Räume des Lichts - Yuko Tsushima - E-Book

Räume des Lichts E-Book

Yuko Tsushima

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Beschreibung

Es ist die einzige Wohnung, die sie finden kann: die letzte Etage eines Bürogebäudes mit lichtdurchfluteten Räumen. Nachdem ihr Mann sein Leben allein weiterführen und sie mit ihrer zweijährigen Tochter nicht in den Haushalt der Mutter zurückkehren will, zieht sie kurzerhand dort ein. Während sie ein Matratzenlager baut, wirft das Mädchen Spielzeuge aus dem Fenster. Während sie zu verhindern versucht, dass ein Netz vor den Fenstern angebracht wird, plagen ihre Tochter Alpträume. Während sie ihr Kind in den Armen hält, wünscht sie sich, ebenfalls von jemandem in den Arm genommen zu werden. Immer wieder verliert sie die Bodenhaftung, wenn ihr Chef keine weiteren Krankheitstage zulässt, wenn ihr Noch-Ehemann von einer Scheidung nichts wissen will, wenn ihre Wut sie in die Bar treibt, während ihre Tochter in der Wohnung schläft. Aber dann sind da auch die Dachterrasse, die sich nach einem Wasserschaden in einen Pool verwandelt, das Volksfest mit Feuerwerk und Zuckerwatte, das Licht um sie herum – und der tiefe Wunsch, ihr Leben Stück für Stück neu zusammenzusetzen.

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Seitenzahl: 232

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Yuko Tsushima

Räume des Lichts

Roman

Aus dem Japanischen und mit einem Nachwort von Nora Bierich

Die Originalausgabe erschien 1979 unter dem Titel Hikari no ryōbun bei Kodansha Ltd.

Die deutschsprachigen Rechte wurden vom Nachlass Yuko Tsushima durch die Japan UNI Agency, Inc. in Tokio erworben.

Bei dem Zitat auf S. 15 handelt es sich um einen Auszug aus Faust. Eine Tragödie von Johann Wolfgang von Goethe, Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Christian Wegner Verlag Hamburg, 1949/67, S. 60 (Zeile 1828–1833).

 

Deutsche Erstausgabe

© der deutschsprachigen Ausgabe 2022 Arche Literatur Verlag, ein Imprint der Atrium Verlag AG, Zürich

© Yuko Tsushima 1979

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Angela Volknant, Hamburg

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

ISBN978-3-03790-143-4

 

www.arche-verlag.com

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Räume des Lichts

Die Wohnung hatte zu allen vier Seiten Fenster.

Ein Jahr lang wohnte ich dort mit meiner kleinen Tochter in der obersten Etage eines alten dreistöckigen Bürogebäudes. Wir hatten das gesamte Stockwerk und noch das Dach für uns. Im Erdgeschoss gab es einen Fotoladen, die erste und zweite Etage hatte man geteilt und als Büros vermietet. In dem einen fertigte ein Ehepaar mit seiner Firma auf Bestellung goldene Wappen – als Plakette oder auch im Rahmen –, in den anderen befanden sich ein Buchhaltungsbüro sowie die Filiale einer Strickschule. Lediglich das zur Straße hinausgehende Büro im zweiten Stock stand, solange wir dort wohnten, leer. Hin und wieder schlich ich mich abends, wenn meine Tochter eingeschlafen war, dort hinein, lief in den Zimmern herum, öffnete das Fenster einen Spalt weit und genoss die Aussicht, die sich ein wenig von unserer, im dritten Stock, unterschied. Ich hatte dort immer das Gefühl, in einem Geheimzimmer zu sein, von dem sonst niemand etwas wusste.

Bevor wir eingezogen waren, hatte die einstige Besitzerin in der obersten Etage des Hauses gewohnt. Nur von dort gab es einen Zugang zum Dach, wo sich zu unserer Freude ein geräumiges Badezimmer befand. Im Gegenzug musste ich mich um den auf dem Dach befindlichen Wassertank und die Fernsehantenne kümmern. Außerdem gehörte es zu meinen Pflichten – für die Besitzerin schien das eine Selbstverständlichkeit zu sein –, spät abends, wenn alle nach Hause gegangen waren, noch einmal ins Erdgeschoss zu laufen und den Rollladen am Eingang herunterzulassen.

Seit dem Verkauf des Bürogebäudes an eine in der Gegend bekannte Unternehmerin namens Fujino nannte man es auch Fujino Building 3,und ich war die Erste, die dort oben als Mieterin einzog. Es schien überhaupt die erste Wohnung zu sein, die die neue Eigentümerin vermietete, denn eigentlich war sie auf die Vermietung von Bürogebäuden spezialisiert. Da das Gebäude recht heruntergekommen und die Wohnung nicht sonderlich gut geschnitten war, verlangte sie nicht viel Miete, wohl auch, weil sie befürchtete, sonst niemanden zu finden. Offenbar wollte sie erst einmal sehen, wie sich die Sache anließ. Es war also ein Zufall und für mich ein großes Glück. Genauso zufällig war es, dass der Name des Gebäudes derselbe war wie der meines Mannes, mit dem ich damals noch verheiratet war. Aus diesem Grund wurde ich des Öfteren für die Vermieterin gehalten.

Wenn man die schmale steile Treppe bis zum obersten Stock hinaufstieg, kam man zu einer Aluminiumtür, die eiserne Tür auf der anderen Seite war der Notausgang. Da es auf dem Treppenabsatz sehr eng war, musste ich, um die Tür zu unserer Wohnung zu öffnen, entweder eine Stufe zurücktreten oder auf die Sprossen der Eisenleiter zum Notausgang ausweichen. Im Ernstfall wäre es wahrscheinlich sicherer, meine Tochter zu packen und kurz entschlossen die Treppe zu nehmen.

Hatte man die Tür endlich geöffnet, stand man in einer lichtdurchfluteten Wohnung. Der rote Bodenbelag, der vom Eingang bis in die Wohnküche reichte, ließ die Helligkeit noch stärker wirken. Aus dem dunklen Treppenhaus kommend, kniff man unweigerlich die Augen zu.

»Oh, ist das warm hier. Es ist schön«, rief meine damals fast dreijährige Tochter, als wir das erste Mal im Licht der Wohnung badeten.

»Ja, es ist wirklich warm. Die Sonne ist einfach wunderbar«, sagte ich, woraufhin meine Tochter durch die Wohnküche rannte und voller Stolz erklärte:

»Ja, das ist sie, hast du das nicht gewusst, Mama?«

Ich hätte mir am liebsten selbst zu dieser Wohnung gratuliert, denn bei so viel Licht würde es mir leichter fallen, meiner Tochter Schutz zu bieten angesichts der Veränderungen in ihrem Leben. Morgens schien die Sonne in das neben der Eingangstür gelegene kammerartige Zimmer, in dem gerade einmal zwei Tatami Platz fanden. Ich erkor es zum Schlafzimmer. Durch das Fenster, das nach Osten zeigte, sah ich auf eine Reihe von Wohnhäusern mit kleinen Wäschebalkonen sowie auf die Dächer einiger Bürogebäude, die niedriger waren als unser Fujino Building 3. Keines der Häuser hier in dem unweit des Bahnhofs gelegenen Einkaufsviertel besaß einen Garten, doch die Balkone und Dächer, auf denen allerlei Töpfe oder auch Liegestühle standen und wo ich immer mal wieder in Yukata gekleidete ältere Männer und Frauen entdeckte, wirkten heimelig.

Das Schlafzimmer hatte, wie die daneben liegende Wohnküche und das sechs Tatami große Zimmer, noch ein Fenster nach Süden hinaus. Von dort aus konnte man hinter dem Dach eines alten einstöckigen Hauses auf eine Gasse mit Bars und Yakitori-Buden blicken. Obwohl die Gasse schmal war, gab es dort regen Autoverkehr, ständig hörte man es hupen.

Im Westen, an der Stirnseite der länglich geschnittenen Wohnung, führte ein großes Fenster auf die von Bussen befahrene Straße hinaus; von dort drang außer der Abendsonne auch der Lärm erbarmungslos herein. Unten auf den Bürgersteigen sah ich die schwarzen Köpfe der Passanten, die morgens zum Bahnhof und abends in entgegengesetzter Richtung nach Hause liefen. Vor einem Blumenladen auf der anderen Straßenseite standen Menschen an einer Bushaltestelle. Jedes Mal, wenn ein Bus oder ein Lastwagen vorbeifuhr, bebte unsere Wohnung im dritten Stock, und das Geschirr im Küchenregal klirrte. Das Gebäude, in das ich mit meiner Tochter eingezogen war, lag an einer Kreuzung, an der drei beziehungsweise vier Straßen zusammentrafen, wenn man die Gasse im Süden dazuzählte. Ein paarmal am Tag, wenn die Ampel Rot zeigte und der Verkehr erlahmte, kehrte für etwa zehn Sekunden Stille ein. Sie fiel mir allerdings fast immer erst dann auf, wenn die Ampel schon wieder auf Grün schaltete und die Automotoren erwartungsvoll aufheulten.

Vom Westfenster aus sah man linker Hand einen Wald in einer weitläufigen Parkanlage, früher hatte dort die Residenz eines Daimyō gestanden. Und obwohl ich nur einen kleinen Zipfel von diesem Grün erhaschen konnte, war dieser Anblick für mich wichtiger als alles andere.

»Das da? Das ist der Bois de Boulogne«, antwortete ich, wenn mich Freunde, die zu Besuch kamen, danach fragten. Der Bois de Boulogne war ein Wald am Rand von Paris, von dem ich nur den Namen kannte, der sich mir aber genauso eingeprägt hatte wie einige Orte aus Märchen, etwa Bremen und Flandern, und ich liebte es, aus Spaß ihre Namen vor mich hin zu summen.

An der nördlichen Wand der Wohnküche befanden sich eine Abstellkammer, die Toilette sowie die Treppe, die zum Dach hinaufführte. Auch in der Toilette gab es ein Fenster. Von dort aus sah man auf den Bahnhof und die Züge. Meine Tochter mochte dieses kleine Fenster besonders gern.

»Ich kann die Busse und Bahnen sehen. Das ganze Haus wackelt«, erzählte sie den Erzieherinnen und ihren Freunden im Kindergarten stolz.

Leider bekam sie kurz nach unserem Umzug Fieber und musste eine Woche lang das Bett hüten. Ich brachte sie zu meiner Mutter, die in einem Viertel in der Nähe wohnte, damit ich zur Arbeit in das Archiv gehen konnte, in dem ich damals beschäftigt war. Dort, in der Zweigstelle eines Radiosenders, sortierte ich Dokumente und nicht mehr gebrauchte Tonträger von Rundfunksendungen, die dann per Leihkarte ausgeliehen wurden. Nach Feierabend ging ich bei meiner Mutter vorbei, verbrachte ein paar Stunden mit meiner Tochter und kehrte schließlich irgendwann nach neun Uhr in die Wohnung zurück. Mein Mann wäre sicher auch eingesprungen, hätte ich ihm Bescheid gesagt, aber ich wollte ihn nicht bitten, obwohl ich meiner Mutter einiges zumutete. Nein, ich wollte ihn nicht in mein neues Leben lassen, nicht einen Schritt weit. Ich war selbst erschrocken, wie viel Angst ich davor hatte, dass er mir wieder näherkommen könnte, mir allzu vertraut schiene.

Er hatte mir mehrmals vorgeschlagen, ich solle doch zurück zu meiner Mutter ziehen. Deine Mutter lebt allein, sie ist bestimmt einsam, und für dich ist es auch nicht leicht, allein für das Kind zu sorgen. Dann könnte ich mich beruhigt von dir trennen.

Zu dem Zeitpunkt hatte mein Mann bereits beschlossen auszuziehen, er hatte sogar schon eine neue Wohnung gefunden. Sie lag an einer der privaten Eisenbahnlinien und würde in einem Monat frei werden, dann wollte er umziehen.

Ich wusste damals nicht, was ich tun sollte. Ich hatte die Entscheidung meines Mannes noch nicht wirklich begriffen. Wahrscheinlich würde er morgen wieder ankommen und lachend behaupten, es sei alles nur ein Scherz gewesen. Warum also sollte ich mir Gedanken machen, wohin ich ziehen könnte.

Ich erklärte ihm, dass ich nicht zu meiner Mutter zurückwolle. Auf keinen Fall. Es würde mich nur vergessen machen, dass du nicht mehr da bist, das will ich nicht.

Daraufhin bot er an, mir dabei zu helfen, eine Wohnung zu finden. »Du lässt dich ja immer übers Ohr hauen. Wenn du in irgendeiner Klitsche landest, kann ich vor lauter Sorge nicht ruhig schlafen. Überlass das also mir, ist schon in Ordnung.«

Das war Ende Januar. Jeden Tag war schönes Wetter. Ich ging mit meinem Mann zu diversen Maklern. Ich lief einfach hinter ihm her. Wir trafen uns in der Mittagspause, aßen eine Kleinigkeit in der Nähe meiner Arbeitsstelle und spazierten durch die Gegend.

Mein Mann nannte den Maklern die Anforderungen: Die Wohnung solle zwei Zimmer und eine Wohnküche haben, sie müsse sonnig sein und über ein Bad verfügen, und die Miete dürfe nicht mehr als 30000–40000 Yen betragen. Was Sie da wollen, kostet zurzeit 60000 oder 70000 Yen, meinte der Makler, den wir am ersten Tag aufsuchten, und lachte.

»Die Wohnung ist für die Dame hier und ihr Kind«, sagte mein Mann und drehte sich zu mir. »Mir selbst wär’s ja nicht so wichtig, wo ich lebe, aber die beiden sollen es möglichst schön haben … Hätten Sie da nicht etwas?«

Am nächsten Tag spielte sich die gleiche Szene bei einem anderen Makler ab. Ich verlor die Geduld und flüsterte meinem Mann zu:

»Wir brauchen nicht unbedingt ein Bad. Und ein Zimmer würde auch reichen.«

Dann wandte ich mich direkt an den Makler.

»Wie steht es denn mit Ein-Zimmer-Wohnungen mit Wohnküche, da müsste es doch einige für 30000 oder 40000 Yen geben, oder?«

»Ja, in dem Fall …«, antwortete der Makler und schlug sein Registerbuch auf, doch mein Mann fuhr dazwischen und schimpfte mit mir wie mit einem Kind.

»Musst du immer gleich aufgeben! So geht das nicht. Jetzt findest du die Miete vielleicht hoch, aber du wirst sie schon bezahlen können, wenn du erst einmal dort wohnst. Aber eine Wohnung nachträglich umbauen, das kann man nicht. Was hätten Sie denn für 50000 oder 60000 Yen?«

Für den Preis könne er uns einiges anbieten, was uns gefallen würde, versicherte der Makler. Mein Mann erklärte, dass wir uns die Wohnungen gern sofort ansehen würden. Da er selbst so knapp bei Kasse war, dass er sich bei seinem Einzug in eine neue Wohnung Geld bei mir leihen müsste, konnte ich nicht darauf zählen, dass er nach der Trennung etwas zu unserem Lebensunterhalt beisteuern würde. Er hatte behauptet, dass er alles hinter sich lassen und noch einmal von vorn beginnen wolle und dass die Trennung die einzige Möglichkeit für ihn sei, aus seiner elenden Situation herauszukommen. Deswegen wollte ich lieber gleich alles von meinem Einkommen bestreiten. Ich mochte auch nicht ständig meine Mutter um Geld anbetteln. Mehr als 50000 Yen Miete könnte ich also nicht zahlen. Das war dieselbe Summe, die wir bisher für unsere gemeinsame Wohnung bezahlten. Allerdings, so rechnete ich mir aus, müsste ich künftig nicht mehr für den Lebensunterhalt meines Mannes aufkommen und auch keine Schulden mehr machen. Es war eine ziemlich gewagte Rechnung, immerhin waren 50000 Yen mehr als die Hälfte meines Gehalts.

An diesem Tag besichtigten wir eine Neubauwohnung, die 60000 Yen Miete kosten sollte. Sie hatte keine nennenswerten Mängel und lag nah an meiner Arbeitsstelle, aber ich nahm sie nicht.

Wir sahen uns fast täglich verschiedene Wohnungen an. Ein Apartment mit Garten für 70000 Yen, in dem allerdings keine Kinder erlaubt waren. Mein Mann beschwerte sich bei dem Vermieter, immerhin handele es sich in unserem Fall um ein Mädchen, ein Einzelkind, das noch dazu tagsüber im Kindergarten sei, aber es half nichts.

Die Wohnungen wurden von Mal zu Mal anspruchsvoller. Ich blieb völlig gelassen, selbst wenn die anberaumte Miete irgendwann so hoch war wie mein Gehalt. Ich hatte keine Angst, ich fand es auch nicht komisch. Mein Mann und ich inspizierten eifrig und mit vollem Ernst Wohnungen, die wir uns nicht leisten konnten. Aber weder er noch ich sahen uns als zukünftige Mieter. Mein Mann war lediglich meine Begleitperson und ich die seine.

»Und, wollen wir heute wieder los?«, lautete die gewohnte Frage am Morgen. Wenn das Wetter gut war, klapperten wir in der Mittagspause ein paar Wohnungen ab. Im Januar und Februar war durchgehend gutes Wetter.

Einmal fanden wir am Eingang eines Hauses eine Zypresse vor. Wir stiegen die fünf Steinstufen hinauf und standen vor einer hellblau gestrichenen Tür. Die Zypresse wuchs in dem knapp einen Quadratmeter großen Stück zwischen den Steinstufen und der Tür. Ihre Zweige reichten über das Erkerfenster, dessen Rahmen in dem gleichen Hellblau wie die Eingangstür gestrichen war.

»Sehr hübsch hier«, sagte mein Mann beschwingt.

»Ich mag den Baum nicht. Eine Magnolie oder ein Kirschbaum wäre mir lieber.«

»Aber Zypressen sind doch viel edler.«

Das Haus hatte ein oberes Stockwerk. Es gab ein westliches Zimmer, in dem sich der Erker befand, ein dunkles, sechs Tatamis großes Zimmer, eine Wohnküche und in der oberen Etage zwei helle japanische Zimmer sowie einen Balkon zum Wäschetrocknen. Als ich und mein Mann den Balkon sahen, waren wir begeistert. Wir lächelten uns an und plauderten, wohl wissend, dass der Makler uns hören würde:

»Deine Freundinnen würden dich hier bestimmt gern besuchen.«

»Sie könnten sogar über Nacht bleiben …«

»Auch das Kind wird sich hier wohlfühlen. Und ich könnte jederzeit vorbeikommen … Eine wirklich schöne Wohnung, ich würde sie am liebsten selbst mieten. Hier vor das Fenster könnten wir den Tisch stellen …«

»Das Bücherregal kommt an die Wand.«

»Genau. Ich hab eine Idee, du vermietest eins der Zimmer einfach an mich. Ich bezahl auch regelmäßig Miete.«

»Gut. Das wird aber teuer.«

Unser Lachen hallte in den leeren Räumen wider, der Makler fiel halbherzig ein.

Ich musste unwillkürlich daran denken, dass ich auf keinen Fall irgendwo allein mit meiner Tochter wohnen wollte. Mit meinem Mann könnte ich überall wohnen, aber ohne ihn würde ich überall Angst haben.

Als ich an jenem Tag zurück ins Archiv kam, stellte ich mir einen Moment lang unser Leben in dem Haus vor. Mein Mann hatte gut gelaunt erklärt, dass wir dort einziehen würden und ich mir keine Sorgen wegen der Miete machen solle, ich könne ja meine Mutter um Unterstützung bitten, dann war er abgezogen. Meine Stereoanlage würde ich in das Erkerzimmer stellen, in dem wir essen und es uns gemütlich machen würden. In dem unteren, dunklen Sechs-Tatami-Zimmer würden wir schlafen, die Räume oben könnten wir, solange unsere Tochter klein war, für Gäste freihalten. Vielleicht wäre es aber doch besser, oben in den hellen großen Zimmern zu schlafen, das würde die Stimmung heben. Aber wer, außer meinem Mann, käme überhaupt zu Besuch? Da das Archiv in der Nähe war, würden vielleicht meine Kollegen vorbeikommen, wenn ich sie einlüde.

Während mir solcherlei Gedanken durch den Kopf gingen, kam ein Oberschullehrer aus der Provinz herein, um sich Hörkassetten mit Gedichten auszuleihen, die er im Unterricht verwenden wollte. Geistesabwesend legte ich die Kassetten der Reihe nach in den Rekorder. Wir hatten nämlich die Anweisung, diese vor der Ausleihe sicherheitshalber kurz abzuspielen. Ich hatte keine Ahnung, warum mich die folgenden Verse so berührten.

Drum frisch! Lass alles Sinnen sein,

Und grad’ mit in die Welt hinein!

Ich sag’ es dir: ein Kerl, der spekuliert,

Ist wie ein Tier, auf dürrer Heide

Von einem bösen Geist im Kreis herumgeführt,

Und ringsherum liegt schöne grüne Weide.

»Was ist das?«, fragte ich erstaunt, da ich wissen wollte, ob dies auch eins der Gedichte sei.

Der Lehrer sah zum Fenster hinaus und dachte wohl, ich hätte draußen etwas gehört, dann wandte er sich mit einem Lächeln zu mir und legte skeptisch den Kopf zur Seite.

In dieser und auch in der nächsten Nacht kam mein Mann nicht nach Hause. Wahrscheinlich glaubte er, der Umzug sei beschlossene Sache.

Von da an ging ich allein zu den Maklern. Es war das erste Mal, dass ich ohne ihn bei ihnen vorsprach.

Die Stimme auf der Kassette hatte mich an meinen Umzug vor vier Jahren erinnert. Die Erinnerung kam ganz plötzlich.

Mein Mann studierte damals noch. Ich hatte gerade mit der Arbeit im Archiv begonnen. Wir wohnten in getrennten Wohnungen, doch fast jede zweite Nacht verbrachte er bei mir. Eines Tages rief er mich in der Bibliothek an: Ich habe eine Wohnung gefunden. In einem Neubau, sie ist ruhig und hell, einfach perfekt. Ich habe gesagt, dass wir am Sonntag einziehen, du bist doch einverstanden, oder?

Am Abend vorher hatten wir zum ersten Mal darüber gesprochen, zusammenzuziehen. Das geht aber schnell, dachte ich verblüfft, er hat schon alles entschieden, aber dann freute ich mich, dass wir so problemlos eine Wohnung gefunden hatten. Ich kam nicht auf die Idee, dass ich sie mir gern selbst ausgesucht hätte, da ich schließlich mit ihm dort wohnen würde. Es war mir eher angenehm, dass ein Mann mich mit sich riss. Auch zuvor, als ich bei meiner Mutter ausgezogen war, damit er jederzeit bei mir übernachten konnte, war er es gewesen, der mir einen Ort zum Wohnen vermittelte. Es war ein Studentenzimmer, in dem bis dahin einer seiner Freunde gewohnt hatte. Mein Mann war damals emotional noch nicht so weit gewesen, sich für mich zu entscheiden.

Ich hatte einfach gemacht, was er sagte. Am Samstagabend packte ich meine Sachen, und am Sonntagmorgen kam er mit dem Pritschenwagen bei mir vorbei. Ich hatte nicht viel, und die Sachen waren schnell aufgeladen; ich setzte mich daneben auf die Ladefläche, und schon fuhren wir los. Ich hielt einen Packen Schallplatten im Arm, mein Mann Papiertüten mit Wäsche.

Nach einer halben Stunde waren wir am Ziel. Das Zimmer lag in einem Wohnviertel, am Ende einer Sackgasse.

»Das ist es also?«, rief ich freudig. Ich sah das Zimmer zum ersten Mal.

Eineinhalb Jahre lebten wir dort – bis ich schwanger wurde.

Und jetzt – so wurde mir in diesem Moment bewusst – suchte ich zum ersten Mal selbst eine Wohnung. Ich hielt es kaum für möglich, aber es war so.

Ich machte mich im Umkreis des Kindergartens eifrig auf die Suche. Ehe ich mich’s versah, war ein Monat rum. Da ich nicht viel Miete zahlen wollte, waren die Wohnungen, die ich gezeigt bekam, im Vergleich zu denen, die ich mir mit meinem Mann angesehen hatte, in schlechtem Zustand, und manchmal verlor ich fast den Mut. Je mehr dieser düsteren, kleinen Wohnungen ich mir ansah, desto öfter verschwand mein Mann aus meinem Gesichtsfeld, während ich im Dunkel der Räume ein Funkeln wie aus Tieraugen spürte. Als wäre dort etwas, das mich ins Visier nahm. Ich fürchtete mich, doch zugleich wollte ich diesem Etwas näherkommen.

Als mir dann ein Makler von einem Schnäppchen erzählte, einem schönen Zwei-Zimmer-Apartment plus Wohnküche für 30000 Yen, ging ich voller Skepsis hin. Auf den ersten Blick war es eine ganz normale Wohnung.

»Warum ist sie so billig?«, fragte ich den Makler. »Da stimmt doch was nicht.«

Er rückte nur zögernd mit der Wahrheit heraus, obwohl ich früher oder später eh davon erfahren hätte.

»Hier hat ein Liebespaar gewohnt, sie haben Selbstmord begangen. Mit Gas, es war ein sauberer Tod. Der Mann wollte sich wohl scheiden lassen, doch als seine Frau nicht eingewilligt hat, sah er keinen anderen Ausweg. Auch in der Zeitung wurde darüber berichtet. Aber wenn es nur das gewesen wäre. Danach ist die Ehefrau in die Wohnung eingezogen und hat sich erhängt … Ja, erhängt. Warum hat sie das bloß getan? Ich war völlig fertig. Es ist jetzt ein Jahr her, so lange hat die Wohnung leer gestanden.«

»Nun ja … möglicherweise war es eine Kettenreaktion. Vielleicht ist sie eingezogen, weil sie die Toten bezwingen wollte …«, sagte ich und unterdrückte den Impuls, so schnell wie möglich das Weite zu suchen.

»Kann sein. Wir haben die Tatami ausgewechselt, die Wände neu gestrichen, aber der Gashahn ist immer noch da, wo er war. Sehen Sie, hier ist er.«

Der Makler zeigte auf eine Ecke im Raum, und plötzlich sah ich neben dem Gashahn die übereinanderliegenden Leichen vor mir.

»Wahrscheinlich haben die Leichen die Frau verfolgt …«

»Sie hatte wohl eine Neurose, sie kam direkt vom Land …«

Ich sagte, dass ich es mir überlegen müsse, und rannte zur Tür. Lassen Sie sich Zeit, sagte der Makler, die Wohnung wird bestimmt nicht so bald vermietet. Aber ich war mir nicht sicher, ob ich die Toten würde bezwingen können.

Ein paar Tage später führte mich ein anderer Makler abends in ein schmales, hohes Bürogebäude. Als ich von unten die steile Treppe hinaufsah, entfuhr mir ein Seufzer, doch in dem Moment, als ich die Tür aufmachte und die Wohnung betrat, wusste ich, dass sie für mich bestimmt war. Das Rot des Fußbodens loderte in der Abendsonne. Die leeren Räume waren lichtdurchflutet.

 

Der Umzug kostete, wie gesagt, so viel Kraft, dass meine Tochter erst einmal krank wurde. Nachdem sie sich erholt hatte und wieder in den Kindergarten gehen konnte, blühten die Kirschbäume schon. Ich brachte ihr das Lied von den Kirschblüten bei sowie das von der kleinen Ziege und das von den Raben. Meine Stimme schallte durchs Bad, doch vorn auf dem Dach klang es noch besser. Ich war selbst überrascht, was für eine schöne Stimme ich hatte. Ich kaufte uns ein Buch mit Kinderliedern und sang unter dem Beifall meiner Tochter ein Lied nach dem anderen vor; dabei beherzigte ich die Worte, die ich auf der Kassette gehört hatte: Drum frisch! Lass alles Sinnen sein.

»Zugabe! Bravo, bravo!«, rief meine Tochter übermütig, die diese Worte aus ihren Bilderbüchern kannte. Sie hatte Freudentränen in den Augen.

Wohin mein Mann gezogen war, wusste ich nicht. Er hatte mir nur die Telefonnummer des Restaurants gegeben, in dem er seit Kurzem arbeitete. Die Chefin des Ladens, hatte mir jemand erzählt, sei seine neue Freundin. Vom Alter her könne sie seine Mutter sein. Ich konnte mir vorstellen, dass ihm so eine Frau gerade recht kam, nachdem er bei seinem Versuch, mit Freunden ein kleines Theater aufzubauen, gescheitert war und jede Menge Schulden angehäuft hatte.

Es missfiel meinem Mann, dass ich mich ohne ihn für eine neue Wohnung entschieden hatte, deshalb zog er entnervt noch vor mir aus. Aber ich hatte eh nicht vorgehabt, ihn zukünftig bei mir zu beherbergen.

Wann würde er uns wohl besuchen kommen? Ich fürchtete mich vor dem Moment und merkte zugleich, dass ich nicht mehr zu ihm zurückwollte. Da ich eigentlich gegen die Trennung gewesen war, wunderte ich mich über diesen Sinneswandel. Aber schließlich war ich auch nicht mehr die, die ich einmal gewesen war.

Drum frisch! Lass alles Sinnen sein … Und grad’ mit in die Welt hinein!, sagte ich mir. Meine Tochter hatte noch gar nicht realisiert, dass ihr Vater verschwunden war.

»… Im Sommer stellen wir ein Planschbecken aufs Dach«, sagte ich, als ich sie zu Bett brachte. »Dort ist genug Platz für ein großes Becken. Und Liegestühle. Und dann trinke ich ein Bier. Und wir hängen Lichterketten auf, wie in einem Biergarten, ja? Das sieht bestimmt hübsch aus. Und Blumen pflanzen wir, ganz viele. Sonnenblumen, Dahlien und Canna. Wir können auch Kaninchen halten, was meinst du? Oder Meerschweinchen. Die sind auch süß. Oder wir nehmen ein größeres Tier. Wie wäre es mit einer Ziege? Ich hätte auch gern Hühner. Und wir könnten eine Weide anlegen. Wenn dann die Kühe muhen, wundern sich die Leute in der Nachbarschaft …«

Meine Tochter sah mit großen Augen auf meinen Mund. Ich strich ihr über den Kopf. Das Schlafzimmer war nur zwei Tatami-Matten groß, es war kaum größer als ein Wandschrank, aber sehr gemütlich.

Am Meer

In der Nacht hörte ich hinter der Wand ein Rauschen. Ich lag in meinem Zimmer im dritten Stock und sah auf die regennassen Mauern der Häuser, die im Licht der Straßenlaternen und Neonleuchten in bunten Farben schillerten. Es war ein undeutliches, leichtes Rauschen. Ich hätte nicht sagen können, wie lange es andauerte, aber ich glaubte es schon vernommen zu haben, bevor ich schlafen ging; vielleicht täuschten mich meine Sinne aber auch.

Als ich am Morgen das Fenster aufriss, drang mit dem Lärm der Autos das gleißende Sonnenlicht mit aller Macht herein. Der Himmel war von einem strahlenden Blau. Die Straßen waren trocken. Selbst im Schatten der Häuser war es trocken.

Wie schön das Wetter wieder ist, stellte ich zufrieden fest und ging meine Tochter wecken. Ich fragte mich nicht, wo der nächtliche Regen geblieben sein könnte und warum nirgends auch nur die kleinste Pfütze zu sehen war. Wahrscheinlich regnete es irgendwo anders weiter, hinter meinem Rücken zum Beispiel, wo mein Blick nicht hinreichte, dachte ich. Ich hatte noch immer das Gefühl, als liefe da Wasser, nur etwas weiter entfernt. Vielleicht hatte ich ja auch alles nur geträumt.

Hätten die Leute unter uns nicht Krach geschlagen, ich hätte auch in der folgenden Nacht dem Wasser gelauscht, wäre morgens mit demselben Gefühl aufgewacht und hätte dann alles wieder vergessen.

Ich biss gerade in meinen Frühstückstoast, als es an der Tür klopfte. Wer mag das sein, so früh am Morgen, überlegte ich und öffnete etwas vorsichtiger als sonst die Tür. Vor mir stand ein korpulenter, älterer Mann, den ich vom Sehen kannte; ich erinnerte mich nur nicht gleich, woher. Ich war ein wenig enttäuscht, dass es nicht Fujino war, der sich seit unserer Trennung vor mehr als einem Monat nicht mehr hatte blicken lassen.

»Läuft bei Ihnen Wasser?«, fragte der Mann und spähte verärgert in unsere Wohnung. Meine Tochter stellte sich vor ihn hin und musterte erst neugierig ihn, dann mich.

»Wasser. Sie haben doch Wasser verschüttet oder überlaufen lassen. Sie müssen etwas unternehmen, aber schnell! Was glauben Sie, was bei uns los ist!«

Endlich wurde mir klar, dass es der Mann aus dem Büro unter uns war. Ich begrüßte ihn eilig und sagte:

»Was soll denn passiert sein? Hier ist alles in Ordnung.«

»Bei uns tropft Wasser von der Decke, schon die ganze Zeit. Irgendwo bei Ihnen muss ein Leck sein. Sehen Sie doch bitte mal nach, vielleicht haben Sie es nur noch nicht bemerkt.«

Es war der Besitzer der Firma mit den Goldwappen. Sie schienen sie zwar nicht direkt in dem kleinen Büro zu fertigen, aber vor der offenen Tür standen ständig stapelweise Pappkartons für den Versand. Ich hatte mehrfach gesehen, wie der Mann die Kartons aus dem Büro schaffte und ihren Inhalt mit seinem Auftragsbuch verglich. Ob es wirklich so viel zu tun gab oder ob er einfach nur gern arbeitete, wusste ich nicht. Jedenfalls kam er jeden Morgen gegen acht Uhr und blieb oft fast bis Mitternacht. Für mich war das lästig, da ich morgens und abends den Rollladen unten am Eingang hochziehen beziehungsweise herunterlassen musste. Auch für ihn war es unbequem, denn wenn ich verschlafen hatte, musste er morgens vor dem Eingang warten und nachts, bevor er ging, durch meine Wohnungstür Bescheid geben. Später gab ihm die Hausbesitzerin einen eigenen Schlüssel für den Rollladen, was für mich eine große Erleichterung war.