Wenn die Dunkelheit ruft - Tom Giesen - E-Book

Wenn die Dunkelheit ruft E-Book

Tom Giesen

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Beschreibung

Eine Gruppe alter Freunde trifft sich nach Jahren für eine Wanderung in den deutschen Wäldern – ein unschuldiges Abenteuer, das sich schnell in einen Albtraum verwandelt. Als ein Unwetter sie zwingt, in einer abgelegenen Hütte Schutz zu suchen, beginnt eine Kette unheimlicher Ereignisse: seltsames Flüstern, dunkle Geheimnisse und das Gefühl, beobachtet zu werden. Doch der wahre Horror liegt nicht nur im Wald – er wohnt tief in ihnen selbst. In einer Spirale aus Gewalt, Verführung und Wahnsinn verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Halluzination. Wer wird den Schatten entkommen – und wer wird ihr Teil? Ein packender Psychothriller über Schuld, Verlangen und die zerstörerische Macht der Dunkelheit.

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Seitenzahl: 156

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Titel: Wenn die Dunkelheit ruft

Autor: Tom Giesen

Biografie:

Tom Giesen wurde 1984 in Hamburg geboren und wuchs in einer kleinen Stadt an der Küste auf. Schon früh entdeckte er seine Leidenschaft für Geschichten und die dunklen Seiten des menschlichen Wesens. Er arbeitete in verschiedenen Berufen, bevor er sich entschloss, seine eigenen Erlebnisse und Fantasien in Worte zu fassen. Giesen ist Autodidakt und hat nie ein Literaturwissenschaften-Studium absolviert, sondern sich seine Schreibfähigkeiten durch jahrelange intensive Lektüre und eigene Schreiberfahrungen angeeignet.

Mit einer Vorliebe für psychologische Spannung und düstere Atmosphäre begann er, Thriller zu schreiben, die sich mit den Abgründen der menschlichen Seele und unheimlichen Ereignissen beschäftigen.

Kapitel 1: Einladung ins Ungewisse

Matthias „Matze“ Berger saß auf seinem durchgesessenen Sofa und starrte auf das zerknitterte Stück Papier in seiner Hand. Der Brief war kurz, die Schrift altmodisch geschwungen, fast schon elegant. Doch die Botschaft hatte ihn wie ein Faustschlag getroffen:

„Hütte 14, Hoher Schneeberg. Samstag, 20 Uhr.

Es wird Zeit, die Vergangenheit aufzuarbeiten.

Kommt alle. Ihr wisst, warum.“

Matze knüllte den Brief zusammen, nur um ihn gleich wieder aufzureißen und erneut zu lesen. „Ihr wisst, warum.“ Diese vier Worte hatten ihn den ganzen Tag verfolgt. Natürlich wusste er, warum.

Er spuckte in die leere Bierdose auf dem Tisch und knurrte: „Verdammte Scheiße. Wer zum Teufel spielt hier Spielchen?“

Neben ihm lagen die Überreste seines Mittagessens – eine kalte Pizza, zwei halbleere Bierflaschen und ein Aschenbecher, der kurz davor war, überzulaufen. Er nahm einen kräftigen Zug aus einer der Flaschen, lehnte sich zurück und starrte an die fleckige Decke seiner winzigen Wohnung in Mannheim.

Am gleichen Abend, in einer edlen Altbauwohnung in Frankfurt, hielt Nina Seidel denselben Brief in der Hand. Sie hatte ihn mehrfach gelesen, doch ihre perfekt manikürten Fingernägel zitterten noch immer leicht. Sie stand vor ihrem riesigen Spiegel im Schlafzimmer und betrachtete ihr Spiegelbild: die elegante, kühle Anwältin, die keine Fehler machte.

„Hütte 14... Wer denkt, dass er mir drohen kann, der kennt mich schlecht“, murmelte sie und zündete sich eine Zigarette an. Ihr Ton war hart, doch ihre Gedanken rasten.

„Scheißkerle. Alle.“ Sie erinnerte sich an die Gesichter ihrer alten Freunde. Matze, dieser Prolet, der immer stank wie ein Penner. Chris, der sich für den größten Casanova hielt. Und Sarah, die sich nie traute, die Klappe aufzumachen. Tobias... der arme Idiot, der sein Leben sowieso schon verkackt hatte.

„Warum sollte ich überhaupt hingehen?“ fragte sie sich laut. Doch eine Stimme in ihrem Kopf flüsterte: Weil dudamals dabei warst. Und weil du etwas zu verlieren hast.

Währenddessen schlenderte Christian „Chris“ Werner durch eine laute Bar in Berlin, den Brief in der Tasche seiner abgewetzten Lederjacke. Die Musik dröhnte, und der Geruch von Schweiß und billigen Drinks hing in der Luft. Er hielt ein Glas Whiskey in der Hand, das er in einem Zug leerte, bevor er sich an die blonde Kellnerin wandte, die ihm ein Lächeln zuwarf.

„Noch ’nen Doppelten“, sagte er und klatschte ein paar Scheine auf den Tresen. „Mach schnell, Süße, ich hab’s eilig.“

„Jaja, ganz ruhig, Cowboy.“ Die Kellnerin verdrehte die Augen, doch Chris grinste nur.

Als der Drink kam, kippte er ihn sofort herunter. Der Brief brannte ihm förmlich in der Tasche. Er hatte überlegt, ihn einfach zu ignorieren. Warum sich mit alten Geistern herumschlagen? Aber dann hatte er an Nina gedacht, an ihre langen Beine, die er damals immer heimlich begafft hatte.

„Scheiß drauf“, murmelte er, warf ein paar Münzen auf den Tresen und machte sich auf den Weg.

Sarah Hoffmann saß in ihrer kleinen Buchhandlung in Stuttgart, umgeben von dicken Wälzern und dem Geruch nach altem Papier. Ihre Hände zitterten, als sie den Brief faltete und ihn sorgfältig in einer Schublade verschwinden ließ.

„Das kann nicht wahr sein“, flüsterte sie. Ihre Stimme war brüchig, und Tränen standen ihr in den Augen. Die Erinnerung an den Unfall war wie ein Splitter in ihrem Kopf, den sie nie herausziehen konnte.

Ein Kunde kam herein und wollte sie nach einem Buch fragen, doch sie wimmelte ihn ab. „Wir schließen in fünf Minuten“, sagte sie schroff, obwohl es erst 16 Uhr war.

Als der Kunde ging, setzte sie sich auf ihren alten Holzstuhl und starrte ins Leere. Sie wusste, dass sie keine Wahl hatte.

Am Samstagabend waren alle fünf auf dem Weg.

Die Straße zum Hohen Schneeberg war eng und kurvenreich, und der Winter hatte sie mit einer dicken Schicht aus Schnee und Eis überzogen. Matze fluchte, als sein klappriger VW Golf ins Schleudern geriet.

„Verdammte Dreckskarre!“ brüllte er und schlug auf das Lenkrad. „Wenn ich hier verrecke, ist das eure Schuld, ihr Wichser!“

Nina saß angespannt in ihrem schwarzen Audi und schaltete die Heizung höher. „Typisch Schwarzwald“, murmelte sie. „Scheiß Kälte, scheiß Straßen. Wenn ich erfriere, verklag ich jemanden.“

Chris kam als Erster an. Die Hütte war größer, als er erwartet hatte – ein düsteres Gebäude aus dunklem Holz, das unter einer schweren Schneedecke lag. Der Kamin rauchte, und ein schwaches Licht war durch die Fenster zu sehen.

„Na großartig“, sagte er und zündete sich eine Zigarette an. „Das sieht ja aus wie die Kulisse für ’nen billigen Horrorfilm.“

Er öffnete die knarzende Tür und trat ein. Der Raum roch nach Holz, altem Rauch und etwas Unangenehmem, das er nicht sofort einordnen konnte.

„Hallo?“ rief er. Keine Antwort.

Dann hörte er Schritte hinter sich. Als er sich umdrehte, stand Matze in der Tür, seine Jacke voller Schneematsch.

„Na, guck mal an“, sagte Matze und zog die Nase hoch. „Der feine Herr Werner. Haste dich immer noch nicht totgesoffen?“

Chris grinste breit. „Und du stinkst immer noch wie ’ne Müllhalde, seh ich das richtig?“

„Fick dich.“

„Jaja, du mich auch, Matze.“

Es war, als hätten die 20 Jahre nie existiert. Und das war erst der Anfang.

Kapitel 2: Ankunft in der Hölle

Chris hatte sich gerade in einen abgewetzten Sessel in der Ecke der Hütte fallen lassen, die Zigarette lässig zwischen den Fingern, als Matze schwerfällig seine nassen Stiefel auszog und mit einem Plumps auf eine alte Holzkiste setzte.

„Sag mal, ist das hier ’ne Absteige oder ’ne Geisterbahn?“ fragte Matze, während er seine Stiefel auf den Boden knallte, sodass der Matsch spritzte.

„Schön, dass du fragst, Matze. Ich dachte, das hier wär dein Wohnzimmer“, konterte Chris und nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette.

„Halt die Fresse, du Schnösel.“

Chris grinste nur. Er genoss es, Matze zu provozieren. Der Typ war immer schon leicht aus der Haut gefahren, und das war damals in der Schule nicht anders gewesen.

Die Tür knarrte erneut, und Nina trat ein. Sie zog sich sofort die schwarzen Lederhandschuhe aus, die sie bis zum Ellbogen trug, und blickte sich um.

„Großartig“, sagte sie trocken, während sie sich den Schnee von den Absätzen ihrer Stiefel klopfte. „Ich hätte wissen müssen, dass ich in der Hölle lande, wenn ich auf euch treffe.“

„Ach, guck mal, die Anwältin“, begrüßte Matze sie mit einem schiefen Grinsen. „Na, hast du’s geschafft, dich von deinem Bürostuhl loszureißen? Oder hat dein Chauffeur heute frei?“

„Spar dir die Scheiße, Matze“, schnappte Nina zurück und warf ihren Mantel über einen Stuhl. „Du kannst dir nicht mal ’nen anständigen Haarschnitt leisten, also tu nicht so, als könntest du mich beeindrucken.“

Chris lehnte sich zurück und lachte. „Da haben wir sie wieder, unsere Nina. So kalt wie ein Kühlschrank. Kein Wunder, dass keiner länger als drei Wochen mit dir zusammenbleibt.“

„Ich würde ja was dazu sagen“, konterte Nina mit einem spöttischen Lächeln, „aber du bist wahrscheinlich schon zu betrunken, um’s zu verstehen.“

Matze schnaufte. „Ihr seid alle noch genauso beschissen wie früher. Kein Wunder, dass wir nie was auf die Reihe gekriegt haben.“

„Sagt der Typ, der seit zwanzig Jahren in derselben Dorfkneipe versackt“, feuerte Nina zurück.

Bevor Matze antworten konnte, knallte die Tür erneut auf. Ein stämmiger, bärtiger Mann trat ein, der Schnee an seiner Jacke und das Gesicht einer wandelnden Leiche hatte. Es war Tobias.

„Mahlzeit“, brummte er und schloss die Tür hinter sich mit einem lauten Knall.

„Na, wenn das nicht unser Lieblingscop ist“, sagte Chris. „Oder Ex-Cop, oder wie sagt man dazu, wenn man rausfliegt?“

„Fick dich, Chris.“ Tobias stapfte rein und stellte eine Plastiktüte mit billigen Dosenbieren auf den Tisch. „Ich hab nicht ’nen Scheißjob wie du, wo ich Leute abziehen muss, um an Geld zu kommen.“

Chris grinste. „Neidisch? Hättest du mal deine Finger von der Flasche gelassen, wärst du vielleicht noch in Uniform.“

Tobias’ Augen blitzten gefährlich, doch bevor er etwas sagen konnte, kam Sarah herein.

Sie sah aus, als hätte sie auf dem Weg zur Hütte jeden Baum einzeln umarmt. Ihre Wangen waren rot vom kalten Wind, ihre dicke Winterjacke voller Schneeflecken. Sie hielt die Tür nur halb offen, als hätte sie Angst, einzutreten.

„Oh, toll“, murmelte Chris, „jetzt fehlt nur noch das Kätzchen.“

Sarah schob ihre Brille hoch und versuchte, ein Lächeln zustande zu bringen. „Hallo. Schön, euch zu sehen.“

„Schön, uns zu sehen?“ Nina lachte höhnisch. „Wir sitzen hier in dieser gottverdammten Bruchbude, und du kommst rein, als wär’s ’n Kaffeekränzchen. Typisch.“

Sarah errötete und schloss die Tür hinter sich. Sie zog sich ihre Handschuhe aus und starrte nervös auf ihre Schuhe.

„Genau wie früher“, sagte Matze und ließ ein dreckiges Lachen hören. „Immer noch dieselbe graue Maus, was?“

Sarah sah auf, und für einen kurzen Moment schien es, als wollte sie etwas sagen. Doch dann schüttelte sie nur den Kopf und setzte sich wortlos in die Ecke.

Die Gruppe stand nun um den alten Holztisch in der Mitte des Raums. Chris hatte die erste Bierdose aufgerissen, Matze war ihm gefolgt, und Tobias hatte bereits drei leere Dosen neben sich aufgestapelt. Nina hielt ein Glas Rotwein, das sie aus ihrer eigenen Flasche eingeschenkt hatte. Sarah nippte an einem Tee, den sie sich aus der Hüttenküche gemacht hatte.

„Also“, begann Nina, ihre Stimme eisig, „wer von euch Vollidioten hat das hier organisiert?“

„War nicht meine Idee“, sagte Matze und hob die Hände. „Ich hab nicht mal ’nen Computer.“

„Hätt’ ich mir denken können“, murmelte Nina.

„Was soll die Scheiße eigentlich?“ fragte Tobias und lehnte sich schwerfällig zurück. „Das hier ist doch kein Zufall. Jemand wollte uns hierherlocken.“

„Keine Ahnung, wer das war“, sagte Chris und nahm einen Schluck. „Aber wenn’s einer von euch ist, dann mach dich auf was gefasst. Ich hab keine Zeit für Kinderkram.“

Sarah räusperte sich, ihre Stimme leise. „Vielleicht… vielleicht sollten wir einfach warten. Vielleicht kommt jemand.“

„Warten?“ Matze lachte laut. „Scheiß Idee. Wenn du jemanden erwartest, der hier mit Kuchen reinkommt, wirst du lange sitzen.“

Nina seufzte. „Das hier ist doch komplett bescheuert. Wir wissen alle, warum wir hier sind. Es geht um… damals.“

Stille. Die Worte hingen in der Luft wie Rauch.

Matze knallte seine Bierdose auf den Tisch. „Ich schwör’s euch, wenn einer von euch mich anschwärzt oder die Fresse aufmacht, gibt’s was auf die Fresse. Klar?“

„Du machst immer noch auf dicken Macker, was?“ fragte Chris spöttisch. „Wie damals, als du nicht mal einen Stuhl tragen konntest, ohne dich auf die Fresse zu legen.“

„Fick dich, Chris.“

„Mach doch“, grinste Chris und hob sein Glas. „Aber pass auf, ich bin schneller, als du denkst.“

„Hört auf!“ Sarahs Stimme war plötzlich scharf, fast panisch. Alle starrten sie an, überrascht von ihrem Ausbruch.

„Können wir… können wir nicht einfach reden?“

„Reden?“ Nina zog eine Augenbraue hoch. „Worüber? Darüber, dass wir damals ein Leben zerstört haben? Oder darüber, dass wir alle zu feige waren, irgendwas dagegen zu tun?“

Keiner antwortete.

Draußen heulte der Wind, und die Temperatur in der Hütte schien zu sinken. In dieser Nacht würde noch Blut fließen. Das wussten sie alle – auch wenn sie es nicht aussprechen wollten.

Kapitel 3: Glühende Schatten

Die Nacht hatte sich wie ein schwerer Vorhang über die Hütte gelegt, und das Knistern des Kamins war das einzige Geräusch, das die drückende Stille durchbrach. Tobias saß abseits der anderen auf einem niedrigen Hocker, ein weiteres Bier in der Hand. Seine Augen glitten immer wieder zu Sarah, die allein auf der Bank nahe des Fensters saß. Ihre zierliche Gestalt, eingerahmt von ihrem dicken Wollpullover, wirkte fehl am Platz zwischen der derben Atmosphäre der Hütte und den spöttischen Kommentaren der anderen.

„Hey, Sarah.“ Tobias' Stimme war rau, tief, und schnitt durch das leise Murmeln der anderen Gespräche. „Was machst du da drüben? Willst du nicht zu uns kommen?“

Sarah hob den Kopf, ihre Wangen noch immer gerötet, sei es von der Kälte oder der peinlichen Spannung, die seit ihrer Ankunft in der Luft lag. „Ich… ich bin okay hier“, sagte sie leise, fast schüchtern.

„Ach komm“, drängte Tobias und stand auf. Seine massige Gestalt bewegte sich schwerfällig, aber zielstrebig in ihre Richtung. „Du bist immer so verdammt höflich. Warum nicht mal ein bisschen locker lassen? Wir sind doch unter uns.“

Sarah lächelte unsicher, doch sie wich seinem Blick nicht aus, als er sich neben sie setzte, so dicht, dass sie seinen Körper spüren konnte. Sein Geruch – ein Mix aus Bier, Tabak und der kalten Winterluft – umhüllte sie.

„Ich bin… einfach nicht so gut in solchen Situationen“, murmelte sie, die Finger um ihre Tasse Tee gekrallt.

Tobias lachte tief, ein fast gutturales Geräusch. „Kein Ding. Weißt du, du warst schon damals anders. Immer die Ruhige, immer die Vernünftige. Aber ich hab mich gefragt… bist du auch mal anders? Wenn keiner hinguckt?“

Sarah blickte ihn überrascht an, ihre Augen groß hinter der Brille. „Was meinst du?“

Er lehnte sich näher, so nah, dass sie seinen Atem auf ihrer Wange spüren konnte. „Ich meine, vielleicht hast du ja auch eine andere Seite. Eine, die niemand kennt. Nicht mal diese selbstgefälligen Idioten da drüben.“

„Tobias…“ Ihre Stimme war ein Flüstern, fast erstickt von der plötzlichen Intimität zwischen ihnen.

Er hob eine Hand und strich ihr eine widerspenstige Haarsträhne aus dem Gesicht, ließ seine Finger dabei länger verweilen, als nötig war. „Du musst nicht immer die brave Sarah sein. Vielleicht ist es Zeit, ein bisschen Spaß zu haben.“

Sarahs Herz schlug schneller, und sie wandte den Blick ab, doch Tobias ließ nicht locker.

„Weißt du noch damals?“ fragte er, seine Stimme jetzt sanfter. „Du hast mich immer mit diesen großen Augen angesehen. Hast gedacht, ich merk’s nicht, oder?“

„Ich… ich weiß nicht, wovon du redest“, stammelte sie, doch ihre zittrigen Hände verrieten sie.

Tobias grinste, ein schiefes, raues Grinsen. „Ach komm, Sarah. Ich bin nicht blind. Und ich bin auch nicht dumm.“

Er legte eine Hand auf ihre, groß und rau, aber nicht unangenehm. „Vielleicht sollten wir einfach mal das tun, worauf wir Lust haben. Ohne all die Scheiß-Regeln, ohne all die Gedanken an damals.“

„Tobias, das ist nicht… das wäre nicht richtig“, sagte sie, doch ihre Stimme klang weniger überzeugt, als sie wollte.

„Richtig? Was zur Hölle ist hier überhaupt noch richtig?“ Er beugte sich vor, seine Lippen so nah an ihrem Ohr, dass sie fast zusammenzuckte. „Wir sind hier alle am Arsch, Sarah. Jeder von uns. Also warum nicht wenigstens für einen Moment so tun, als wären wir’s nicht?“

Sarah spürte, wie ihre Abwehr bröckelte. Seine Nähe, seine Stimme, die raue Wärme seiner Hand – all das fühlte sich plötzlich gefährlich gut an. Sie wusste, dass sie ihn zurückweisen sollte, doch die dunklen Schatten ihrer Vergangenheit flüsterten ihr zu, dass sie sich einfach fallen lassen sollte.

„Tobias…“ Sie sah ihn an, ihre Augen glänzend.

Er antwortete nicht. Stattdessen zog er sie näher zu sich, seine Hände fest und fordernd. Seine Lippen fanden ihre, forsch und ungeduldig, und sie ließ es zu, ohne nachzudenken.

Die Zeit schien stillzustehen, als sie den Tee vergaß, die anderen vergaß, alles vergaß außer der Hitze zwischen ihnen. Tobias drückte sie leicht gegen die Fensterbank, und Sarah ließ ein leises, überraschter Laut entweichen, der ihn nur noch mehr antrieb.

„Siehst du?“ murmelte er gegen ihre Lippen. „Ich wusste, dass da mehr in dir steckt.“

„Tobias…“ Ihre Worte waren ein leises Wimmern, halb Widerstand, halb Hingabe.

„Schh“, machte er, seine Hände nun unter ihrem Pullover, rau und fordernd, aber nicht grob. „Ich zeig dir, wie man vergisst. Wenigstens für heute Nacht.“

Draußen tobte der Wind weiter, während die anderen drinnen nichts von der stillen Eskalation bemerkten. Doch die Spannung in der Hütte hatte sich verändert, als hätte etwas Dunkles und Verbotenes Einzug gehalten. Es war erst der Anfang.

Kapitel 4: Blutrote Schatten

Der Morgen war grau, kalt und still. Das Feuer im Kamin war fast erloschen, und nur die glimmenden Überreste der Holzscheite spendeten noch ein schwaches Licht. Die Hütte roch nach Rauch, abgestandenem Bier und der schweigenden Anspannung, die sich über Nacht wie eine unsichtbare Decke über die Gruppe gelegt hatte.

Matze war der Erste, der wach wurde. Mit einem grummelnden Fluch rieb er sich die Augen und griff blindlings nach der halb leeren Bierdose neben seinem Schlafsack. „Scheiß Nacht“, murmelte er und nahm einen Schluck, bevor er das Gesicht verzog.

„Warm. Geil“, spuckte er und warf die Dose quer durch den Raum. Sie landete mit einem dumpfen Klatschen an der Wand, doch niemand rührte sich.

Er ließ den Blick durch den Raum schweifen und entdeckte Tobias, der auf einer der alten Sofas lag und schnarchte, eine leere Bierflasche fest umklammert. Nina war nicht zu sehen, wahrscheinlich draußen oder in der Küche. Und Sarah…

Matze starrte auf den leeren Platz neben Tobias. Sarahs Jacke hing über der Lehne des Stuhls, aber von ihr selbst war keine Spur.

„Na, großartig“, murmelte er, stand auf und dehnte sich.

Sein Rücken knackte laut, und er fluchte erneut. „Als ob der Tag nicht schon scheiße genug anfängt.“

Chris war der Nächste, der sich regte. Er lag quer über einem Stapel alter Decken, die Zigarette der letzten Nacht noch immer zwischen den Fingern. „Verdammte Hütte“, murmelte er, setzte sich auf und schielte zu Matze. „Du siehst noch beschissener aus als sonst.“

„Fick dich, Chris“, grummelte Matze, bevor er in Richtung Küche schlurfte.

Nina stand draußen, eine Zigarette zwischen den Fingern und die Augen auf den grauen Wald gerichtet. Der Schnee war in der Nacht noch tiefer geworden, und die kahlen Bäume wirkten wie drohende Schatten gegen den Himmel. Sie nahm einen tiefen Zug und blies den Rauch langsam aus.

„Kalter Morgen für so’n Scheiß, oder?“

Nina drehte sich um und sah Chris, der in der Tür stand, die Arme vor der Brust verschränkt.

„Was willst du?“ fragte sie kühl, während sie die Zigarette ausdrückte.

„Nur sehen, ob du immer noch die unnahbare Eisprinzessin spielst.“

„Geh sterben, Chris.“

Er lachte und trat hinaus in den Schnee. „Weißt du, du kannst mich ruhig hassen, Nina. Aber du musst zugeben: Ohne mich wär’s hier verdammt langweilig.“

„Oh, da bin ich mir sicher“, murmelte sie sarkastisch, bevor sie wieder in die Hütte ging und die Tür vor seiner Nase zuschlug.