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Ein neuer Fall für Wille und Andy. Auf dem Fest der Kulturen im Kloster Frenswegen werden sie Zeuge eines Überfalls auf Annabelle. Sie ist die Tochter der reichen Disco-Besitzerin Emma von Pruselitz und wurde von einem unbekannten Mann in Mönchskutte niedergeschlagen. Er entreißt ihr eine wertvolle alte Familienbibel, die Annabelle hinter dem Kloster in einem Versteck eher zufällig gefunden hat. Die beiden Detektive nehmen die Ermittlungen auf und geraten in ein aufregendes Abenteuer. Gleichzeitig versuchen sie eine große Fridays for Future-Demonstration zur organisieren, um auf den Klimawandel aufmerksam zu machen.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
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Wille und die Jagd nach der Klosterbibel
Mathias Meyer-Langenhoff
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Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
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© 2024 – Papierfresserchens MTM-Verlag GbR
Mühlstr. 10, 88085 Langenargen
Bearbeitung: CAT creativ - www.cat-creativ.at
Alle Rechte vorbehalten. Taschenbuchauflage erschienen 2024.
Cover: © René Levens
Gedruckt in der EU
ISBN: 978-3-96074-822-9 - Taschenbuch
ISBN: 978-3-96074-823-6 - E-Book
*
Das Fest der Kulturen
Die Geschichte der Klosterbibel
Besuch bei Annabelle
Nachmittags im Kloster
Treffen mit Watermann
Wer hat bei Andy eingebrochen?
Besuch beim Schulleiter
Ist Herr Bentlage mit der Demo einverstanden?
Wer steckt hinter dem Erpresserbrief?
Andys Vater
Streiken für das Klima
Überraschung mit Ole, Lars und Patrick
Die Fridays for Future Demonstration
Onkel Werner greift ein
In der Disco
Tom de Ligt
Neues von Watermann
Die Schlacht am Seepark
Im Anker
Alles wird gut
*
„Das ist ja wieder mal krass!“, rief Wille, als er und Andy auf ihren Rädern das Kloster Frenswegen erreicht hatten und die vielen Stände vor dem alten Gemäuer sahen. Schon hier waren unzählige Angebote des Festes errichtet worden. Eine riesige Hüpfburg für die Kleinen, der Kinderschutzbund bot Spiele für Gruppen und Kinderschminken an und der Sportbund hatte eine Kletterwand aufgebaut, an der sich immer wieder mutige Kletterer nach oben mühten. Außerdem gab es zahlreiche Stände für Erwachsene, die Volkshochschule, der Gewerkschaftsbund und viele andere Vereine und Gruppen boten ihre Informationen oder Spiele an. Auch ein Eiswagen und ein Mandelstand fehlten nicht. Das Fest der Kulturen fand jedes Jahr im Mai oder Juni im Kloster statt, ein buntes, fröhliches Fest, das Menschen aus aller Welt, die ihre Heimat in Nordhorn gefunden haben, zusammen feierten und miteinander vorbereiteten.
Wille und Andy stellten ihre Fahrräder ab und gingen geradewegs auf den Haupteingang zu. Dort fiel ihnen ein riesiger Kickertisch auf, den die Polizei aufgebaut hatte und an dem gerade auf jeder Seite sechs Spieler an den Stangen wirbelten.
„Das ist ein voll tolles Teil!“ Andy schaute den Spielern fasziniert zu.
„Stimmt“, nickte Wille, „find ich besser als FIFA. Vielleicht hätte ich da sogar gegen dich eine Chance.“
„Können wir nachher ja mal ausprobieren“, antwortete Andy, „aber dann brauchen wir noch Mitspieler. Ich will lieber erst mal in den Innenhof.“
Von dort war laute Musik zu hören und durch den schmalen Eingang strömten Menschen hinein und hinaus. Nachdem Andy und Wille sich durchgedrängelt hatten, fiel ihr Blick auf die große Bühne, die zum Schutz vor Regen mit einem großen, roten Dach überspannt war. Eine Trommelgruppe gab dort gerade ihr Bestes. Sie hatten einen lustigen Namen: Hau dat Fell. Rasend schnell bearbeiteten die Musiker ihre Instrumente, die alle einen unterschiedlichen Klang hatten und die dicht an dicht stehenden Zuschauer mit ihrem Rhythmus zum Tanzen und Klatschen brachten. An den Klosterwänden entlang reihten sich zahlreiche weitere Stände, die entweder Informationen oder gut riechendes Essen anboten.
„Ist wieder voll stark, oder?“, meinte Andy anerkennend, während er sich umsah.
„Komm, wir gehen zur Bühne“, schlug Wille vor und bahnte sich einen Weg durch die vielen Menschen. Da vorne etwas mehr Platz war, begannen Andy und Wille sich ebenfalls zum Klang der afrikanischen Trommeln zu bewegen.
Nach dem Auftritt von Hau dat Fell hatten beide Hunger. Kein Wunder bei all den herrlichen Düften. Sie begannen ihren Rundgang am Stand der Italiener aus Nordhorns Partnerstadt Rieti, die Brötchen mit Schweinefleisch anboten, wechselten anschließend zu den libanesischen Frauen, an deren Stand es ganz verschiedene orientalische Köstlichkeiten gab, und waren nach dem Kauf einer Scheibe Weißbrot vom typischen Grafschafter Weggen mit, wie Willes Oma immer sagte, guter Butter, auch noch in der Lage, ein Stück Kuchen am Stand des Eine-Welt-Ladens im Kreuzgang zu essen.
„Ich kann nicht mehr“, stöhnte Andy schließlich, während draußen eine Musikgruppe plattdeutsche Lieder sang.
Wille spitzte die Ohren. „Sag mal, Andy, ist das nicht dein Onkel Werner?“
Zum Kuchenessen hatten sie sich an einen der Tische im Kreuzgang gesetzt, sodass sie nicht sehen konnten, was sich gerade auf der Bühne abspielte.
„Genau, hatte ich ganz vergessen. Er hat mir erzählt, dass er mit seiner Blues-Band hier auftritt, aber hauptsächlich plattdeutsche Lieder singt. Komm, wir gehen wieder nach draußen!“
Onkel Werner auf der Bühne hatte das Publikum im Griff, mit seinem röhrenden Bass, seiner Mundharmonika und seinen launigen Witzen brachte er die Menschen zum Lachen und zum Tanzen. Zusammen mit seiner Band bildete er einen Haupt-Act des Festes. Die Leute hatten schon auf ihn gewartet und jubelten ihm zu. Er war ein super Typ und hatte Wille und Andy bei ihrem letzten Fall mit dem Ungeheuer im Vechtesee sehr geholfen. Ohne ihn wären sie vermutlich nicht so schnell auf die entscheidende Spur gekommen. Onkel Werner war irgendwie alles: Er war witzig, ein toller Bluesmundharmonikaspieler, groß und schwer wie ein Pferd und trug einen Bart, mit dem er aussah wie der Weihnachtsmann.
Nach ihm traten Bauchtänzerinnen auf, für die Wille und Andy sich weniger interessierten. Deshalb zogen sie es vor, in den Kreuzgang zu gehen, um sich dort die Fotos des Festes aus dem Vorjahr anzusehen. Große Schwarz-Weiß-Aufnahmen von den beteiligten Gruppen auf der Bühne, den Ständen und vielen Besuchern vermittelten einen tollen Eindruck. Die Mitglieder des Vereins Fotograf hatten beeindruckende Schnappschüsse gemacht. Auch jetzt waren die Fotografen wieder mit ihren Fotoapparaten unterwegs.
Einer von ihnen stand direkt neben Wille und Andy. „Darf ich von euch ein Foto machen?“, fragte er und hob schon seine Kamera.
„Von mir auf keinen Fall!“, antwortete Andy. Er hatte es schon immer gehasst, fotografiert zu werden, und drehte sich schnell um. Wille hatte nichts dagegen und lachte in die Kamera. Zuerst unbefangen und entspannt, doch auf einmal verzog sich sein Gesicht, denn neben dem Fotografen stand Annabelle von Pruselitz und schaute ihm spöttisch zu.
„Hey, Wille, wusste gar nicht, dass du eine Model-Karriere planst?“
„Quatsch, mach ich doch gar nicht! Der hat mich nur gefragt, ob er mich fotografieren kann.“ Wille spürte, dass er rot im Gesicht wurde.
„Schon gut, war ja nur ein Scherz“, entgegnete sie. Annabelle war in Willes Parallelklasse, in der 9c, und ihm schon auf dem Schulhof aufgefallen. Sie sah sehr gut aus, doch sie anzusprechen, hatte er sich bislang nicht getraut. Auch mit Andy hatte er noch nie über Annabelle geredet.
Der Fotograf bedankte sich für das Foto und verschwand auf der Suche nach weiteren Motiven in der Menge, die sich dicht an dicht durch den Kreuzgang des Klosters schob.
„Bist du schon lange hier?“, wollte Annabelle wissen.
Wille nickte, so richtig wusste er nicht, was er sagen sollte.
„Er meint Ja“, antwortete Andy stattdessen grinsend für seinen Freund, „manchmal findet er einfach nicht die richtigen Worte. Wir sind schon über eine Stunde hier. Ich heiße übrigens Andy.“ Er streckte Annabelle die Hand entgegen, um sie ihr gleich darauf wieder zu entreißen. „Mann, wie bist du denn drauf?“ Andy schüttelte seine Hand mit schmerzverzerrtem Gesicht. „Willst du mir die Finger brechen?“
„Sorry, nein, wollte ich nicht, aber das habe ich mir im Laufe der Zeit so angewöhnt. Kommt durch mein Hanteltraining.“
„Okay, dann weiß ich ja Bescheid. Meine Hand werde ich dir vorläufig nicht mehr geben.“
„Ich bin gerade erst gekommen, sollen wir ein bisschen zusammen hier herumlaufen?“
Wille hatte inzwischen die Sprache wiedergefunden. „Ja, machen wir. Am besten gehen wir wieder in den Innenhof, da tritt jetzt die Akrobatik-Gruppe vom VFL Weiße-Elf auf. Die sind supergut!“
Sie liefen den Kreuzgang entlang zum Klosterinnenhof. Die Show war bereits in vollem Gange. Zehn Mädchen und ein Junge zeigten Unglaubliches vor der Bühne – Luftsprünge, gekonnte Salti, Menschenpyramiden, ein Wirbel von Flicflac, Handstand und Radschlag, rasante Streetdance-Elemente und hitzige Discoklänge, das alles wurde mit einer unglaublichen Leichtigkeit vorgeführt und war wunderbar anzusehen. Das Publikum sprang von den Sitzen, soweit es in dem übervollen Innenhof welche ergattert hatte. Auch Wille, Andy und Annabelle klatschen begeistert Beifall. Nach dem Ende der Vorführung drehte sich Wille zu Annabelle um. Aber sie war verschwunden.
„Wo ist sie hin?“, fragte er Andy.
„Keine Ahnung.“
„Komm, wir suchen sie.“
Sie rannten einmal um den Innenhof des Klosters herum, doch Annabelle war wie vom Erdboden verschluckt.
„Vielleicht ist sie vor dem Kloster auf der Wiese“, meinte Andy. Sie verließen den Innenhof und schauten an jedem Stand nach ihr, doch von Annabelle keine Spur.
„Die kann sich ja nicht in Luft aufgelöst haben. War sie irgendwie sauer auf dich, Wille?“
„Quatsch, warum sollte sie? Ich habe doch nichts Gemeines gesagt. Eine Idee habe ich noch. Vielleicht ist sie hinter dem Kloster, auf der anderen Seite, wo das alte Heuer-Haus steht.“
„Na gut, gucken wir da noch nach, aber dann reicht’s. Ich bin ja nicht hier, um deine Annabelle zu suchen!“
„Das ist nicht meine Annabelle, du Spinner!“
„Schon gut“, grinste Andy, „lass uns nachsehen.
Hinter dem Kloster war es recht ruhig. Auf dem Rasen saßen einige Leute in der Sonne.
„Haben Sie hier ein Mädchen gesehen? Circa 1,70 Meter groß. Sie trägt Jeans, ein rotes T-Shirt und einen langen, braunen Pferdeschwanz“, wandte sich Wille an ein junges Paar.
„Ja, haben wir. Die ist in das Heuerhaus gegangen“, antwortete der junge Mann.
„Danke, dann gucken wir da mal nach. Wusste gar nicht, dass da auch etwas los ist.“
„Eigentlich ist da nichts los“, sagte die Freundin. „Wir haben uns auch gewundert, dass sie da einfach rein ist. Wir dachten, sie gehört zum Kloster.“
Als Wille und Andy sich dem Heuerhaus näherten, hörten sie plötzlich ein lautes Poltern, einen Schrei und auf einmal stürzte ein Mann in brauner Mönchskutte heraus. Er stieß Andy zur Seite und floh in Richtung Vechteufer. Noch bevor Andy sich wieder aufgerappelt hatte, war der Gottesmann auf und davon.
„Alles in Ordnung?“, fragte Wille und half seinem Freund auf die Beine.
„Ja, halb so wild. Aber hast du schon mal einen Mönch gesehen, der dich zur Seite schubst und abhaut?“
„Was hatte der Typ eigentlich in der Hand?“
„Keine Ahnung, lass uns nach Annabelle sehen, im Haus hat doch jemand geschrien.“
Tatsächlich, Annabelle lag vor dem Kamin und war ohne Bewusstsein, am Kopf hatte sie eine blutende Wunde. Wille ging neben ihr auf die Knie und stieß sie vorsichtig an. „Annabelle, aufwachen!“
Langsam öffnete sie die Augen. „Verdammt, was war das denn?“, murmelte sie. „Dieser Kerl hat mich doch glatt umgehauen.“ Vorsichtig fasste sie sich an den Kopf und fühlte nach ihrer Wunde.
„Los, Andy, hol Hilfe, im Kloster sind doch Rettungssanitäter!“, rief Wille.
Andy spurtete sofort los, während Annabelle sich vorsichtig hinsetzte. „Boah, mein Kopf tut voll weh“, stöhnte sie.
„Bleib doch lieber liegen, die Sanis kommen gleich“, schlug Wille besorgt vor. „Was ist denn passiert? Warum hat der Typ dich niedergeschlagen?“
„Der hat mir ein Buch aus der Hand gerissen, das ich gefunden habe. Und irgendwie kam es mir bekannt vor. Ich hätte schwören können, es war ein Band unserer alten Familienbibel. Ich habe darin herumgeblättert und gar nicht gemerkt, dass der Typ sich angeschlichen hatte.“
„Und wo hast du das Buch gefunden?“
„Es lag in dem Kamin, hinter den Holzscheiten.“
„Der Typ hatte eine Mönchskutte an“, meinte Wille.
„Ihr habt den noch gesehen?“
„Ja, er rannte aus dem Haus, als wir rein wollten.“
„Was wolltest du eigentlich im Heuerhaus?“
„Eigentlich nur mal reinschauen.“
„Wusstest du von dem Buch?“
„Nein, ich habe es eher zufällig entdeckt. Ein paar der Holzscheite waren umgefallen.“ Bevor sie weiterreden konnten, kam Andy mit zwei Sanitätern zurück.
„So, dann geh mal zur Seite, damit wir die junge Dame behandeln können“, meinte einer der beiden. Sie versorgten Annabelles Wunde und bestellten einen Rettungswagen.
„Muss das unbedingt sein? Es geht mir eigentlich schon wieder besser.“
„Ja, das muss sein, wahrscheinlich hast du eine Gehirnerschütterung. Das muss untersucht werden und dann brauchst du Ruhe. Mein Kollege hat auch die Polizei informiert.“
Andy und Wille nickten. „Okay, wir warten hier“, sagte Wille.
Kurze Zeit später erreichten der Krankenwagen und der Polizeiwagen gleichzeitig das Heuerhaus.
Inzwischen hatte sich eine neugierige Menschenmenge versammelt, die bis auf die Zeugen aber von den Polizisten wieder weggeschickt wurde. Bevor Annabelle auf der Trage in den Rettungswagen gebracht wurde, versprachen Andy und Wille, sie so schnell wie möglich im Krankenhaus zu besuchen. Anschließend gaben sie den beiden Polizisten ausführlich Auskunft über das, was sie gesehen hatten.
„Dann werden wir wohl morgen an der Wietmarscher Straße vorbeikommen“, meinte Wille lächelnd.
„Woher wisst ihr das?“, wollte der Polizist wissen.
„Das ist doch bestimmt ein Fall für Hauptkommissar Vennegerts. Den kennen wir.“
Die beiden Polizisten machten große Augen. „Ach, dann seid ihr die, die den Ungeheuer-Fall am Vechtesee aufgeklärt haben? Wir sind noch nicht so lange bei der Nordhorner Polizei, haben aber schon viel von euch gehört“, entgegnete einer der beiden.
„Jep, sind wir“, nickte Andy stolz.
„Na, dann bis morgen. Wir kündigen euch bei Hauptkommissar Vennegerts schon mal an.“ Er gab ihnen die Hand und stieg in den Polizeiwagen, während Wille und Andy sich auf ihren Rädern auf den Heimweg machten. Sie hatten erst mal genug vom Fest der Kulturen.
*
Nachdem sie schweigend wieder über den Paradiesweg und dem Weg zum Resum fahrend den Gartenabfallsammelplatz passiert hatten und an der Ampel an der Euregiostraße auf Grün warteten, meinte Andy: „Spuck’s schon aus, wir sollen uns einmischen, stimmt’s?“
Wille lächelte. „Wenn nicht wir, wer dann! Lass uns zu mir nach Hause fahren, dann können wir schon mal mit der Recherche anfangen. Ich will wissen, was es mit dem Buch auf sich hat!“
„Okay, Digga, ich bin dabei. Dann also erst mal zu dir.“
Zehn Minuten später waren sie bei Wille zu Hause. Seine Eltern saßen wie oft bei halbwegs gutem Wetter auf der Terrasse und genossen den Samstagnachmittag.
„Hey, schon zurück?“, begrüßte sie Willes Vater.
„Ja, wir wollten noch ein bisschen in Ruhe quatschen“, antwortete Wille. „Warum seid ihr nicht auch zum Fest der Kulturen gekommen?“
„Ach, wir waren zu faul, es ist so schön hier auf der Terrasse. Nächstes Jahr gehen wir wieder hin“, entschuldigte sich seine Mutter. „Setzt euch doch ein bisschen zu uns.“
Wille schüttelte den Kopf. „Nö, wir gehen nach oben in mein Zimmer.“
Seine Mutter sah in fragend an. Sie merkte sofort, wenn ihr Sohn etwas im Schilde führte. „Ist irgendetwas?“, wollte sie wissen.
„Alles gut“, antwortete Wille schnell und verschwand mit Andy in seinem Zimmer, bevor seine Mutter noch weitere Fragen stellen konnte.
„Warum erzählst du ihr nicht, was passiert ist?“, wollte Andy wissen. Er mochte es nicht, wenn er zwischen seinem Freund und Frau Willerink stand, die er sehr nett fand und die für ihn eine Art Ersatz- oder Zweitmutter geworden war. Seine eigene Mutter liebte er über alles, zumal er allein mit ihr lebte, weil sie sich von seinem Vater getrennt hatte. Doch da sie im Schichtdienst arbeitete, war er sehr oft bei Willerinks, durfte da mitessen oder auch immer mal wieder übernachten. So manches Mal hatte er Willes Mutter schon von seinen Sorgen erzählt, wenn sein Vater mal wieder vor der Tür gestanden und randaliert hatte.
„Du weißt doch, wie sie ist“, entgegnete Wille auf Andys Frage. „Sobald es ernster wird, hat sie Angst und will, dass wir uns raushalten. Wenn sie hört, was im Kloster passiert ist, kriege ich sofort eine Ansage. Da habe ich keinen Bock drauf.“
„Okay, okay“, wiegelte Andy ab, „aber das ist deine Entscheidung, ich kann nichts dafür, wenn du Stress bekommst.“
„Logo, komm, jetzt kümmern wir uns mal um dieses Buch. Annabelle meinte ja, es sei ein voll altes Teil gewesen. Vielleicht steht was im Internet.“ Wille fuhr seinen Laptop hoch und begann verschiedene Suchbegriffe einzugeben, während Andy sich auf Willes Bett legte und die Zimmerdecke anstarrte. Er wusste genau, dass er jetzt einfach nur warten musste, bis sein Freund etwas gefunden hatte. Wille versuchte es zunächst mit Kloster, Bibliothek, Frenswegen – und wurde schnell fündig. „Hier, ich habe was. Ein Artikel über eine alte Bibel im Grafschafter Boten, vielleicht hilft uns das weiter.“
Andy sprang vom Bett und schaute über Willes Schultern auf den Bildschirm. Beide überflogen den Artikel, den ihr alter Bekannter Wolf Watermann geschrieben hatte. Nachdem die Geschichte über das Ungeheuer vom Vechtesee aufgeklärt war, hatten sie von dem Redakteur des Grafschafter Boten lange nichts mehr gehört. Ihnen war es recht, Andy und Wille wussten genau, dass er ihnen nie sympathisch werden würde, auch wenn er sein Versprechen eingehalten und die Leistung der beiden Detektive in seinem Abschlussartikel über das Ungeheuer sehr gelobt hatte.
„Freiwillig hat der sein Versprechen sicher nicht gehalten“, hatte Andy damals gesagt, auch wenn Wille glaubte, Watermann hätte sich durch den Fall damals auch positiv verändert.
„Hauptsache ist, wir haben ihn im Sack. Sobald er mal wieder versucht, uns über den Tisch zu ziehen, müssen wir ihn an die Geschichte einfach nur erinnern. Wenn wir auspacken, ist er als Journalist erledigt.
Sie hatten damals herausbekommen, dass Watermann an der Erfindung eines Ungeheuers im Vechtesee beteiligt war. Nun würden sie möglicherweise wieder mit ihm zu tun haben, denn in dem Artikel beschrieb er ausführlich die Übergabe einer alten zweibändigen Bibel an die Bibliothek des Klosters Frenswegen.
Alte Bibel der Stiftung Kloster Frenswegen als Geschenk übergeben
Groß und schwer ruhen die Bände auf einem Glastisch in der Klosterbibliothek. Emma von Pruselitz hat sie der Stiftung Kloster Frenswegen gespendet. Bei den in dunkles Leder gebundenen Büchern handelt es sich um eine zweibändige „Staatenbibel“ aus dem Jahr 1663. Seit Generationen gehörte sie ihrer Familie. „Mein Vater hat noch daraus gelesen“, meint Emma von Pruselitz.
Ursprünglich sollen die beiden Bibelbände aus der Kirche in Hoogstede stammen. Wie sie letztlich in den Besitz der Familie von Pruselitz geraten sind, weiß keiner so genau. Die Bad Bentheimer Restauratorin Tilda Weusting hat die Bücher sorgsam restauriert und aufbereitet. Sie stammen aus den Jahren 1528/29.
„Die Klosterbibliothek hat einst ein Exemplar dieser Ausgabe besessen, das allerdings 1874 mitsamt vielen anderen Bänden an die Universitätsbibliothek Straßburg verschenkt wurde“, weiß Dr. Müller von der Klosterstiftung zu berichten.
Ein besonderes Schmuckstück der Bibliothek im Obergeschoss des Klosters ist die Raritäten-Abteilung. Dort bemüht sich Gertraud Herrmann darum, in zeitaufwendiger Kleinarbeit Ordnung zu schaffen. Durch die gespendeten Bücher wird diese Abteilung nun um zwei besonders wertvolle „Schätze“ ergänzt.
Der Vorsitzende des Fördervereins, Helmut Rühmann, und die Vorsitzende der Stiftung Kloster Frenswegen, Heidrun Woltmann, dankten bei der offiziellen Übergabe für die Spende und betonten: „Für die Bewahrung der kulturellen Tradition der Grafschaft ist die Klosterbibliothek von einzigartiger Bedeutung.“ Zudem sei auch der materielle Wert der alten Bibel nicht hoch genug einzuschätzen. (WW)
„Und was hat der Artikel jetzt mit dem Überfall zu tun?“, wollte Andy wissen.
„Weiß ich auch noch nicht, aber ich habe so ein Bauchgefühl. Das Buch, das Annabelle in dem Heuerhaus gefunden hat, kam ihr doch bekannt vor. Vielleicht war das diese Bibel. Ich schätze, wir müssen unseren Krankenhausbesuch ziemlich bald machen.“
„Okay. Soll ich mitkommen?“ Andy grinste etwas bei seiner Frage.
„Natürlich kommst du mit. Was denkst du denn?“
„Na, ja, ich dachte, vielleicht willst du lieber allein mit ihr reden.“
„Hör auf mit dem Mist. Sag mir lieber, wann du Zeit hast.“
„Am besten sofort morgen früh.“
„Alles klar, dann warte ich um zehn bei uns am Fahrradständer auf dich.“
Andy wohnte mit seiner Mutter in dem Hochhaus auf der Kanalstraße im achten Stock. Den beiden gefiel es dort sehr, vor allem die Aussicht über Nordhorn fanden sie toll. Schon oft hatten sie abends noch im Dunkeln lange auf dem Balkon gesessen und auf die Lichter der Stadt geschaut. Andy hatte das Gefühl, dass seine Mutter in solchen Augenblicken fast so zufrieden und glücklich war wie zu der Zeit, als sie sich mit seinem Vater noch verstand. Seit sie sich wegen seiner Trinkerei von ihm hatte scheiden lassen, war sie oft traurig und gestresst. Doch nach der Versöhnung mit ihrem Bruder Werner ging es ihr besser und sie war trotz der harten Schichtarbeit in der Textilfabrik fast wieder wie früher.
Wille nickte zustimmend.
„Okay, dann haben wir ja erst mal einen Plan. Ich fahr jetzt nach Hause. Mama wartet auf mich. Wir wollen noch zu Onkel Werner.“
„Ich geh mit“, meinte Wille und begleitete Andy nach unten. Willes Eltern saßen noch auf der Terrasse und tranken Tee. Beide arbeiteten hart, denn Frau Willerink war Leiterin eines kleinen Supermarktes und ihr Mann arbeitete in einem Baumarkt. Das bedeutete für sie, oft am Samstag lange im Geschäft zu sein. Doch dieses Wochenende hatten sie frei.
„Na, Jungs, wie war es auf dem Fest der Kulturen?“, wollte Herr Willerink wissen.
Spontan entschied Wille sich dafür, seinen Eltern doch von dem Überfall zu erzählen, denn sie würden es aus der Zeitung sowieso erfahren. „Eigentlich cool wie immer“, antwortete Wille, aber es gab einen Zwischenfall, die Polizei musste kommen.“
„Wieso? Was war denn los?“
Gespannt hörten Herr und Frau Willerink, was passiert war. „Das ist ja wirklich schlimm“, sagte Willes Mutter, „nur eins, mein Sohn, lass dir gesagt sein, du wirst dich nicht wieder als Detektiv betätigen. Damit wir uns verstehen. Und du, Andy, denkst bitte auch daran!“
„Klar, Mama, aber zur Polizei müssen wir nun mal. Wegen der Zeugenaussage.“
Sein Vater sagte nichts, aber Wille konnte deutlich sehen, dass ihm ein kurzes Lächeln über das Gesicht huschte.
„Ja, dann werde ich jetzt mal nach Hause gehen, schönen Abend“, meinte Andy, um nicht von Frau Willerink auf das Detektivthema angesprochen zu werden. Er wollte einfach nicht schon wieder zwischen den Stühlen stehen.
„Ja, dir auch“, antwortete sie, während ihr Mann kurz die Hand zum Abschiedsgruß hob. Andy atmete auf, während Wille noch mit ihm zur Hofeinfahrt ging, wo Andy sein Rad abgestellt hatte. „Hör mal, Alter, lass mich aus dem Theater mit deiner Mutter heraus“, mahnte er Wille, „ich bin nicht dein Aufpasser, mach das deiner Ma klar.“
„Ja, aber ich kann auch nichts dafür, dass sie dich immer wieder anspricht.“
„Schon gut, bis morgen.“ Andy sprang er auf sein Rad und fuhr nach Hause.
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Wie immer musste Andy eine Weile auf Wille warten. Er würde es nie lernen, eine Verabredung mal pünktlich einzuhalten. Aber Andy regte sich schon lange nicht mehr darüber auf. Wille war eben Wille. Sie waren auch deshalb so lange befreundet, weil sie gelernt hatten, sich gegenseitig so zu akzeptieren, wie sie waren. Wille musste schließlich auch Andys schlechte Laune aushalten, wenn Andys Vater wieder mal versucht hatte, ihn und seine Mutter zu belästigen. Auch wenn das jetzt schon länger nicht mehr vorgekommen war, weil er seit seinem letzten Auftritt vor ihrer Wohnungstür von der Polizei festgenommen und dann zu einigen Monaten Gefängnis verurteilt worden war.
Andy stand mit seinem Fahrrad bereits auf der dem Hochhaus gegenüberliegenden Seite der Kanalstraße und hielt auf der Katzenbuckelbrücke Ausschau nach seinem Freund. Es war ein typischer Sonntagmorgen und kaum Verkehr auf der Straße, lediglich ein paar Autos waren unterwegs. Fast immer saß nur ein Mann hinter dem Steuer. Andy vermutete, dass es sich um Kunden der nahe gelegenen Bäckerei handelte, die sich unweit vom Blankekreisverkehr am Heideweg befand. Die Brötchen waren super, aber seine Mutter und er konnten sich eben nicht so oft Sonntagsbrötchen leisten.