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Ratten, Rauch & Rache entführt in die dunklen Seiten des Frankfurter Bahnhofsviertels, wo Gewalt, Gier und Verrat in schmuddeligen Gassen aufeinandertreffen. Im Zentrum stehen ein angeschlagener Gangsterboss, eine skrupellose Tänzerin, ein verzweifelter Kleinganove und ein unheimlicher Killer, der leise und unerbittlich zuschlägt. Zwischen verschwitzten Nächten, illegalen Deals und waghalsigen Bündnissen wird schnell klar: Wer zu lange in diesem Sumpf aus Blut und Neonlicht verweilt, läuft Gefahr, selbst von der Dunkelheit verschlungen zu werden.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Titel:Ratten, Rauch & Rache
Autor:Tom Giesen
Biografie:
Tom Giesen wurde 1984 in Hamburg geboren und wuchs in einer kleinen Stadt an der Küste auf. Schon früh entdeckte er seine Leidenschaft für Geschichten und die dunklen Seiten des menschlichen Wesens. Er arbeitete in verschiedenen Berufen, bevor er sich entschloss, seine eigenen Erlebnisse und Fantasien in Worte zu fassen. Giesen ist Autodidakt und hat nie ein Literaturwissenschaften-Studium absolviert, sondern sich seine Schreibfähigkeiten durch jahrelange intensive Lektüre und eigene Schreiberfahrungen angeeignet.
Mit einer Vorliebe für psychologische Spannung und düstere Atmosphäre begann er, Thriller zu schreiben, die sich mit den Abgründen der menschlichen Seele und unheimlichen Ereignissen beschäftigen.
Kapitel 1: Blutige Einleitung
Kevin “Knasti” Schönfeld schlenderte durch die enge Gasse an der Taunusstraße, die Hände tief in den Taschen seiner ausgewaschenen Lederjacke vergraben. Es war eine jener kalten Nächte im Frankfurter Bahnhofsviertel, in denen der Wind durch die Hochhausschluchten pfiff und der beißende Geruch von Urin, altem Frittierfett und abgestandener Luft überall hing. Das grelle Licht der Reklametafeln mischte sich mit dem schmutzigen Gelb der Straßenlaternen und verlieh den Gesichtern der Vorbeieilenden einen fahlen, kränklichen Schimmer. Kevin war mies gelaunt, wie so oft. Er hatte Hunger, die letzten fünf Euro in irgendeinen verdammten Spielautomaten gepfeffert und jetzt nicht mal Bock, sich einen Döner zu holen, weil ihn der Imbisstyp schulmeisterlich anschnauzen würde, dass er schon wieder anschreiben lassen wolle. Kein Geld, kein Mitleid, kein Respekt.
“Scheiß drauf”, murmelte Kevin und kickte eine leere Bierdose vor sich her. Mit jeder Bewegung seiner Füße schwappte in seinen abgetragenen Sneakers ein schaler Mix aus Pfützenwasser und Bierrest hin und her. Die Dose schrammte über den nassen Asphalt, machte ein schepperndes Geräusch und verschwand unter einem zerbeulten Auto, dessen Alarmanlage kurz und spitz aufheulte, bevor sie wieder verstummte. Kevin sah sich um. Nirgendwo war jemand, der sich darum scherte, dass ein Kleinganove zu später Stunde auf der Suche nach einem Schlafplatz war, den er sich nicht leisten konnte. Er fror, er war angepisst, und vor allem hatte er eines: Schulden, die ihm bald das Genick brechen würden.
Er beschloss, wenigstens noch zum Hintereingang dieser räudigen Bar zu gehen, die in der Nähe des Bahnhofs lag. Meist hingen dort ein paar Abgestürzte herum, vielleicht konnte er sich einen Schnaps schnorren oder wenigstens ein paar Zigarettenstummel zusammenklauben. Er schob die Hände noch tiefer in die Jacke, trat um die nächste Häuserecke und wäre beinahe über eine zersplitterte Glasflasche gestolpert. “Verfluchte Scheiße!”, keuchte er, während er die Balance hielt. Im selben Moment zuckte er zusammen, weil er ein Geräusch vernahm: Ein Schlurfen, ein Kratzen an der Wand, dann ein unterdrücktes Stöhnen, so als ob jemand versuchte, keinen Laut von sich zu geben. Aufmerksam spähte er in den Schatten.
Es dauerte einen Augenblick, bis er die Szene erkannte: Am Ende der Gasse flackerte eine kaputte Neonröhre über einer alten, grauen Seitentür. Darunter lagen zwei Körper, einer sichtlich regungslos, der andere hockte darüber. Kevins Herz setzte für einen Moment aus, und er blieb stehen, unfähig, den Blick abzuwenden. Ein Kerl mit Kapuze und Lederhandschuhen beugte sich über den reglosen Leib am Boden, rüttelte daran oder machte irgendetwas, das Kevin zunächst nicht klar war. Und dann sah Kevin den schnellen, gezielten Schlag. Eine Hand flog hoch, blitzte auf, und im nächsten Moment schoss ein dünner Sprühnebel in die Luft. Blut. Der metallische Geruch breitete sich augenblicklich in Kevins Nase aus.
“Scheiße, Mann!”, entfuhr es ihm, nicht laut, aber doch so, dass der Typ mit der Kapuze den Kopf hob. Kevin erkannte nicht viel außer einem schmalen Gesicht, gehetzte Augen und etwas, das aussah wie ein auffälliges Tattoo seitlich am Hals, kurz aufblitzend im rötlichen Neonlicht. Der Unbekannte verharrte regungslos, als wolle er abwägen, ob er Kevin angreifen oder fliehen sollte. Kevins Atem raste. Er wollte schreien, aber seine Kehle war wie zugeschnürt. Eiskalte Furcht kroch seine Wirbelsäule hinauf. In Sekundenbruchteilen fiel ihm ein: Wenn er jetzt rennt, ist er vielleicht schon tot, bevor er die nächste Ecke erreicht. Also blieb er stocksteif stehen. Die Augen des Mörders bohrten sich in ihn, und dann, als wäre ein Signal ertönt, sprang der Mann auf, huschte an der Wand entlang und verschwand in der Dunkelheit.
Für einen Moment glaubte Kevin, sich übergeben zu müssen. Seine Beine fühlten sich an wie Wackelpudding, doch nach ein paar Sekunden rutschte er am kalten Mauerwerk hinab und sog keuchend die feuchte Luft ein. Endlich kam er wieder zu Sinnen, richtete sich auf und trat näher. Dabei rutschte er fast in eine breite Lache aus Blut, in der der reglose Körper lag. Es war eine Frau, höchstens Mitte zwanzig, schlank, das kurze Haar verschmiert von ihrem eigenen Blut. Ihre Augen waren halb geöffnet, als wolle sie gleich wieder aufstehen und protestieren, doch sie rührte sich nicht. Kevin sah Messerstiche, tiefe Wunden im Brustbereich und am Hals. Das Licht der Neonröhre zuckte noch ein letztes Mal, bevor es ganz erlosch und die Gasse in beinahe völlige Dunkelheit tauchte.
“Fick dich, das ist jetzt nicht wahr...”, flüsterte Kevin panisch, bevor er sein Handy herauskramte. Er hasste die Polizei, hatte zu oft mit ihnen Ärger gehabt. Doch er wusste, dass er keine Wahl hatte. “110... Ach, du Scheiße, die glauben mir doch kein Wort.” Seine Finger zitterten, er wählte und hielt sich das Handy ans Ohr. Für einen Augenblick vergaß er, dass er selbst womöglich in höchster Gefahr war. “Da… äh, hier ist… Das ist ein Notruf. In der Gasse… Taunusstraße, hier liegt ’ne Frau. Sie ist… tot oder fast tot. Ich glaub, sie ist tot.” Ein Rauschen, dann die Stimme am anderen Ende: “Bleiben Sie vor Ort. Die Einsatzkräfte sind unterwegs.” Kevin starrte auf das Handy, wollte es in die Tasche stopfen, ließ es dann aber fallen, weil ihm in einem Schwall schlecht wurde. Er drehte sich von der Leiche weg und würgte in eine dunkle Ecke. Als er wieder aufsah, brannten seine Augen.
Keine fünf Minuten später tauchten die ersten Blaulichter am Ende der Gasse auf. Das Scharren von schweren Polizeischuhen, funkelnde Taschenlampenstrahlen, die sich in der feuchten Luft brachen. Einer von ihnen rief: “Stehen bleiben, Polizei!” Kevin riss die Hände hoch, als hätte er selbst jemanden umgebracht. “Hier, ich hab angerufen”, sagte er mit zitternder Stimme. Zwei Beamte packten ihn grob, drückten ihn gegen die Wand. “Langsam! Wir wissen nicht, was hier los ist.” “Verdammte Scheiße, ich hab nix gemacht!”, protestierte Kevin. Im Hintergrund trat ein hochgewachsener Mann in dunkler Lederjacke und unscheinbarem Jackett unter dem Absperrband hindurch. Er wirkte auf den ersten Blick desillusioniert, als sei er schon viel zu oft an solche Tatorte gerufen worden. Seine buschigen Augenbrauen zogen sich zusammen, als er den Blick auf die Blutlache richtete. Dies war Kommissar Oliver Brandt, Mitte vierzig, etwas mürrisch und ständig mit dem Hauch eines aufkeimenden Kopfschmerzes unterwegs.
“Was haben wir?”, fragte Brandt an die Kollegen gewandt. Jemand wedelte mit der Hand in Richtung der Leiche. Brandt ging in die Knie und untersuchte kurz die Wunden, ohne den Körper groß zu bewegen. “Sauberer Schnitt, an mehreren Stellen. Sieht nach einem starken, schnellen Angriff aus. Unschön. Todeszeitpunkt kann noch nicht lange her sein. Irgendwer muss was gesehen haben.” Einer der Uniformierten nickte Richtung Kevin. “Der Typ da hat angerufen. Sagt, er hätte den Mörder noch weglaufen sehen.” Brandt richtete sich auf. Sein Blick fiel auf Kevin, der nervös von einem Bein aufs andere trat und am liebsten fortgelaufen wäre, hätte man ihm nicht unmissverständlich klar gemacht, dass er hier zu bleiben hatte. Brandt trat näher. “Na, dann erzählen Sie mal, Freundchen.”
Kevin räusperte sich, starrte auf den Boden, weil er dem Kommissar nicht in die Augen sehen wollte. Brandt wirkte erschöpft, hatte tiefe Augenringe, sein Atem roch nach Mentholzigaretten. “Ich… ich hab nix gemacht, ehrlich. Ich war nur zufällig hier und… da war dieser Kerl, Kapuze auf, schmal, Tattoo am Hals. Und das Messer, er… er hat sie…” Kevin brach ab, schluckte hart. Er wollte keine genauen Details erzählen müssen; es reichte ihm jetzt schon, dass die Bilder in seinem Kopf tanzten. Brandt musterte ihn, dann zeigte er auf Kevins Jackentasche. “Stecken Sie gerade irgendwas ein, was uns interessieren könnte, oder steht Ihnen der Schweiß nur deswegen auf der Stirn, weil Sie Angst haben?” Kevin wollte energisch protestieren: “Ich hab gar nichts, Mann! Also… Herr Kommissar, ich bin hier das Opfer. Oder Zeuge oder was auch immer. Ich bin nicht der Mörder, verdammt noch mal!” Sein Ton wurde lauter, zugleich versagte seine Stimme am Ende fast.
Brandt zog eine Augenbraue hoch. “Ruhig, sonst kriegen Sie noch ’ne Anzeige wegen Beleidigung.” Dann winkte er ab. “Schreiben Sie seine Personalien auf”, sagte er zu dem Beamten neben sich. “Und dann soll er sich hier nicht vom Fleck bewegen, bis wir ihn vernommen haben.” Kevin sah, wie weitere Polizisten die Leiche abdeckten. Dann tauchten Sanitäter auf, die nur noch bestätigten, dass der Frau nicht mehr zu helfen war. Blaulichter, rot-weißes Absperrband, Gaffer, die hinter den Mülltonnen am Ende der Gasse auf Zehenspitzen standen und neugierig versuchten, etwas vom Ort des Geschehens zu erkennen. Eine alte Frau mit wirrem Haar tauchte auf und kreischte: “Das ist ja hier wie in ’nem Scheiß-Krimi! Immer dieselbe Kacke im Bahnhofsviertel!” Eine Prostituierte mit hochhackigen Stiefeln und Minirock, die mehr im Freien war als in einer festen Wohnung, grinste Kevin schief an. “Na Kleiner, hast du wieder Ärger gemacht?” Kevin rollte nur die Augen. “Halt die Klappe, Mandy, echt jetzt”, zischte er. Er kannte sie flüchtig, man lief sich öfter mal über den Weg. Sie schien kein großes Mitleid mit dem Opfer zu haben oder war einfach zu abgestumpft.
Brandt ging knurrend an Kevin vorbei, musterte die Wand. “Hier überall Schmierereien, Spritzen, ein paar leere Flaschen.” Er fluchte halblaut: “Das kann eine lange Nacht werden.” Dann zog er einen Kollegen zur Seite. “Wie war das mit dem Zeugen? ‘Knasti’ Schönfeld heißt er? Nie gehört.” Der Kollege blätterte in einem zerknitterten Notizbuch. “Äh, Kevin Schönfeld, auch bekannt als ‘Knasti’, mehrfach aufgefallen wegen Diebstahl, Drogenbesitz und… ach, du kennst das Spiel. Einer von den kleinen Fischen, aber permanent klamm. Er sagt, er hat alles gesehen, der Täter hätte ein Tattoo am Hals.” Brandt leckte sich über die Lippen und runzelte die Stirn. “Hier hat fast jeder Zweite ein Tattoo am Hals, das ist das kleinste Problem. Trotzdem ist jede Spur gut.” Dann trat er wieder zu Kevin. “So, Schönfeld, Sie kommen erstmal mit aufs Revier. Wenn Sie Glück haben, sind Sie nur Zeuge. Wenn nicht, sitzen Sie morgen immer noch in U-Haft. Hab ich mich klar genug ausgedrückt?” Kevin schluckte, nickte und ließ sich von den Beamten abführen. Er war zwar nicht doof, aber ahnte: Wenn sie mich mitnehmen, bin ich zumindest für den Moment sicherer als hier draußen.
Wenige Minuten später saß er in einem Streifenwagen. Während die Reifen über das Kopfsteinpflaster ratterten, fuhren seine Gedanken Karussell: Wer zur Hölle war dieser Mörder, und warum musste das Opfer dran glauben? War sie einfach zur falschen Zeit am falschen Ort, so wie er selbst jetzt? Und was würde die Polizei mit ihm anstellen, wenn sie herausfand, dass er gerade ein halbes Dutzend säumiger Gläubiger hatte, von denen mindestens zwei bereit waren, ihm die Beine zu brechen? Kevin spürte eine kalte Angst, die sich wie eine Schlange um seine Eingeweide legte. Er wusste, das war erst der Anfang, und es würde nicht besser werden.
Unterdessen verharrte Kommissar Brandt noch eine Weile am Tatort. Er ging um die Leiche herum, tippte mit einem Kugelschreiber gegen den Asphalt, als könnte er etwas finden, das den Tatablauf erklärte. “Lass die Spurensicherung ran”, befahl er einem Kollegen. “Ich will alles: Fasern, Haare, Fußspuren, Kameraaufnahmen. Hier hängen doch überall diese beschissenen Überwachungskameras. Jemand muss was gesehen oder aufgezeichnet haben.” Der Kollege nickte und notierte. Dann ein kurzes Zischen aus Brandts Funkgerät. Er drückte die Taste. “Brandt hier.” Eine heisere Stimme meldete sich: “Chef, wir haben ein weiteres Problem, drüben am Willy-Brandt-Platz hat’s gerade ’ne Schlägerei gegeben. Ist aber wohl nur Kleinkram, Drogenstreit.” Brandt verdrehte die Augen. “Gut, dann schick wen anders hin. Ich hab hier eine Tote.” Er seufzte und ließ den Funk sinken. “Immer das Gleiche.”
Langsam trat er zurück in die Gasse, lehnte sich an die feuchte Wand, als brauchte er für einen Augenblick Halt. Manchmal fragte er sich, wann er angefangen hatte, in all diesem Elend nur noch Routine zu sehen. Vielleicht war es schon vor Jahren passiert, als er zum ersten Mal eine grauenhaft zugerichtete Leiche aus dem Main ziehen musste. Ein Teil in ihm war abgestumpft, wollte das alles nur noch hinter sich bringen. Und doch loderte irgendwo unter seiner harten Schale ein Rest Gerechtigkeitssinn. Er wollte nicht, dass so ein Mord ungesühnt blieb. “Diese Scheiße macht mich wahnsinnig”, murmelte er. Dann stieß er sich ab und wies die Spurensicherung an, gründlich zu arbeiten. Er konnte nichts weiter tun, außer später mit dem Pathologen zu reden und darauf zu hoffen, dass Kevin “Knasti” Schönfeld tatsächlich etwas mehr wusste, als er zugeben wollte.
Einige Meter entfernt trat ein junges Pärchen, das vermutlich aus irgendeinem Club kam, über die Absperrung. Der Mann begann, mit dem Smartphone zu filmen. “Ey, Leute, das ist hier gesperrt, haut ab!”, schnauzte einer der Polizisten. Das Mädchen kicherte nervös und klammerte sich an den Mann. “Oh Gott, das ist ja voll krass!”, rief sie. Brandt fuhr sie an: “Seid ihr bescheuert? Verpisst euch von hier!” Er hasste diese Sensationsgier, das herumgammelnde Publikum, das sich an Toten weidete wie an einer billigen Attraktion. Zwar kein Kannibalismus, dachte er sarkastisch, aber die Geilheit auf Gewalt ist eigentlich nicht besser. Die beiden verzogen sich, und der Polizist senkte den Kopf. “So ist das eben, Chef. Große Stadt, große Probleme.” Brandt zuckte nur mit den Schultern. “Haste recht. Wir ziehen das hier durch. Ich will vor Sonnenaufgang alles abgeschlossen haben.”
Die nächsten Stunden würde der Tatort vermessen, Spuren gesichert und die Leiche in die Rechtsmedizin geschafft werden. Erschöpfte Beamte würden Unmengen an Kaffee trinken. Dann würde sich herausstellen, dass die Kamera an der Ecke mal wieder außer Betrieb war oder dass man nur einen dunklen Schatten erkennen konnte, der in einer Kapuze verschwand. Typisch. Brandt spürte schon jetzt einen bohrenden Kopfschmerz aufsteigen. Er wusste, dass er Kevin spätestens morgen früh im Präsidium gegenübersitzen würde. Der Typ sollte besser auspacken, was immer er wusste. Er ahnte jedoch, dass Kevin, der selbst genug Dreck am Stecken hatte, keineswegs scharf darauf war, sich mit einem eiskalten Killer anzulegen.
Während die Beamten die Gasse ausleuchteten und die Nachbarschaft befragten, schob Brandt mit missmutiger Miene die Hände in die Taschen seiner Lederjacke und lief Richtung Streifenwagen. Er fragte sich, wer diese Frau war, wen sie kannte und wem sie in die Quere kam. Im Bahnhofsviertel gab es so viele zwielichtige Gestalten, dass ein Mord genauso gut ein persönlicher Racheakt wie ein schlichter Überfall sein konnte. Vielleicht war sie zufällig in den falschen Deal geraten. Manchmal waren die Grenzen zwischen Täter und Opfer hier fließend, vor allem nachts, wenn alle Schatten länger und bedrohlicher wurden.
Brandt rieb sich die Augen. Ein übermüdeter Kollege reichte ihm einen Papierbecher Kaffee. “Hat wohl ’nen ordentlichen Schlag gegeben, oder?”, fragte der Polizist leise. Brandt nickte. “Ja, hat es. So eine kaputte Scheiße.” Er nahm einen Schluck, verzog das Gesicht, weil der Kaffee fast ungenießbar war, aber er brauchte das Koffein jetzt. Dann sah er hoch zu den Fenstern der umliegenden Häuser. In einigen brannte Licht, hinter Gardinen huschten Silhouetten vorbei. Kein Zweifel, hier hatte jemand was mitbekommen, aber wahrscheinlich würde kaum einer reden. Die Leute im Bahnhofsviertel hatten ihre eigenen Gesetze. Sie fürchteten die Gangs, fürchteten die Polizei oder beides gleichermaßen. Vielleicht würde eine einsame Seele bei der Kripo anrufen, anonym, um etwas Geld aus der Sache herauszuschlagen. Aber offenen Mund hatte hier kaum einer, wenn es nicht sein musste.
Brandt wusste: Das war die Realität. Und für die Frau, die da in ihrem Blut lag, war jede Hilfe zu spät gekommen. Er war Polizist und hatte trotzdem meistens nur die Rolle desjenigen, der hinterher aufräumen durfte. Am Ende würde es seine Aufgabe sein, den Täter zu finden. Vielleicht würde er es schaffen, aber eher aus sturer Beharrlichkeit denn aus echter Zuversicht. In Gedanken griff er nach einer Zigarette, merkte dann, dass er gar keine in der Brusttasche hatte und seufzte. Er dachte an zu Hause, an seine leere Wohnung, an die verpassten Stunden Schlaf. Aber was sollte er tun? So war das Geschäft. Er schloss die Augen, sog einmal tief die kühle Nachtluft ein und trat einen Schritt weiter, vorbei an den Leichenspurensicherungskräften, um sich noch ein letztes Mal umzusehen. Wenigstens hatte er jetzt einen Zeugen: Kevin “Knasti” Schönfeld. Und so viel war sicher: Dieser Typ konnte sein bester Hinweis oder ein elendes Plappermaul sein. Egal wie, Brandt würde es herausfinden.
Im Hintergrund rauschte der Verkehr, irgendwo hupte ein Taxi, das an einem Betrunkenen vorbeischrammte, und zwei Gestalten stritten sich lautstark auf der anderen Straßenseite. Das Bahnhofsviertel lebte zu jeder Stunde sein eigenes, hartes Leben. Brandt stieg schließlich in den Streifenwagen, um dem Wagen mit der Leiche hinterherzufahren. Auf der Rückbank hatte Kevin, in Handschellen, den Kopf an die Scheibe gelegt, die Augen geschlossen. Brandt sah seinen Zeugen an, musterte die zerfurchten Gesichtszüge des jungen Mannes. In dieser Nacht waren sie beide nur zwei Rädchen im Getriebe eines endlosen Teufelskreises aus Gewalt, Gier und Elend. Irgendwo in den Gassen verschwand der Mörder, während der Regen einzusetzen begann, als würde er die Spuren der Schrecken dieser Nacht verwischen wollen. Doch Brandt war sich sicher, das war nur der Anfang einer viel größeren Geschichte.
Kapitel 2: Neue und alte Schulden
Kevin “Knasti” Schönfeld saß mit verschränkten Armen in einem zugigen Büro des Frankfurter Polizeipräsidiums. Hier, im dritten Stock, roch es nach abgestandenem Kaffee und kaltem Zigarettenrauch, der trotz Rauchverbot noch in den Wänden hing. Ein nervöser Beamter hatte ihn hereingeführt und ihm bedeutet, er solle Platz nehmen. Jetzt starrte Kevin auf die vergilbte Tapete, die sich an den Ecken leicht löste. Er trug immer noch seine alte Lederjacke, die nach einer Mischung aus Bier, Rauch und Straßenmief stank. Ihm war kalt, und sein Magen knurrte, doch niemand hatte ihm ein Glas Wasser oder ein Sandwich angeboten. Eigentlich wunderte er sich nicht einmal darüber. Für einen wie ihn gab es selten eine Extraportion Freundlichkeit.
Gerade als er überlegte, ob er den Kaugummi unter dem Stuhl abkratzen sollte, weil ihn die Langeweile zu sehr plagte, öffnete sich die Tür, und Kommissar Oliver Brandt trat ein. Brandt verzog keine Miene, musterte Kevin nur kurz und nahm hinter dem Schreibtisch Platz. Sein Gesicht wirkte grau und übernächtigt, und seine Hand glitt sofort in die Innentasche seiner Jacke, als suche er nach einer Packung Zigaretten, die er in diesem Gebäude gar nicht hätte anzünden dürfen. Er nahm sie heraus, hielt kurz inne und seufzte, bevor er sie wieder einsteckte. Dann machte er sich an den Unterlagen zu schaffen, die vor ihm lagen.
“Also, Kevin Schönfeld, genannt ‘Knasti’. Wenn ich mir Ihren Werdegang ansehe, hätte ich Lust, Sie gleich hier zu behalten, bis mir jemand einen Grund nennt, Sie nicht einzusperren.” Seine Stimme war dunkel, klang zugleich desillusioniert und genervt. Kevin kaute auf seiner Unterlippe herum, brachte jedoch kein Wort heraus. Brandt zog eine Mappe nach oben. “Diebstahl, Hehlerei, Einbrüche, Drogenbesitz, Erschleichen von Leistungen. Haben Sie eigentlich in Ihren 25 Lebensjahren mal was Richtiges gemacht?” Kevin zuckte die Schultern. “Ich bin 27, und eigentlich hab ich mich bemüht, Fuß zu fassen, aber…” Er verschluckte sich an dem Satz. Er wusste, es klang lächerlich, so oft, wie er das schon versucht hatte. “Das Bahnhofsviertel ist nicht grad ein Ponyhof, Herr Kommissar. Man nimmt, was man kriegen kann.”
Brandt ließ seine Fingerknöchel knacken, was Kevin unangenehm in den Ohren wehtat. “Erzählen Sie mir lieber, was Sie in der Nacht in dieser Gasse gemacht haben und was genau Sie gesehen haben. Vielleicht kann ich dann glauben, dass Sie bloß zur falschen Zeit am falschen Ort waren.” Kevin spürte einen Stich, als sein Magen rebellierte. Er wollte etwas Vernünftiges antworten, doch ihm brannte das Adrenalin immer noch in den Adern von der schrecklichen Szene mit der toten Frau. “Ich… ich hab nix angestellt, ehrlich. Ich war pleite, hatte keinen Bock, gleich in ein Obdachlosenheim zu gehen. Ich dachte, vielleicht treff ich ein paar Leute, die mir ein paar Kröten leihen. Also bin ich Richtung Hintereingang vom ‘King’s’, wissen Sie, dieser versiffte Laden, wo ich hin und wieder… naja, dort lungern ab und zu Leute rum, bei denen ich eine Kippe abstauben kann. Und dann sah ich halt diese… diese Frau am Boden und den Typen, der über ihr hockte. Der hat rumgestochen wie ein Irrer, Mann, ich hab sofort gemerkt, dass da irgendwas richtig übel läuft. Ich hab nur das Tattoo gesehen, so ’n… irgendwie ’n Tier oder ’n Symbol, keine Ahnung. Dann ist er weggerannt, und ich war zu geschockt, um was zu tun.” Er rieb sich die Schläfen, als könnte er die Bilder aus seinem Kopf streichen. “Hab dann die Bullen gerufen, äh… also die Polizei. Und dann… naja, der Rest ist bekannt.”
Brandt sah ihn einige Sekunden schweigend an. Dann nickte er beinahe unmerklich. “Na schön. Wir werden das überprüfen. Vielleicht können wir mit dem, was Sie da gesehen haben, etwas anfangen. Tattoo am Hals, Kapuze, schlanker Typ. Das trifft auf halb Frankfurt zu, aber es kann trotzdem eine Spur sein. Was haben Sie sonst noch mitbekommen? Irgendwas Auffälliges, Geruch, Geräusch, ein Name?” Kevin schüttelte den Kopf. “Nein, gar nichts. Der ist lautlos abgehauen, Mann. Ich bin froh, dass der mich nicht gleich abgestochen hat.” Brandt zog seine Unterlagen heran. “Gut, damit hätten wir Ihre Aussage. Nicht sonderlich hilfreich, aber besser als nichts. Geben Sie mir noch Ihre aktuell gültige Adresse.” Kevin lachte hart und ohne jede Fröhlichkeit. “Adresse? Ich penne mal hier, mal da, wenn’s gut läuft, im Hotel mit ’nem Kumpel, ansonsten finde ich irgendeine Absteige. Ich hab nicht mal ’n ordentlichen Ausweis mehr, Mann.” Brandt verzog das Gesicht. “So was hab ich fast befürchtet. Na schön, dann werde ich Ihnen jetzt klarmachen, wie es weitergeht. Fürs Erste sind Sie Zeuge, aber ich behalte Sie im Auge. Wenn Sie die Stadt verlassen, ohne mir Bescheid zu geben, schreibe ich einen Haftbefehl. Haben wir uns verstanden?” Kevin nickte müde. Er hatte keine Kraft, dagegen zu rebellieren. Besser rauskommen, dachte er, besser rauskommen, als drinbleiben.
Brandt klopfte zweimal auf den Tisch. “Gut, dann verschwinden Sie von hier. Aber bleiben Sie erreichbar. Das meine ich ernst.” Kevin erhob sich, zog die Schultern hoch und trottete zur Tür. Ein Beamter führte ihn hinaus. Im Flur vibrierte eine kaputte Neonröhre und tauchte die alten Linoleumböden in ein hässliches, flackerndes Licht. Während Kevin die Treppe nach unten ging, dachte er, dass er dieses Gebäude hassen würde, wenn er jemals so etwas wie Perspektive hätte. Unten angekommen, stieß er mit einem breitschultrigen Kerl zusammen, der ihn mit einem finsteren Blick musterte. Kevin erkannte ihn wieder – ein Polizist, der ihm schon mal bei einer Festnahme den Arm fast ausgerenkt hatte. “Na, Knasti, mal wieder auf Tour?”, knurrte der. Kevin wich zurück, hob abwehrend die Hände. “Alles gut, ich bin nur auf’m Weg raus.” Der Typ lachte kehlig. “Mach dich vom Acker.” Kevin beeilte sich, die Eingangshalle zu durchqueren und stand kurz darauf auf dem Vorplatz des Präsidiums. Ein Nieselregen setzte ein, der dichte Wolkenschleier über der Skyline verdunkelte bereits den Nachmittag, obwohl es noch nicht so spät war.
Kevin zog die Jacke fester um sich. Der Hunger war immer noch da, und er überlegte, wo er etwas Essbares herbekommen könnte. Vielleicht war er tatsächlich gezwungen, zum Bahnhofsviertel zurückzukehren, auch wenn er nun wusste, dass dort irgendwer rumlief, der ohne Zögern Menschen abmurkste. Eigentlich, dachte er, war das ja nichts Neues. Doch dieser Mord wirkte auf ihn besonders brutal. Bei der Erinnerung an das spritzende Blut lief es ihm eiskalt den Rücken runter. Er schüttelte den Kopf, als könnte er damit die Gedanken abschütteln, und machte sich auf den Weg. Die Straßenbahn war ihm zu teuer, also lief er zu Fuß Richtung Hauptbahnhof. Unterwegs klaubte er Zigarettenstummel vom Boden auf, in der Hoffnung, vielleicht noch ein paar Züge aus den Resten zu bekommen. Ekelhaft, aber so war sein Leben. Er hatte Schulden, und kein Mensch traute ihm. Am wenigsten traute er sich selbst.
Währenddessen, ein paar Straßen entfernt, schob sich Tarek “Tiger” Öztürk durch die Menge. Es war früher Abend, das Bahnhofsviertel erwachte langsam zu seinem zwielichtigen Leben. Leuchtreklamen für Massagesalons, Clubs und Spielhallen tauchten den Gehweg in flackernde Farben. Tarek hatte seine Hände locker in den Taschen seines teuren Designeranoraks vergraben, die Kapuze trug er nicht. Er mochte es, wenn man ihn erkannte. Er war kein kleiner Fisch, sondern ein aufstrebender Handlanger eines größeren, aber selten sichtbaren Bosses. In diesem Viertel verdiente Tarek Geld mit allem, was sich anbot: Drogen, Prostitution, Schutzgelder, manchmal auch organisierte Schlägereien, wenn jemand seine Lektion lernen musste. Er war kein riesiger Gangster, aber er arbeitete daran, größer zu werden. Er hatte Pläne, Ambitionen, wollte in der Hierarchie aufsteigen. Das “Tiger” in seinem Spitznamen war nicht nur Show, er liebte den schnellen Biss, den Angriff, wenn es darum ging, seine Position zu sichern.
Tarek blieb vor einem verrauchten Internetcafé stehen. Drinnen hingen Jugendliche mit Kapuzenpullis an alten Computern, spielten irgendwelche Multiplayer-Games oder tummelten sich in Chatrooms. Tarek fragte sich, ob einer davon Kuriere für ihn machen wollte. Doch dafür hatte er jetzt keine Zeit. Er ging weiter, passierte eine Gruppe Prostituierter, die von zwei albanischen Zuhältern scharf beäugt wurden. Tarek und die Albaner hatten einen fragilen Waffenstillstand, also nickte er nur beiläufig in ihre Richtung und ließ den Blick schweifen. Dann tauchte er in eine kleine Seitengasse ein, wo eines der Hauptquartiere seiner Leute lag: ein verranztes Hinterzimmer in einem Asia-Imbiss, den sich kaum ein Tourist freiwillig ausgesucht hätte. Er trat ein, grüßte den Besitzer kurz, der nur abwesend nickte, dann öffnete er eine Tür neben der Fritteuse, hinter der sich ein enger Gang befand. Am Ende stieg eine schmale Treppe nach oben, und Tarek kam in einen Raum, der wider Erwarten nicht übel eingerichtet war. Auf einem alten Sofa saßen zwei seiner Kumpels, beide gut 20 Jahre alt, sie rauchten Shisha und ließen sich irgendwelche Rap-Videos auf dem Handy laufen.
“Ey, aufstehen!”, fuhr Tarek sie an. “Habt ihr den ganzen Tag nix getan außer qualmen und rumhängen?” Einer der beiden – ein dürrer Typ mit unzähligen Tattoos an den Armen – zuckte mit den Schultern. “Ist nix los, Boss. Hab versucht, mal hier und da was zu klären, aber läuft ruhig. Leute haben Schiss wegen dem Mord gestern Nacht. Alle sagen, da läuft so ’n Psycho rum.” Tarek riss genervt die Hände in die Luft. “Scheiß auf irgendwelche Gerüchte! Ich will, dass unser Stoff weiterverkauft wird, kapiert? Wir können uns keine Panik leisten. Wenn unser Umsatz einbricht, haben wir ’n Problem. Vor allem, wenn ich das weiter nach oben melden muss.” Er trat ans Fenster, dessen Scheibe von innen beschlagen war. “Die Leiche war irgendeine Frau. Ich wette, es gibt Schlimmeres, was hier im Viertel schon passiert ist. Trotzdem redet jeder davon. Verdammt, das lenkt ab.”
Der zweite Typ, etwas breiter gebaut, stöhnte und fuhr sich durch seinen kurz rasierten Bart. “Tarek, ich hab echt keine Lust, mich draußen abstechen zu lassen, nur weil irgendein Bekloppter rumrennt. Vielleicht sollten wir unsere Geschäfte kurz verlagern, verstehst du? Ein bisschen ruhiger treten.” Tarek kniff die Augen zusammen. “Du hast sie wohl nicht mehr alle. Der Boss will Kohle sehen, und wenn wir schlappmachen, kommt er vorbei und reißt uns die Köpfe ab. Also reißt euch zusammen.” Er kickte gegen den Couchtisch, ließ einen alten Aschenbecher klappern. “Morgen früh sind wir wieder voll auf der Straße, klar? Keine Diskussion.” Die beiden nickten verhalten und machten sich dann daran, ihre Shisha zu leeren. Tarek mochte zwar locker sein, aber er war nicht zimperlich, wenn es um Befehle ging. Er wusste, dass er nur durch Druck und Härte Respekt bekam. Hier herrschte das Gesetz des Stärkeren.
Während Tarek seine kleine Rede hielt, schlug Kevin sich hungrig durch die Straßen, bis er an einer Bäckerei vorbeikam, die ihre Auslage vom Vortag für einen Spottpreis verramschte. Er kaufte sich ein steinhartes Brötchen und mampfte es, während er überlegte, zu wem er jetzt gehen könnte. Vielleicht war sein Kumpel Ronny in irgendeiner Absteige. Ronny war zwar selbst ein Blödmann, aber manchmal ließ er Kevin auf dem Sofa pennen. Zumindest solange Kevin ein paar Euro für eine Flasche Schnaps beisteuern konnte. Doch Kevin hatte keine Kohle. Und dann war da noch das Problem seiner alten Schulden. Er wusste, dass ein gewisser Ercan, ein Geldverleiher, den er schon länger kannte, ihm kürzlich eine letzte Frist gesetzt hatte, die nun ablief. Ercan war nicht dafür bekannt, großartig zu verhandeln. Er hatte ein paar Schläger, die ihre Arbeit gründlich erledigten.
Kevin konnte sich nicht ewig verstecken. Wenn Ercan ihn auf der Straße sah, würde es garantiert Prügel geben. Trotzdem wusste Kevin, dass er irgendetwas machen musste, um an Geld zu kommen, bevor man ihm die Beine brach. Vielleicht Poker in einer der Illegalen Spielhallen, vielleicht nochmal schnorren bei Leuten, die er kannte. Doch er hatte kein Glück im Spiel, und kaum einer in seinem Umfeld würde ihm freiwillig Geld geben. Während er überlegte, ob er sich in eine billige Pension schleichen könnte, in der er manchmal unter falschem Namen übernachtete, kitzelte ein kalter Windstoß seine Nackenhaare. Er drehte sich um und sah zwei Männer, die in einigem Abstand hinter ihm gingen. War das Paranoia, oder folgten sie ihm wirklich?
Er beschleunigte seine Schritte. Die Männer beschleunigten auch. Sein Herz klopfte. Er bog in eine Seitenstraße ein, hoffte, dass es ein Zufall war, doch die Schritte hinter ihm wurden lauter. Er hatte kein Messer, nichts zur Verteidigung. Als er an einem düsteren Hausflur vorbeikam, riss er die Tür auf und huschte hinein. Drinnen war es stockfinster, roch nach altem Holz und Feuchtigkeit. Kevin lauschte. Die Schritte draußen klangen hohl auf den Pflastersteinen, verharrten kurz, dann entfernten sie sich. Er atmete auf. Vielleicht hatte er sich die Verfolgung nur eingebildet, aber im Bahnhofsviertel war man lieber einmal zu oft vorsichtig als einmal zu wenig. Er lehnte sich an die Wand, wischte sich Schweiß von der Stirn. Ihm wurde klar, dass er schnell eine Lösung finden musste, sonst würde er sich komplett in Angst und Verzweiflung verlieren.
Später am Abend, als das Viertel in sein halbwüchsiges Party-und Nachtleben versank, lungerte Kevin in der Nähe einer Bar herum, die “Goldene Brücke” hieß und für miese Schnäpse und Kartenspieler bekannt war. Er wusste, dass dort ab und an Leute waren, die Geld hatten und auf ein schnelles Spiel aus waren. Wenn er geschickt bluffte, konnte er vielleicht ein paar Euro ergaunern, zumindest genug für eine Nacht in einem winzigen Hotelzimmer. Natürlich lief er Gefahr, von den anderen Zockern zusammengefaltet zu werden, falls sie ihn beim Schummeln erwischten, aber Kevin riskierte es.
Drinnen empfing ihn ein Schwall schaler Luft. An einem runden Tisch saßen drei Typen, die bereits halb betrunken wirkten, und zogen Karten. Der Dealer, ein bärtiger Glatzkopf, warf Kevin einen misstrauischen Blick zu. “Was willst du hier, Knasti? Hast du Geld?” Kevin zog ein paar zerknitterte Scheine aus der Hosentasche, die er über den Tag zusammengeschnorrt und zusammengesucht hatte. “Reicht für den Anfang.” Der Glatzkopf lachte rau. “Na schön, setz dich. Aber wenn du Stress machst, fliegst du raus.” Kevin rutschte auf einen Hocker und grinste gequält. Ihm war klar, dass er hier eigentlich nichts zu suchen hatte, aber Verzweiflung trieb ihn an. Die Karten wurden ausgeteilt, und Kevin versuchte, ruhig zu atmen. Manchmal hatte er etwas Talent fürs Bluffen, doch er wusste nie, wann ihm die Nerven durchgingen.