Soko Staubwedel - Sofie Seidl - E-Book

Soko Staubwedel E-Book

Sofie Seidl

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Beschreibung

Ein toter Gast im Hotel sorgt selten für Spaß - auch wenn er ein Kotzbrocken war. Chambermaid Sascha allerdings ist ziemlich angetan vom diensthabenden Kommissar. Als ihre Kollegin unter Mordverdacht gerät, hat Sascha einen willkommenen Grund, sich heimlich in die Ermittlungen einzumischen. Schon bald sitzt sie beim Kommissar an der Informationsquelle. Um den Mordfall zu lösen, muss Sascha sich mit ihrem Bruder zusammenraufen, der ihr die Pest an den Hals wünscht. Und sie lernt auf die harte Tour: Rotzfrech und angstfrei zu sein, ist nicht immer eine lebensrettende Kombi.

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Die Autorin wurde im Herzen von München geboren, flanierte mit ihrer Oma täglich durch die Münchner Innenstadt und schrieb mit acht Jahren ihre ersten Kurzgeschichten. Nach dem Abitur schloss sie zunächst eine zweijährige Ausbildung als Zeitungsjournalistin ab und studierte anschließend Sozialpädagogik. Sofie Seidl arbeitete acht Jahre als Journalistin, Pressereferentin und Lektorin und betreute 15 Jahre lang sozial benachteiligte Jugendliche und junge Erwachsene. Mit 48 Jahren begann sie, Romane zu schreiben. Nach den beiden Tierkrimis „Rattenscharf“ und „Mausetot“ mit Maxi, dem liebenswerten Münchner Ratten-Sherlock, ist „Soko Staubwedel“ der dritte Roman von Sofie Seidl und das erste Buch mit der rotzfrechen Münchner Laienermittlerin Sascha.

Inhalt

Freitag – Der ewige Casanova

Samstag – Ein Wal lernt fliegen

Montag - Geschwisterhiebe

Mittwoch – Nemesis und Eros

Mittwoch – Der Wolf schluckt Kreide

Donnerstag – Spion im Spitzenschürzchen

Donnerstag – Das Mädchen und der Bulle

Donnerstag – Im Krieg und in der Liebe

Freitag – Der Geist ist willig

Samstag – Neuanfang mit Hindernissen

Samstag – Unschuld vom Lande

Sonntag – Heiße Recherchen

Montag – Schmieröl und Schwyzerdütsch

Dienstag – Über den Wolken

Dienstag – Vivat Zürich!

Mittwoch – Adler, Könige und Diamanten

Freitag – Superkoch mit Sauermiene

Sonntag – Jetzt wird’s ernst

Sonntag - Kamikazeschwester

Montag – Rot wie Blut, Weiß wie Schnee

Montag – Eene Meene Muh

Dienstag und Mittwoch – Selbst ist die Frau

Samstag – Razzia interrupta

Zwei Wochen später

Zwei Tage später

Epilog

Über dieses Buch

Dank

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1 Freitag – Der ewige Casanova

Irgendwie mache ich Sachen, ohne vorher im Geringsten über mögliche Konsequenzen nachzudenken! Kennen Sie das?

Ich glaub ja, alles hat damit begonnen, dass mein Vater sich einen Jungen wünschte. Weil ich aber nun mal keiner bin, musste ich die angeblich traditionelle weibliche Zurückhaltung vielleicht etwas überkompensieren. Manchmal bin ich für andere Leute angeblich ein bisschen wie ein Tsunami. Aber bilden Sie sich selbst Ihre Meinung – wie eine bekannte Textsparsame Tageszeitung es so schön formuliert hat.

Nach diesen meines Erachtens ausreichenden küchenpsychologischen Gedanken sprang ich rasch unter die Dusche. Es war jetzt Freitagmorgen 6:15 Uhr und ich hatte nicht mehr viel Zeit, wenn ich pünktlich in der Arbeit sein wollte. Schließlich gefiel mir meine Stelle im Hotel, nicht zuletzt, weil ich dort erst seit einem Jahr tätig war. Ich liebe nämlich die Abwechslung – auch beim Job. Schnell aufgehübscht und dann los.

Frühstücken konnte ich in der Hotelküche.

Hätte ich gewusst, wieviel Vergnügen, Versuchung und Verbrechen die nächsten Tage bringen würden, mir wären Flügel gewachsen …

Das Hotel „Zum Stenz“, bei uns niederen Angestellten auch Zenz genannt, lag mitten im künstlerischen Herzen der Bayrischen Landeshauptstadt in München Schwabing, gleich neben der Außensitzfläche zum Café Münchner Freiheit. Wenn Sie Glück haben, können Sie sich dort zum „Namensgeber“ unseres Hotels an den Bistrotisch setzen: dem ewigen Vorstadt-Casanova“, auf bayrisch „Stenz“, Helmut Fischer, Volksschauspieler und Original. Allerdings nur zu seiner lebensgroßen Bronzestatue, durch die er den Münchnern für immer im Gedächtnis bleiben wird. Dass ein bisschen was immer geht, im Flirt mit dem anderen Geschlecht, war der Wahlspruch von Monaco Franze, Fischers wahrscheinlich bekanntester Serienfigur. Aus der legendären Filmserie „Monaco France – Der ewige Stenz“. Ich finde, er hatte mit diesem Motto durchaus Recht.

Im Hotel angekommen, machte ich mich rasch an die Arbeit. Will heißen, ich saugte, putzte und staubwischte mich durch das Erdgeschoß: das Foyer einschließlich riesigem Helmut-Fischer-Portrait mit legerem Anzug und Humphrey-Bogart-Hut, unseren kleinen Fitnessraum sowie die mini Wellness-Oase mit Sauna und Indoor-Pool, der durch eine Wand in Form von bodentiefen Fenstern einen wunderschönen Blick zum saftig grünen und üppig blühenden Garten bot.

Ebenfalls im EG befand sich unsere Hotelküche und das kleine Restaurant, aber die sauber zu halten, war Gott sei Dank Sache der Küchencrew.

Als Nächstes würde ich mir die sechs Gästezimmer/-suiten im 3. Stock zur Brust nehmen. Jetzt brauchte ich allerdings erstmal eine Pause. In Vorfreude auf einen belebenden Tee und die Möglichkeit, nach der ersten Schufterei 15 Minuten auf meinem Allerwertesten zu sitzen, stieg ich beschwingt die Treppe zum ersten Stock hinauf und betrat den Aufenthaltsraum fürs Gesinde.

Nachdem ich aus der Kaffeemaschine heißes Wasser in meine teebebeutelte Tasse abgefüllt hatte, ließ ich mich auf der geschmacksfreien, aber leidlich bequemen hölzernen Eckbank aus den 80ern nieder, die, ihrem preissparenden Äußeren nach zu urteilen wohl aus der TV-Serie „Die Hausmeisterin“, ebenfalls mit Helmut Fischer, stammte. Ich schlürfte das heiße Gebräu gerade engagiert in mich hinein, da öffnete sich die Tür.

„Milena, was ist denn mit dir los? Du schaust ja aus, als hättest du ein Gespenst gesehen“, sprach ich meine kroatische Lieblingskollegin vom Housekeeping an.

„Bist ja kalkweiß im Gesicht und deine Hände zittern. Und deine Uniform ist ganz zerknittert. Hey, kipp mir hier bloß nicht um! Setzt dich hin – ich hol dir ein Glas Wasser.“

Ich führte Milena zur Eckbank und drückte sie sanft aber bestimmt auf das Polster. Mit dem Glas frisch gezapftem Leitungswasser musste ich mehrfach ihre Hand anstupsen, bis sie reagierte. Dann aber nahm sie es, trank es begierig in einem Zug aus und warf mir einen dankbaren Blick zu. Ich füllte ihr das Glas erneut.

Ich setzte mich Milena gegenüber und fragte noch einmal.

„Was ist passiert?“. Als ich ihr Zögern bemerkte, fügte ich hinzu, „Du weißt, mir kann man alles sagen und ich behalte, wenn nötig, auch alles für mich“.

Eine weitere Minute verging, während der wir uns schweigend in die Augen schauten, ich geprüft und gewogen und schließlich für gut befunden wurde.

Zögerlich fing Milena an zu sprechen.

„Ich habe grade Zimmer 13 gemacht, weißt du, das von diese unsympathische, fette, geschniegelte Kerl, der immer so arrogant grinst …“

Milena verzog angewidert den Mund, schüttelte ihren Kopf und schluckte schwer. Ich ahnte bereits, worauf dieser Bericht hinauslaufen würde, nahm Milenas Glas, schüttete das Wasser aus und nach etwas Suchen drei Finger breit Cognac hinein.

Selbstverständlich dürfen wir als Hotelpersonal während der Arbeitszeit keinen Alkohol trinken und natürlich gibt es im Aufenthaltsraum offiziell auch keinen. Aber für Notfälle, wie z.B. besonders nervige Gäste, ist eben doch einer hier, wenn man weiß, wo. Sein Versteck war das erste, das ich herausfand, als ich hier neu anfing. Das musste mir keiner zeigen, denn in jedem Hotelpersonalraum gelten zwei Gesetze:

1. Es gibt dort auf jeden Fall irgendwo eine Flasche Alkohol.

2. Sie ist in einem Versteck, das die Chefin niemals findet.

Wieder schob ich das Glas in Milenas Hand, wiederum nahm sie einen tiefen Schluck. Ich stützte meine Ellbogen auf den Tisch und wartete ab. Nachdem sich ihr Hustenanfall gelegt hatte, erzählte meine Kollegin weiter, jetzt mit deutlich kräftigerer Stimme.

„Ich sauge also, dann, wie ich bin fertig mit Schlafzimmer, fange an mit Bad. Erst Waschbecken, dann will ich machen Badewanne. Wie ich mich beuge über Rad von Wanne und will wischen innen, höre ich plötzlich schnelle Schritte von hinten, so als ob einer rennt, dann rammt mich plötzlich was von hinten mit Schwung. Ich hätte beinahe Kopf in die Wanne angeschlagen, nur konnte mich bremsen, weil ich Hände ausgestreckt hatte zum Putzen. Da erst merke ich, dass ist ein Mann, der seine Körper presst an meine, seine Hände tatscht meine Brüste und redet widerliches Zeug mit der Stimme von diese Dreckschwein-Gast. Ich drehe und drehe mich, kann aber nicht abschütteln ihn. Mit eine Hand ich halte meine Balance in Wanne, mit die andere ich kratze und kralle meine Fingernägel in seine Hände.

Dann er lässt eine seine Hand los und versucht, unter meine Rock zu greifen und Hose runterziehen. Da ich reiße und zerre und kratze und drehe und trete und endlich er lässt mich los und ich renne sofort zur Tür und raus. Und die ganze Zeit über ich höre sein widerliches, heißeres Lachen. Das hat dem Schwein Spaß gemacht! Pasji Skot!! Cmar!! Debela Svinja!!!“

Während ihrer letzten Sätze hatte Milena die Finger beider Hände zu Krallen geformt und fuchtelte damit vor meinem Gesicht in der Luft herum. Ich lehnte mich vorsichtshalber etwas auf meinem Stuhl zurück. Mittlerweile war Farbe in ihr Gesicht zurückgekehrt, jetzt eben ein sattes Rot. Zeit, sie zu bestätigen.

„Du hast ganz genau das Richtige getan, Milena. Du hast dich erfolgreich gewehrt gegen dieses Arschloch. Du hättest auch schreien können, wir haben ja mehr Gäste auf dem Stockwerk und irgendeine Kollegin war sicher auch in der Nähe.“

„Schreien hab mich nicht getraut. War mir so peinlich. Ich hatte Angst, dass jemand glaubt, ich hätte den Typ angemacht und werde rausgeworfen.“

„Ach Milena. Dir braucht gar nix peinlich sein – ihm muss es peinlich sein, er sollte sich in Grund und Boden schämen, dass er es nötig hat, seine nicht vorhandene Männlichkeit auf diese Weise zu demonstrieren. Und niemand hier käme auf die Idee, dass du an so einem Übergriff schuld sein könntest – niemand außer dir selbst.

Weißt du, dass es sehr vielen überfallenen Frauen so geht, dass sie einen möglichen Grund bei sich, ihrem Aussehen oder ihrem Verhalten, suchen, warum sie angegriffen wurden?

Deshalb gibt es auch so viele, die einen Übergriff nicht anzeigen, die meinen, sie müssten schweigen.“

„Nie wieder ich putz in sein Zimmer. Vorher ich kündige!“

„Einen Quatsch kündigst du. Und du musst auch nicht mehr bei ihm sauber machen. Das werde jetzt ich übernehmen.“

2 Samstag – Ein Wal lernt fliegen

Für nächsten Vormittag hatten wir abgesprochen, dass Milena die Gästezimmer im dritten und vierten Stock übernahm, eigentlich mein Revier, ich würde den ersten und zweiten Stock säubern. Wie ab jetzt jeden Tag, solange das Schwein aus der 13 noch im Haus wohnte. (Beim Erdgeschoß wechselten wir uns immer ab, solange der 5. Stock nicht belegt war).

Lara, als unsere Azubine, sollte diese Woche bei Milena mitmachen. Eine kleine Recherche, und ich wusste den Namen des Drecksacks: Besart Bogdani. Man weiß ja gerne, mit wem man spielt.

In freudiger Erwartung arbeitete ich mich voran, Nummer 10 und 11 hatte ich schon fertig. Als ich bei Nummer 12 anfing, bog die Zielperson um die Ecke. Super Timing! Spontan schlüpfte ich in die Rolle „scheues Reh“.

Ich senkte den Blick und murmelte ein leises „Guten Morgen“, als er an mir vorbeiging.

„Na wen haben wirr denn da Chübsches! Du machst ja wesentlich merr cher als deine Kollegin. Wenn du mit mirr in die Tiefgarage kommst, chab ich tolle Schuhe für dich – Prada, ganz billig.“

Ohne eine Antwort abzuwarten, entsperrte er sein Zimmer mit dem extra retro 60er-Jahre-Wohnungsschlüssel und gab ein paar klickende Töne von sich, mit denen man gewöhnlich einen Hund oder ein Kätzchen anlockte. Ich merkte, wie ich rot wurde – er interpretierte es wohl als Scham, jedenfalls legte er ein heißeres Lachen nach. Ich musste mich beherrschen, ihm nicht hier und jetzt in seine blasierte Fresse zu springen.

Der Gedanke, dass Rache am besten kalt serviert wird, beruhigte mich wieder.

Als der Typ drin war, bearbeitete ich Zimmer 12 im Turbogang. In nur 15 statt der vorgesehenen 20 Minuten war ich durch.

Falls das jemandem kurz vorkommt, nur so viel: Im Hotel Zum Stenz, mit nur 25 Zimmern/Suiten klein, aber absolut edel, ist die Putzzeit großzügig bemessen. Wir dürfen sogar länger brauchen, Hauptsache die Räume sind am Schluss super sauber und wohlfühlgerecht. Viele andere Hotels – egal ob billig oder 5 Sterne – lassen den Chambermaids nur 8 bis10 Minuten pro Gästezimmer. Der Zeitdruck ist oft enorm hoch, der Verdienst sehr niedrig. Bei uns wird ordentlich gezahlt.

Ich klopfte verhalten an der Tür mit der Aufschrift „Von Söttingen 13“ (so hieß Monaco Franzes Frau in der Serie).

Ein befehlsgewohntes „Cherein!“ ertönte. Mister Kotzbrocken saß fett am Tisch und ordnete, scheinbar desinteressiert an mir und ins Lesen einer Zeitschrift vertieft, an, ich solle im Bad mit dem Putzen beginnen und danach ins Schlafzimmer kommen. Ja klar, mach ich doch gern!

Laut sagte ich: „Wie Sie wünschen, Herr“, in meinem devotesten Tonfall.

Dann schnappte ich mein Putzwerkzeug und wischte das Handwaschbecken blitzeblank. Anschließend beugte ich mich im Stehen weit vor ins Innenleben der Wanne. Diese ist hier in Zimmer 13 eine kleine Antiquität, versehen mit Löwenfüßchen und extra hohem Rand. Ihre hintere Breitseite befindet sich etwa 50 Zentimeter von der halbhoch gefliesten Wand entfernt.

Kaum hatte ich angefangen zu wischen, da hörte ich ihn schon herankeuchen. „Mit Schwung“ hatte Milena gesagt, und genau so würde ich die Flugbahn beschreiben, die seine schätzungsweise 110 Kilo über meinem Kopf hinlegten.

Aikido heißt der Geheimtipp. Habe ich mal ein paar Jahre lang trainiert. Das ist eine japanische Kampfsportart, bei der man die Kraft des Gegners nicht gewaltsam stoppt, sondern einfach umlenkt. Im vorliegenden Fall hatte ich meinen Oberkörper gerade rechtzeitig gedreht und mit schnellem Griff von der Seite an den Hosenbund (igitt, aber ließ sich nicht vermeiden!) von Mister Arsch sein Bewegungsmoment noch ein bisschen beschleunigt.

Ein höchst befriedigendes Knacken kündete vom Ende des kurzen Fluges am gefliesten Teil der Wand. Ach, was bin ich doch punktgenau und arbeitgeberfreundlich – hier ließe sich das Blut leicht abwischen, den gemalerten Teil müsste man nachstreichen lassen.

Der Bewohner von Zimmer 13 war unglücklicherweise und trotz meiner ausdrücklichen diesbezüglichen Warnung anscheinend auf dem frisch gewischten Badboden ausgerutscht und hatte sich wohl beim Versuch, den Wannenrand zu fassen zu bekommen, selbst nach vorn gehebelt. Dumm gelaufen.

Jetzt hing er über der Wanne wie ein gestrandeter Wal (kicher!). Ich würde schier untröstlich sein, wenn ich die Hotelleitung und den Krankenwagen verständigte.

3 Montag - Geschwisterhiebe

Da ich am gestrigen Sonntag meinen freien Tag genossen hatte, wirbelte ich am Montag vor Dienstbeginn durch die Schwingtür in die Küche und wollte Georg, unserem Koch, einen Guten Morgen wünschen. Er war nicht da. Stattdessen stand mit dem Rücken zur Tür ein Mann an der nächstgelegenen Arbeitsfläche, ein großes Fleischmesser in der Rechten.

Aufgeschreckt fuhr er herum, das Schneideinstrument immer noch erhoben in der Hand. Natürlich hatte ich ihn sofort erkannt.

„Hallo Arnold, lange nicht gesehen. Was machst du denn hier?“

Ohne an seiner Haltung etwas zu ändern, sah Arnold mich an. Hasserfüllt, abschätzend. Er würde doch nicht …

Ich wusste, dass er mir schon immer gerne einen Dämpfer verpasst hätte, von dem ich mich nicht wieder erholen würde – aber gleich abmurksen, das kam mir dann doch ein bisschen übertrieben vor. Obwohl …

Verstehen könnte ich ihn. An seiner Stelle würde ich mir die Pest an den Hals wünschen und vielleicht ein paar Vertreter des entsprechenden Bakteriums, Yersinia pestis, aus einem Labor entwenden, um es mir anschließend heimlich zu verabreichen und mich an meinem langwierigen, schmerzhaften Untergang durch die letale Pest-Sepsis laben.

Kleine Brüder können sehr nachtragend sein. Wie schon erwähnt, hatte sich mein Vater vor meiner Geburt unbedingt einen Jungen gewünscht. Leider vergeblich, wie wir inzwischen wissen. Zunächst leidenschaftliche, später verzweifelte Versuche, doch noch den gewünschten männlichen Stammhalter zu produzieren, waren von Misserfolg gekrönt. Ich blieb das einzige Kind meiner Eltern.

Als schließlich doch noch ein Sohn das Licht der Welt erblickte – meine Mutter zählte damals bereits 43 Lenze, mein Vater 65 – war ich bereits 18, hatte mein Abitur (trotz null Prozent Lerneinsatz mit 1,4) bestanden und die Zusage für einen Studienplatz in Elektrotechnik an der TU München, den ich freilich nie annahm.

Außerdem, und das war das eigentlich Fatale an der Sache, hatte ich inzwischen sämtliche männlichen Nischen besetzt:

Ich war technisch und mathematisch extrem begabt, frei von Angst und verhielt mich draufgängerisch bis waghalsig, haute schon mal ein paar anderen Kindern eins auf die Glocke, wenn sie mir blöd kamen.

Mutter hatte nach Arnolds Geburt immer mehr abgebaut.

Als er 16 geworden war, interessierte sie sich für nichts mehr außer für ihre Fernsehserien, Liebesromane und fürs Stricken.

Anscheinend hatte sie nach der Niederkunft mit einem Sohn ihre Pflicht im Leben nach eigener Meinung erfüllt und konnte den Rest ihrem Mann bzw. dem Schicksal überlassen.

Dass ich bis heute trotz meiner Kamikaze-Mentalität überlebt hatte, verdankte ich vermutlich meiner „weiblichen Seite“ (!), die für eine gewisse – immer gerade noch rechtzeitige – Intuition in Gefahrensituationen sorgte. Außerdem konnte ich zu gegebener Zeit durchaus einfühlsam sein für die Leiden anderer und half ihnen gerne. Einzig Kochen und Hausarbeit zählten nicht zu meinen Stärken, aber wer ist schon perfekt.

Genau auf diese Tätigkeiten hatte sich schließlich Arnold gestürzt, blieb ihm ja buchstäblich nichts anderes übrig. They called him Arnold, nachdem mein Vater, verspätet, aber hell begeistert, die Terminatorfilme gesehen hatte. Mit anderen Worten: Selbst mit einer Auszeichnung zum Sternekoch oder als Konditormeister summa cum laude hätte mein Bruder unseren Vater nicht beeindrucken, geschweige denn zufriedenstellen können. Ich hatte das übrigens auch nie gekonnt, eben weil ab ovo das falsche Geschlecht. Inzwischen war es mir egal und Vater längst tot. Mutter war ihm ein halbes Jahr später gefolgt, irgendwie erleichtert, wie es schien.

Allerdings hatte Arnold ohnehin nie die Ausdauer und das Selbstbewusstsein besessen für eine erfolgreiche Entwicklung.

Er war eher der empfindsame, verletzliche Typ, wurde überall gemobbt, litt an Neurodermitis, verschiedenen Allergien und Angstzuständen.

Ich habe früher wirklich alles versucht, um Arnold aus der Deckung und Isolation zu holen. Um ihn selbstbewusster zu machen, nahm ich ihn schon als Fünfjährigen auf Wildwasser Raftingtouren mit meinen Freunden mit. Ergebnis: Arnold bekam eine schwere Bronchitis und scheute künftig nicht nur vor Höhen, Menschenansammlungen, Lärm, Spinnen und Hunden, sondern auch vor Wasser zurück.

Auch meine Experimente, Arnold in die Disco mitzunehmen (Folge: wochenlange Tinnitusgeräusche auf dem linken Ohr), mit ihm an einem kleinen elektronischen Schwester-Bruder-Projekt zusammenzuarbeiten (Ergebnis: leichter Stromschlag plus Verbrennungen an der rechten Hand), mit ihm einen Kurs in Selbstverteidigung zu besuchen (Fazit: Schleudertrauma), brachten nichts. Danach habe ich mich darauf beschränkt, jeweils den Kindern, die Arnold gerade mobbten, in einer dunklen Gasse aufzulauern und ihnen gehörig Angst einzuflößen. Zeitgleich bemühte ich mich für ihn um einen Termin beim Psychotherapeuten.

Als ich schließlich realisiert hatte, dass Arnold auch diese Unterstützung keineswegs zu schätzen wusste, ja dass sich seine von Geburt an bestehende Abneigung gegen mich in veritablen Hass verwandelt hatte, hielt ich mich ganz aus seinem Leben heraus. Jetzt war mein „kleiner“ Bruder 20 Jahre alt und ich hatte ihn seit einer Ewigkeit nicht gesehen. Ich hoffte so für ihn, dass er es eines Tages schaffen würde, er selbst zu werden.

Jetzt, in diesem Moment allerdings stand er, gar nicht schüchtern, nur zwei Meter vor mir mit einem erhobenen Fleischermesser in der Hand. Nach ein paar Minuten des gegenseitigen Fixierens und Anschweigens teilte mir meine weibliche Intuition mit, dass mehr Abstand zu Arnold eine gute Idee wäre.

Ich tat ihr den Gefallen und wich einen kleinen Schritt zurück. Was soll ich sagen: Das schwach blinkenden Warnlämpchen in meinem Kopf kämpfte gegen eine lodernde Fackel aus Neugier, wie sich Brüderchen wohl entscheiden würde – das Schwesterchen alle machen oder nicht. Armes Lämpchen, keine Chance.

Plötzlich stürzte jemand durch die Schwingtür hinter mir in den Raum, rammte mich rücklings und ich flog auf mein Bruderherz zu. Dieses senkte im selben Moment das Messer, wodurch es an meiner linken Taille entlangschrammte und den Bund meiner Jeans ein Stück aufschlitzte. Es hatte das Ensemble Magen-Milz-Bauchspeicheldrüse um ein paar Zentimeter verfehlt. Tja, knapp vorbei ist auch daneben.

„Oh Mann, tut mir leid!“, stammelte Georg, seit fast einem Jahr unser Chef de Cuisine. „Hab verpennt und wollte nicht der Brax in die Hände fallen!“

Frau Brax war die Chefin des Housekeeping. Ihre geringe Körpergröße von 1,52 machte sie durch ihr Organ und eine gouvernantenhafte Strenge mehr als wett. Gott sei Dank hatte Georg eben weder den Riss in meiner Jeans bemerkt, über den ich rasch mein hochgerutschtes T-Shirt zog, noch den Blick gesehen, den mein Bruder und ich tauschten. Es war einer der seltenen Momente, in denen wir denselben Gedanken teilten, schade eigentlich …

„Was machst du übrigens hier?“, nahm ich meine Frage von vorhin wieder auf, nachdem ich meine Gedanken geordnet und dem verwunderten Georg erklärt hatte, woher Arnold und ich uns kannten …

„Wegen mir kann es ja wohl nicht sein. Wusstest du überhaupt, dass ich hier im Hotel arbeite?“

Er schwieg, suchte offensichtlich nach einer unverfänglichen Antwort. Ebenso klar hatte er nichts von meiner Anwesenheit im Stenz gewusst – in Arnolds Miene zu lesen, war mir immer schon leichtgefallen.

Georg antwortete an seiner Stelle. Er kannte meinen Bruder offenbar deutlich besser als ich.

„Unser Arnold hier ist verliebt in eine unserer Kolleginnen.

Jetzt sah mein Bruder Georg an, als ob er ihn am liebsten fressen würde. Aber der grinste nur und fügte hinzu:

„Was ist daran so schlimm, mein Freund, das ganze Hotel weiß es längst.“ Das ganze Hotel außer seiner eigenen Schwester.

„Sicher ein sehr nettes Mädchen …“, stammelte ich herum und blickte zu Georg auf der Suche nach einer Ablenkung von dem viel zu heißen Thema. „Oh“, kommentierte ich mehr erleichtert als eloquent die wie immer wunderschön angerichtete Nachspeise, die unser Sternekoch gerade dem Kühlbereich entnommen hatte. Der rechteckige weiße Teller war mit einer leuchtend roten Masse begossen. Darauf zeichnete sich ein dunkles Kunstwerk ab, ein V mit filigranem Strahlenkranz. In einer Ecke des kulinarischen Gemäldes prangte eine große grüne Kugel.

„Meine neueste Kreation. Zartbitterschokolade auf einem Gelee-Spiegel aus roter Johannisbeere an Matchaeis“. Mit diesen Worten stach Georg seinen Löffel breit grinsend mitten in das V und schob sich die Ladung in den Mund. Ich musste mich kolossal beherrschen, um mich nicht ansatzlos darauf zu stürzen. Und das, obwohl ich gar nicht für Süßigkeiten schwärmte. Stell mir ein Stück Torte auf den linken Teller und ein dickes Käsebrot auf den rechten und meine Wahl ist politisch nicht einwandfrei …

„Hab isch vorhin schuschammengebaschtelt, mal schaun, wiesch schmeckt“, nuschelte der stolze Künstler und vernichtete den Rest seiner Kreation. „Kann man laschen.“

Er hatte alles in allem nur zwei Minuten gebraucht, wie mir ein Blick auf unsere riesige elektronische Küchenuhr über der Schwingtür am Ein-/Ausgang verriet. Neidisch beobachtete ich, wie Georg den Löffel von allen Seiten ableckte und ihn anschließend in hohem Bogen in die Spüle warf.

Erst später, nach Dienstschluss und als mein Bruder längst gegangen war, erzählte mir Georg auf unserem gemeinsamen Weg hinunter zur U-Bahn, dass er Arnold vor zwei Jahren kennengelernt hatte, als dieser bei ihm einen Kochkurs belegt hatte. Daraufhin hatte mein Bruder eine Lehre zum Koch begonnen – und Georg hielt ihn für talentiert! Es geschehen noch Zeichen und Wunder!

Unter dem riesigen weißen Kunststoffdach der Busstation Münchner Freiheit, das auf zahlreichen filigranen Säulen dem Erdboden entgegenfloss als wäre das Material während der Bearbeitung durch den Künstler zu heiß geworden, überquerten wir die Schienen der Straßenbahn. Irgendwie wurde ich bei seinem Anblick jedes Mal in die Plastikwelt des Starlight Casinos der Retro-SiFi-Serie Raumpatrouille aus den 60ern versetzt.

„Wie geht es Dir jetzt eigentlich mit deiner Flamme? Ist es Dir inzwischen gelungen, das kalte Herz ihres Vaters zu erobern?“, fragte ich Georg. Seit etwa einem Jahr war der hübsche Deutsch-Türke mit dem braunschwarzen, lockigen Haar und den blauen Augen bis über beide Ohren in eine wunderschöne, rehsanfte (O-Ton Georg!) Maid verknallt und wollte sie zum Traualtar führen. Leider war deren aus Anatolien stammende Familie sehr konservativ und bestand auf einem „rein“ türkischen Ehemann.

„Ja, der Vater hat mich endlich akzeptiert“, antwortete unser Starkoch zögerlich, so als könne er es selbst noch nicht recht glauben.

„Die Hochzeit wird im Sommer stattfinden“.

„Mensch Georg, das ist ja Super!“, rief ich begeistert.

„Komm, das müssen wir feuchtfröhlich feiern – wenigstens ein Gläschen! In spätestens einer Viertelstunde darfst du zu deiner Süßen, Doppelschwör!“

Mein letzter Satz zauberte Georg, der eigentlich sofort fahren wollte, ein Lächeln auf die Lippen. Wir verließen den Busbahnhof wieder, schlugen uns in die nächste Querstraße und enterten die nächste Kneipe. In Schwabing gab es an jeder Ecke mehrere davon. Ich orderte eine Flasche vom guten Sekt und wir stießen an, dass die Gläser klirrten und uns der Mann hinter der Bar einen scheelen Blick zuwarf. Ja mei, wenn halt zwei mit dem entsprechenden Temperament zusammenkommen, kann vielleicht schon mal was zu Bruch gehen.

Es stellte sich heraus, dass die Flasche Sekt mehr als ein Glas pro Nase hergab und außerdem nicht allein bleiben wollte. So wurden aus 15 eben doch 30 Minuten. Georgs Gesicht hatte inzwischen einen satten rotwangigen Ton angenommen. Er strahlte wie ein Honigkuchenpferd und schwärmte beim ersten Glas von Samiras tollem Haar, beim zweiten von ihren großen, seelenvollen Augen und beim dritten Glas von anderen großen Rundungen Bug- und Heckseits. Schließlich schritten wir beschwingt zur U-Bahn, trennten uns im Sperrengeschoss unter theatralischen Wangenküsschen und stiegen am flippigen neongrün bewandeten Bahnsteig mit den betörend royalblau leuchtenden Säulen jeder in seinen Zug.

4 Mittwoch – Nemesis und Eros

Am heutigen Mittwoch hatte ich wieder Frühschicht. Am Anfang meiner Arbeit im Hotel dachte ich, dass ich das mit dem Early-Bird-Aufstehen auf keinen Fall lange schaffe. Ich würde es einfach ausprobieren, aber wenn es mir nicht mehr taugte, würde ich mir eine andere bezahlte Beschäftigung suchen. Doch im Gegensatz zu meiner Annahme hab ich mich sehr schnell an das zeitige Ende der Nacht gewöhnt und inzwischen genieße ich sogar, dass ich seit rund einem Jahr öfter mal die Sonne aufgehen sehe … Und, dass nach Feierabend noch eine Menge Zeit übrig ist, die ich wohlverdient für mich selbst nutzen kann!

Um 15 Uhr hatte ich meine Pflichten für den Tag fast erfüllt und gönnte mir eine zweite kurze Teepause im Aufenthaltsraum. Wieder hatte ich Milena angetroffen und mit ihr über ihren Beziehungsstress gesprochen. Ihr Freund Lukas war zwar ein fleißiger und verlässlicher Kerl, aber ab und zu ein bisschen überbehütend – vor allem, wenn er den Eindruck hatte, dass ein anderer Mann seiner Liebsten zu nahe kam. Gestern war es deswegen beim abendlichen Kneipenumzug zu einer heftigen Auseinandersetzung mit einem Fremden gekommen, der sich am Nebentisch aufgehalten und Milena Lukas‘ Meinung nach „unverschämt angeflirtet“ hatte.

„Hat er mir höchstens ein bisschen, wie heißt, geschäkert.

Hatte er zuviel getrunken. Ich habe aber nicht beachtet, weil ich kenne ja meine Lukas. Trotzdem ist Lukas irgendwann zuviel geworden und er hat den Mann angeschrien. Fast hätte ihm eine gehaut, wenn ich nicht dazwischengegangen und gesagt, wir gehen jetzt heim.“

Ehrlich, ich fragte mich, warum sich Milena den Stress mit ihrem Lukas immer noch antat. So wie sie aussah mit ihrem slawischen Gesicht, den ausgeprägten Wangenknochen, dem dunklen Teint, den dunkelblonden Haaren und den schwarzen Augen, groß und kräftig-drall, hätte sie zwei Typen an jedem Finger haben können.

Außerdem bin ich beim Thema Eifersucht nicht die richtige Ansprechpartnerin. Weil, meistens bin ich es, auf die der jeweilige Kerl eifersüchtig ist, und in der Regel zu Recht. Ich bin halt wie ich bin und genieße das Leben gern, wenn es sich mir anbietet. Das sehe ich genauso wie Balu der Bär. Mit meinen 38 Lenzen bin ich meines Erachtens viel zu jung, um damit aufzuhören. Allerdings arbeite ich deutlich mehr und lieber als mein flauschiges Vorbild aus Kinderzeiten, ständig faul rumzuhängen wäre mir zu langweilig.

Plötzlich schlug eine Tür ohrenbetäubend laut zu. Gleich darauf erklang ein Rennen und Wimmern im Gang vor dem Pausenraum. Jemand hastete an der geschlossenen Tür vorbei, ich hörte eine gepresste Stimme „Seien Sie doch still!“ lautflüstern, dann polterten mehrere Fußpaare die Treppe hinunter, vermutlich Richtung Rezeption bzw. zum Büro des Managements dahinter. Mir war sofort klar, dass etwas Schlimmes passiert sein musste. Denn die Stimme hatte Frau Brax gehört, unserer Version von Mrs. Danvers, der dämonischen Haushälterin aus Hitchcocks Psychothriller „Rebecca“.