Reise zu zweit - Mathias Meyer-Langenhoff - E-Book

Reise zu zweit E-Book

Mathias Meyer-Langenhoff

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Beschreibung

Peter Völkers, Deutschlehrer aus Leidenschaft, kämpft über Jahre einen einsamen Kampf für Bildung und Emanzipation an seinem Gymnasium. Doch nach und nach schwindet seine Zuversicht, die Schule verändern zu können. Sarkasmus und Abneigung gegenüber der heutigen Schülergeneration bestimmen zunehmend sein Denken und er zieht sich in die innere Immigration zurück. Wohl fühlt er sich bei guter Literatur und nicht geringen Mengen Rotwein nur in seinem Garten. Als er eines Tages einen neuen Schüler in seinem Deutschkurs aufnehmen muss, ändert sich sein Leben jedoch radikal. Unfreiwillig begleitet Völkers ihn auf eine Reise nach Süddeutschland. Dabei gerät sein Weltbild gehörig ins Wanken.

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Reise zu zweit

Roman

Mathias Meyer-Langenhoff

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Impressum:

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

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www.herzsprung-verlag.de

www.papierfresserchen.de

[email protected]

© 2023 – Papierfresserchens MTM-Verlag GbR

Mühlstraße 10, 88085 Langenargen

Alle Rechte vorbehalten.

Taschenbuchauflage 2019

Cover mit Bildmotiv von © adempercem gestaltet – Adobe stock lizensiert

Bearbeitung: CAT creativ - www.cat-creativ.at

ISBN: 978-3-96074-052-0 - Taschenbuch

ISBN: 978-3-96074-717-8- E-Book

*

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Danksagung

Der Autor

Unser Buchtipp

*

Für Karola, Antonia und Johanna

*

Kapitel 1

Es war ein trüber Morgen und die Uhr im Lehrerzimmer zeigte das nahe Ende der Pause an.

„Bin ich wirklich schon vierzig Jahre in diesem Job?“, sinnierte Peter Völkers und nahm sich vor, endlich den Antrag bei der Landesschulbehörde zur Errechnung seiner Pensionsbezüge zu stellen. Ihm fiel es zunehmend schwerer, morgens aufzustehen und sich in die Schule zu quälen. Das nervtötende Rasseln der alten Pausenglocke riss den Studienrat aus seinen Gedanken. Als sie verstummte und sich stattdessen prompt sein Tinnitus zurückmeldete, stand er ärgerlich auf, räumte die leere Kaffeetasse in die Spülmaschine und machte sich auf den Weg in seine Klasse.

Er kam nicht weit.

„Guten Morgen, Kollege!“ Die Tür zum Lehrerzimmer wurde schwungvoll aufgestoßen. Walter Holzmann, sein Schulleiter, stand mitten im Raum und wedelte mit einem Umschlag. Völkers zuckte zusammen. Wenn Holzmann selbst das Lehrerzimmer betrat und ihn nicht in sein Büro bestellte, musste etwas Besonderes sein.

„Herr Völkers, ich habe hier ein Schreiben für Sie, kommen Sie doch bitte in der nächsten Pause zu mir.“

„Was will dieser alte Karrierist von mir?“, ärgerte sich Völkers. Holzmann und er hatten zusammen studiert und gemeinsam an der Schule ihr Referendariat absolviert. Während Holzmann die Karriereleiter hinaufgeklettert war, hatte Völkers sich immer verweigert. Er wollte unterrichten, nicht verwalten, so sah er es jedenfalls.

Seine Ex-Frau war anderer Ansicht. „Peter, du machst einfach nichts aus dir. Warum bemühst du dich nicht um eine Beförderung? Dann kannst du selbst mehr Einfluss nehmen“, hatte sie ihm immer wieder entgegengehalten, wenn er über Holzmann schimpfte. Manchmal nannte sie ihn sogar einen Feigling, der sich einfach nicht traute, sich einem Bewerbungsverfahren zu stellen.

„Ich habe keine Angst, ich will einfach nicht. Was hat Holzmann denn aus der Schule gemacht?“, hatte er dann geschrien. „Schule ist doch längst zu einer schlecht laufenden Bildungsfabrik geworden. Mit Pädagogik hat das alles nichts mehr zu tun, Holzmann hat die Schule einfach verraten!“ Walter Holzmann und Peter Völkers waren seit ewigen Zeiten befreundet, doch mit den Worten „Von jetzt an werde ich dich wieder siezen“, hatte Völkers ihm vor einigen Jahren die Freundschaft gekündigt.

Nun nahm er das Schreiben entgegen, ein weißer Umschlag, offenbar von der Landesschulbehörde. Ob Holzmann es doch geschafft hatte, ihn loszuwerden? In Gegenwart seines Chefs wollte er den Brief aber lieber nicht öffnen und steckte ihn in seine Schultasche.

„Werde kommen!“, presste er hervor.

Die 10b wartete, eine Klasse, die er leidenschaftlich ablehnte, ja beinahe hasste. Pädagogisch zwar kein sehr korrektes Gefühl, aber ihm tat es gut. Er genoss seinen Hass sogar – und genoss es, ihn zu genießen. Sicher hatte der Brief damit zu tun, denn es gab immer wieder Beschwerden von Eltern, die der Ansicht waren, er verlange zu viel und behandle seine Schüler ungerecht.

Völkers ergriff seine Tasche und machte sich auf den Weg.

Wie ein Wolfsrudel lungerten die Jugendlichen vor der verschlossenen Tür des Unterrichtsraumes, sie hofften auf Beute, doch heute würden sie sich wundern.

„Darf ich mal!“ Ruppig, aber nicht zu ruppig, bahnte er sich seinen Weg durch die Gruppe dampfender Leiber. Sie kamen vom Sport. Warum hatte immer er nach Sport bei ihnen Unterricht? Darüber musste er unbedingt mit dem Stundenplaner sprechen. Der Deo-Gestank war unerträglich, süßlich, irgendwie billig, ein olfaktorischer Frontalangriff auf seine Nase.

Die Schüler lümmelten sich hinter ihre Tische, während er seine Tasche auspackte. Rückgabe der Klassenarbeit, Werte und Normen, schlecht wie immer. Ein vielstimmiger Chor des Entsetzens, als er ihre geistigen Ergüsse auf sein Pult knallte. Oder war es eher geistiger Ausfluss? Ihm war es gleich. Sollte er zuerst den Brief von Holzmann lesen? Einen Moment zögerte er. Vielleicht würde er vor der Klasse die Fassung verlieren, das wollte er auf keinen Fall riskieren. Lieber gab er seinen Schülern zuerst die Arbeit zurück. Warum sollten sie sich nicht gruseln? Das hatte er bei der Korrektur auch gemusst. Er lief durch die Reihen und warf ihnen die Hefte auf die Tische. Staub wirbelte auf, wenn sie im Licht der fahlen Morgensonne mit sattem Geräusch aufprallten.

„Niklas, Fünf, mit einem Minuszeichen von hier bis auf die Zugspitze.“ Wohlig registrierte er tief in seinem Inneren Genugtuung. Schon immer war er der Ansicht, dass es auch in Werte und Normen Fünfen geben müsse. Natürlich verteilte er Einsen, aber eben auch Fünfen, er hatte keine Skrupel, jemandem wegen Werte und Normen die Versetzung zu versauen. Schon gar nicht diesem Niklas, dessen Schrift eine Zumutung war. Die Korrektur seiner Arbeit hatte ihn fast so viel Zeit gekostet wie die der Klausuren fünf anderer Schüler. Was er entziffern konnte, und neben Niklas stehend gönnte er sich in Gedanken, nur in Gedanken, diesen Ausdruck, war nichts anderes als gequirlte Scheiße.

Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Jetzt noch die mündliche Bewertung, auch hier würden sie sich wundern. Er gab Noten bekannt, er diskutierte nicht. Während er seinen Lehrerkalender aufschlug – ja, er hatte noch einen normalen Lehrerkalender und kein Tablet mit Excel-Tabellen – fiel ihm wieder der Brief ein.

Öffnen?

Nicht öffnen?

Wie ein Automat trug er die Noten vor, regungslos entschied er über Leben oder Untergang. „Sollen sie jammern“, dachte er, „sie haben es sich redlich verdient.“ Zugleich verspürte er eine rasende Wut auf seinen Chef. Völkers war ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch, gleich würde Holzmann es zu spüren bekommen. Wozu den Brief lesen? Ihm war vollkommen klar, worum es ging. „Aber nicht mit mir“, wütete es in ihm, „nicht mit mir!“

Die weitere Schulstunde verging wie im Fluge, zufrieden stellte er fest, dass seine Schüler schockiert waren. Endlich hörten sie mal zu, deshalb beschloss er, einen Vortrag zu halten. Er sprach über die Theologie der Lebensfülle, die Sehnsucht nach dem Guten, Wahren und Schönen und kritisierte leidenschaftlich den Homo oeconomicus, eines seiner Lieblingsthemen, auch wenn es hier natürlich nicht um Religion ging.

„Es reicht einfach nicht“, führte er warnend aus, „den Menschen nur als seinen persönlichen Nutzen mehrendes Individuum zu betrachten!“ Er redete sich in Rage, zugleich in Begeisterung. So musste Unterricht sein, ohne methodischen Firlefanz, geradeaus eben. Er liebte es, Schüler direkt mit der Fülle seiner Bildung zu konfrontieren. Den methodischen Schnickschnack, der inzwischen Mode an den Schulen geworden war, verabscheute er. Lernspirale, Schnelllesemethode, Gruppenarbeit, das Gelesene erneut austauschen, den Klassenraum mit Kärtchen und Plakaten füllen, nein zumüllen, überall bunte Farben und Bilder und am Ende in den Köpfen der Schüler nichts als gähnende Leere. Er hatte es satt, sie durch die Power Point-Präsentationen hampeln zu sehen, Zeuge haltlos ins Bild taumelnder Wörter und Buchstaben sein zu müssen, die beinahe symbolisch den Geisteszustand ihrer Autoren repräsentierten. Nicht selten kreischten oder quietschten die alphabetischen Zeichen, wenn sie mit einem Mausklick zum Auftritt befohlen wurden, um sich schließlich bestenfalls zu Halbwissen, häufiger noch zu unglaublichem Unsinn zusammenzufügen. Da er mit der Kritik am Homo oeconomicus nun schon mal grundsätzlich geworden war, ließ er sich auch noch über die Schule aus.

„Man muss endlich mit dem Missverständnis aufräumen, sie sei umso besser, je mehr Computer oder Activboards sie ihr Eigen nennt“, dozierte er kraftvoll. „Nicht der ist gebildet, der die Computer dieser Welt bedienen kann, sondern derjenige, der eigenständig denken kann!“

Erst die zunehmende Unruhe im Klassenzimmer ließ ihn spüren, dass die Stunde vorbei sein musste, das Klingeln hatte er einfach überhört. Abrupt brach er ab und ließ sich auf den Stuhl hinter dem Pult sinken. Während er seinen Schülern beim Verlassen des Raumes zusah, spürte er Erschöpfung. Hatte er sie erreicht? Er wusste es nicht, denn in ihre Köpfe konnte er schließlich nicht hineinsehen. Er packte seine Tasche, achtlos warf er den Brief hinein und beschloss, Holzmanns Aufforderung, in dessen Büro zu kommen, einfach zu ignorieren.

Als hätte er mit der inneren Wut schon genügend Dampf aus dem Kessel gelassen, spürte er fast ein wenig Gelassenheit. Für heute war es seine letzte Stunde, er verließ wie immer grußlos das Gebäude. Am Fahrradständer schloss er sein Rad auf. Als er aufstieg, spürte er erneut, wie schwer es ihm inzwischen fiel. Er hörte schlechter, sein Rücken machte Probleme und er war sarkastisch geworden, jawohl sarkastisch. Aber wie sollte man sonst den Alltag überstehen?

Als er zu Hause die Tür öffnete, hatte er den Brief schon fast vergessen, sein Körper gierte trotz der frühen Stunde bereits nach Erholung. Es ging nichts über ein anständiges Lehrerkoma. Und danach in den Garten, sein Ein und Alles, die Pflanzen brauchten seine ganze Aufmerksamkeit.

Während des Mittagsschlafes träumte er, seine Schule sei in ein privates Bildungsunternehmen umgewandelt worden und habe profitable Zahlen zu erwirtschaften. Gelänge das nicht, werde sie geschlossen. Holzmann verlangte von ihm bessere Abschlüsse, er müsse Evaluation betreiben, Lernprozesse nur noch moderieren, nicht mehr im klassischen Sinne unterrichten. Und er? Er schmiss einfach hin.

„Zum Moderator bin ich nicht geschaffen!“, brüllte er Holzmann an. „Das ist dir doch wie auf den Leib geschrieben, du bist doch nichts anderes als eine männliche Wissenshure. Wirklicher Bildung bist du überhaupt nicht zugänglich, du Scheißkerl, du wirfst dich doch jedem neuen Trend an den Hals, nur um bessere Zahlen zu haben!“

Dann wurde er wach. Zu seiner Verwunderung stellte er fest, dass der Traum ihn nicht mal erschreckt hatte, im Gegenteil, er spürte ein Gefühl der Erleichterung. Sich noch einmal streckend, erhob er sich von der Couch, öffnete ächzend die große Schiebetür zur Terrasse und betrat seinen Garten. Den Brief ließ er weiter ungeöffnet in seiner Tasche.

Versonnen stand er vor dem alten Apfelbaum, der eine wunderbare Symbiose mit der Rambler-Rose eingegangen war. Schon jetzt freute er sich darauf, zur Blüte eine Flasche Riesling zu öffnen. Langsam, ganz langsam würde er sich unter dem Baum und der sich lustvoll um ihn windenden Ranke betrinken. Beinahe beneidete er die Pflanzen ob ihrer gegenseitigen Nähe.

Liebevoll betrachtete er die kleine Sitzgruppe, ein Naturholztisch und zwei Korbstühle. Das Material war längst ergraut, sommers wie winters der Witterung ausgesetzt, aber dennoch trotzten die Möbel den Kräften der Natur. Bei ihm war der Trotz hingegen nahezu aufgebraucht. Die Metamorphose der Schule hatte ihm jede Motivation geraubt und bei ihm nicht nur äußere Spuren hinterlassen. Sein Feuer war erloschen. Dabei hatte er für den Lehrerberuf einmal gebrannt.

Spätabends setzte er sich wieder ans Korrigieren, diesmal die Deutscharbeit der fünften Klasse. Ein Glas Cognac gab ihm Halt, fast heiter schlug er das erste Heft auf. Sophie, sie schrieb Seite um Seite, Buchstabe um Buchstabe, absurd groß malend, alle fielen sie ein bisschen nach links und zwischen jeden Absatz hatte sie ein buntes, kitschiges Herz gemalt. Was er las, war flach. Schon nach den ersten Zeilen wusste er, eine Fünf, trotz der Herzchen. Nachdem er einige Aufsätze bearbeitet hatte, erwog er für einen Moment, seine Mutter anzurufen, aber sie würde doch nur nach seiner Ex fragen. Das wollte er sich nicht schon wieder antun, lieber weiterkorrigieren. Als er das nächste Heft durchsah und ihn das tintenfleckgesprenkelte Gekritzel von Dennis entgegensprang, verging ihm jedoch die Lust. Lieber gönnte er sich einen weiteren Cognac, diesmal den guten. Er hatte ihn gekauft, nachdem seine Frau endlich ausgezogen war.

Als er die Flasche aus dem Schrank holte, war er überrascht, wie wenig von dem edlen Tropfen noch übrig war. Dennoch goss er sich ein Glas ein. Den ersten Schluck wusste er zu zelebrieren, eine Weile behielt er ihn im Mund, spürte das würzig-fruchtige Aroma. Dann trank er schneller, goss noch einmal nach und noch einmal. Jetzt war nicht mehr der Geschmack entscheidend, ihm ging es um die Wirkung des Alkohols. Schnell breitete sich ein Taubheitsgefühl in seinem Körper aus, das Denken fiel ihm schwerer.

Sein Blick streifte seine Tasche, die er nach der Schule neben seinen Schreibtisch hatte fallen lassen. Ach ja, der Brief. Mit einer Mischung aus Verachtung und ängstlicher Neugierde fingerte er nach dem Umschlag. Zu seiner Überraschung stellte er fest, dass es doch kein offizieller Umschlag war, also kein Schreiben der Landesschulbehörde. Er riss ihn auf, las – und traute seinen Augen nicht. Es waren persönliche Zeilen von Holzmann. Noch einmal überflog er die krakelige Schrift seines Chefs. Der schrieb:

Lieber Peter,

wie lange kennen wir uns eigentlich? Nach meiner Rechnung schon mehr als dreißig Jahre. Es schmerzt mich, dass unsere Freundschaft durch die Schule so gelitten hat. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir uns das nicht länger bieten lassen sollten, so gerne würde ich mich mit dir wieder versöhnen. Wie wäre es, wenn wir zusammen essen gingen? Wann hast du Zeit? Dann können wir in Ruhe alles besprechen.

Vorsichtig legte er den Brief auf seinen Schreibtisch. Wurde Holzmann jetzt sentimental? War das ein Trick, um ihn endgültig loszuwerden? Er wusste es nicht. Es war zu spät, ihn noch anzurufen. Lieber nahm er einen letzten Schluck aus der fast völlig geleerten Cognacflasche.

Am nächsten Morgen vermochte er sich im Spiegel kaum zu erkennen, daran änderten auch Dusche und Rasur nicht viel. Er kochte sich einen Kaffee und nahm eine Tablette gegen den Kopfschmerz, irgendwie musste er sich in Form bringen. Im Wohnzimmer schlug sanft die alte Standuhr. Vor Jahren hatte er sie gegen den Widerstand seiner Frau auf einem Flohmarkt erstanden. Schon halb acht, es wurde Zeit. Welche Stunden hatte er heute? Zweimal Deutsch und vier Stunden Geschichte. Schnell die Tasche packen, den Schlips geraderücken und aufs Rad.

*

Kapitel 2

Völkers wunderte sich. Vor Raum 109, in dem er jetzt eigentlich Unterricht hatte, standen keine Schüler. Wo war sein Deutsch-Leistungskurs? Hatten sie sich schon wieder freigenommen? In der vergangenen Woche erklärten sie ihr Nichterscheinen damit, er, Völkers, habe behauptet, seine nächste Unterrichtsstunde falle aus. Ärger hatte er deshalb jedoch kaum gespürt, sondern eher ein Gefühl der Erleichterung. Immerhin eine Stunde weniger Perlen vor die Säue werfen. Natürlich hatte er seine Schüler in der darauf folgenden Stunde dennoch zur Rechenschaft gezogen und ihre Erklärungen markig als angehender Abiturienten unwürdige Rationalisierungsversuche gegeißelt. Aber weil sie das Wort nicht verstanden und Sigmund Freud vermutlich für einen österreichischen Comedian hielten, schien es ihm pädagogisch schließlich notwendig, ihnen eher schlicht, dafür aber umso lautstärker Vorhaltungen wegen ungebührlichen Verhaltens zu machen und ihre Rationalisierungsversuche als „unglaubliche und selten dämliche Ausreden“ zu bezeichnen. Nun verstanden sie ihn, allerdings beeindruckte es sie kaum.

All das schoss ihm durch den Kopf, während er sicherheitshalber doch die Klassentür aufschließen wollte und zu seiner Verwunderung feststellte, dass sie erstens gar nicht verschlossen war und zweitens seine Schüler bereits im Raum saßen und auf ihn warteten. Er ließ sich nichts anmerken.

„Guten Morgen, 12b!“, begrüßte er sie deshalb schneidig wie immer, als er auf sein Lehrerpult zuschritt. Zur Antwort erhielt er ein ihren Mündern breiig entfließendes „Mooooorgen“, verbunden mit dem üblichen unverständlichen Nuscheln seines Namens. Wie immer waren sie mehr damit beschäftigt, ihre klebrigen Kaugummis zu bearbeiten, statt ihrem Lehrer einen klar artikulierten Gruß zu entbieten. Obwohl es durchaus den Anschein haben konnte, hielt er sich mitnichten für einen dieser alten, autoritären Knochen, die, selbst noch im Geiste militärischer Tradition erzogen, auf Zucht und Ordnung bestanden. Dagegen verwahrte er sich, er fühlte sich mit einem gewissen Stolz dem Geist und Denken der Achtundsechziger verbunden und sah sich in der Tradition emanzipatorischer Pädagogik, auch wenn er dafür zehn Jahre zu spät geboren war. Sein erzieherisches Mantra war noch immer, Schüler müssten lernen, Strukturen und geltende Regeln infrage zu stellen. Zu seinem Leidwesen hatte er jedoch im Laufe der Zeit verstehen müssen, dass die Schülergeneration von heute daran weder Interesse hatte noch dazu in der Lage war. Ihr fehlte es seiner Ansicht nach an allem. An Bildung, trotz seiner Bemühungen, an Bildungsinteresse, an Respekt, ja insbesondere an Tugenden, die er lange als unwichtige Sekundärtugenden verachtet hatte. Sie brachte weder Fleiß noch Disziplin auf.

„Quäl dich, du Sau!“, hätte er, wie einst Teamkollege Udo Bölts seinem Tour de France Kapitän Jan Ullrich, manchem seiner Schüler zurufen mögen, aber er wollte sich nicht schon wieder Ärger mit den Eltern oder seinem Schulleiter einhandeln.

Völkers setzte sich also hinter das Pult und packte seine Tasche aus. Die Anwesenheitskontrolle, die er seit einigen Jahren sehr akribisch durchführte, ergab ein überraschendes Ergebnis. Es waren nicht nur alle anwesend, sondern ganz hinten, in der letzten Reihe links, saß ein ihm unbekannter Schüler. Völkers’ Lehrerblick scannte ihn intensiv von oben bis unten. Wie viele Jugendliche seines Alters war er groß, besaß einen kräftigen, muskulösen Körper, wahrscheinlich einer von diesen Basketballtypen, vermutete er, nichts als Sport im Kopf. Das Haar stark gegelt, eine große Nase und für sein Alter reichlich Pickel im Gesicht.

„Ich sehe ein“, beinahe hätte er gesagt, „pickliges Gesicht.“ Bekam aber dann doch noch „neues Gesicht“ heraus. „Darf ich fragen, wer Sie sind und was Sie hier machen?“

Der junge Mann reagierte nicht.

Völkers stand auf, setzte sich auf sein Pult und verschränkte abwartend die Arme vor der Brust. Eine Gewohnheit, die er schon zu Beginn seiner Lehrertätigkeit entwickelt hatte. Sobald es ernst wurde, aufstehen. Die Schüler sollten sich konzentrieren, und zwar auf ihn. Inzwischen machten vor allem die körperlichen Ausmaße der jungen Menschen das Aufstehen noch zwingender notwendig, denn sie hatten sich seinem Eindruck nach in den letzten Jahren in doppelter Hinsicht verändert, horizontal und vertikal, sie waren entweder groß oder eben unsagbar fett, Jungen wie Mädchen. Umso wichtiger erschien es ihm, ihnen symbolisch in aller Deutlichkeit ein „Seht her, ich bin euer Lehrer“ entgegenzurufen.

„Yannik Edelmann, und Sie?“, antwortete der Neue endlich.

Völkers ließ vor Überraschung die Arme sinken. Yannik Edelmann lächelte, nicht mal uncharmant, wie er zugeben musste. Dennoch, hier stellte er die Fragen. „Jetzt bleiben wir mal bei Ihnen“, antwortete er lauter als beabsichtigt. Aber das schien den Neuen nicht aus der Ruhe zu bringen.

„Außerdem will ich wissen, was Sie hier machen?“, insistierte Völkers.

„Was machen Sie denn hier?“, kam die Frage zurück.

Wie immer hatte sich zunächst im Kurs eine lockere Plauderatmosphäre unter den Schülern eingestellt, alle kannten Völkers’ Art und wussten, dass er Neue ausführlich zum Reden zwang, ein sicheres Signal, dass der Unterricht vorläufig noch nicht beginnen würde. Was Völkers in Erfahrung bringen wollte, wussten sie entweder schon, oder es interessierte sie einfach nicht. Aber angesichts der dreisten Gegenfrage des Neuen trat nun schlagartig gespannte Stille ein.

Völkers wusste genau, was sich jetzt in den Köpfen seiner Schüler abspielte, dazu war er zu lange Lehrer. Einige freuten sich darauf, ihn scheitern zu sehen, das war klar. Er nannte sie die Hyänenschüler, nicht nur, weil sie zu jeder passenden und unpassenden Gelegenheit ein seltsames, eben hyänenähnliches Lachen hören ließen, sondern auch, weil sie ihn fortwährend belauerten, um bei kleinsten Anzeichen von Schwäche über ihn herfallen zu können. In der Regel hatte Völkers sie im Griff, allerdings musste er auch ständig auf der Hut sein. Andere wiederum hatten vielleicht sogar Angst um seine, des Lehrers, Autorität. Weder die einen noch die anderen würden es jemals eingestehen, aber seiner Meinung nach benötigten alle jungen Menschen heute zuallererst Autorität. Erst dann lernten sie vielleicht wieder, zu sich selbst zu finden, sich aufzulehnen und die Gesellschaft mit ihrer Kritik weiterzuentwickeln. Das hoffte er jedenfalls.

Was also nahm sich dieser junge Mann heraus? Völkers musste reagieren, klare Kante zeigen, aber gleichzeitig die Contenance wahren, deshalb entschied er sich für einen ironischen Ton, den er ausgezeichnet beherrschte. Darin hatte er es im Laufe der Jahre zu wahrer Meisterschaft gebracht. Erst gar nicht den Anschein erwecken, als könne ihn der Neue aus der Ruhe bringen.

„Was vermuten Sie denn aufgrund meines Alters? Dass auch ich Schüler bin? Aber ich will Sie nicht schon jetzt zu sehr strapazieren. Ich bin Leiter dieses Deutschkurses und ich hoffe, Sie können mir folgen, insofern auch Deutschlehrer von Beruf. Mein Name ist übrigens Peter Völkers. Und jetzt würde ich dann doch höflichst um Ihre Stellungnahme bitten. Also noch einmal, was machen Sie hier?“

Yannik Edelmann blieb unbeeindruckt, jedenfalls schien es so. Allerdings zögerte er einen Moment mit seiner Antwort. Die Blicke aller Schüler fixierten ihn erwartungsvoll. Würde der Neue noch einen draufsetzen oder hatte er sein Pulver bereits verschossen? Edelmann schien sich entschlossen zu haben, nicht weiter dagegenzuhalten.

„Ist heute mein erster Tag bei Ihnen, bin umgezogen. Herr Holzmann, der Schulleiter, hat mich hergebracht. Eigentlich wollte er noch mit Ihnen sprechen, aber dann musste er plötzlich weg.“

„Aha, deshalb war der Klassenraum schon aufgeschlossen“, konstatierte Völkers.

Edelmann nickte.

„Wo kommen Sie her? Und bitte antworten Sie nicht wieder mit einer Gegenfrage.“ Völkers erlaubte sich ein kurzes Grinsen. Es klappte, auch die Schüler grinsten, an der Theorie mit den Spiegelneuronen musste etwas dran sein. Er hatte gewonnen, die Hyänen waren um ihre Beute gebracht, zumindest was ihn betraf. Vielleicht fielen sie ja in der Pause noch über den Neuen her.

„Aus Hamburg.“ Mehr sagte Edelmann nicht, nur lakonisch: „Aus Hamburg.“

„Vielen Dank für die erschöpfende Auskunft. Da Sie offensichtlich im Moment nicht mehr über sich preisgeben wollen, lassen wir es dabei bewenden.“

Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Wir werden uns schon noch kennenlernen.“ Völkers wollte es nicht unbedingt wie eine Drohung klingen lassen, aber ihm war bewusst, dass einige, vielleicht auch dieser Edelmann, es vielleicht so auffassten. Ihm war es recht, zumindest konnte es nicht schaden.

„So, nun an die Arbeit. Es geht noch immer um Kleists Michael Kohlhaas, unser Thema ist die Gerechtigkeit.“ Während Völkers aus jahrzehntelanger Erfahrung schöpfend routiniert sein Programm abspulte, sich an dem Gefühl berauschend, dass keiner seiner Schüler ihm das Wasser reichen konnte, beobachtete er weiter den Neuen. An dem Unterrichtsgespräch beteiligte sich Edelmann nicht, aber die Art, wie er zuhörte, zeigte Völkers, dass er durchaus mit einem gewissen Interesse bei der Sache war. Er machte sich sogar Notizen. Waren sie wirklich auf den Unterricht bezogen? Unauffällig versuchte Völkers, einen Blick darauf zu werfen, aber er konnte sie nicht entziffern. Sollte er sie sich aushändigen lassen? Noch einmal eine Kraftprobe mit dem jungen Mann eingehen? Nein, der heutige Punktsieg reichte, es würden sich bestimmt noch Gelegenheiten ergeben, ihn darauf anzusprechen.

Der Rest der Stunde verlief normal. Wie immer beteiligten sich dieselben am Unterricht, hier und da musste er die Hyänenschüler in den letzten Reihen zur Ruhe mahnen, forderte sie gelegentlich überraschend auf, eine Frage zu beantworten oder etwas vorzulesen. So überführte er sie ein ums andere Mal der Unaufmerksamkeit, aber das war ihm eigentlich nicht wichtig, vielmehr ging es ihm darum, sich selbst zu beweisen, dass er alles und alle im Griff hatte.

Der Neue blieb übrigens bis zum Ende der Stunde schweigsam. Noch ahnte Peter Völkers nicht, wie sehr Yannik Edelmann sein Lehrerdasein verändern würde.

*

Kapitel 3

Als Völkers sich einige Tage später durch das geflieste Treppenhaus inmitten der in die Pause strebenden Schülermassen dem Lehrerzimmer näherte, ließ er seinen Blick suchend nach dem Neuen schweifen. Ein wenig wunderte er sich über sich selbst, schon lange nicht mehr hatte ihn eine Begegnung mit einem Schüler noch nach dem Klingelzeichen beschäftigt. Für ihn galt der eherne Grundsatz Pause ist Pause. Für die jungen Kolleginnen und Kollegen, die sich auch dann noch höchst aufgeregt über ihre Unterrichtserlebnisse austauschen konnten, hatte er kein Verständnis. Ein Grund mehr, sich möglichst in die hinterste Ecke des weitläufigen Lehrerzimmers zurückzuziehen, er wollte einfach seine Ruhe haben.

Meist gelang es ihm, in eine Art Wachkoma zu verfallen und den ständigen Trubel aufgeregter Diskussionen und das penetrante Telefonklingeln auf diese Weise auszublenden. Ihm war es völlig schleierhaft, was da alles in einer knappen Viertelstunde zu besprechen war oder dringend erledigt werden musste. Er wünschte sich eine Art Refektorium mit Schweigegebot, aber das war im Schulalltag wohl nicht durchzusetzen. Um die Hektik, so weit es ging, ertragen zu können, fixierte er in der Regel die kleine Holztür seines Faches in der fahrbaren Schrankwand, die nach dem Umbau des Lehrerzimmers neu aufgebaut worden war und als eine Art Raumteiler fungierte. Dort hatte er ein Foto der blühenden Rambler-Rose aus seinem Garten aufgeklebt. Ihr kräftiges Rot erlaubte es ihm, sofort aus dem Hier und Jetzt der Schule zu entfliehen, ja er glaubte sogar, den betörenden Duft der Pflanze in der Nase zu spüren.

Und noch etwas spürte er, den unwiderstehlichen Drang nach einem Glas Weißwein. Vorsichtig fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen. Wenn er jetzt irgendwo eine Flasche versteckt hätte, würde er einen Schluck nehmen, wirklich nur einen kleinen Schluck, der würde ihm reichen. Er erschrak, es war nicht das erste Mal, dass er schon in der Schule das drängende Bedürfnis verspürte, sich zu betäuben, bisher hatte er sich jedoch noch immer beherrschen können. War das der Beginn einer Alkoholsucht oder schon mehr?

Seinem Schulleiter war er übrigens schon fast dankbar für die neue Schrankwand. Er hatte zunächst zwar darüber gespottet, doch hielt er sie inzwischen für die einzige Innovation, die seinem Chef nach zwanzig Jahren Schulleitung gelungen war.

„Hey, Peter, Herr Holzmann will dich sprechen!“, krähte ihm Sandra Klippert ins Ohr.

„Schon wieder“, brummte er und dachte an den Brief, auf den er noch nicht reagiert hatte, „er soll mich einfach in Ruhe lassen.“ Außerdem ärgerte ihn, dass die junge Kollegin es gewagt hatte, ihn aus seiner Meditation zu reißen. Das riskierte sonst niemand in der Pause. Sandra Klippert schien jedoch sogar ein besonderes Vergnügen daran zu haben, immer ging es um irgendwelche Belanglosigkeiten. Eigentlich könnte sie seine Tochter sein, gehörte aber zu den Kolleginnen, die schnell Karriere gemacht hatten und im zarten Alter von nicht mal dreißig zur Koordinatorin aufgestiegen war. Ihren Platz im Gesäß des Chefs hatte sie seit dem ersten Tag ihres Schuldienstes sicher, jede seiner absurden Ideen versuchte sie, in beinahe vorauseilendem Gehorsam in ihrem Fachbereich so schnell wie möglich umzusetzen. Ob es sich um die Einführung sogenannter Teamstrukturen handelte, die Völkers als Fetisch unserer Arbeitsgesellschaft, Vergeudung von Arbeitskraft sowie die Diktatur der konformistischen Labertaschen betrachtete, die Implementierung eines sogenannten Qualitätsmanagements, das seiner Ansicht nach zu einer Verschlechterung und nicht Verbesserung der Bildungsqualität geführt hatte, oder die Besprechung von Zielvereinbarungen zwischen ihr und den einzelnen Kolleginnen und Kollegen des Fachbereichs, zu dem auch Völkers zu seinem Leidwesen gehörte. Immer hatte sie sich als Erste den neuen Herausforderungen, wie sie sie nannte, stellen wollen. In einer der letzten Konferenzen war er aufgesprungen und hatte demonstrativ seine Abneigung zum Ausdruck gebracht.

„Wisst ihr, was hier gerade passiert?“, hatte er gerufen. „Es ist die Wiederkehr des real existierenden Sozialismus, da mussten auch ständig Planziele angegeben werden, die mit der Realität nichts zu tun hatten. Ihr jungen Kollegen wisst das doch alles gar nicht mehr. Genau der feiert ausgerechnet in unserem Bildungssystem fröhliche Urständ und tanzt Ringelrein mit den neoliberalen Totengräbern eines jeden Gemeinwesens. Die McKinseys dieser Welt und ihre menschenverachtenden Steuerungsinstrumente sind doch in der Bildung so überflüssig wie ein Kropf!“ Er war aufgesprungen, hatte kaum noch an sich halten können und sich entgegen sonstiger Gewohnheiten einer ganz und gar unflätigen Wortwahl bedient. „Ich finde diese verschissene Output-Orientierung in der Schule zum Kotzen. Diese verlogenen Kennzahlen tragen nur dazu bei, sich immer weiter von dem einzig Wichtigen, nämlich unserem Bildungsauftrag, zu entfernen. Ich bin als Lehrer mal angetreten für Freiheit und Emanzipation junger Menschen. Davon ist aber nichts mehr übrig, heute produzieren Schulen doch nur noch willenlose und unfreie Anpasser. Ich sage euch was: Inzwischen sind wir weit hinter das Zeitalter der Aufklärung zurückgefallen. Und vorsorglich füge ich schon mal hinzu: Wenn ihr, liebe Kolleginnen und Kollegen, mir wegen meines Ausbruches Feedback geben wollten, ist das nichts anderes als die moderne Variante stalinistischer Kritik – und Selbstkritikrituale!“ Erst als er merkte, dass die anderen anfingen zu murren, setzte er sich wieder hin und schwieg.

Und nun stand seine junge Fachbereichsleiterin grinsend vor ihm, die Hände in die Hüften gestützt. „Jetzt nicht“, brummte er, „noch ist Pause.“

„Es geht um einen neuen Schüler“, entgegnete sie.

Seufzend wandte er seinen Blick von der Rambler-Rose ab und sah zu Sandra Klippert hoch. „Was ist mit dem?“

„Der Chef will dir was über ihn sagen.“

Völkers nickte. „Ja, schon gut, nach dem Klingeln.“

Dann war die Pause tatsächlich vorbei. Die Glocke rasselte wie immer unerträglich laut, kurz schloss er die Augen und hielt sich die Ohren zu, um den Lärm durch Konzentration auf sich selbst einigermaßen unbeschadet zu überstehen, erhob sich, griff zu seiner Tasche und ging langsam in Richtung Schulleiterbüro, das sich auf dem Weg zum Ausgang aus dem Lehrerzimmer befand.

Die Tür stand offen, Holzmann saß an seinem Schreibtisch und telefonierte. Er winkte ihn herein und signalisierte ihm, sich zu setzen. Aber Völkers blieb stehen, bis Holzmann sein Gespräch beendet hatte.

„Nun setz dich doch“, sagte er noch einmal und deutete auf die Sitzgruppe in seinem Büro.

„Nein danke, ich habe jetzt Unterricht. Sie wollten mir etwas zu dem neuen Schüler sagen?“

Holzmann schaute ihn verdutzt an. „Hast du meinen Brief nicht gelesen?“, wollte er wissen.

„Doch, aber ich bin nicht interessiert. Was ist jetzt mit dem Neuen?“

Holzmann räusperte sich, es ging also nicht, kein Gespräch, wieder nicht. Seufzend schaltete er ebenfalls auf Sie um. „Ich würde mich freuen, wenn Sie Edelmann ein wenig unter Ihre Fittiche nähmen, er kommt aus Hamburg.“

„Wie alt ist er?“

„Achtzehn, er wird, glaube ich, in diesem Jahr noch neunzehn.“ Holzmann wühlte in seinen Unterlagen und zog einen Brief heraus. „Genau, er wird neunzehn, in drei Monaten.“

„Warum kommt der ausgerechnet in die Provinz?“, fragte Völkers.

Holzmann zuckte mit den Schultern. „Weiß ich auch nicht. Vielleicht erzählt er es ja Ihnen.“

„War’s das?“

Der Schulleiter nickte und Völkers verließ das Büro. Ein wenig war er verunsichert, erst wieder einer dieser Annäherungsversuche und dann der Spezialauftrag als Kindermädchen. Was wollte Holzmann wirklich? Er wurde nicht schlau aus ihm.

Während er das zugige Foyer auf dem Weg zu seiner Klasse durchquerte, sah er aus den Augenwinkeln Edelmann vom Schulhof kommen und die schwere Glastür öffnen. In der linken Hand hatte er eines dieser fettigen Fischbrötchen, die man in der Schulmensa kaufen konnte. Es schien ihm zu schmecken. Sein Blick signalisierte Gelassenheit, die ersten Tage an der neuen Schule hatte er offenbar gut überstanden.

Völkers musste jetzt in den dritten Stock. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, die Treppe zu benutzen, obwohl er wie alle Kollegen über einen Aufzugschlüssel verfügte. Leicht fielen ihm die vielen Stufen schon längst nicht mehr, wenn er oben ankam, war er ziemlich außer Atem. Die jungen Kollegen wunderten sich über ihn, aber er wies dann gerne auf die sportliche Herausforderung hin, die ihm wichtig sei. In Wahrheit ging es ihm nur darum, nicht mit ihnen im Aufzug stehen zu müssen, so viele Lehrer auf engem Raum konnte er nicht ertragen. Da zog er das Treppenhaus vor, dort wehte der Geist der Freiheit statt pädagogischer Muffigkeit.

Er horchte in seinen Körper hinein, im zweiten Stock wurde sein Schritt langsamer, sein Atem ging schneller, auch die Tasche wurde schwerer, aber gleich würde er sich ausruhen können. In der 6c wollte er eine Klassenarbeit schreiben lassen.

Endlich oben angekommen, hielt er kurz inne, atmete noch einmal durch, bevor er die Klassenzimmertür öffnete, seine Stimme musste durchdringen, die Kleinen waren immer so aufgeregt vor Klassenarbeiten, sprangen hin und her wie eine Herde junger Lämmer. Er zählte innerlich bis drei, dann trat er auf sie zu. „So, jetzt macht mal Platz, ich kann ja gar nicht die Tür aufschließen!“

Sie schubsten sich gegenseitig zur Seite, bis der Eingang frei war. Kaum hatte er aufgeschlossen und geöffnet, ging die Drängelei wieder los. Er brachte sich schnell hinter seinem Pult in Sicherheit und beobachtete, wie sie um ihre Plätze kämpften. Eine feste Sitzordnung gab es nicht, die Klassen an seiner Schule waren sogenannte Wanderklassen, ihnen fehlte die Heimat. Als sie sich sortiert hatten, setzte er einige noch einmal um, er kannte seine Pappenheimer, wusste, wer gerne bei wem abschrieb.

Völkers erhob sich. „Ich möchte, dass ihr jetzt das Reden einstellt. Außer einem Stift hat sich nichts mehr auf dem Tisch zu befinden.“ Noch einmal Unruhe, einige packten ihre Federmappe oder das Etui in die Tasche, andere ihr Butterbrot oder das Handy. Dann verteilte er die Klassenarbeitshefte, die Aufgabenstellung hatte er schon hineingelegt. „Schreibe eine Nacherzählung der Geschichte aus der Sicht Till Eulenspiegels.“ Er liebte Till Eulenspiegel, für ihn war der mittelalterliche Narr immer eine Figur, die den Menschen und der Gesellschaft den Spiegel vorgehalten hatte. Die später für Kinder bereinigten Fassungen waren ihm viel zu glatt. Nur um des Vergnügens willen hatte Eulenspiegel seine Späße nicht getrieben. Seinem Erfinder ging es um Kritik, er hatte sich die ständische mittelalterliche Gesellschaft aufs Korn genommen. Das würde er, Völkers, auch gerne, den Bildungsbeamten aus dem Ministerium den Spiegel vorhalten, sie hochnehmen, aber gleichzeitig wusste er, dass er dazu zu müde war.

Endlich herrschte Ruhe im Klassenraum, die 6c beschäftigte sich mit der Aufgabe. Er hatte Zeit, sie zu beobachten. Nicht, weil er sie beim Schummeln erwischen wollte, das passierte auch, aber er nahm das rein sportlich, im Gegensatz zu manchen seiner Kollegen, die sich betrogen fühlten, wenn sie jemanden bei einem Täuschungsversuch, wie es offiziell hieß, erwischt hatten. Moralinsaurer, puritanischer Unsinn. Sein Blick glitt über die Schülerinnen und Schüler. Jana, sie wirkte konzentriert, ihre Zunge spielte über ihre Oberlippe, der Füller kratzte über das Papier, sie schrieb etwas verkrampft. Lars, einer dieser Jungen, die nur Fußball im Kopf hatten, schlampig im Erledigen der Hausaufgaben, er meldete sich so gut wie nie, wenn Völkers ihn ansprach, kratzte er meist seinen Kopf und grinste. Dann Kira, ein Name, der eigentlich Macht und Herrschaft bedeutete, aber davon war Kira Lichtjahre entfernt. Ein verunsichertes Mädchen, sie kaute immer wieder an ihren Fingernägeln, auch jetzt, noch keine Zeile stand auf ihrem Papier. Einmal war ihr Vater in seiner Sprechstunde gewesen, er roch nach Alkohol, war dumm und unsympathisch und wollte von ihm wissen, ob er Kira nicht besser von der Schule nehmen sollte. Völkers war froh, dass ein Tisch zwischen ihm und dem Vater stand, so konnte er seinem schlechten Atem unauffällig ausweichen. Eigentlich wäre es besser gewesen, sie in die Realschule zu schicken, aber dieser Vater grinste ihn so debil an, er mochte sich mit ihm nicht ernsthaft über die Zukunft seiner Tochter unterhalten. Also war sie erst einmal geblieben.

Völkers stand auf, ging langsam durch die Reihen, die Hände auf dem Rücken verschränkt, hier und da schaute er in ihre Hefte, wenn sie nicht mit ihrem ganzen Oberkörper darüber gebeugt waren. Draußen auf dem Schulhof standen die 12er zusammen, offenbar hatten sie keinen Unterricht. Fehlte der Mathematikkollege schon wieder? Und wo war Edelmann? Völkers sah ihn etwas abseits stehen. Hatte die Hyänenmeute doch noch zugebissen oder ignorierte sie ihn einfach? Sein neuer Schüler hatte schon wieder dieses Notizbuch in den Händen, er schrieb. Aber was?

Völkers spürte Ärger, in einer der nächsten Stunden wollte er sich das Geschreibsel doch zeigen lassen. Er setzte sich wieder hinter sein Pult und wartete auf das Ende der Stunde, davon überzeugt, dass sie bei ihm gar nicht erst versuchten, zu mogeln. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als ihm einfiel, dass der leicht vertrottelte, aber nicht unsympathische Kollege Wenzel ihm stolz erzählte hatte, er würde bei Klassenarbeiten immer seinen Motorradintegralhelm aufsetzen, damit die Schüler nicht merkten, in welche Richtung er sah.

„Ihr habt jetzt noch fünf Minuten, das heißt also zum Schluss kommen. Am besten, ihr lest noch einmal alles durch, es wird pünktlich abgegeben.“ Das sagte er immer am Ende einer Klassenarbeit, sonst würden wieder die eifrigen Mädchen in die Pause hineinschreiben, aber davon wurden die Aufsätze auch nicht besser.

Mit dem Klingeln stand er auf und begann ihre Hefte einzusammeln. Wie immer musste er sie einigen unter den Händen wegziehen. „Jetzt ist Feierabend“, sagte er zu Kira, die unbedingt noch einen sogenannten letzten Satz schreiben wollte.

„So, dann packt eure Sachen zusammen, ab in die Pause!“, rief er, als er mit den eingesammelten Heften wieder an seinem Lehrerpult stand. Wie immer drängten sie sich lärmend und schubsend aus dem Klassenraum hinaus. Seufzend schloss Völkers die Tür und folgte ihnen langsam nach unten. Zwar hatte er jetzt eigentlich frei, aber entgegen seiner sonstigen Gewohnheit ging er nicht direkt nach Hause, sondern noch einmal zurück in das Lehrerzimmer. Er hatte in seinem Fach ein Buch vergessen, auf das er sich unbändig freute und ihm bei seinem neuen Projekt helfen sollte. Er wollte sich noch einmal intensiv mit Wilhelm von Humboldt beschäftigen und dessen Ideen für eine umfassende Bildungsreform studieren, dem Geist der Aufklärung auf der Spur bleiben, obwohl und natürlich auch, weil in der heutigen Schule nichts mehr von ihm zu bemerken war. Schon lange arbeitete er an einem Bildungsroman, in dem er endlich der Welt, aber, wie er sich manchmal eingestehen musste, vor allem seinem Chef und seiner Ex-Frau erklären wollte, wie verlogen und absurd Schule geworden war. Ihm lag daran, dem niveaulosen Treiben etwas entgegenzusetzen. Mit dem Werk Humboldts hatte er seine Recherchen begonnen, und er wollte es nun vor dem Verfassen seines Romans ein zweites Mal lesen. Danach sollte es aber losgehen, es juckte ihm schon in den Fingern, er würde seine Tastatur zum Glühen bringen, die Flucht aus der real existierenden Schule rückte näher, endlich!

„Herr Völkers! Herr Völkers! Kann ich Sie mal sprechen?“ Gerade wollte er die Tür zum Lehrerzimmer aufschließen, als eine Schülerin aufgeregt auf ihn zustürzte. Mit hochrotem Gesicht stand Nicole vor ihm, eine dieser Sechstklässlerinnen, die gerade die Arbeit über Eulenspiegel geschrieben hatte.

„Was ist los, Nicole? Willst du mir noch etwas zu der Klassenarbeit sagen?“ Es war nicht das erste Mal, dass sie anschließend noch mit ihm sprechen wollte. Aber noch nie hatte er sie so aufgeregt erlebt.

„Nein, nein“, stotterte sie, „einer aus der 12 meint, Sie sollen sofort zum Fahrradständer am Lehrerparkplatz kommen.“

„Wie, sofort zum Fahrradständer kommen? Wer sagt das denn?“

„Keine Ahnung, ich kenne den nicht, aber er Sie.“

„Und warum bist du so aufgeregt?“

Nicole grinste unsicher, drehte sich um und verschwand in dem Schülergewimmel, bevor Völkers reagieren konnte. Für einen Moment verspürte er den Impuls, ihr nachzulaufen und sie zur Rede zu stellen, entschloss sich dann jedoch, zuerst das Buch aus seinem Fach zu holen, anschließend wollte er ja sowieso nach Hause.

Zielstrebig eilte er ins Lehrerzimmer, wie immer saßen die Kolleginnen und Kollegen an ihren angestammten Plätzen, tranken ihren Kaffee, diskutierten über ihre Abenteuer während der Unterrichtsstunden, telefonierten oder glotzten in ihre Smartphones, um die SMS und Mails zu lesen, die sie während des Unterrichts erhalten hatten. Mein Gott, wie wichtig sie sich doch alle gaben. Völkers rümpfte die Nase, eine Angewohnheit, die schon seine Ex-Frau bespöttelt hatte.

„Du siehst dann aus wie ein Kaninchen“, hatte sie gesagt.

Er hatte sich sehr darüber geärgert, aber ihr am nächsten Morgen bei einem Kontrollversuch im Badezimmerspiegel recht geben müssen, es sah wirklich albern aus, nur konnte er es sich einfach nicht abgewöhnen.

Er nahm sein Buch aus dem Fach und machte sich auf den Weg zu seinem Fahrrad. Die Eile hatte nichts mit der Nachricht von Nicole zu tun, er war einfach froh, nach Hause fahren zu können, um sich, so schnell wie möglich, unter dem rosenblühenden Apfelbaum der Lektüre des Buches widmen zu können. Natürlich erst nach dem obligatorischen Mittagsschlaf.

*

Kapitel 4

Am Fahrradständer konnte er sein Rad zunächst nicht finden. Etwas verärgert schüttelte er den Kopf, es war nicht das erste Mal, dass er sich nicht erinnerte, wo er es am Morgen abgestellt hatte. Suchend glitt sein Blick umher, während er überlegte, ob er nicht doch zu Fuß gekommen sein könnte. Aber dann fiel es ihm wieder ein. Natürlich war er nicht zu Fuß gekommen, schließlich hatte er am Morgen noch Luft auf den Vorderreifen gepumpt. Nur warum zum Teufel war es verschwunden? Hatte dieser ominöse Schüler es gestohlen?

Plötzlich hörte er jemanden rufen. „Herr Völkers, Herr Völkers, falls Sie ihr Rad suchen, es ist hier!“

Die Stimme kannte er, es war Edelmanns. Wo steckte der Bursche? Energisch ging er auf die Spiraensträucher zu, die den Fahrradständer vom Parkplatz abgrenzten. Das Letzte, woran er sich erinnern konnte, waren die herrlichen weißen Blütendolden und der dumpfe Schlag gegen seinen Hinterkopf, der ihn umriss und in die Bepflanzung sinken ließ.

Als er wieder erwachte, fand er sich auf der Rückbank eines Autos wieder, noch schlimmer, das Auto fuhr, und er war gefesselt und geknebelt, sein Mund mit einem Klebeband fest verschlossen. Stöhnend versuchte Völkers, sich aufzurichten.

„Liegen bleiben!“

Wieder Edelmanns Stimme, sie klang sehr bestimmt, also rührte er sich lieber nicht. Er hatte Schweißausbrüche und Herzrasen, fühlte Angst in sich hochkriechen. Was hatte dieser Bursche mit ihm vor? Warum hatte er ihn entführt? Völkers konnte sich keinen Reim darauf machen. Er besaß weder Geld noch Einfluss auf irgendetwas, nicht mal auf die Schule, in der er so viele Jahre seines Lebens verbracht hatte. Wollte Edelmann sich an ihm rächen? Fieberhaft ging er die letzten Unterrichtsstunden durch. Richtig, der junge Mann war bei ihrer ersten Begegnung sehr provozierend aufgetreten, er, Völkers, hatte sich gewehrt und ihm natürlich auch gezeigt, wer Herr im Hause war. Aber das war nichts Besonderes, so verhielt er sich Schülern gegenüber immer, das konnte kein Grund für einen Racheakt und erst recht nicht für eine Entführung sein. Und wenn doch? Wer konnte und wollte genug für ihn bezahlen? Eigentlich niemand, na gut, das konnte Edelmann nicht wissen, schließlich war er neu an der Schule. Völkers blieb nur die Annahme, Zufallsopfer eines verrückten Jugendlichen zu sein, der noch dazu sehr schnell fuhr, vermutlich befanden sie sich gerade auf der Autobahn.

„Alles klar bei Ihnen? Wir sind jetzt nämlich erst mal eine Weile unterwegs.“ Edelmanns Stimme klang jetzt sogar einigermaßen freundlich. „Stimmt, Sie können ja nicht antworten. Dass ich Ihnen was über die Birne geben musste, tut mir übrigens leid, wahrscheinlich werden Sie eine Beule zurückbehalten. Aber der Knock-out war notwendig, eine freundliche Einladung von mir hätten Sie vermutlich ausgeschlagen.“ Edelmann schaltete das Radio ein und schwieg fürs Erste.

Zu gerne hätte Völkers gewusst, wo der Mistkerl mit ihm hinwollte. Er lag auf seiner linken Seite und konnte nach draußen sehen, gelegentlich nahm er vorbeifliegende Baumkronen wahr oder einfach nur den bewölkten Himmel, nichts weiter.

„Hier ist der Deutschlandfunk. Es ist 13.00 Uhr, Sie hören Nachrichten.“ Zu Völkers Erstaunen hatte Edelmann nicht irgendeinen dieser Tralala- und Wir sind so schrecklich gut gelaunt-Sender eingeschaltet, sondern seinen Lieblingssender. Das lenkte ihn ab, denn die Informationen am Mittag, die nach den Nachrichten begannen, beschäftigten sich mit dem Krieg in Syrien und analysierten aus unterschiedlicher Perspektive die Frage, wie es dort wohl weiterging. In gewisser Weise fand Völkers das Zuhören beinahe tröstlich, denn anderswo in der Welt gab es Menschen, die noch viel dramatischeren Krisensituationen ausgesetzt waren als er in diesem Moment.

Edelmann schwieg und konzentrierte sich aufs Fahren, schien jedoch gut gelaunt zu sein, wenn Musik gespielt wurde, summte er gelegentlich sogar mit.

Völkers hatte Kopfschmerzen, die Beule, die er durch den Schlag davongetragen hatte, musste ziemliche Ausmaße haben, jede Drehung tat ihm weh. Sein Durst wurde langsam unerträglich, da half auch der Deutschlandfunk nicht weiter. Kurz nach den 15.00 Uhr-Nachrichten, in denen aber die Entführung eines Lehrers nicht gemeldet wurde, verließen sie die Autobahn und fuhren über eine Landstraße, bis sie in ein Waldgebiet einbogen. Der Wagen rumpelte noch einige Minuten über einen schmalen Weg, schließlich stellte Edelmann den Motor ab. „So, Herr Völkers, da wären wir, für heute sind wir lange genug gefahren.“ Sein Entführer stieg aus, öffnete die hintere Autotür und half ihm, sich aufzusetzen. „Ich ziehe Ihnen jetzt das Paketband vom Mund, aber wenn Sie losbrüllen, werde ich es sofort wieder draufkleben. Versprechen Sie mir, ruhig zu sein?“

Völkers nickte. Mit einem Ruck befreite ihn Edelmann von dem Band, es schmerzte, aber welche Wohltat, endlich wieder frei atmen zu können. „Ich habe Durst“, sagte Völkers.

„Sofort, wir gehen erst mal in die Hütte.“ Edelmann hatte den Wagen, einen alten schwarzen Mercedes 200, vor einer Wanderhütte geparkt, die offenbar tief im Inneren des Mischwaldes verborgen und sicher schwer zugänglich war. Im Schatten der mächtigen Buchen und Tannen, die sie umgaben, schien sie sich nahezu an die Erde zu ducken. Nur ein morastiger Weg führte von der Hütte weg, der Wagen war deshalb über und über mit Schlamm bedeckt, vermutlich hatte es auch hier wie fast überall in Deutschland in der letzten Zeit viel geregnet.

Sie betraten die nicht sehr einladende Hütte, in der es recht dunkel und kühl war. In der Mitte des Raumes standen ein Tisch und vier grobe Holzstühle, an der Wand befanden sich zwei Schlafgelegenheiten, von Betten konnte man nicht sprechen, außerdem eine kleine Küchenzeile. Edelmann führte Völkers, der noch immer gefesselt war, an den Tisch, zog den Stuhl hervor und forderte ihn auf, sich zu setzen. Dann ging er nach draußen und kam mit einem Rucksack und einem Sechserpack Mineralwasser zurück.

„Hier“, sagte er und stellte eine der Flaschen geöffnet vor ihn.

„Und wie soll ich daraus mit meinen Fesseln trinken?“, fragte Völkers verärgert.

„Sorry, hab nicht dran gedacht“, antwortete Edelmann und nahm sie ihm ab.

Gierig griff Völkers zur Flasche, während das Wasser seine Kehle hinunterrann, spürte er, wie seine Lebensgeister zurückkehrten. „So, jetzt will ich aber endlich wissen, was Sie sich dabei gedacht haben?“, schnauzte er seinen Entführer an, nachdem er seinen Durst gelöscht hatte.

„Wobei?“

„Wobei? Ich glaube, Sie haben mich sehr gut verstanden. Stellen Sie sich doch nicht dümmer, als Sie sind.“

„Woher wollen Sie wissen, wie schlau oder dumm ich bin?“, entgegnete Edelmann.

„Verdammt noch mal, erst schlagen Sie mich zusammen und entführen mich in diese alberne Waldhütte und dann tun Sie so, als sei nichts geschehen?

---ENDE DER LESEPROBE---