Reisen mit Homer - Ernle Bradford - E-Book

Reisen mit Homer E-Book

Ernle Bradford

0,0
7,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Auf den wiederentdeckten Fährten des Odysseus zu den schönsten Inseln, Küsten und Stätten des Mittelmeers Wer immer eine Mittelmeer-Kreuzfahrt unternimmt und die archaischen Stätten und berühmten Inseln besucht, der kreuzt auch die Spuren des Odysseus, der auf seinen Irrfahrten so zahllose Abenteuer zu bestehen hatte … Sieben Jahre folgte Ernle Bradford in seinem Segelboot dem verschlungenen Kurs des Listenreichen: zu Circe und Kalypso, zu Scylla und Charybdis, vorbei an den lockenden Sirenen zu den Gestaden und Inseln des Lichts … Was alles er fand und erlebte, das hat Bradford in diesem spannenden Reiseführer dargestellt. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 314

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Ernle Bradford

Reisen mit Homer

Aus dem Englischen von Fritz Güttinger

FISCHER Digital

Auf den wiederentdeckten Fährten des Odysseus zu den schönsten Inseln, Küsten und Stätten des Mittelmeers

Inhalt

VorwortErstes Kapitel StammbaumZweites Kapitel JugendjahreDrittes Kapitel Das schwarze SchiffViertes Kapitel In der ÄgäisFünftes Kapitel Das Land der LotosesserSechstes Kapitel Der PolarsternSiebtes Kapitel Die ZiegeninselAchtes Kapitel Die Höhle des PolyphemNeuntes Kapitel Die Insel der WindeZehntes Kapitel Nach Griechenland und zurückElftes Kapitel Auf der Suche nach den LästrygonenZwölftes Kapitel Der vorzügliche HafenDreizehntes Kapitel Kirkes InselVierzehntes Kapitel Die Herrin der wilden TiereFünfzehntes Kapitel Westwärts zum WeltstromSechzehntes Kapitel Die Säulen des HeraklesSiebzehntes Kapitel SirenengeländeAchtzehntes Kapitel Was die Sirenen sangenNeunzehntes Kapitel Die Irrenden KlippenZwanzigstes Kapitel Skylla und CharybdisEinundzwanzigstes Kapitel Durch die MeerengeZweiundzwanzigstes Kapitel Die Insel des SonnengottesDreiundzwanzigstes Kapitel Die SonnenrinderVierundzwanzigstes Kapitel SchiffbruchFünfundzwanzigstes Kapitel Der Nabel des MeersSechsundzwanzigstes Kapitel KalypsoSiebenundzwanzigstes Kapitel Übers Ionische MeerAchtundzwanzigstes Kapitel Das Land der PhäakenNeunundzwanzigstes Kapitel Die Blumen des MeeresBildteilLiteraturStammtafel des OdysseusZeittafelNamenregister

Vorwort

DEN FREUNDEN großer Dichtung sowie den Altphilologen mag dieses Buch als ein überflüssiger Kommentar zur «Odyssee» vorkommen. In gewissem Sinn ist es allerdings überflüssig, die Fahrten des Odysseus auf der Karte nachzeichnen zu wollen, wo doch jedermann es von jeher zufrieden war, die «Odyssee» als reine Fabel zu lesen. Anderseits mag bei einem so unvergänglichen Denkmal jeder, auch der geringfügigste Zuwachs an Kenntnis seinen Sinn haben. Zwar kann man füglich behaupten: «Dichtung sollte nach der Mitte streben, nicht von der Mitte weg; sie hat es nicht mit Höhlen in Kaschmir oder Upasbäumen auf Java oder Schlupfwinkeln in den Sümpfen Floridas zu tun, sondern mit dem, was allen Menschen gemeinsam ist.» (John Livingston Lowes, «The Road to Xanadu».) Derselbe Schriftsteller fährt dann jedoch fort: «Das ist eine beherzigenswerte Einstellung. Sie bedarf aber der Ergänzung. Welches Meer umspülte die gestaltlosen Gestade, die Kirke und Kalypso beherbergten, und auf welcher Karte ist Prosperos Insel verzeichnet? Auch das sind Fragen, die ihre Berechtigung haben.»

Ich finde, es kann nichts schaden, nach einem wohlbehüteten Gerippe zu suchen, mag auch der Schrank, in dem es verborgen ist, noch so prunkvoll sein. Ich habe Korallengebilde gesehen, die das Gerippe alter Schiffe umkleideten, staunte aber nicht weniger über die Schönheit der Korallen, auch wenn ich das Holzwerk und Stahlgerüst gefunden hatte, das von den Polypen überkrustet worden war.

Meine Suche nach Odysseus begann vor langer Zeit. In Alexandrien hat sie angefangen. Ich war damals gerade neunzehn und Matrose geworden, stolz darauf, eine Uniform und Erkennungsmarke zu besitzen und zur Bedienungsmannschaft eines Geschützes zu gehören, als ich zum erstenmal die Averoff-Bar in der Nähe des Mehemet-Ali-Platzes betrat und Andreas kennenlernte. Manchmal frage ich mich, wie es ihm wohl seit 1941 ergangen sein mag. Damals muß er zwischen dreißig und vierzig gewesen sein. Er war etwa einsachtzig groß, wirkte aber infolge seines Wanstes eher kleiner; sein dunkler, auf gezwirbelter Schnurrbart verriet, daß er zu den Schürzenjägern von altem Schrot und Korn gehörte. Er stützte gerade seinen Wanst auf die Marmorplatte der Theke, als ich ihn zum erstenmal sah, und schlürfte ein Glas Zibib.

Ich war damals noch nicht lange genug der Schulbank entrückt, um nicht unter dem nachwirkenden Einfluß all des Gelernten zu stehen. Für mich bedeutete Alexandrien noch immer die Stadt des großen griechischen Eroberers. Was die Franzosen, Engländer und Ägypter im 19. Jahrhundert daraus gemacht hatten, war für mich kaum vorhanden. Alexandrien, das war etwas Sagenhaftes und Geheimnisvolles – Antonius und Kleopatra, der Stier des Serapis, die Pompejussäule, bärtige Anachoreten, der Leuchtturm auf Pharos, und eine Ahnung von unendlich verfeinerter Liebeskunst. Ich brannte darauf, mein erst kürzlich in der Oberprima erworbenes Altgriechisch in eine Sprache umzuwandeln, die sich in dieser Stadt, in welche ich verschlagen worden war, praktisch verwenden ließ. Es war lediglich dieser Wunsch, meine nagelneuen Kenntnisse an den Mann zu bringen, was mich veranlaßte, Andreas mit «Kalispera» zu begrüßen.

Nach einem angenehm verbrachten Abend begab ich mich mit einer Mietdroschke zum Hafen hinunter, wo ich das Libertyboot erreichte, das mich an Bord brachte, während ich der quirlenden Kielspur nachschaute, bis sie sich in dem schmuddlig-schaumigen Gewässer verlor. Im Boot war das Rauchen verboten, doch bevor ich mich an Bord in die Hängematte legte, steckte ich mir eine Papastratos an, die Andreas mir geschenkt hatte. Ihr heller strohfarbener Rauch erfüllte die Luft in dem Gang, wo ich schlief, mit seinem Aroma. Als Matrose hatte ich damals nur wenig Bücher mit. In dem Halter, der die Beleuchtungskabel über meinem Kopf trug, war meine ganze Bibliothek verstaut. Andreas hatte von Odysseus gesprochen. So langte ich denn nach dem ersten Band einer zweisprachigen Ausgabe der «Odyssee» und hielt ihn mir in der schwankenden Hängematte vor die Augen. (Eine sachte Dünung stand nach dem tagelangen Nordwind noch in den Hafen herein.)

Damals brauchte ich die Übersetzung nicht so oft heranzuziehen wie heute, und ich gefiel mir in dem Gedanken, dadurch, daß ich die Sprache der Griechen verstand, noch immer Zugang zu einem gesunden Menschenverstand zu haben, wie er all dem, was ich täglich in meiner eigenen Sprache las, längst abhanden gekommen war. Andreas hatte Homer nie gelesen, doch die Geschichte von Odysseus kannte er nahezu auswendig. Das war weiter nicht verwunderlich; in den griechischen Schulen spielt der homerische Held nämlich eine ähnliche Rolle wie in den englischen Alfred der Große oder in Amerika Abraham Lincoln.

Andreas hatte von Odysseus als einem «gerissenen Kerl» gesprochen, einem griechischen Pantagruel gewissermaßen. Diese Auffassung war mir damals noch nicht geläufig. Andreas betrachtete ihn als schlauen Drückeberger, nicht als Helden. Für ihn war Odysseus der Grieche, der sich in Alexandrien noch über Wasser halten könnte, lange nachdem alle andern pleite gegangen waren, die Krämerseele mit dem Daumen auf der Waagschale, der es auf die Mädchen abgesehen hatte und in einer dunklen Hintergasse sein Messer zu gebrauchen wußte, gleichzeitig aber in wesentlichen Fragen, weiß der Himmel wieso, meistens Treu und Redlichkeit – oder war es Konsequenz? – aufbrachte.

Von jenem Augenblick an wurde mir Odysseus zum Leidensgefährten. Mit ihm im Seesack lebte ich auf demselben Meer und unter ähnlichen Verhältnissen, wie er sie gekannt hatte. Sogar als ich selber ein kleiner König wurde – Navigationsoffizier eines Zerstörers – und die Ohren unverstopft lassen konnte, während die Leute an den Riemen den Sirenengesang nicht hören durften, auch da noch begleiteten mich stets die beiden hellgrünen Bände der zweisprachigen «Odyssee». Vom Seesack des Matrosen in den zerbeulten Koffer des Offiziers gewandert, zogen sie mit mir nach Sizilien und Kreta, nach dem Dodekanes, nach Lemnos weit im Norden des Ägäischen Meers. Sie zogen nach Malta und Sardinien, nach den Äolischen Inseln, und immer wieder durch jene Meerenge, wo Skylla und Charybdis gegen die Kraft eines Zerstörers nichts ausrichten konnten.

Indessen war es Andreas gewesen, der mir gewissermaßen den Zugang zum Menschen hinter den Sagen erschlossen hatte. Es war Andreas, der an jenem heißen Nachmittag an der kleinen Theke stand und sagte: «Meine Mutter stammte von Ithaka, weißt du.»

Wenn man im Alter von neunzehn Jahren mit der «Odyssee» im Seesack das Mittelmeer befahren hat, und wenn man dann in seinen Zwanziger- und Dreißigerahren aus freien Stücken zu demselben Meer zurückgekehrt ist, immer noch mit demselben Buch im Fach am Fußende der Koje, dann ist es nicht erstaunlich, daß man sich nachgerade fragt, ob einiges daran nicht auf Tatsachen beruhen könnte. Vor allem ist das der Fall, wenn man die Erfahrung macht, daß die Dichtung sich streckenweise wie ein Tatsachenbericht zu lesen scheint.

Zwischen 1950 und 1960 verbrachte ich die meiste Zeit auf dem Mittelmeer, wobei das größte Fahrzeug, das ich mein eigen nannte, ein alter Kutter von 20 Tonnen war und das kleinste eine Schaluppe von 7 Tonnen. Einmal, während ich den mittleren und östlichen Teil des Mittelmeers befuhr, verbrachte ich im Laufe von zweieinhalb Jahren nur fünf Nächte an Land. Ich habe dieses Meer, und dabei auch die «Odyssee», gründlich kennengelernt, fast so gründlich wie die Seekarten, die mich durch die Straße von Messina brachten oder über das Ionische Meer nach den Inseln und Ithaka. Im Laufe meiner Fahrten bin ich zu bestimmten Erkenntnissen gekommen, was Homers Geographie und die Seemannschaft des Odysseus anbetrifft.

Es zeugt wohl von der Lebenskraft des Homerischen Helden, daß solch scheinbar entlegene Dinge jemanden sogar noch im 20. Jahrhundert beschäftigen können, zu einer Zeit, wo die Weltraumschiffahrt Tatsache geworden ist. Ein künftiger Odysseus ist wohl bereits geboren. Man kann nur hoffen, daß er wieder zu seinem Ithaka zurückstreben wird, statt den Trümmern eines Troja zu entfliehen, das die ganze Erde umfaßt. Jedenfalls wird er von Glück sagen können, wenn die Geschichte seiner Fahrten dereinst so geschildert wird, daß man sie noch 3000 Jahre nach seinem Tode liest.

Es war jedoch Andreas, «dessen Mutter von Ithaka stammte», der für mich den Helden zum erstenmal aus der Welt dichterischer Erfindung heraushob und ihn mit beiden Füßen in die des Mittelmeers hineinstellte, wie es heute noch vorhanden ist. Schon aus diesem Grund schulde ich ihm vor allen andern großen Dank.

E.B.

Erstes Kapitel Stammbaum

ALS DIE GRIECHEN zu ihren langen, dunklen Schiffen hinunterkamen, während hinter ihnen die Trümmer Trojas verglommen, war Odysseus ein Mann mittleren Alters. Wieviel Jahre er zählte, weiß man nicht genau; über dergleichen Einzelheiten ist Homer erhaben. Dagegen weiß man, daß Odysseus in seinem Inselreich eine Frau und einen jungen Sohn zurückgelassen hatte und zehn Jahre lang an der Belagerung Trojas beteiligt gewesen war. Er sollte weitere neun Jahre lang im Mittelmeer unterwegs sein, bis es ihm vergönnt war, seine Heimat wiederzusehen. Und doch geht aus seinem Verhalten bei der Landung auf Ithaka hervor, daß der Heimkehrer Odysseus ein Mann in den besten Jahren war; dafür spricht schon die Energie, mit der er sich an denen rächte, die sein Reich zugrunde gerichtet hatten. Bekannt ist auch, daß sein Vater, Laertes, noch lebte, als Odysseus heimkehrte; er wird zwar als ein alter Mann bezeichnet, aber ein «alter Mann» dürfte damals kaum viel älter als sechzig gewesen sein.

Als Odysseus nach Ithaka zurückkehrte, war er wahrscheinlich in den Vierzigern. Zur Zeit, als Troja fiel, wird er ungefähr dreißig bis fünfunddreißig Jahre alt gewesen sein. Er war Herrscher über ein kleines Reich, das er zehn Jahre lang nicht mehr gesehen hatte, und sehnte sich wie alle andern Griechen danach, den Krieg hinter sich zu bringen und sich wieder der Verwaltung seiner Insel zuzuwenden.

Wer aus einem Krieg zurückkommt, wird zunächst nach seinen Leistungen im Felde eingeschätzt. Binnen kurzem wird dann unweigerlich ein anderer Maßstab angelegt, so daß sich der Kriegsheld im Frieden oft als ein Versager erweist. Doch zuerst kann man den Heimkehrer nur danach beurteilen, wie er sich als Kämpfer verhalten hat. Odysseus, der für seine Irrfahrten zur See bekannt werden sollte, hatte sich vorher bei seinen Zeitgenossen in anderer Hinsicht einen Namen gemacht. Der Ruf, den er sich im Krieg erworben hatte, war höchst bemerkenswert und unterschied sich sehr von dem eines Ajax oder Achill. Die Göttin Athene, wenn sie sich in den für Odysseus schmeichelhaftesten Ausdrücken ergeht, spricht von ihm nicht als «beherzt» oder «kampfesmutig», sondern als «listenreich» und «erfinderisch».

Manchmal gibt die Abstammung eines Menschen eine Erklärung für sein Tun und Treiben. In andern Fällen ist das Herkommen tüchtiger und genialer Köpfe in Dunkel gehüllt, so daß sie niemand etwas zu verdanken scheinen. Nun heißt es allerdings, es könne einer von Glück sagen, wenn er seinen Vater kenne, und wenn die wahre Abstammung der Großen immer bekannt wäre, würde sich manche scheinbar unerklärliche Begabung als erbliche Veranlagung herausstellen. Der Stammbaum des Odysseus ist durch frühe Quellen und klassische Scholien verhältnismäßig gesichert. Wenn sich je aus dem Herkommen auf Charakter und Lebensgestaltung eines Menschen schließen ließ, dann bei Odysseus.

Sein Vater war Laertes, der König von Ithaka, und seine Mutter hieß Antikleia. Die Abstammung eines Menschen kann nur durch die mütterliche Linie mit einiger Sicherheit verfolgt werden, und Antikleia erfreute sich bei den Ahnenforschern des Altertums nicht eines durchweg makellosen Rufes. Es gab welche, die behaupteten, sie habe sich mit Sisyphus eingelassen, bevor sie Laertes heiratete. Odysseus wird deshalb gelegentlich als «der Sohn des Sisyphus» bezeichnet. Nun war Sisyphus jener König von Korinth, der als Förderer von Schiffahrt und Handel berühmt war, gleichzeitig aber als geizig, betrügerisch und treulos galt. Dieser letzteren Eigenschaften wegen wurde er dazu verdammt, im Hades einen schweren Felsblock eine Anhöhe hinaufwälzen zu müssen, der ihm jeweils kurz unter dem Gipfel immer wieder mit Donnergepolter entglitt. Als Erzeuger des listenreichen Odysseus ist Sisyphus durchaus denkbar. Dennoch kann wohl Antikleias Ruf geschont werden; Laertes selber kam nämlich aus einem ebenso aufschlußreichen Stall. Wichtig sind aber vor allem die Vorfahren der Mutter.

Der Charakter des Odysseus wird zum großen Teil enträtselt, wenn man bedenkt, daß seine Ahnen mütterlicherseits höchst ungewöhnlich waren. Seine Mutter war die Tochter des Erzgauners der Antike, einer beinahe sagenhaften Gestalt, deren Meisterstreiche in späteren Jahrhunderten zum Teil auf Odysseus übertragen wurden. Dieser Großvater mütterlicherseits war Autolykos. Er wohnte am Parnaß, und sein Name bedeutet «der wahre Wolf». Von diesem seinem Großvater leitet sich Odysseus’ eigener Name her.

Der Name, den er bei Homer führt, Odysseus (in Anlehnung an odyssomai, zürnen), paßt nicht schlecht auf einen Mann, dem es beschieden war, in der Rolle eines Rächers aufzutreten. Im Westen, namentlich im volkstümlichen Sprachgebrauch, hieß er allgemein Olysseus, woraus lateinische Schriftsteller dann Ulysses machten. Nun ist auch der Name Olysseus, wie der seines Großvaters mütterlicherseits, von dem griechischen Wort für «Wolf» (o lykos) abgeleitet. Während Autolykos «der wahre Wolf» ist, bedeutet Olysseus einfach «der Wolf». Ein wölfischer Einschlag zeigt sich denn auch in manchen der Geschichten von unserem Helden. Odysseus war aber auch bekannt für seine Zungenfertigkeit. Das wird bei Homer deutlich genug, und später hat Ovid es erneut festgestellt: «Ulysses war nicht schön, doch war er beredt.»

Bezeichnend ist auch, daß Autolykos, «der wahre Wolf», als Sohn des Hermes und der Nymphe Chione galt. Die Griechen gingen wirklich mit einer schönen Folgerichtigkeit vor, wenn sie Stammtafeln aufstellten, auch wenn diese in sagenhafte Urzeit zurückreichten. Der listenreiche Held hat einen berüchtigten Gauner zum Großvater, und sein Urgroßvater ist gar Hermes selber, der Gott der List und Lüge. Dieser Hermes hat nicht viel mit dem später klassischen Gott zu tun, dem Götterboten und Seelenführer; er galt als Schutzheiliger der Diebe und Betrüger. Die Nymphe Chione, die ihm den Autolykos gebar, war berühmt für ihre Schönheit. Mit der Anmaßung, die Schönheit mit sich bringt, war sie später unbedacht genug, sich mit der Göttin Artemis zu vergleichen, von der sie sogleich umgebracht wurde. Weiter zurück als bis zu Hermes braucht man die Abstammung des Odysseus nicht zu verfolgen, es sei denn, man stelle noch fest, daß Hermes ein Sohn des Zeus und der Nymphe Maia war, die von Zeus in einer Grotte auf dem Berg Kyllene in Arkadien vergewaltigt wurde.

Wenn die Vorfahren mütterlicherseits klarmachen, woher Odysseus seine Verschlagenheit, Zungenfertigkeit und moralische Laxheit hatte, sind es diejenigen väterlicherseits, die erklären, wie er zu seinen seemännischen Tugenden kam. Laertes, sein Vater, gehörte nämlich zum Geschlecht der Könige von Argos. Väterlicherseits war Odysseus also mit Haus und Geblüt des bedeutendsten Königreichs auf dem Peloponnes verwandt. Selber herrschte er nur über eine kleine Insel, aber seine verwandtschaftlichen Beziehungen lassen es als begreiflich erscheinen, wieso er zum Befehlshaber der zwölf Schiffe wurde, die von den Ionischen Inseln aus gegen Troja zogen.

Nicht nur, daß Laertes von den Königen von Argos abstammte, ist in diesem Zusammenhang erheblich; er war auch einer der letzten noch lebenden Argonauten und hatte Jason auf der Suche nach dem Goldenen Vlies begleitet. Nun galt die «Argo» als das erste Kriegsschiff, das je gebaut wurde, und die Männer, die mit ihr segelten, sollten für die Griechen später alle zu Helden und Halbgöttern werden. Laertes hatte an der größten Abenteuer- und Entdeckungsfahrt teilgenommen, die man damals kannte, und galt mit Recht als Pionier unter den Seeleuten des Altertums. Er verdient es, einen Odysseus zum Sohn zu haben. Aus diesem Grund gehe ich über die üble Nachrede der alten Scholiasten hinweg, die behaupten, seine Frau Antikleia habe ihm den unehelichen Sohn, den sie von Sisyphus hatte, als seinen eigenen angedreht. Der Überlieferung zufolge hatte Odysseus vom Vater her königliches Seefahrerblut in den Adern und einen gewalttätigen und etwas gaunerhaften Einschlag (wenn auch göttlichen Ursprungs) von seiten seiner Mutter.

Zweites Kapitel Jugendjahre

ODYSSEUS WAR kurzbeinig und rothaarig. Wahrscheinlich hatte er auch ein rotes Gesicht und hinkte ein wenig. Er trug einen kecken krummen Spitzbart von der Art, die bei den Griechen pogon hieß – ein Wort, das aus leicht ersichtlichen Gründen auch auf gewisse Halbinseln angewandt wurde. Er war breitschultrig und muskulös und kam wahrscheinlich mit dem schlingernden Gang dessen einher, der lange Jahre auf See zugebracht hat.

Es läßt sich kaum jemand denken, der weniger dem Bild des blonden griechischen Helden mit edlen Gesichtszügen entspricht, wie man ihn sich gemeinhin vorstellt. Ein großer Liebhaber wie Nelson, hatte er wenig von dessen feinem Wesen. Er war kein wissenschaftlicher Erforscher des Seewesens wie der Portugiese Prinz Heinrich der Seefahrer, auch war er kein Kostverächter. Dem Aussehen nach glich er wohl am ehesten Sir Francis Drake, seinem Naturell nach eher John Paul Jones; doch ist anzunehmen, daß er bei Katharina der Großen erfolgreicher gewesen wäre als der amerikanische Seeheld, hätte er dessen Gelegenheiten gehabt.

Über die frühen Jahre des Odysseus ist wenig bekannt; das erste, was man von ihm erfährt, ist, daß er an den Hängen des Parnaß von einem wilden Eber verwundet wurde. Der Vorfall spielte sich ab, als Odysseus seinen Großvater Autolykos auf dem Festland besuchte. Auf der Jagd wurde Odysseus von einem Eber angefallen und am Oberschenkel verletzt. Die Narbe blieb ihm bis an sein Lebensende.

Obwohl ein solches Mißgeschick nichts Unwahrscheinliches hat, steckt vielleicht doch mehr dahinter als ein bloßer Jagdunfall. Bringt er Odysseus nicht in Zusammenhang mit Gottheiten des Ostens, mit Tammuz, Adonis und dem kretischen Zeus? Alle wurden sie von einem Eber angefallen und tödlich verwundet. Die Geschichten sind phönizischen Ursprungs und scheinen auf den sagenhaften «Jahrgott» zurückzugehen, dessen Tod jeweils nach der Erntezeit erfolgte. Es war ein urzeitlicher Kult, bei dem der heilige König der Erd-Mutter als Opfer dargebracht wurde. Man denke an den Besuch des Odysseus in der Unterwelt, eine der wenigen Episoden, die sicher nicht auf geschichtlicher Grundlage beruhen, sondern ebenfalls aus einer früheren Quelle in die Dichtung hineingeraten sind. Die Oberschenkelwunde deutet auf eine Gleichsetzung mit dem Gott des Jahres hin. Aus diesem Grunde ist die Auffassung vertreten worden, Odysseus sei nichts anderes als ein Sonnengott, und die Geschichte seiner Wanderschaft entspreche den Sagen, in denen dieser die zwölf Monate durchläuft. Einiges aus diesem Sagenkreis mag sich an die Gestalt des Odysseus geheftet haben; trotzdem bin ich überzeugt, daß es Odysseus als Menschenwesen gegeben hat. Seine Wanderungen lassen eine einfache geographische Auslegung zu.

Autolykos sorgte für seinen Enkel, bis dessen Wunde verheilt war, und schickte ihn dann mit Geschenken beladen nach Hause. Von Autolykos erhielt Odysseus den Namen, den er bei Homer führt («der Zürnende» – «gegenwärtig bin ich nämlich voller Zorn auf viele», erklärte er). Der Name verdankt seine Entstehung also, wie das damals oft vorkam, einer Augenblicksregung. Odysseus selber scheint nicht von aufbrausender Gemütsart gewesen zu sein; jedenfalls war er meistens klug genug, seine Gefühle zu verheimlichen. Vielleicht war sein rotes Haar schuld daran, daß ihm ein aufbrausendes Wesen zugeschrieben wurde, stehen doch Rotschöpfe heute noch im Ruf, leicht in Zorn zu geraten. Als ich mich in Sizilien aufhielt, wo sich – was im Süden auffällt – gelegentlich Rothaarige finden, konnte ich feststellen, daß sie allgemein als gewalttätig galten.

Als für Odysseus die Zeit kam, ans Heiraten zu denken, schickte ihn sein Vater nach Sparta, wo der dortige König, Oibalos, eine Enkelin im heiratsfähigen Alter hatte. Es war nur natürlich, daß es Laertes bei seiner argivischen Abkunft wünschenswert erschien, eine Verbindung seines kleinen Inselreichs mit dem mächtigen Sparta herzustellen.

Die Enkelin des Oibalos hieß Penelope. Nach anderen Erzählungen, zum Beispiel der von Atalante, zu schließen, war es damals offenbar üblich, einen sportlichen Wettkampf abzuhalten, um festzustellen, wer die Hand einer jungen Schönen erringen sollte. Bei Penelope geschah dies in der Form eines Wettlaufs durch eine der Straßen von Sparta; Sieger war Odysseus. Mißgünstige Kommentatoren haben später behauptet, es habe sich um eine abgekartete Sache gehandelt, da ein Onkel der Penelope eine Vorliebe für Odysseus gehabt habe.

Penelope wurde jedenfalls Odysseus angetraut, in Sparta, und das Paar traf Vorkehrungen zur Heimreise. Penelopes Vater, Ikarios, trennte sich jedoch ungern von seiner Tochter und bat Odysseus, in Sparta zu bleiben. Odysseus indessen hatte von der heißen Talebene des Eurotas bereits genug und sehnte sich zweifellos nach seiner felsigen Insel, wo von Norden her ein kühler Wind wehte. Im Augenblick der Abreise kam es zu einem typischen Familienzwist; Odysseus hatte nämlich gerade die Pferde angespannt, als Ikarios eine letzte flehentliche Aufforderung an seine Tochter richtete. Ungehalten über die Verzögerung und im Bewußtsein, daß eine Frau wissen möchte, wer Herr im Haus ist, wandte sich Odysseus an Penelope und sagte: «Entschließe dich! Komm entweder mit nach Ithaka, oder bleibe in Sparta bei deinem Vater!»

Penelopes Antwort bestand darin, daß sie ihr Gesicht mit dem Schleier bedeckte, um ihr Erröten zu verbergen, und damit ihrem Vater zu verstehen gab, daß sie mit ihrem Gatten zu ziehen gedenke. Ikarios fand sich wohl oder übel mit dem Verlust seiner Tochter ab und errichtete ihr sogar ein Denkmal, das eine junge, verschleierte Frau darstellte. Diese Statue, bekannt als Standbild der Züchtigkeit, wurde zu einem Wahrzeichen Spartas, über das sich auch der griechische Reiseschriftsteller Pausanias geäußert hat, der die Stadt im zweiten nachchristlichen Jahrhundert besuchte. Die jungen Eheleute kehrten nach Ithaka zurück, wo sie sich als Thronanwärter im Palast der Eltern des Odysseus, Laertes und Antikleia, häuslich einrichteten. Nach einiger Zeit brachte Penelope einen Knaben zur Welt. Er wurde Telemachos genannt, das heißt Fernkämpfer, ein prophetischer Name für einen, dem es bestimmt war, seinem Vater im Kampf gegen Penelopes Freier beizustehen.

Ungefähr um 1200 v. Chr. wurde Troja nach einer zehnjährigen Belagerung geplündert und niedergebrannt. «Am Anfang des 12. Jahrhunderts, gleichzeitig mit dem Zusammenbruch des Hethiterreichs und dem Vordringen der Raubfahrer gegen Ägypten, wurde die Stadt VIIa durch Feuer zerstört … Archäologisch deutet nichts darauf hin, daß die Zerstörung Trojas durch die Griechen eine spätere Erdichtung gewesen sei; im Gegenteil, sie steht als geschichtliches Ereignis fest, das zu einer Zeit stattfand, als Griechen und Trojaner miteinander verkehrten … Daß der Untergang Trojas auf antiker Überlieferung beruht, ist unbezweifelt; nach dieser wird die Zerstörung der Stadt einem Zusammenschluß von Griechen des Festlandes und einiger Inseln zugeschrieben, und das wurde von den Griechen allezeit für wahr gehalten. Eine anderslautende Überlieferung besteht nicht» (H.L. Lorimer).

Gegen 1200 v. Chr. verheiratete sich also Odysseus mit Penelope und wohnte mit ihr auf Ithaka. Sicher wurde damals unter den Griechen ausgiebig darüber gesprochen, ob es ratsam sei, Troja anzugreifen. Odysseus mag davon gehört haben, als er in Sparta weilte. Ob die Entführung der Helena geschichtlich war oder nicht, bleibe dahingestellt; der Angriff auf Troja und dessen Zerstörung ist jedenfalls Tatsache, und die Gründe dafür sind nicht weit zu suchen.

Die Stadt Troja, südlich der Dardanellen auf dem kleinasiatischen Festland gelegen, beherrschte den Handelsweg zwischen dem Ägäischen Meer, dem Marmarameer und dem Schwarzen Meer. Dieser Schiffahrtsweg war für die Griechen wichtig, und solange Troja ihnen gegenüber freundlich eingestellt war, stand alles zum besten. Sobald jedoch Troja sich feindselig verhielt und die Einfahrt in die Dardanellen zu sperren drohte, wurde der Krieg unvermeidlich. Möglicherweise haben die Trojaner damit gedroht, vom Durchgangsverkehr eine Gebühr zu erheben, oder eine bestehende Gebühr zu erhöhen; vielleicht wollten die Griechen auch bloß einer solchen Bedrohung ihres Handelswegs zuvorkommen. Jedenfalls wurde die Frage eines Angriffs auf Troja in den Jahrzehnten vor 1200 v. Chr. unter den Königen von Argos, Mykene und ihren Lehnsherren bestimmt erörtert. Schließlich fielen die Würfel, und Agamemnon, der König von Mykene und der mächtigste Herrscher in Griechenland, entschied sich für den Krieg. Er suchte sämtliche Lehnsfürsten auf, die ihm Beistand schuldeten, um ihre Beteiligung mit einer entsprechenden Anzahl bemannter Schiffe zu erwirken.

Unter denen, die Agamemnon aufsuchte, befand sich auch Odysseus, der bereits im Ruf besonderer Tapferkeit und Geschicklichkeit stand, so daß er bei jedem Heereszug begehrt sein mußte. Nun war ihm aber geweissagt worden, falls er in den Krieg gegen Troja ziehe, werde er erst nach zwanzig Jahren wieder in die Heimat gelangen, und zwar allein und mittellos. Für einen jungen Mann, glücklich verheiratet und Regent eines Inselreiches, hatte diese Aussicht begreiflicherweise nichts Verlockendes. Sobald ihm zu Ohren kam, Agamemnon sei zusammen mit seinem Bruder Menelaos und mit Palamedes, dem Sohn des Königs von Euböa, gelandet, um sich seines Beistandes zu versichern, war ihm klar, daß er mit ihrem Krieg nichts zu schaffen haben wollte.

Aus gesundheitlichen Gründen konnte er sich dem Kriegsdienst nicht entziehen; er war in jeder Hinsicht tauglich. So verfiel er auf den Gedanken, sich verrückt zu stellen. Als Agamemnon und sein Gefolge den Palast verließen, nachdem man ihnen gesagt hatte, Odysseus sei draußen beschäftigt, bot sich ihnen ein seltsamer Anblick. Der Mann, den sie suchten, der künftige Herrscher über Ithaka und die umliegenden Inseln, war dabei, den Sandstrand zu pflügen. Gekleidet wie ein Bauer, mit einem alten, kegelförmigen Hut auf dem Kopf, stapfte er hinter einem Pflug her, den Sack eines Sämanns umgebunden. Das war schon befremdlich genug, aber dann fiel ihnen auf, daß das Gespann aus einem Esel und einem Ochsen bestand. Sie riefen ihn an, doch schien er sie nicht zu erkennen. Auch bemerkten sie, daß er nicht Saatkörner ausstreute, sondern grobes Salz. Sein Aussehen und Verhalten waren ganz das eines Geistesgestörten.

Palamedes, der wohl gemerkt hatte, daß nicht alle Griechen davon erbaut waren, in den Krieg ziehen zu müssen, yerfiel nun auf eine List, die für uns unwillkürlich etwas Salomonisches hat. Er nahm der Penelope, die in der Nähe stand, den kleinen Telemach aus den Armen und legte ihn unmittelbar vor dem anrückenden Gespann auf den Boden. Sogleich zügelte Odysseus die Tiere, um ein Unglück zu verhüten, und hob seinen kleinen Sohn auf, wodurch er sich verriet. Nun konnte er seine Teilnahme an dem Kriegszug nicht länger verweigern. Palamedes mag auf den Stockzähnen gelächelt haben, wenn er dachte, wie er den jungen Schlaukopf überlistet hatte. Er ahnte nicht, wie fürchterlich die Rache des Odysseus ausfallen werde.

Drei Inseln (Dulichion, Same und Zakynthos, das heutige Zante) standen unter der Oberhoheit des Odysseus. Von diesen und von Ithaka rüstete er zwölf Schiffe aus, mit Mannschaft und Kriegsvolk. Ein Held wider Willen, lief er mit seinem Geschwader nach Süden aus, umschiffte das Vorgebirge Malea an der Südspitze des Peloponnes und zog nach Aulis, dem Hafen an einer Bucht des Euripos, wo sich die griechische Flotte zur Fahrt gegen Troja sammelte.

Während dieser Vorbereitungszeit geschah es, daß Odysseus von Agamemnon als Werber ausgesandt wurde. Die Ironie, die darin lag, ausgerechnet Odysseus eine solche Aufgabe zu übertragen, entging Agamemnon sicher nicht. Er bedachte wohl, daß keiner sich besser zum Werbeoffizier eignet als einer, der selber höchst ungern ausgezogen ist. Odysseus, sagte er sich, werde schon dafür sorgen, daß keiner sich drückt, wo ihm das doch selber nicht gelungen war.

Merkwürdigerweise gehörte auch Achilleus, der größte der griechischen Helden, zu denen, die sich der Teilnahme am Krieg entziehen wollten. Seine Mutter, Thetis, hatte erfahren, daß ihm entweder großer Ruhm bei frühem Tod oder ein langes, aber unrühmliches Leben beschieden sein werde. Mit dem angestammten Wirklichkeitssinn der Frau war sie zum Schluß gekommen, ein langes, wenn auch bedeutungsloses Leben sei einem frühen Tod vorzuziehen. Dementsprechend hatte sie es eingerichtet, daß Achilleus, als Mädchen verkleidet, sich unter den Frauen am Hofe des Königs von Skyros versteckte.

Die Insel Skyros liegt etwa zwanzig Meilen östlich von Euböa, und es kam Odysseus bald zu Ohren, daß sich Achilleus dort im Königspalast verborgen halte. Die Aufgabe, Achilleus zu entlarven, war jedoch nicht leicht, da Männer die Frauengemächer nicht betreten durften; auch wäre es unmöglich gewesen, unter den verschleierten und in wallende Gewänder gehüllten Gestalten diejenige des Achill zu entdecken. Während Nestor und Ajax, ebenfalls nach Skyros ausgesandt, noch unschlüssig waren, verstand es Odysseus, mit einem schlauen Einfall ans Ziel zu kommen. Lykomedes, der König von Skyros, gestattete ihnen, den Palast zu durchsuchen, wobei er ständig beteuerte, von dem Gesuchten nichts zu wissen. Als die Suche so ergebnislos verlief, wie Odysseus es erwartet hatte, entschuldigte er sich bei Lykomedes und bat gleichzeitig, für die Damen des Hofes ein paar Geschenke hinterlassen zu dürfen.

Reichverzierte Kleider, Schmuck, Parfüm und andere passende Dinge wurden in die Halle hereingebracht, und jede der Damen durfte sich etwas aussuchen. Seltsamerweise befand sich unter den Gaben auch ein Speer und ein Schild. Während die Damen nun herantraten, hielt sich Odysseus im Hintergrund. Da erscholl draußen auf ein verabredetes Zeichen hin ein Trompetenstoß. Die bewaffneten Gefolgsleute des Odysseus begannen Waffenlärm zu veranstalten, als drohe ein Überfall auf den Palast. Während nun die Frauen kreischend in ihre Gemächer flüchteten, sah man, wie eine von ihnen sich den Schleier herunterriß, den Oberkörper freimachte und nach dem Speer und dem Schild griff, die Odysseus vorsorglich bereitgelegt hatte. Achilleus war entlarvt. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich dem Willen der Götter zu fügen, die ihm ein kurzes, aber glorreiches Leben zugedacht hatten.

Den ganzen Krieg hindurch zeichnete sich Odysseus durch dergleichen Einfälle aus, während andere sich ausschließlich auf ihre Körperkraft verließen. Zwar fehlte es ihm keineswegs an Tapferkeit; Homer weiß viel von seinen Heldentaten zu erzählen, so viel, daß man sich manchmal fragt, wer nun der Held der «Ilias» sein soll, Achill oder Odysseus. Es war Odysseus, der das Palladium entwendete, das Schutzbild der Göttin Athene, auf dem die Sicherheit der Stadt beruhte. Es war Odysseus, der die Kriegslist mit dem trojanischen Pferd ausheckte. Er war es auch, der die verborgenen Helden daran hinderte, sich zu verraten, als Helena ihnen eine Falle stellen wollte.

Der Mann, wie er in der «Ilias» geschildert wird, ist eine der ungewöhnlichsten Heldengestalten der Literaturgeschichte. Der Dichter hat ihm nichts geschenkt, keine Warze noch sonst etwas. Deshalb wirkt Odysseus als Mann und Mensch viel glaubhafter als manche, die uns zeitlich näher stehen. Eine der unerfreulichsten «Warzen» ist die Rache des Odysseus an Palamedes. Durch einen bestochenen Diener ließ er einen Brief von Priamos, dem König von Troja, unter dem Bett des Palamedes verstecken, so daß dieser von den Griechen für einen Verräter gehalten und zu Tode gesteinigt wurde. Mit Odysseus war nicht zu spaßen, wie sich während seiner langen Irrfahrt bestätigte; er’ gehörte zu denen, die eine Kränkung nie verzeihen.

Drittes Kapitel Das schwarze Schiff

DIE INSEL TENEDOS liegt knapp drei Kilometer vor der Küste Kleinasiens. Zwischen der Insel und der Küste macht sich immer noch eine starke Strömung von den Dardanellen her bemerkbar, wie schon damals, als die Griechen von Troja aufbrachen. Tenedos (heute Bodscha Ada) ist eine der beiden türkischen Inseln im Ägäischen Meer. Sie ist von geringer Bedeutung und hat überhaupt geschichtlich Glück gehabt, insofern als sie im Kriegsgeschehen der Jahrhunderte kaum eine Rolle spielte, außer damals, als die Griechen den Anschein erwecken wollten, sie hätten die Belagerung von Troja aufgegeben. Nachdem sie auf Anweisung des Odysseus ihr Lager in Brand gesteckt und sich zu ihren Booten zurückgezogen hatten, als gäben sie sich geschlagen, ging ihre Fahrt nach Tenedos. Sie liefen bei Einbruch der Nacht aus, und am nächsten Morgen fanden die Trojaner das Lager verbrannt und verlassen; nur das rätselhafte hölzerne Pferd stand noch vor den Stadtmauern. Die Trojaner schauten aufs Meer hinaus; da aber von der feindlichen Flotte nichts mehr zu erblicken war, nahmen sie an, die griechischen Schiffe seien bereits unter der Kimm, auf der Fahrt nach Hause. Sie ahnten nicht, als sie das Pferd in die Stadt hineinschleppten, daß die griechische Flotte hinter dem niedrigen Rücken von Tenedos verborgen lag.

Es ist keine gebirgige Insel; die höchste Erhebung ragt kaum mehr als hundertzwanzig Meter empor. Allerdings war sie damals, wie die übrigen ägäischen Inseln, grün und mit Bäumen bestanden. Nicht ganz fünf Kilometer lang, bot sie an ihrer Südwestküste dennoch Ankerplatz für eine recht beträchtliche Flotte. Sie weist da zahlreiche größere und kleinere Buchten auf, wo Schiffe vor nördlichen Winden und der nach Süden setzenden Strömung geschützt sind. Da die Kriegslist mit dem hölzernen Pferd dem einfallreichen Kopf des Odysseus entstammte, ist anzunehmen, daß er es war, der Agamemnon darauf aufmerksam machte, wo die Schiffe ungefährdet und außer Sicht ankern konnten. Nicht umsonst hatte Odysseus seine jungen Jahre auf den Ionischen Inseln verbracht, die bis ins 19. Jahrhundert den Seeräubern als Schlupfwinkel dienten. Es gab wohl nur wenig Griechen, die über Wind und Wetter besser Bescheid wußten als Odysseus, ebenso wie über geeignete Liegeplätze, wo Freibeuter sich versteckt halten und den günstigsten Zeitpunkt abwarten konnten.

In der Nacht, als Odysseus und die andern Griechen aus dem Bauch des Pferdes herausstiegen, um die Stadttore zu öffnen, ruderten Agamemnons Leute lautlos aus dem Hinterhalt bei Tenedos hervor. Sie setzten ihre Schiffe am Ufer auf Grund und unternahmen dann den letzten und siegreichen Angriff auf die schlafende Stadt des Feindes. Wahrscheinlich lag die griechische Flotte in der kleinen Bucht südlich der Yukyeri genannten Landspitze. Sie bildet für kleine Fahrzeuge immer noch einen guten Ankerplatz, mit sandigem, tangbewachsenem Grund und einem Ufer, das gegen Norden durch die Landzunge geschützt ist, auf der jetzt die Trümmer einer kleinen Festung sichtbar sind. Wenn auch der Küstenstrich sich im Laufe der letzten dreitausend Jahre etwas verändert haben mag, wird dies doch der Ort sein, wo die griechische Flotte während der Belagerung von Troja lag. Die niedrige Landzunge bietet immer noch Schutz vor dem Wind und der Strömung, die hier nicht so stark ist. Draußen, in der Mitte zwischen Tenedos und dem Festland, entwickelt sie bis zu zweieinhalb Knoten Geschwindigkeit, was nicht ungefährlich ist für Schiffe, die unter Segel oder Riemen wohl kaum mehr als vier oder fünf Knoten gemacht haben.

Von diesem Strand aus schiffte sich Odysseus mit seinem Volk nach der Zerstörung Trojas ein. Hinter ihnen sah man noch die Stadt qualmen, deren Mauern ächzend in sich zusammensanken. Ein Südostwind wehte heiß vom Festland her, als sie die Steinklötze einholten, die ihnen als Anker dienten, und die Trossen loswarfen, mit denen die Schiffe an Uferfelsen festgemacht gewesen waren.

Zehn Jahre lang war Odysseus nun dazu verdammt, die gekrüllten Gewässer des Mittelmeers zu befahren, immer, jeden Morgen und jeden Abend, mit demselben Geruch von Salzwasser, Pechtanne und nassem Holz in der Nase. Selbst die Orte, an denen er unterwegs zurückgehalten wurde, waren nichts als kleine Ankerplätze unter Felsvorsprüngen, von denen aus das Meer immer sichtbar blieb. Sein Schiff, das ihm im Laufe der Jahre vertrauter wurde als andern ihr Haus, war nicht unähnlich den Fahrzeugen, mit denen in späteren Jahrhunderten die Wikinger die Nordsee und den Atlantischen Ozean überquerten und sogar bis in die warmen Gewässer um Sizilien vordrangen, wohin es nun Odysseus verschlagen sollte.

Im Gegensatz zu dem Schiff, das seinen Vater auf der Suche nach dem Goldenen Vlies getragen hatte, ist für das Schiff des Odysseus kein Name überliefert. Manche Autoren, namentlich die Anhänger Samuel Butlers, haben das als Beweis dafür angeführt, daß der Verfasser (beziehungsweise die Verfasserin) der «Odyssee» nicht viel vom Seewesen verstand oder nicht viel dafür übrig hatte. Zu Unrecht; die Gewohnheit, den Schiffen einen Namen zu geben, ist nämlich verhältnismäßig modern, obwohl auch aus antiker Zeit Schiffe bekannt sind, die Namen trugen. Ich bin in den letzten Jahren von Trapani und den Ägadischen Inseln im Westen von Sizilien aus mit Booten gefahren, die den von den Homerischen Helden verwendeten ähnlich waren, und konnte feststellen, daß sie lediglich die Nummern trugen, die sie von Amts wegen führen mußten. Manche dieser sizilianischen Boote stehen wohl den homerischen Fahrzeugen noch näher als die Segelboote, denen man heute im Ägäischen Meer begegnet. Obwohl sie ein Lateinsegel setzen – ein Vermächtnis der Araber –, sind sie oft ohne Motor und bei Windstille auf die Muskelkraft der Mannschaft angewiesen. Wie bei den homerischen Fahrzeugen handelt es sich um offene, flache Boote ohne Kiel, die so gebaut sind, daß sie auf den Strand gesetzt werden können. Und doch fahren diese Fischer des 20. Jahrhunderts damit hundert oder mehr Kilometer weit hinaus, um die reichen Fischgründe unter der nordafrikanischen Küste auszubeuten. Sie verfügen über ein mittleres Steuerruder, wie es Odysseus nicht kannte, und zuweilen, aber nicht immer, über einen Kompaß.

Die Zahl der Leute, mit denen die Boote in Odysseus’ Geschwader bemannt waren, wechselte wahrscheinlich von Fall zu Fall, doch wiesen die Boote wohl selten mehr als zwanzig Riemen auf, zehn an jeder Seite. Das bedingte eine Besatzung von zwanzig Mann, da aber ein Boot oft längere Zeit ständig fortbewegt werden mußte, wird wohl jedes die doppelte Zahl an Bord gehabt haben, damit sie mit Rudern abwechseln konnten. Auch sonst wäre das notwendig gewesen, um nämlich jederzeit frische Leute zur Verfügung zu haben, wenn es galt, einen Landungstrupp auszuschicken, um Beute zu machen. Geht man von der Voraussetzung aus, daß Odysseus mit zwölf Schiffen von Troja auslief, das heißt, mit derselben Zahl, die er mitgebracht hatte, dann kann man die Gesamtzahl seiner Leute wohl auf rund fünfhundert veranschlagen. Es könnten auch mehr gewesen sein, falls einige der Schiffe größer waren als andere, doch darüber gibt Homer keine Auskunft.