an die vier Freunde gab ihm die notwendige Kraft, nicht aufzugeben.

Sie glaubten, ihn gebrochen zu haben. Doch er war noch hier. In ihm schlummerte etwas, von dem er bis jetzt selbst nichts geahnt hatte. Da war nicht nur Schwäche, da war auch ein Wille. Je länger er dem Sturm ausgesetzt war, desto mehr manifestierte sich in ihm der Wunsch nach Vergeltung. Er hatte sich selbst bewiesen, dass er nicht armselig war. Und das wollte er auch ihnen beweisen.

Anna, Nick, Roger und Paige.

Er wiederholte ihre Namen wie ein Mantra.

Der Wind ließ jetzt spürbar nach. Die Wellen verloren an Kraft, und er schaffte es mit mühevollen Beinschlägen, sich mit dem Boot immer weiter dem Ufer zu nähern. Er schleppte sich an Land und brach dort zusammen. Es regnete nach wie vor.

Jeder Atemzug bereitete ihm Schmerzen. Ein krampfartiges Husten quälte sich aus seinem Brustkorb. Er presste sich die zitternden Hände auf den Bauch und krümmte sich, während er sich schwallweise erbrach.

Neben sich, in einer Pfütze, sah er im flackernden Licht des Mondes sein verschwommenes Antlitz. Er schlug mit der Faust hinein, sodass das Wasser in alle Richtungen spritzte. Dann kam er schwankend auf die Beine.

Er wusste nicht, ob sie seine Sachen am Steg zurückgelassen hatten. Der Weg dorthin war ohnehin zu weit. Wenn er seinen nackten kalten Körper nicht schnellstmöglich wärmte, würde er im Krankenhaus landen, und dann würden alle erfahren, was er in dieser Nacht durchlebt hatte. Doch diese Genugtuung durfte er ihnen nicht geben. Sie würden sich danach noch mehr über ihn lustig machen.

Seine Glieder waren schon ganz steif. Er rieb sich immerzu über die nackte Haut und zwang sich Schritt für Schritt vorwärts, bis er die Hütten des Sommercamps vor sich sah. Nur noch in wenigen brannte Licht, draußen war keine Menschenseele zu entdecken. Vermutlich hatten sie nicht einmal bemerkt, dass er fehlte.

Er bedeckte seine Blöße mit den Händen, schlich sich von Schatten zu Schatten und ging immer wieder hinter einer Wand in Deckung. Schon sah er die Hütte, die er sich mit einem anderen unbeliebten Jungen teilte. Kurz vor dem Ziel durfte er auf keinen Fall entdeckt werden. Was heute geschehen war, musste sein Geheimnis bleiben. Niemand sollte ahnen, wie sehr sie ihn gedemütigt hatten.

So leise wie möglich schob er sich durch die Tür. Sein Klassenkamerad schlief bereits. War ihm denn überhaupt nicht in den Sinn gekommen, sein Fehlen zu melden? Oder hatte Annas Clique ihn sich vielleicht vorgenommen und es ihm verboten?, überlegte er.

Seine Zähne klapperten noch immer aufeinander. Kurz rieb er sich mit einem Handtuch trocken, schlüpfte dann in seinen Schlafanzug und verkroch sich unter der Bettdecke.

Anna, Nick, Roger und Paige.

Sein Bettnachbar zeigte keinerlei Regung, er selbst konnte seinen zitternden Körper kaum unter Kontrolle halten. Es vergingen etliche Minuten, bis etwas Wärme in seine verkrampften Glieder zurückkehrte.

Anna, Nick, Roger und Paige.

Die Namen begleiteten ihn in den Schlaf.

4. Kapitel

Als Pressevertreterin hatte Anna einen offiziellen Termin für ein Gespräch mit Rogers Vater erhalten, allerdings erst nachdem sie sich als alte Schulfreundin seines Sohnes zu erkennen gegeben hatte. Und nicht, wie sie es sich vorgestellt hatte, bei ihm zu Hause in privater Atmosphäre, sondern am Stützpunkt in seinem Büro.

Mike schlief während des Fluges. Sie saß neben ihm am Fenster und schaute auf die Wolken.

So richtig konnte sie noch nicht fassen, dass sie Lynette niemals wiedersehen würde. Es brach Anna das Herz, daran zu denken, wie sehr sie während ihrer letzten Atemzüge gelitten haben musste. Abends, wenn sie im Bett lag und keinen Schlaf fand, sah sie Lynette blutend im Hotelzimmer liegen. Der Blick leer – seelenlos. Immerzu fragte sie sich, ob ihr Mörder sie zurückgelassen oder ihr beim Sterben zugesehen hatte. Ihr fuhr ein Schauer über den Rücken, wenn sie an den psychopathischen Killer dachte.

Wo war er gerade? Plante er schon den nächsten Übergriff? Was ging in seinem irren Kopf vor?

»Woran denkst du?«, fragte Mike.

Sie wandte sich ihm zu. Er verharrte noch immer in seiner Schlafposition, die Stirn gegen die seitliche Kopfstütze gepresst. Doch seine Augen waren nun offen, und er sah sie müde an.

»Mal wieder an diesen Mistkerl.« Sie rieb sich die Nasenwurzel. »Du hast nicht zufällig einen Tipp, wie ich ihn wenigstens für ein paar Minuten aus meinen Gedanken bekomme?«

»Glaub mir, wenn ich das wüsste, würde ich sofort ein Patent anmelden«, erwiderte er, richtete sich auf und strich sich mit der flachen Hand übers Gesicht.

»Du hast den Kopf auch ständig voll, was?«

Er nickte. »Sie haben uns schon in der Ausbildung gepredigt, dass man den ganzen Mist nicht mit nach Hause schleppen soll. Tja, was soll ich sagen? Das ist leichter gesagt als getan. Ich bin im Abschalten nicht der Beste.«

Anna seufzte. »Sprichst du mit deiner Freundin darüber? Ich meine, klar, keine Details, aber …«

»Nein«, erwiderte er, bevor sie ausgesprochen hatte. Er setzte sich auf und wandte sich ihr vollends zu. »Amelia und ich gehen gerade durch eine schwierige Phase. Und sie macht sich schon genug Sorgen wegen meines Jobs. Die will ich nicht noch mit Geschichten über Mörder unnötig anheizen.« Mike richtete den Blick nach vorn und starrte auf die Kopflehne des Vordersitzes.

Sie konnte zusehen, wie sich seine Miene immer weiter verfinsterte. Aber es stand ihr nicht zu, sich nach seinen privaten Problemen zu erkundigen. Sie streifte nur kurz mit der Hand seinen Unterarm und hoffte, dass er die Geste als Zuspruch auffasste.

Er presste die Lippen aufeinander und sah sie wieder an. »Wir versuchen uns schon länger an der Familienplanung«, sagte er zögernd. »Irgendwie will es nicht klappen.«

Anna wusste darauf nichts zu antworten. Stattdessen nickte sie nur verständnisvoll.

»Wie ist es bei Nick und dir?«, fragte er.

Sie zuckte unwillkürlich zusammen. Ein Baby war das Letzte, woran sie dachte. Nick und sie hatten gerade erst wieder zusammengefunden, und bei allem, was sie durchgemacht hatten, konnte sie sich nicht ansatzweise vorstellen, Verantwortung für ein Kind zu übernehmen. Sie war von der ständigen Gefahr und all dem Leid und Verlust, die damit einhergingen, so unermesslich erschöpft. Ihre Kraft reichte gerade noch für sie allein, und das würde wohl nach all dem Erlebten auch so bleiben. Vielleicht für immer.

»Redet ihr über die Geschehnisse, wenn ihr allein seid, oder schweigt ihr sie tot?«, hakte Mike nach.

Erleichtert über seine Frage, atmete sie hörbar aus. »Wir sprechen viel«, antwortete sie.

Ein Steward informierte über die Freisprechanlage, dass sie sich mittlerweile im Landeanflug befanden, und forderte alle Passagiere dazu auf, die Gurte wieder anzulegen.

Anna hatte das Gespräch mit Mike aufgewühlt, und sie versuchte, sich an Rogers Vater zu erinnern. Sie war Mr. Beckett, einem durchtrainierten Mann mit kurz geschorenen roten Haaren und Aknenarben im Gesicht, in ihrer Jugend immer mal wieder begegnet, wenn sie sich bei Roger zu Hause getroffen hatten. Er war schon damals als ranghoher Offizier im Detroiter Militärstützpunkt stationiert gewesen und nur jedes zweite Wochenende bei seiner Familie. Durch seine Kontakte hatte Roger in dem Forschungslabor Fuß gefasst, das nun in Schutt und Asche lag. Er war Biologe geworden und später in militärische Projekte involviert gewesen. Seit seine Eltern sich vor Jahren hatten scheiden lassen, lebte der Vater durchgängig in Detroit. Und nun musste er nicht nur den Tod seines Sohnes verschmerzen, sondern auch damit zurechtkommen, dass dieser, um sein Leben nach einer Injektion mit Nervengift zu retten, einem Killer Zugang zum Labor verschafft hatte und selbst zum Mörder geworden war. Das alles, um vielleicht mit dem Leben davonzukommen, was ihm am Ende nicht gelungen war.

Anna zuckte zusammen, als das Flugzeug mit einem kräftigen Ruck aufsetzte. Während sie langsam Richtung Gate rollten, schaltete sie auf ihrem Smartphone den Flugmodus aus, checkte ihre Mails und schrieb Nick eine Nachricht, dass sie gut gelandet waren. Sie war froh, dass er endlich ein neues Telefon besaß und wieder erreichbar war.

Mike stand auf, trat in den Gang, nahm das Handgepäck aus den Fächern und reichte Anna ihre Tasche. Mehr hatte sie nicht dabei. Nick hatte ihren Koffer schon mit nach Chicago genommen. Je nachdem, wie lange die Unterredung mit Rogers Vater dauerte, flog sie heute noch zurück oder blieb eine Nacht in Detroit.

Sie reihte sich nach Mike in die Schlange ein und spähte ungeduldig nach vorn, wo ein Steward die Passagiere an der Tür verabschiedete.

Als sie eine Berührung am Rücken spürte, fuhr ihr ein kalter Schauer über die Haut. Ihre Nerven lagen noch immer blank. Sie drehte sich ruckartig um und streckte abwehrend die Hände aus. Erst in letzter Sekunde erkannte sie, dass die Frau hinter ihr blind war.

»Verzeihung«, sagte diese, den Kopf geradeaus gerichtet und die Augen hinter dunklen Brillengläsern verborgen.

»Es geht gleich weiter«, entgegnete Anna, wandte sich wieder nach vorn und atmete tief ein und aus.

Nachdem sie die Maschine verlassen hatten, erreichten sie über die Gangway das Flughafengebäude. Anna war jedes Mal froh, wenn sie das Check-out-Prozedere hinter sich gebracht hatte. Nach endlos erscheinenden Minuten passierten sie den Ausgang, und Mike hob den Arm, um einen Taxifahrer herbeizuwinken. Sie nahmen beide auf der Rückbank Platz. Der Himmel über Detroit war voller grauer Wolken. Es schien, als würde es bald schneien.

Anna hauchte in ihre Handflächen und rieb sie aneinander. Das kurze Stück bis zum Taxistand hatte gereicht, damit sich die Kälte unter ihren offenen Mantel schleichen konnte.

»Zum Militärstützpunkt, bitte«, wies Mike den Fahrer an und wandte sich ihr zu. »Zum Essen bleibt keine Zeit mehr, das müssen wir nach hinten verschieben.«

Sie nickte, hatte sowieso keinen Hunger. Während der Fahrt durch Detroit kamen ihr immer wieder einzelne Erinnerungsfetzen in den Sinn. Auf der Straße, die sie gerade entlangfuhren, hatte sie mit Lynette im Stau gestanden, bevor im Forschungslabor die erste Bombe explodiert war. Das Hotel, in dem sie untergekommen waren, in dem Zane vergiftet und Lynette ermordet wurde, lag in Sichtweite.

Anna hielt sich den Kragen zu und atmete mehrmals tief durch.

»Bist du okay?«, erkundigte sich Mike wieder.

Ihr Nicken fiel zögerlich aus. Sie wandte den Blick von dem Wegweiser ab, der auf das Kongresscenter verwies, in dem Nicks Dad, der renommierte Herzchirurg Tom Coleman, als Redner geladen gewesen war und angeschossen wurde. Es blieb nur zu hoffen, dass Nicks Eltern das Geschehene einigermaßen verarbeiten konnten. Das einzig Gute war, dass Nick und sein Dad seitdem wieder miteinander sprachen. An die bevorstehende Beisetzung, zu der sie die Überreste von Nicks Bruder TJ wieder der Erde übergaben, durfte sie noch gar nicht denken.

Der Taxifahrer hielt vor dem Haupteingang der Militärbasis, eines unscheinbaren Gebäudekomplexes, der in seinem Inneren aber mit enormen Sicherheitsvorkehrungen aufwartete. Uniformierte Männer und Frauen nahmen sie in Empfang. Sie mussten ihre Taschen abstellen und sich einem Ganzkörperscan unterziehen. Anhand ihrer Pässe wurden ihnen Besucherausweise ausgehändigt, und zudem begleitete sie ein Mann in Uniform zu den Büroräumen im ersten Stock.

Auf einem langen Gang waren Klappstühle an der Wand befestigt. Vier Glastüren gingen ab, blickdicht mit zugezogenen Jalousien versehen.

Sie warteten fast eine halbe Stunde, dann sprang die hinterste Tür auf, und ein großer, uniformierter Mann kam zum Vorschein, den Anna erst auf den zweiten Blick als Rogers Vater wiedererkannte. Sein einst rotes Haar war inzwischen weiß. Er trug es wie eh und je kurz rasiert, dazu einen Oberlippenbart, der Anna früher zumindest nicht aufgefallen war. Die Aknenarben waren auf der gealterten Haut noch auffälliger.

»Kommen Sie rein, ich hab leider nicht viel Zeit.« Mit einer ausladenden Armbewegung winkte er sie zu sich und verschwand in seinem Büro.

Anna betrat vor Mike das Zimmer, das sehr schlicht, mit einem Schreibtisch und zwei Regalen eingerichtet war, in denen die Ordner halb liegend, halb stehend ohne erkennbare Ordnung hineingestapelt waren. Auf der Fensterbank stand ein einsamer Kaktus. Es gab kein Familienfoto oder andere private Details. Die vielen Auszeichnungen an den Wänden unterstrichen den Eindruck, dass Mr. Beckett eher ein Mann für den Außeneinsatz als für den Schreibtisch war.

»Anna Jones«, sagte er und nickte leicht. »Zu Highschool-Zeiten war mein Sohn mehr mit euch unterwegs als zu Hause.«

Sie hatte ihm gegenüber auf dem einzigen Besucherstuhl Platz genommen. Mike stand neben ihr.

»Ja, Roger, Nick, Paige und ich waren wirklich unzertrennlich.«

Mr. Beckett starrte auf die Tischplatte. »Es ist schade, dass ihr euch mit der Zeit aus den Augen verloren habt. Roger hat das bedauert. Er hat immer mal wieder Anekdoten von euren gemeinsamen Erlebnissen erzählt.«

Anna streckte den Rücken durch. »Ich möchte Ihnen mein herzliches Beileid aussprechen. Wir sind immer noch ratlos, wie Roger in das perfide Spiel dieses Wahnsinnigen hineingeraten konnte.«

Er stand auf, trat zum Fenster und schaute hinaus. »Da geht es euch wie mir. Ich habe meinem Jungen alles ermöglicht, habe ihm eine angesehene Karriere verschafft.« Er stieß keuchend die Luft aus. »Und jetzt? Als Vater, dessen Sohn ein Nervengift aus Militärbeständen gestohlen hat, bin ich momentan eigentlich nur noch damit beschäftigt, dass mir niemand am Stuhl sägt.«

Anna kaute auf ihrer Oberlippe. Sie konnte nachvollziehen, wie er sich fühlte. Er musste seinen Vorgesetzten sicherlich viele Fragen beantworten und vor seinen Gleichgestellten Rechenschaft ablegen.

»Sie wissen vermutlich, dass Roger selbst vergiftet wurde und aus reinem Überlebensinstinkt handelte«, sagte sie.

Er reagierte nicht, sah weiterhin aus dem Fenster ins triste Grau.

Anna konnte Roger ebenfalls nicht verzeihen, fand es jedoch wichtig, sich vor seinem Vater für ihn einzusetzen. »Ihr Sohn hat viele Fehler gemacht, aber am Ende die richtige Entscheidung getroffen. Letztendlich war auch er ein Opfer.«

Mr. Becketts Schultern sanken herab. Er zog die Nase hoch. Einen Moment lang herrschte Stille.

»Diese Akte, die ich besorgen sollte …«, sagte er schließlich, wandte sich ihnen wieder zu und betrachtete Mikes Besucherausweis, den er, wie sie ihren, an einem Anhänger um den Hals trug. »Es geht dabei also um den Mann, von dem dieser Tage ständig in den Medien berichtet wird? Der, dessen Identität nach wie vor unbekannt ist?«

Anna nickte. »Ein gewisser Ted Hall hat für den Killer gearbeitet. Er kam ebenso wie Ihr Sohn ums Leben. Seine DNA hat uns hierhergebracht.« Sie stand auf. »Bisher wissen wir nur, dass er bei der Army war. Wenn wir an seine Militärakte kommen, finden wir vielleicht einen Hinweis, der uns dem wahren Täter einen Schritt näher bringt.«

Michael Beckett sah sie durchdringend an, bevor sein Blick einige Sekunden lang zu Boden glitt und sie dann wiederfand. »Ich gebe Ihnen eine Kopie der Akte, aber versprechen Sie mir, dass Sie diesen Mistkerl finden, der meinen Sohn auf dem Gewissen hat!«

»Wir geben unser Bestes«, versicherte sie ihm, und Mike nickte zustimmend.

5. Kapitel

Das Wasser schwappte sanft gegen die Bootswand, der Wind schwieg. Der Michigansee lag im Nebel. Das Hausboot war an einem abgelegenen Steg der North Point Marina vertäut, eine knappe Autostunde von Chicago entfernt.

»Wie hast du das geschafft?«, fragte Nick und wandte seinen Blick ins Innere.

»Beziehungen«, gab Zane zurück.

Früher hätte er bei einer solchen Erwiderung gegrinst. Heute gelang ihm das nicht mehr. Nick wollte gar nicht darüber nachdenken, wie er selbst gerade auf andere Menschen wirkte.

»Und der vorherige Besitzer?«

»Besitzerin«, korrigierte ihn Zane. »Eine befreundete Hackerin. Sie verbringt Zeit bei ihrer Freundin, die beiden ziehen sowieso bald zusammen.«

Der größte Raum war vollgestopft mit Monitoren, Gehäusen von Rechnern und ausgebauten Festplatten. Immerhin mussten sie sich hier keine Sorgen um den Internetzugang machen, dafür war gesorgt. Der Kühlschrank wirkte wie eine Kopie von Zanes, als hätte die Bewohnerin einen Jahresgutschein in der Belieferung mit Energydrinks gewonnen.

»Ich fahre nachher bei einem Supermarkt vorbei«, sagte Nick.

Zane startete seinen Laptop und ließ die Finger über die Tastatur gleiten. »Okay, ich habe ein paar Freunde aktiviert.«

»Und mit Freunden meinst du …«

»Die Art von Leuten, die sich lieber nicht mit dem FBI unterhalten.« Immerhin sorgte die Aussage für die dezente Andeutung eines Schmunzelns. »Und genau die brauchen wir jetzt.«

»Belassen wir es dabei, dass ich keine Details wissen will«, sagte Nick.

Zane trug Jogginghosen, darüber einen verschlissenen Hoodie. Der Dreitagebart würde in Kürze zu einem richtigen Vollbart mutieren, was ihn älter aussehen ließ, als er war. Irgendwo auf dem Weg hatte er neben der Unbeschwertheit auch seine Jugend verloren. Spätestens in dem Hotelzimmer bei dem Anblick seiner toten Freundin.

Nick vertrieb die düsteren Gedanken. Es war paradox, dass sie jetzt in einem Hausboot Zuflucht suchten, das abseits eines Jachthafens festgemacht war. Nicht weit von hier hatte der Unbekannte Anna auf einen Ausflugsdampfer geschleppt. Eine Ewigkeit schien seither vergangen.

»Keine Sorge.« Zane nahm die rechte Hand gerade lange genug von der Tastatur, um abzuwinken. »Du würdest es sowieso nicht verstehen. Und das meine ich nicht böse.«

»Ich weiß durchaus, dass das dort«, er deutete auf ein schmales Gehäuse, »eine USB-Festplatte ist, die extern angeschlossen wird.«

»Falsch«, sagte Zane, ohne den Blick von seinem Laptop abzuwenden. »Das ist eine Solid-State-Festplatte, die in einen Computer verbaut wird. Ist deutlich schneller als herkömmliche. Willst du weitere Details?«

Nick seufzte. »Widmen wir uns den wichtigen Dingen. Bis Anna zurück ist, sollte ich weitergekommen sein.«

Zane prüfte etwas auf dem Monitor, stand auf, reckte die Schultern und schritt zum Kühlschrank. Seine Turnschuhe hatte er anbehalten, als wollte er allzeit bereit sein, das Hausboot im Notfall sofort zu verlassen. »Wenn wir dem Unbekannten endlich näher kommen wollen, brauchen wir Lynettes Analysen.« Zane schnappte sich einen Energydrink. »Alles, was sie bei Annas Entführung für das FBI entwickelt hat. Aber eben auch die von Roger und dem Fall in Detroit.«

Was genau ihr Problem war.

Lynette war in der Detroit-Sache nicht offiziell beteiligt gewesen. Daher waren ihre Unterlagen nicht in der Datenbank des FBI gelandet.

In einem Anflug von Naivität hatte Nick gehofft, dass ihnen ausreichend Zeit blieb, sich mit dem Laptop von Lynette zu beschäftigen. Leider hatte die Spurensicherung alles eingepackt, und jetzt kam niemand von ihnen mehr an ihn heran. Glücklicherweise hatte Zane Lynette das Internet auf dem Laptop eingerichtet und wusste, mit welchem Cloud-Anbieter sie arbeitete.

»Es gibt also nur die Chance, dass du dich irgendwie in die Cloud einhackst?«, fragte Nick. 

Zane öffnete zischend den Energydrink. »Exakt. Leider pflegt dieser Anbieter seine Server sehr gut, da sind alle Sicherheitspatches auf dem neuesten Stand. Wir müssen über einen der Angestellten reinkommen.«

Nick kannte diese Vorgehensweise. Hunderte von Spam-Mails wurden auf verschiedene Mitarbeiter zugeschnitten, die zuvor ausgespäht worden waren. Irgendwer klickte immer auf den Anhang. Ein Hunde- oder Katzenbild, ein angeblicher Millionengewinn.

Auch beliebt: Ein bekannter Shop teilte mit, dass das Passwort geknackt und deshalb der Account gesperrt worden war. Panisch rief der Betroffene über den netterweise mitgeschickten Link seinen Account auf und gab das Passwort ein.

Nick hasste derlei Methoden; sie hatten schon zu vielen Menschen ihr Erspartes gekostet. In diesem Fall hoffte er jedoch darauf, dass es funktionierte.