Rattenscharf - Sofie Seidl - E-Book

Rattenscharf E-Book

Sofie Seidl

4,8

Beschreibung

Als er einen toten OB Kandidaten findet, wird der schwule Rattenmann Maxi von seinen Clanchefs mit der Mördersuche beauftragt. Dadurch soll er, der im Zentrum Münchens für "Foreign Affairs" zuständig ist, uns Menschen von der Nützlichkeit seiner verkannten Spezies überzeugen. Ein gewaltiges Rattennetzwerk - multikulti, schlau und manchmal a bisserl bayrisch - hilft ihm bei seiner Jagd quer durch die Weltstadt mit Herz. Leider macht der fette Kater Franz-Josef Münchens Straßen unsicher, außerdem sorgt Maxis unglückliche Liebe zu Armand, dem 100-prozentigen Hetero, für Dauerfrust. Trotzdem gelingt es Maxi, für Kommissarin Lisi Moosgruber den Täter zu entlarven. Dabei gerät er allerdings in Lebensgefahr ...

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FÜR MARKUS UND JAN IN LIEBE

Die Autorin wurde 1960 im Herzen von München geboren, flanierte mit ihrer Oma täglich durch die Münchner Innenstadt und schrieb mit 8 Jahren ihre ersten Kurzgeschichten. Nach dem Abitur schloss sie zunächst eine zweijährige Ausbildung als Zeitungsjournalistin ab und studierte anschließend Sozialpädagogik. Sofie Seidl arbeitete acht Jahre als Journalistin, Pressereferentin und Lektorin und betreute 15 Jahre lang benachteiligte Jugendliche. Mit 48 Jahren begann sie Romane zu schreiben. „Rattenscharf“ ist der erste Roman unter dem Pseudonym Sofie Seidl mit Maxi, dem liebenswertgenialen Münchner Ratten-Ermittler

Inhalt

Viele Ratten und ein Todesfall

Gestatten mein Name ist Ratt - James Ratt

In Rattes Namen

Das Rattenmännchen und die Kommissarin

Rattenblues

Ratte am Zug

Ratte am Dampfen

Ein Rattenschwanz an Problemen

Eine Ratte geht den Bach runter

Das Ratt ist ab

Ratte im Bouquet

Ratto Artistico

Ratzfatz

Die Wasserratten vom Großen Teich

Schach Ratt

Ratte mit Stil

Epilog

Ein dickes Dankeschön …

München Innenstadt – © OpenStreetMap-Mitwirkendehttp://www.openstreetmap.org/copyright Karte unter CC BY-SA 2.0 lizensiert

1 Viele Ratten und ein Todesfall

Ja, ich kenne ihn, ganz sicher! Diesen deftig-zarten, saftigen, unwiderstehlichen Geruch! Er ist sehr schwach, gewissermaßen nur ein Hauch, aber eindeutig vorhanden. Er schlängelt sich, einem Rauchfädchen gleich, in mein linkes Nasenloch. Dort streicht er sanft über hunderte winziger Hochleistungsrezeptoren in mein rechtes Nasenloch. Schließlich füllt er meine innere Welt komplett aus.

Meine Nase hat jetzt ganz von allein das Kommando übernommen und reißt meinen Körper um 73 Grad nach links auf die Fährte. Mein Gehirn hinkt den Ereignissen gerade einige Sekunden hinterher.

Dann plötzlich flutet die Erkenntnis mein Bewusstsein:

„FLEISCHPFLANZERLSEMMEL!!!“ – vom Biometzger!

Voll freudiger Erregung springe ich mit Mach 2 aus Gang 4 hinaus und renne auf das Objekt meiner Begierde zu. Mein eingebauter Computer meldet:

„Noch 4 Se-kun-den … noch 3 Se-kun-den … noch 2 … eine … Sie haben Ihr Ziel erreicht.“

Es ist jetzt Freitag, Mitte März nach Menschenrechnung und kurz vor der Morgendämmerung. Hier auf dem Marienhof in München – meiner bescheidenen Meinung nach der schönsten Stadt der Welt – direkt hinter dem Rathaus ist um diese Uhrzeit Gott sei Dank noch fast nichts los. Und so schlau ich auch generell bin (das muss hier mal gesagt werden), beim F-WORT setzt meine Vernunft aus und die Sucht übernimmt. „I admit, I’m an addict, my lord“. Schwerstabhängig, Motivation zum Entzug gleich null.

Ich stürze mich also auf den herrlichen Leckerbissen und genieße das unverhoffte Festmahl.

Mampf!… genau die richtige – Schlabber! …die richtige Mischung – Skruntsch! … Mischung von Fleisch und Ketchup – Rrrülps!! Oh, Verzeihung!

Nach dieser göttlichen Mahlzeit lasse ich mich auf die Hinterläufe plumpsen und streiche mir über das nach dem Essen wohlgerundete Bäuchlein. Na gut, ich gebs ja zu, dass es auch sonst nicht mehr der flachen Seite des zunehmenden Mondes gleicht, sondern sich eher der anderen annähert, aber nur ein kleines bisschen.

Während ich so verklärt vor mich hinschaue, fällt mein Blick auf ein dunkles Etwas, ca. fünf Meter entfernt, das aussieht, wie ein kleiner Berg Altkleider. Fast unwillig zieht mich meine Neugier in Richtung des schwarzen Bündels. Beim langsamen Näherkommen sehe ich, dass ein Auswuchs aus dem Haufen ragt, wie ein kleiner Ast mit ein paar winzigen Zweiglein am Ende.

Die Erkenntnis trifft mich wie ein Blitzschlag:

Das ist der Arm und die Hand eines Menschen.

Eines toten Exemplares, um genau zu sein.

Wieso habe ich den Toten nicht gleich bemerkt? Meine F-Sucht macht mir allmählich Sorgen! Denn jetzt rieche ich es ganz genau: Toter Mensch, männlich, ca. 46, seit 2 bis 2,5 Stunden tot, etwa 1,3 Promille. Auf meinen Riechkolben kann ich mich hundertprozentig verlassen. Schließlich bin ich eine Ratte.

Jetzt nicht den Kopf verlieren!

Panisch renne ich zurück zu Ausgang 4 unseres Baus, bremse kurz davor ab, drehe mich im Powerslide um die eigene Achse, eile wieder zurück zu dem Toten und verharre dort unschlüssig hechelnd auf der Stelle. Irgendwie scheint es mir falsch, ihn alleine zu lassen, obwohl das natürlich kompletter Blödsinn ist. Schließlich ist der Mann tot!

Da Fluchtinstinkt einerseits und Verantwortungsgefühl andererseits auf mich einwirken und mich in der Mitte auseinanderzureißen drohen, löse ich den Konflikt auf die traditionelle Art:

Ich setze mich hin und fange an, meinen Körper zu putzen, in seiner ganzen durchschnittlichen Wanderrattenmann-Länge von 26cm. Mein agoutifarbenes Fell – haselnussbraun mit schwarzen Spitzen, am Bauch silbergrau – ist mein ganzer Stolz. Meine samtschwarzen Augen übersehen darin kein Stäubchen!

Als ich mich gerade mit Hingabe der Säuberung meines 19cm langen Schwanzes widme, erklingt hinter mir plötzlich eine laute Stimme.

„Hey Maxi, wasn los Alter?“

Ich springe einen gefühlten Meter in die Höhe.

„Mensch Zwiebel geht’s dir noch gut! Mich so zu erschrecken!“

Ich presse die rechte Pfote auf meine Herzgegend und warte, dass die Pumpe von Turbo wieder auf Normal runterschaltet.

Zwiebel ist mein Bruder und ein Punk. Er hat sich auf der linken Körperseite das Fell komplett abrasiert, ist also zweifarbig: auf der Fellseite schlammbraun, auf der nackerten schweinchenrosa. Bis sich mein Herzschlag wieder auf die normale Frequenz von 450 Schlägen in der Minute gesenkt hat, ist Zwiebel im Schlendergang bei der Leiche angekommen.

„Der sieht aber gar nich gut aus“, kommentiert er die Lage. Im Vergleich zu wem, denke ich, schlucke die Bemerkung aber runter. Im Grunde bin ich nämlich froh, jetzt nicht mehr allein zu sein. Auch, wenn Zwiebel nicht gerade der Macher ist, eher Typ Mitläufer. Wir Ratten sind ganz klar Herdentiere.

Durch Zwiebels Anwesenheit etwas beruhigt, beginnt mein Kopf wieder klarer zu denken. „Lass uns den Toten kurz genauer anschauen“, murmele ich mehr zu mir selbst und bin schon dabei, vorsichtig und in respektvollem Abstand um die Leiche herumzuwandern.

Der Tote liegt auf dem Bauch, ein Arm ist nach vorne ausgestreckt, der andere unter dem Körper zum Liegen gekommen. Vom Gesicht sieht man nur die rechte Seite und die nicht ganz, weil der Mantelkragen ein bisschen hochgerutscht ist.

Hmm, gepflegte Kleidung, saubere, glatte Fingernägel. Ein Finger zeigt eine schwache rundum verlaufende Delle. Ich schau genauer hin. War da vielleicht vorher ein Ring dran, den der Mörder mitgehen hat lassen? Puh, die Finger riechen ziemlich scharf nach Zitrone. Oh! Auf dieser Seite ist die Jackentasche ausgerissen. Hat da wer schnell-schnell die Brieftasche geklaut? Ordentlich geschnittenes Haar …

„Um Gottes Willen!“, rufe ich und hüpfe rückwärts, „der hat ein riesiges Loch am Hinterkopf!“.

Das ausgetretene Blut hat eine kleine Lache gebildet, die bereits halb getrocknet ist und im Licht der Dämmerung schwarz erscheint. Ich beschließe, dass ich erst mal genug gesehen hab.

Einen Moment lang halte ich für das Kontem inne, die kurze Andacht aus Respekt vor einem toten Lebewesen. Die meisten von uns Ratten sind nicht religiös. Aber wir haben eine ausgeprägte Achtung vor dem Leben und sind dankbar dafür. Der Tod gehört zwar zur Natur, aber es ist immer schade, wenn eine Existenz endet, zumal früher, als es hätte sein müssen. Denn hier geht es glasklar um Mord. Um das zu erkennen, muss man kein Genie sein. Auch, wenn der tote Mann einer anderen Spezies angehört, fühle ich mich verpflichtet, mein Bedauern zu zeigen. Einfach, weil sonst niemand da ist, der es tun könnte.

Ich senke den Kopf und schließe die Augen. Ich öffne mein Herz für den Menschen, der dieser Tote einst war und den ich nicht gekannt habe. Dann mache ich meine Ohren weit für die Geräusche des frühen Morgens in der Stadt, das Zwitschern der Vögel, eine sanfte Brise, einzelne Automotoren, die in der Ferne aufheulen. Damit Neues entstehen kann, muss Altes vergehen. So ist der Lauf unserer Welt.

„Als erstes müssen wir den Fund melden, die Clans müssen in Bereitschaft versetzt werden“, wende ich mich an Zwiebel. „Bald wird es hier von Menschen wimmeln: Arzt, Polizisten, Spurenleser (oder wie die heißen), Neugierige usw. Hab ich kürzlich schon mal erlebt, bei diesem Einbruch im Juweliergeschäft in der Maximilianstraße. Da war die Hölle los! Ausgangssperre bis auf Weiteres, würd ich sagen.“

Zwiebel stimmt mir zu. Er ist ein guter Kumpel, aber manchmal ein bisserl verpeilt. Ich glaub, er weiß gar nicht, was „Punk“ eigentlich bedeutet. Äh, zugegeben, ich auch nicht so wirklich. Wir eilen zum Bau zurück. In rasantem Tempo hechte ich in Gang 4, Zwiebel folgt mir auf den Hinterpfoten. Währenddessen fiepe ich laut nach Marktschreier, dessen Aufgabe es ist, die neuesten Nachrichten sofort in meiner Heimstatt, dem Clan Marienhof, zu verbreiten und sie dann umgehend der Inforatte des nächstliegenden Clans mitzuteilen. Diese informiert dann ihrerseits den Boten des nächsten Clans und so weiter. Läuft alles nach einem genau festgelegten Plan ab – und in Worp-Geschwindigkeit.

In der ersten Kammer unseres Wohnkessels angekommen, sehe ich gerade noch, wie ein hellgrauer Pelzrücken im Durchgang zur nächsten Kammer verschwindet – vermutlich der von Marktschreier. Ich setze gerade zu einem weiteren Schrei an, da bemerke ich mehrere Clanmitglieder, die in der Kammermitte zusammengeknäuelt vor sich hin dösen und stoppe abrupt ab. Zwiebel, der nicht mehr rechtzeitig bremsen kann, knallt voll in mich rein.

Als Fellbündel mit acht Pfoten schliddern wir auf die Kesselmitte zu. Dort haben sich mehrere Urgroßmütter sowie einige Großonkel und andere nicht mehr ganz taufrische Clanmitglieder zu einem gemütlichen Haufen zusammengerollt. Eine Krallenbreite von der Vorderpfote von Großonkel Joseph entfernt kommen wir zum Stehen.

Er und vier weitere Oldtimer werfen uns vernichtende Blicke zu. Da es hier besser ist, die Klappe zu halten, hasten wir weiter zu Kammer 2. Auch dort sehe ich von (dem vermutlichen) Marktschreier leider nur noch die Schwanzspitze im Durchgang gegenüber verschwinden.

Bei unserem Lauf zur dritten Kammer treffen wir auf Sirkit, unsere selbstbewusste Austausch-Rättin aus Indien, die einst nur für ein paar Wochen unsere Münchner Lebensweise studieren wollte. Sie ist hier geblieben und hat mittlerweile eine mehrköpfige Familie. Außerdem ist sie meine beste Freundin. Sie hat Marktschreier tatsächlich gerade in Ausgang 1 verschwinden sehen.

Ich lege noch einen Zahn zu und fiepe, was das Zeug hält: „Marktl, Zefünferl, jetzt bleib hoit endlich steh, du Depp, du bläda!!“ In Stresssituationen verfall ich gern ins Bayrische.

Marktschreier hält tatsächlich an und dreht sich verblüfft um. „Notfall“, rufe ich, „Menschlicher Leichenfund an der Oberfläche bei Ausgang 4“.

Jetzt ist der Marktl endlich bei der Sache, hört zu, fragt mir Löcher in den Bauch und saugt sämtliche Infos praktisch aus mir heraus. Als alles gesagt ist, halte ich mir schnell mit beiden Vorderpfoten die Ohren zu, denn Marktschreier ruft in einer speziellen Ultraschall-Frequenz alle Clanmitglieder zum Zuhören auf.

Zwiebel war leider nicht so geistesgegenwärtig wie ich. Während auch er jetzt verspätet die Pfoten auf seine Lauschlappen presst, wackelt sein Kopf hin und her und seine Augäpfel drehen sich leicht nach innen. Marktschreiers Stimme wirkt: Alle Clanmitglieder im Umkreis von 10 Metern unseres Baus über und unter der Erde halten sofort paralysiert inne und hören den Neuesten Nachrichten zu.

„Liebe Clan-Mitglieder, nahe Ausgang 4 wurde an der Oberfläche eine menschliche Leiche entdeckt! Der Rat ist aufgerufen, sich sofort in Kammer 2 einzufinden und weitere Anweisungen zu erteilen!“

Mein Clan zählt 91 Tiere und meist herrscht bei uns eine lockere, milde anarchistische Basisdemokratie. Nur wenn es gefährlich wird, bilden sich hierarchische Strukturen. Dafür gibt es den Rat, der sofort die Führung übernimmt und von den anderen ohne Diskussion als Chefgremium akzeptiert wird. Für die Zeit der Krise.

Die drei Ratsmitglieder Großonkel Xaver und die Clanmitglieder Anna und Vitus besprechen kurz und leise die Lage in der in Windeseile freigemachten Kammermitte. Alle anderen im Bau befindlichen Clanmitglieder drängeln sich drumrum bis an die Wände, in den anderen Kammern und Gängen und warten schweigend auf die Anordnungen des Rates. Zwei Minuten später stellt Marktschreier sein Organ wieder auf volle Lautstärke:

„Ab sofort herrscht Ausnahmezustand! Keine Ratte verlässt den Bau! Alle Ratten, die sich außerhalb befinden, werden sofort von Moses in den Bau zurückgeholt!“

Sofort setzt lautes Gemurmel im Pulk ein, das Marktschreier jedoch gleich wieder niederbrüllt.

„Maxi, komm zu uns in die Mitte! Ist Maxi anwesend?!“ Mann, fehlt nur noch, dass er fragt, ob ich ihn auch wirklich hören kann. Maxi, das bin nämlich ich (kommt von „Maximilian“, sagt meine Schwester Kathi, kommt von „Maximus“, sage ich). „Ich komm gleich!“, ruf ich zurück und mach mich auf den Weg. Was aufgrund meiner Fell an Fell gedrängt stehenden Clangenossen gar nicht so leicht ist.

Ich quetsch mich halt durch, so gut es geht. „Tschuldigung! Lasst mich mal durch! Geht bitte mal zur Seite! Oh Verz …!“. Dümmliche Floskeln vor mich her faselnd schiebe, drücke und drehe ich mich mit Schmackes in Richtung Zentrum. Als ich ankomme, ist mein Fell zerzaust, die feinen langen Härchen sind stellenweise plattgedrückt. Das kann ich eigentlich gar nicht leiden. Aber hier und jetzt mit Fellpflege anzufangen, wäre , wie es so schön heißt, ein absolutes No-Go.

Unsere drei Weisen wenden sich mit würdevoller Langsamkeit zu mir um. Dann starren sie mich an, die Köpfe hoch erhoben und sagen – gar nichts. So lange, dass mir schon ganz anders wird. Dass ich mich frage, ob ich den toten Mann nicht hätte inspizieren dürfen, oder ob nun doch von mir erwartet wird, dass ich meinen zerzausten Pelz herrichte, oder ob ich, ohne es zu merken, ein Kapitalverbrechen begangen hab. Wie man halt reagiert, wenn einen Autoritätspersonen vor die Öffentlichkeit zitieren und dann demonstrativ anglotzen. Es fehlt gerade nicht viel und ich gestehe den Mord an dem toten Mann.

Schließlich richtet Vitus laut und deutlich das Wort an mich – in einem Ton, als ob er grad die Zehn Gebote verkündet:

„Die Situation mit dem toten Menschen kann möglicherweise gefährlich für den Clan werden – wenn so nahe viele Zweibeiner alles absuchen und dabei vielleicht unsere Eingänge entdecken. Wir wissen nur zu gut, wie ablehnend die Menschen manchmal auf uns reagieren. Aber diese Situation bietet auch eine einmalige Chance. Die Chance, der Herrscherspezies dieses Planeten die Nützlichkeit und Intelligenz der Gattung Ratte vor Augen zu führen!“

Vitus macht eine Kunstpause, während der meine Clangenossen und ich kollektiv den Atem anhalten. Kurz bevor den ersten die Luft ausgeht, lässt Vitus die Maus aus dem Sack:

„Maxi vom Clan Marienhof. Du bist der Vermittler zwischen Ratte und Mensch. Im Namen der gesamten Münchner Rattengemeinschaft ernenne ich dich hiermit zum Sonderbeauftragten! Geh und hilf den Menschen bei der Aufklärung dieses Mordes. Die Ratten aller Clans werden dich unterstützen, wann immer du es brauchst.“ Jetzt brandet ein ohrenbetäubendes Gefiepe und Gepiepse auf – das Beifallklatschen bei uns Ratten.

Nachdem wieder halbwegs Ruhe eingekehrt ist, dreht Marktschreier sein Organ nochmal voll auf:

„Maxi darf als einziger den Bau verlassen! Er observiert das Geschehen und informiert mich! Alle Ratten sind aufgerufen, ihn uneingeschränkt zu unterstützen! Sollte es Probleme oder Fragen geben: Ich benachrichtige jetzt den Donisl Clan und bin dann für die Dauer der Krise in Kammer 2 stationiert!“

Ihr wundert Euch jetzt vielleicht über meine Sonderrechte und warum ich Euch das alles überhaupt erzähle. Ganz einfach: Ich bin in München Zentrum (Radius Marienplatz bis Stachus einerseits, bis Museum Fünf Kontinente andererseits) der zuständige Rattenmann für den Bereich „foreign affairs“. Das heißt, ich behalte Euch Menschen im Auge, informiere den Clan über Wichtiges, warne vor möglichen Gefahren und greife ein, wo es nötig ist.

Aber ich bin auch dafür zuständig, das Verhältnis zwischen uns Ratten und Euch Menschen anzukurbeln. Unser leider oft negatives Image bei Euch aufzubessern. Damit hab ich gewissermaßen die „License to act“. Und das tue ich hiermit: Mit diesem kleinen Büchlein starte ich eine PR-Aktion für uns Ratten.

Sind wir mal ehrlich: Ihr Menschen seid in einiger Hinsicht unsere großen Vorbilder und wir lernen viel von Euch. Aber Ihr habt ganz schöne Vorurteile uns gegenüber. Oft völlig unberechtigt! Wir sind nicht nur ein sehr intelligentes Volk, wir sind auch sehr reinlich, putzen unser Fell mehrmals täglich. Und das mit der Pest war der Rattenfloh, nicht wir! Das Thema hat sich mit etwas Hilfe von den Kollegen aus dem Clan Campus München Großhadern/Biochemie inzwischen übrigens erledigt …

Warum gerade ich für den Kontakt zu Euch so geeignet bin? Erstens habe ich als Jugendlicher mein Auslandspraktikum im ISL Clan absolviert – der liegt unter der International School of London. Ich spreche also nicht nur deutsch und englisch, ich habe auch schreiben gelernt. Allerdings eher beim nächtlichen Tippen auf den Schul PCs – handschriftlich bin ich nicht wirklich gut, dafür sind unsere Pfoten einfach nicht konstruiert.

Zweitens habe ich viel freie Zeit, ich ziehe nämlich keine Kinder groß. Weil: Ich bin schwul. Das ist bei uns Ratten keine große Sache, da stört sich niemand dran. Nicht wie bei Euch Menschen, wo bei dem Thema anscheinend die Angst vor Ansteckung + Aussterben oder so besteht. Wir tolerieren jede Ratte mit ihrer persönlichen Lebensweise – sofern sie keiner Mitratte dadurch schadet. Sobald es um das Wohl des Clans geht, wird sowieso jede Ratte alles andere hintenan stellen. Unsere verschiedenen Talente setzen wir für die Gemeinschaft ein.

„Ahhhhiiiiih!! Hilfe!! Hilfe!! Hilfeee!!!“ dringt es von oben mitten in unsere Versammlung, die gerade im Auflösen begriffen ist.

O.k. Die Leiche wurde entdeckt. Von einem weiblichen Menschen, wie ich aus Stimmlage und Enthusiasmus des vorgetragenen Schreies schließe. Jetzt dauert es wahrscheinlich nur noch fünf bis zehn Minuten, bis oben die Sanis und die Bullen vorfahren und die Ruhe des Sonnenaufgangs endgültig zunichtemachen.

Es dauert genau 4 Minuten, weil ein Einsatzwagen des Notarztteams Innenstadt heut Nacht an der Ecke Pfisterstraße/Hofgraben Bereitschaft hat. Ich habe mich nach dem Geplärr sofort auf die Socken gemacht. Gang 4 endet ein paar Meter hinter dem Aufzugsschacht zur U-Bahn Ecke Marienhof/Weinstraße. Lautlos und schnell husche ich im Schutz der beginnenden Morgendämmerung die paar Meter über den Sand/Kiesweg zur Rückwand des U-Bahn-Rolltreppeneingangs, flitze dort am Mäuerchen entlang bis zu dem kleinen Rasenquadrat auf der rechten Seite des Rolltreppenschachtes, wo der Tote im spärlichen Gras liegt.

Nur zwei Meter entfernt steht hier zurzeit ein kleiner Stromkasten auf einer Palette, weil mal wieder irgendwas umgebaut wird. Da drunter schlüpfe ich jetzt, lege mich auf die Lauer und verfolge das Geschehen am Tatort.

Gerade kommen zwei Sanitäter in orangen Jacken mit silbernen Reflexionsstreifen angerannt. Einer hat eine kleine Taschenlampe in der Hand und leuchtet dem Toten damit direkt in die Augen.

„ Der ist ohne Zweifel tot. Pupillen weit aufgerissen und keinerlei Reflex. Da können wir nix mehr tun.“ Sanitäter A schaut seinen Kollegen an und schüttelt mit ernstem Blick den Kopf. „Ruf’ das Blaulichttaxi.“

Kurze Zeit später fährt in der Weinstraße ein Polizeiauto mit Blaulicht und Sirene vor, Reifen quietschen, es kommt abrupt am Straßenrand zum Stehen. Blaue Lichtfetzen huschen gespenstisch im Takt über Wände und Fenster der Ladenzeile. Die Türen des Wagens fliegen auf und zwei grünbraun Uniformierte springen praktisch aus dem BMW. Sie rennen zum Tatort als ob es darum ginge, einen Flüchtigen festzunehmen.

Erst, als sie bei dem Toten ankommen und innehalten, sehe ich, dass einer der Polizisten eine Frau ist. Wäre der lange Zopf auf ihrem Rücken nicht gewesen, ich hätte es nicht gemerkt. Weder an ihrem Gang noch an ihren Gesten. Bewegt sich wie ein Kerl, dabei ist sie eher zierlich. Vielleicht gerade deswegen?

„Servus! Ihr habt’s an Doden, hat die Zentrale g’sagt?“, wendet sich der Mann an die Sanis.

„Ja, der ist sicher schon zwei/drei Stunden tot.“

Diese Info bremst die Polizisten etwas runter. Mögliche Fluchtwege zu checken hat wohl keine solche Eile mehr. Trotzdem tun die Polis ihre Pflicht: Das Gelände wird weitläufig mit rot-weißem Band abgesperrt. Die beiden Grünen rufen über Funk Verstärkung, die mögliche Fluchtwege des Täters überprüfen soll – die U-Bahneingänge Marienhof und Marienplatz, die wegführenden Straßen, die Fußwege Richtung Frauenkirche.

Auch mögliche Verstecke in der Nähe werden untersucht, weil es immer wieder durchgeknallte Täter gibt, für die es das höchste ist, zuzuschauen bei dem Chaos, das sie angerichtet haben. Woher ich das alles weiß? In der ISL gab es damals das Wahlfach Kriminalistik … Die Vorlesungen hielt ein Professor Kolumbus, oder so ähnlich. Ich bin jedenfalls froh, dass ich als Unterschlupf bei der Tatortausspähung einen niedrigen Kasten gewählt habe, der als Versteck für einen Menschen nicht taugt und halte den Atem an, als die Polis, inzwischen zur Herde angewachsen, an mir vorbeihasten.

Es ist schon ca. eine dreiviertel Stunde vergangen, als die nächste Schwadron anrückt, fast gleichzeitig: Spusi (Abkürzung für „Spurensicherung“, wie Polizist 1 gesagt hat) und Kripo. Der offensichtliche Obermacker der Spusi, ein Herr im jungfräulich weißen Overall mit Plastikhandschuhen, dicken Schuhen und einem Häubchen, um das ihn jedes Hausmädchen im 19. Jahrhundert beneidet hätte, meckert gleich mal in die Runde.

„Die depperten Sanis san da rumtrampelt wie a Herde Elefanten!“

Da der Gegenstand seines Unmuts inzwischen längst weggefahren ist, nimmt er jetzt die zwei Streifenpolizisten, die als erste am Tatort waren und die bei der Leiche die Stellung gehalten haben, ins Visier.

„Dass die Sanis koa Rücksicht auf Spuren nehma, is ja bekannt. Aber Ihr solltets es eig‘ntlich bessa wissen!“, schimpft er und verteilt Plastiküberzüge für die Schuhe der beiden und durchsichtige Handschuhe.

„Oder lernt ma‘ des heut‘ nimma auf da Polizeischui? Zusammenarbeit war amal groß gschriebn bei uns. Jetzt hoast des „Tiemwörk“ und wird einem in Schulungen vaklickert von Kollegen, die fast no‘ Windeln tragn, so als hättens den Stein der Weisen nai gfundn. Und was is aus da Zusammenarbeit gwordn? – nix is‘s, Scheiße is‘s, jeder hat nur no die eigene Wichtigkeit im Kopf und schaut übern Tellerrand net naus!“

Ach du lieber Gott! Der erinnert mich schwer an Großonkel Xaver. Der predigt uns auch immer, was früher alles besser war. Scheint ein Phänomen zu sein, das bei älteren Exemplaren über die Speziesgrenzen hinaus wirkt. Die beiden Polis tun mir irgendwie Leid. Ich hör einen der anderen Weißröckchen, den Spusi-Bigboss Michi genannt hat, zu einem Kollegen murmeln:

„Der ist ja heut wieder in Fahrt, unser „Super““. Ja, der Spitzname passt auch.

Jetzt nahen eine Frau und zwei Männer in Zivil mit auffällig selbstbewussten Schritten – und vorschriftsmäßig gekleidet. Die Frau ist mittelgroß, normal schlank, hat frech-fransig geschnittenes, schwarzes kurzes Haar und dürfte so an die 37 Lenze auf dem Buckel haben. Der „Super“ wendet sich den Neuankömmlingen zu, die Streifenpolizistin und ihr Kollege schauen sich kurz an und atmen deutlich sichtbar auf.

„Ja die Frau Oberkommissarin Moosgruber und ihr Harem, die Herren Kommissare Schimanns und Kurnaz, habts Ihr a scho ausgschlafn!“, feixt Schneeweißchen. „Servus Lisi,

servus Andy, grias di Cem.“

„Servus Ignaz“ kommt es dreistimmig mit einem gequälten Lächeln zurück.

„Wenn du was Auffälliges findst, sagst glei Bescheid“, würgt die Oberkommissarin in sachlichem Tonfall weitere schlechte Scherze ab. Dann wendet sie sich den beiden Streifenpolizisten zu.

„Schildern Sie uns bitte die Sachlage“.

Während die das tun, beobachte ich die Spurensicherung bei der Arbeit. Erst mal werden überall bei der Leiche und im Umfeld kleine Schildchen mit Nummern von 1 bis 17 aufgestellt. Zwei von den Spusis haben riesige Pinsel in der Hand und stauben jetzt an dem Toten, seiner Kleidung und auf dem Boden herum. Der Dritte klebt hier und da Stellen mit dem Klebeband zu und nimmt es dann gleich wieder ab. So werden, wie ich weiß, z.B. Fingerabdrücke gesichert, die man später im Polizeicomputer mit denen von Verdächtigen vergleichen kann.