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Nach einem Sommer voller Schrecken kämpft Marie sich in ihren neuen Alltag zurück. Die Therapie hilft ihr, die Albträume zu lindern, doch die Erinnerungen an jene verhängnisvolle Nacht bleiben allgegenwärtig. Während ihre Umgebung zum Alltag zurückkehrt, wird Marie durch einen Podcast in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Trost findet sie in der Reitschule und bei ihrer Stute Viva. Doch ihre Freundschaft zu Lukas, die noch vor Kurzem so stark war, droht zu zerbrechen. Funkstille herrscht, und Marie fragt sich, was zwischen ihnen passiert ist und ob es noch eine Chance gibt, die Verbindung zu retten. Auch ihre beste Freundin Liz scheint sich immer mehr zurückzuziehen. Zwischen Therapie, Schulanfang und den ungelösten Spannungen zu Lukas versucht Marie, ihren Platz in der Welt neu zu finden. Aber kann sie die Vergangenheit wirklich loslassen?
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Seitenzahl: 338
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Vorwort/Triggerwahnung
In diesem Buch gibt es Darstellung von Gewalt gegen Minderjährige, wie auch Darstellungen von Traumata. Sollte es dir mit diesem Thema nicht gut gehen, dann lies bitte nicht weiter.
Hilfestellen solltest du mit psychischen Problemen zu kämpfen haben, findest du hier:
Telefonseelsorge, jederzeit erreichbar und bietet kostenlose anonyme Beratung an:(0800)1110111 oder (0800)1110222
Nummer gegen Kummer, kostenloses Kinder- und Jugendtelefon, montags bis samstags von 14 bis 20 Uhr: 116111 oder montags bis freitags von 9 bis 11 Uhr: (0800)11105 unter der Telefonnummer können auch Eltern dienstags und donnerstags von 17 bis 19 Uhr die kostenlose Beratung in Anspruch nehmen .
Montags, dienstags und donnerstags bietet die deutsche Depressionshilfe ein Infotelefon von 13 bis 17 Uhr und mittwochs und freitags von 8.30 bis 12.30 Uhr. Erreichbar sind sie unter (0800) 33 44 533. Außerdem bieten sie auf ihrer Internetseite Hilfe und Informationen an zu allen Themen rund um Depressionen.
Ansonsten wünsche ich dir ganz viel Spaß beim Lesen!
Liebe Grüße
Marina
Pferdebücher, die begeistern
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 1
Immer wieder hörte ich Sand von einem Spaten rieseln. Metall, das mit Kraft in lose Erde gestoßen wurde. Immer und immer wieder, wie auf einer kaputten Schallplatte. Das Knistern von Planen.
Meine Augenlider zuckten.
Dumpf drang die Stimme der Huber zu mir durch. Sie fluchte über ihren Mann, wimmerte um meine Existenz. Ich wollte diese Stimme nie wieder in meinem Leben hören! Schwärze umhüllte mich, engte meine Brust ein. Die Grillen zirpten, als wenn sie über mich lachen wollten. Mein Herz raste. Ich wollte schreien. Mein Brustkorb zog sich zusammen.
»Stopp!« Ich presste mir die Hände auf die Ohren und verzog das Gesicht. Das war nicht real! Das war alles nur in meinem Kopf. Alles nicht real!
Aber der Spaten klang so laut in meinen Ohren, selbst jetzt als ich fest die Hände darauf drückte und sich der Klang mit dem Rauschen meines Blutes vermischte. Tief sog ich die abgestandene Luft ein. Zäh wie durch Nebel mischten sich weitere Geräusche in dieses Klangbild. Erst
war es nur das Ticken der Standuhr, dann das Prasseln des Regens gegen die Fensterscheibe.
Sanft drang die Stimme von Frau Doktor Hoffmann, wie durch Watte zu mir durch. »Tief atmen, einfach nur atmen. Was siehst du?«
Zittrig atmete ich ein und versuchte eine Hand, von den Ohren zu nehmen. Die Geräusche waren weg. Da war nur das Ticken der kleinen Standuhr am Fenster und das Prasseln des Regens an der Scheibe.
»Ich sehe nichts. Alles ist schwarz. Ich höre nur.«
»Gut.« Ihr Kuli schrappte über das Papier. »Was hörst du?«
»Den Spaten. Hauptsächlich den Spaten.«
»Was fühlst du dabei?«
Ich schluckte und riss die Augen auf. Die Lampe neben dem Sofa, auf dem ich lag, spendete warmes freundliches Licht. Der sonst kahle und kühle Raum wirkte durch die Beleuchtung deutlich gemütlicher.
Meine Therapeutin sah mich fragend über den Rand ihrer Brille an. Den Kuli, mit dem unpassenden roten Plüschbommel am Ende, hielt sie erwartungsvoll über den Notiz-block schwebend, in ihrer sonnengebräunten Hand. »Wenn es zu schwer ist, können wir über etwas anderes reden.«
Ich biss mir auf die Unterlippe. Dann würde ich dieses Thema nur weiter meiden und die Fortschritte, na ja, wenn es die geben würde, nur kleiner werden. Langsam beruhigte sich mein Herzschlag. Meine Handflächen fühlten sich immer noch schwitzig an.
»Reden wir doch über ...« Sie blätterte in ihren Notizen. »Lukas. Er war bei dir in der Nacht. Hat sich eure Beziehung seitdem verändert?«
Von einem roten Tuch zum nächsten. Das konnten nur Therapeuten, ohne dass man es ihnen krummnahm. Diese Frage war wie ein Stoß mitten in das nächsten dunkle Loch, das ich am liebsten weiter zu schütten wollte mit Nichtigkeiten.
Ich musste wieder schlucken und richtete mich auf. »Er meidet mich.« Sie würde es eh wissen, wenn sie jetzt anlog.
»Wie geht es dir damit?« Sie lächelte. Aber es war nicht das Lächeln von jemandem, der es mit einem nur gut meinte. Es war das Lächeln von jemandem, der wusste, dass es was zu holen gab. Dass sie kurz davor war mir endlich mal etwas mehr zu entlocken, als das was eh schon im Polizeibericht gestanden hatte und der Notfallseelsorger kurz nach der Nacht notiert hatte.
Wie sollte es mir damit schon gehen? Er schob mich weg. Ich nutzte ihm nichts mehr. Er hatte seine Antworten bekommen. Ich war nur Mittel zum Zweck gewesen.
Ich zuckte mit den Schultern.
Frau Hoffmann oder Anja, wie ich sie nennen sollte, aber nicht konnte, tippte mit der Kulispitze auf die Seite vor ihr. »Hast du eine Idee, warum er dich meidet?«
Ich schüttelte den Kopf. Weil er ein schlechter Mensch war. Weil er all das war, was ich mir einreden wollte, was er nicht war.
»Könnte es sein, dass er Schuldgefühle hat und dich meidet, um nicht mit ihnen konfrontiert zu werden?«
»Dann könnte er mit mir reden.«
»So leicht würde ich mir das nicht vorstellen. Er wird ebenfalls Zeit brauchen. Vielleicht weniger als du, vielleicht mehr. So was lässt sich schwer sagen. Es hängt davon ab, wie tief das Trauma sitzt.« Sie rückte ihre Brille zurecht und die kleinen Glitzersteine auf ihren Zeigefingern blitzten im Lampenlicht auf. »Das, was ihr da erlebt habt, darfst du nicht unterschätzen. Ich bin ehrlich mit dir. Ich habe meine Bedenken, die Schulfähigkeit zu erteilen.«
»Aber wir haben doch Fortschritte gemacht.« Hatte ich das wirklich? Verdammt! Ich wollte nur ein Stück Normalität zurück. Sie hatte mir das versprochen. Tränen stiegen mir in die Augen und ich wandte den Blick zum Fenster, vor dem sich Bäume im sanften Wind wogen und Regentropfen sich ein Rennen die Scheibe hinab lieferten.
Frau Hoffman seufzte und beugte sich vor. Ihr Blick wurde milder. »Marie, ich weiß, dir geht es um den Alltag. Den konnten wir dir ein Stück weit bewahren, indem du zu Hause bleiben durftest, und nicht stationär aufgenommen wurdest. Du bist mir noch zu fragil. Deine Mutter meinte, du hättest mehrere Albträume die Nacht und würdest teilweise bis frühmorgens wachliegen.« Sie lächelte matt. »Denk an dein Abitur, an das, was danach kommen soll. Wenn deine schulischen Leistungen abfallen, dann verbaust du dir die Zukunft!«
»Ich will doch nur mit meinen Freunden zusammensit-zen und Ablenkung.« Das musste sie verstehen. Zu Hause klappte das nicht. Im Stall klappte das nicht. Flehend sah ich ihr direkt in die Augen.
Sie ließ den Stift sinken und blickte zur Wanduhr. »Du triffst deine beste Freundin doch wahrscheinlich jeden Tag am Stall. Verabrede dich mit den Anderen vielleicht erst einmal in einem Café oder lad sie ein. Auch das bringt Ablenkung. Wir müssen die Sitzung hier beenden. Die Zeit ist um.« Ihr Lächeln wurde freundlicher. »Was möchtest du dir Positives bis zur nächsten Sitzung vornehmen?«
Ich feuchtete meine Unterlippe mit der Zungenspitze an und senkte den Blick auf den grauen Teppich vor dem roten Sofa. »Ich würde mit Liz ausreiten gehen wollen. Gerne an den Strand.«
»Das klingt gut. Gibt es einen Weg, wie ihr den Wald meiden könnt?«
Ich nickte. »Wir müssen vorne rum vom Hof und am Deich entlang.«
Frau Hartmann erhob sich in einer fließenden Bewegung. Das Notizbuch und den Stift legte sie auf ihren Schreibtisch hinter sich. »Dann gebe ich mein Ok und wünsche euch viel Spaß dabei. Über die Schule reden wir bei unserer nächsten Sitzung noch einmal.«
Bei der nächsten Sitzung...
Fest presste ich die Lippen zusammen und versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr mich die Situation nervte. Mit einem schmalen Lächeln, nahm ich meine Regenjacke vom Haken bei der Tür und murmelte ein »Aufwiedersehen«
Ehe ich mit hochgezogenen Schultern durch die Praxis zum Ausgang lief. Ich wartete gar nicht darauf, dass Frau Hoffmann noch etwas sagte. Ich wollte es nicht hören.
Mama wartete direkt vor der Tür im Auto. Sie legte ihr neues Buch aus der Hand kaum, dass sie mich sah, und beugte sich zur Beifahrertür, um sie mir zu öffnen. »Na, wie war’s dieses Mal?«
»Ging so.« Meine Stimme klang dünn, als ich auf den Sitz glitt und die Autotür zuzog. »Sie will nicht, dass ich nach den Ferien zur Schule gehe.«
»Marie, das ist in Ordnung. Mach dir da bitte keinen Druck. Und solltest du die Q1 nochmal besuchen müssen, ist das nicht schlimm. Du musst jetzt erst einmal lernen, mit dem ... ja ... klarzukommen.« Wie konnte sie bloß so pragmatisch klingen? Sie hatte ja keine Ahnung! Sie gab mir eine lavendelfarbene Box. »Ich war bei Ellie. Sie lässt dich grüßen und hat frisch gebackene Kekse eingepackt. Extra die mit viel Schokolade.«
»Das ist lieb von ihr, aber das hätte sie nicht machen müssen.«
Mama schmunzelte. »Ellie hat sowas schon immer gerne gemacht.« Dann wurde sie ernster. Ein dunkler Schleier legte sich über ihr Gesicht und jegliches Glitzern verschwand aus ihren Augen. »Bei ihr waren die Tage Reporte. Sie wollte Ellie interviewen. Du weißt schon warum ... Jacob war da, er ist dazwischengegangen.« Ihr Brust hob sich, als sie tief einatmete. »Wir sollten schauen, dass wir einen guten Anwalt haben und diese Podcaster zumindest loswerden.«
Ich musste daran denken, wie Lena vor vier Tagen im Stall gegen ein Crime-Podcaster Duo gewettert hatte. Das Sommerloch war immer noch in vollem Gange und wir waren der Lückenfüller geworden. Dieses Duo war so dreist gewesen, die Toten bei Klarnamen zu nennen. Entgegen dessen, was Lena ihnen hochformal auf ihre Anfrage zurückgeschrieben hatte. Alle hatten die Anfragen zurückgewiesen. Zu frisch waren die Wunden. Wir saßen alle am kürzeren Hebel.
Die Stüwes hatten jetzt den Vorteil, dass sie einen Sprecher rausschicken konnten, dicht gefolgt von einer Armee an firmeneigenen Anwälten, angeführt von ihrem langjährigen Familienanwalt. So war das mit Geld.
»Dein Vater wollte sich mal umsehen, an wen man sich da wenden muss. Lena hatte angeboten, dass wir uns beteiligen könnten, aber wir könnten uns nicht einmal das Beratungshonorar ihres Anwaltes leisten.« Mama schnaubte auf und startete den Motor. Kaum merklich, als müsste sie die Gedanken wie Fliegen verscheuchen, schüttelte sie den Kopf. »Das bekommen wir alles hin. Der Staub wird sich schon legen ... irgendwann.« Tröstend legte sie eine Hand auf meinen Oberschenkel.
Irgendwann... Irgendwann wäre dieser Albtraum endgültig vorbei. Ich konnte dieses Wort nicht mehr hören. Genauso wenig wie das Wort Zeit und dass ich mir diese geben musste. Bestimmt schob ich ihre Hand weg.
Kurzerhand öffnete ich die Box und schnappte mir einen der Kekse. Sie rochen wie Ellies Café süß, lecker und so schokoladig, dass einem das Wasser im Mund zusammen-lief. »Vielleicht sollten wir uns mit Ellie und Jacob zusammenschließen.« Einer musste hier ja Ideen liefern.
Überrascht zog Mama die Augenbrauen hoch. »Das wäre eine Idee. Sie tun mir so leid.« Und wir? Wir lagen doch auch in Scherben. Klar, tat mir das leid, dass diese wundervolle Frau jetzt in ihrem eigenen Café belagert wurde, wie eine Sensation, aber fühlen konnte ich das nicht. Das Gefühl war lediglich ein Schatten, dumpf, irgendwo im Hintergrund.
Der Sommer hatte so viel kaputt gemacht.
Wäre das Tagebuch geblieben, wo es war – alles wäre nie passiert. Es wäre besser gewesen!
Kapitel 2
Papa kam zeitgleich mit uns nach Hause. Es war immer noch ungewohnt ihn in Laufhose und Sportshirt zusehen, aber wenn es ihm half. Frau Hoffmann hatte schließlich gesagt, dass Trauerbewältigung bei jedem anders aussah. Er rannte, Mama malte Kinderbücher und ich? - Ich ging zur Therapie. Und das nur, weil ich musste.
»Und wie viele Kilometer hast du schon wieder hinter dich gebracht?« Mama bedachte ihn mit einem spöttischen Grinsen. Sie musterte ihn und blieb mit abschätzigem Blick an der neuen teuren Sportuhr hängen.
Er zuckte mit den Schultern. »Ich glaube zwischen zwölf und dreizehn«, japste er und hob sein Handgelenk. Daten, Fakten, sie gaben ihm den Halt, den er seit dem Sommer verloren hatte »Joa kommt in etwa hin. Zwölf Komma vier.« Er starrte noch eine Sekunde länger auf den aufleuchtenden Bildschirm und sein Blick wurde für eine Sekunde finster.
Mama öffnete das Gartentor. Jämmerlich quietschte es auf. »Oh, da müssen wir mal wieder Opa anrufen, oder du versuchst dich nochmal am Heimwerken.«
»Och nee Lou. Das wird nichts mehr mit mir. Papa guckt das Ding doch nur einmal an und das läuft wieder.« Papas Blick fiel auf mich. Ich konnte ihm die Neugierde ansehen, die sofort wieder erlosch, als er meinen Blick sah. »Wolltest du gleich zu Viva?« Er legte den Kopf schief und schenkte mir ein sanftes Lächeln, das etwas in mir auslösen sollte, aber jetzt fühlte es sich falsch an.
»Ich wollte erst Liz fragen, wann sie da ist.«
»Oder ich leihe mir von Hannah ein Pferd und wir reiten mal wieder aus.« Mamas Blick glitt rüber zum Reitclub. In der Ferne konnte man die Backsteingebäude erkennen und eine der Weiden reichte bis an unseren Garten. Sie klang begeisterte und ihre Wangen nahmen Farbe an. Dennoch schwang Verzweiflung in ihrer Stimme mit. Für sie ging es, darum eine normale Fassade aufrecht zu erhalten, sich daran zu klammern, weil dann alles gut wurde. Aber es würde nicht mehr werden wie früher - nicht mehr für mich.
»Ich finde die Idee gut«, pflichtete Papa ihr bei. »Ihr könntet ja runter an den Strand. Den Gezeitenkalender hat Mama letztens mitgebracht, der müsste noch auf dem Küchentisch liegen.« Seine Hand zuckte in meine Richtung.
»Na ja. Frag erst einmal Liz und sollte sie keine Zeit haben, dann regeln wir das schon mit Hannah.« Mama knuffte mich in die Seite. »Und jetzt ab rein da. Ich habe Lust auf Mittagessen. Gibt Lasagne von gestern. Lad Liz doch ein, ist doch ihr Lieblingsessen.« Mit einem Kopfnicken wies sie auf die Haustür.
Während Mama die Auflaufform in den Ofen schob und Papa unter der Dusche stand, tippte ich eine Nachricht an Liz. »Bist du am Stall? Kannst bei uns mitessen, wenn du willst. Gibt Lasagne.« Ich hatte sie mindestens seit zwei Wochen nicht mehr gesehen. Wir hatten uns vorher höchstens mal für eine Woche nicht gesehen und in dieser Woche waren zig Nachrichten hin und her gegangen. Sie war die Konstante, die man nicht wegdenken konnte. Immer da, immer in irgendeinem Chaos verstrickt und nur einen frechen Spruch von Ärger entfernt.
Mama hatte die Bluetoothbox in der Küche angemacht und pfiff leise eines der Lieder von ihrer GuteLaune Playlist mit. Kurz war es, als wäre nie etwas gewesen. Es waren einfach die Klänge eines unbekümmerten Sommers, der Abenteuer versprachen, die große Liebe und viel zu viele Erinnerungen, um sie jemals in ein einziges Fotoalbum zu bekommen bis die Werbung abgespielt wurde.
»Hören Sie jetzt unseren neuen Podcast blutige Idylle - der Mörder-Reiterhof von Kleinblommen von und mit den Hosts von Kaffee und Leiche exklusiv auf ...« Mama stellte die Box aus. Sie verkrampfte sich. Sie umgriff die Küchenzeile vor dem Fenster so fest, dass ihre Knöchel hervortraten.
Stille breitete sich aus, wie eine Mauer. Drückend und voller ungesagter Worte. Es war, als würde sie uns abschirmen. Die Zeit anhalten. Nur für diesen kleinen Augenblick, in dem wir gedanklich in Staub schrieben, dass doch noch nicht alles vorbei war.
»Ich kann es nicht mehr hören!«, murmelte sie und sah aus dem Fenster. Trotz des Regens konnte man schemenhaft einige Pferde auf der Weide hinter der Hecke erkennen. Die Sonnenblumen im Beet direkt vor dem Fenster ließen die Köpfe hängen, so als wäre ihnen genauso alles zu viel, und die buntgestreifte Hängematte zwischen den zwei Kirschbäumen schwang sachte im Wind von Links nach rechts. Sie seufzte. »Du, ich glaube, ausreiten ist heute nicht«, wandte sie sich entschuldigend an mich. »Aber ich frage Hannah trotzdem mal, ob ich ihr ein Pferd abnehmen kann, und komme mit in die Halle.«
Mein Handy blinkte auf. Ein kurzer Blick genügte. Sofort wurde mein Herz schwer. »Liz kann heute eh nicht. Sie kommt nur am Abend zum Longieren.« Ich musste unweigerlich grinsen, als ich doch weiter las. »Und sie weint deiner Lasagne nach.« Das Grinsen konnte aber nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass ich sie vermisste – mit ganzem Herzen.
Mama lachte herzlich auf. »Sie ist immer willkommen. Wenn ihr mal wieder zusammen Hausaufgaben macht, dann kann ich gerne noch einmal Lasagne machen.«
»Schreibe ich ihr. Warum hast du überhaupt so gute Laune?« Sie war die letzten Wochen seltener zu Witzen aufgelegt gewesen und hatte deutlich weniger gelacht. Alles an ihr war davon gezeichnet gewesen, dass sie helfen wollte – allen, wirklich allen. Aber jetzt, jetzt wirkte sie fast übertrieben fröhlich.
»Das wollte ich erst heute Abend erzählen.« Mama drehte sich zu mir um und fuhr sich durch die schlüsselbeinlangen blonden Haare. Ihre blauen Augen funkelten begeistert. Was war passiert? Gab es endlich mal einen Lichtblick, der den Titel wert war? »Ich habe vom Verlag ein super Angebot bekommen. Ein Kinderbuch und das Beste ein Pferdebuch. Eine ganze Reihe, mit Merch.« Ihr Grinsen wurde breiter. So strahlend hatte ich sie schon zu lange nicht mehr gesehen. Aber ein kleiner dunkler Fleck, auf dieser strahlenden Hülle blieb. »Stell dir das mal vor, meine Zeichnungen auf Rucksäcken, Tassen, Blöcken und Stiften.«
Davon hatte sie immer geträumt, dennoch war es jetzt nur dünner Mörtel, der sich verzweifelt an die feinen und immer tiefer werdenden Risse klammerte.
»Worum soll es denn gehen?«
»Um ein kleines Mädchen und ihr Pony. Sie reitet Springen und hat eine besondere Glitzerzaubergerte. Die Gerte fand ich weniger gut, aber die ist nur Deko und ein getarnter Zauberstab. Ganz verstanden habe ich das Ding noch nicht, aber bei Mädchen und Pony hatten sie mich.« Sie seufzte verträumt. »Die Autorin wollte mich erst nur wegen der Erfahrung mit Pferden, aber dann haben auch meine Zeichnungen gepunktet. Und das Beste, es gab einen großen Vorschuss vom Verlag.«
»Hast du schon Pläne?« Ich rückte das silberne Messer vor mir auf dem Platzset zurecht. Vorschüsse verplante sie schon ab dem Moment, an dem sie von ihnen hörte.
Mama zuckte mit den Schultern. »Mal sehen. Ein Urlaub wäre nett, aber ...« Sie sah wieder aus dem Fenster und zog nachdenklich die Augenbrauen zusammen. Ich war der Grund. Sie musste nicht weiter reden. »So wirklich weg möchte ich im Augenblick gar nicht. Also wird es Teil des Notgroschens, falls Viva sich irgendwann mal so verletzt, dass sie in die Klinik muss, das Auto kaputt geht, oder was am Haus gemacht werden muss.«
Das Gepoltere auf der Treppe kündigte Papa an.
»Dauert noch zehn Minuten!«, rief Mama in den Flur. Sie sah wieder aus dem Fenster, die Augen auf die Pferde gerichtet.
Kurz drauf lugte Papa mit feuchten Haaren in die Küche. »Ist doch nicht schlimm. Geht ihr zusammen ausreiten?«
»Wenn Hannah ein Pferd für mich hat.«
Er nickte langsam und sah zu mir. »Hat Liz keine Zeit?«
Ich schüttelte den Kopf und versuchte, die Enttäuschung zu verbergen. Wir hatten nur noch wenige Tage Ferien und die schrien nur so danach genutzt zu werden. Und Ausritte mit meiner Mutter fielen für mich nicht, in die Kategorie Ferientage nutzen.
»Schade. Aber wollt ihr bei dem Wetter wirklich ausreiten gehen? Ich könnte mir vorstellen, dass es gerade am Strand ungemütlich ist.«
Mama und ich wechselten Blicke. Die Reithalle hatten wir schließlich nicht ausgeschlossen. Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich glaube selbst einen Ausritt nur am Deich entlang, können wir heute beide sehr gut gebrauchen. Gibt nichts was eine Softshellreithose, eine ordentliche Jacke und eine Nierendecke nicht regeln könnten.«
Ich grinsten, auch wenn es nicht die Augen erreichte. Es war ein Anfang. So hatte ich
Mama schon lange nicht mehr erlebt.
Kapitel 3
Nach dem Mittagessen regnete es immer noch, allerdings weniger stark. In der Einfahrt des Reitclubs standen Pfützen in den kleinen Senken, in denen die grauen Pflastersteine über die Jahre in den Boden gesackt waren. Links und rechts von uns spannte sich der herrschaftliche weiße Holzzaun. Die Pferde standen nur eine Armlänge entfernt, unter den dichten grünen Bäumen, die eine kleine Allee bis hoch zum Parkplatz bildeten. Mama hatte eine von Vivas Nierendecken über dem Arm und wich immer wieder den Pfützen aus.
»Ich hoffe, die passt«, überlegte sie laut und ließ ihren Blick über die Pferde rechts von uns wandern. »Hannah sagte ein großer Schecke. Siehst du den hier unter den Ponys?«
Auch ich suchte die kleine Gruppe der Schulpferde ab. Aber ich sah nur die drei Shetlandponys, Debbie und Tweety, zwei Welsh A, Polly und Roberta, zwei Haflinger und eben die vier Warmblüter, die im Fortgeschrittenenunterricht mitgingen und gerne mal für Springstunden eingesetzt wurden. Zora- eine Dunkelbraune, Dolly – eine Rotbraune, Cooper – ein Fuchs und Lotzo- ein Schimmel. Ich hatte immer noch ein Dolly-Trauma von meinen ersten Springstunden.
»Soll der wirklich auf der Weide stehen? Kann der nicht auch bei den Privatpferden mit auf der Wiese sein?«
Mama schüttelte den Kopf. »Nee. Sie schrieb Weide rechts von der Einfahrt. Ich gucke gleich mal, ob ich Hannah finde.«
Wir passierten das Backsteintor mit den großen schwarz-lackierten Torflügeln, in die das Clublogo in Gold eingeschweißt war. Sofort flog mein Blick aus Gewohnheit über die Autos auf dem Parkplatz.
Jacob war da, Ellies Mann. Zumindest stand sein Wagen neben dem Land Rover von Lena Stüwe. Verdammt.
Sofort war mir flau im Magen. Wenn Lena hier war, dann hatte sich ihr Lukas bei dem Wetter garantiert angeschlossen. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass er bei dem Regen freiwillig mit dem Fahrrad durch die Felder zum Stall fuhr.
Schnell sah ich mich wieder zwischen den Schulpferden nach einem Schecken um. Nicht dran denken! Das hieß nicht, dass ich ihm auch über den Weg laufen musste. Das Clubgelände war groß.
Da sah ich etwas eingedecktes Großes einsam am Tor stehen. Und schon was zum Ablenken gefunden! Mit einem Grinsen wies ich auf das schlaksige Pferd mit der zu groß aussehenden dunkelblauen Regendecke. »Ist er das vielleicht?«
Mama hielt in der Bewegung inne. »Das ist ja noch ein Baby. Wie ist der denn in den Schulbetrieb gekommen?«
Ein Baby? So eingedeckt sah das Pferd aus, als wäre es vier, höchstens fünf. Unter Baby verstand ich etwas anderes.
»Frag Hannah doch später, wo sie ihn her hat.«
Sie nickte und ließ den Blick nicht von dem Wallach, der uns aufmerksam von seinem Platz am Tor aus mit dem Blick verfolgte.
Im Stall war es erstaunlich leer. Ich hatte mit mehr Betrieb um diese Uhrzeit gerechnet. Wir hatten frühen Nachmittag.
»Na willst du mitkommen?«, begrüßte Mama Jacob, der seinen Vollblutwallach Dexter unter dem Abdach am Stall angebunden hatte und fragend in den Regen linste.
Er schüttelte den Kopf. »Lass mal Lou. Nicht bei dem Regen. Das machen seine alten Knochen nicht mehr mit.« Wie um das zu untermalen, tätschelte er dem Braunen, mit der von einigen grauen Haaren durchzogene Stirn, die Flanke.
»Dann viel Spaß in der Halle. Mach einen Bogen um die Stüwes.« Mama zwinkerte ihm verschwörerisch zu.
Jacob lachte. »Hatte ich vor. Bevor man Minderwertigkeitskomplexe bekommt.« Mir nickte er nur mit einem freundlichen Lächeln zu. »Euch viel Spaß beim Ausreiten.« Steif entgegnete ich es. Es lag, mir auf der Zunge nach Ellie zu fragen, aber es wollte einfach nicht raus. Ich schnappte mir nur einen Führstrick und hastete dann raus in den Regen. Ein kribbelndes Gefühl im Bauch, wie eine Unwetterwolke.
Ich zog mir die Kapuze meiner Regenjacke tiefer in die Stirn, als ich mit einem Führstrick bewaffnet zu den Weiden hinter der alten Reithalle lief.
Vor der Halle stand eine große Pfütze und hinter den großen Scheiben brannte die Deckenbeleuchtung. Rhythmisches Hufschlagen und Schnauben war zu hören. Alles war wie ein normaler Regentag am Reitclub.
Aus der Ferne konnte ich Viva schon neben Haddy und Oles Jungpferd, dessen Namen ich immer vergaß, am Zaun stehen sehen. Wie aufgereiht blickten sie verzweifelt unter ihren Regendecken hervor auf den Matschweg zwischen den Holzzäunen.
Tief durchatmend setzte ich den ersten Schritt auf den Trampelpfad und wäre direkt um ein Haar ausgerutscht. Na super! Da liebte ich diese grauen Regentage doch nur noch mehr!
Nachdem ich den Weg hin und mit Pferd zurück überlebt hatte und wieder an der Halle vorbeilief, war mir der Schlammpfad deutlich lieber, als in den Stall zu gehen.
In dem Moment als ich aus dem kleinen Weg seitlich von der Halle, wieder auf den Hauptweg abbog, öffnete sich die Hallentür. Und zu meinem Erschrecken trat Lukas heraus. Mein Herz hatte sofort ausgesetzt, nur um dann doppelt so schnell weiterzuschlagen. Ich wollte mich umdrehen und wieder gehen, aber er war immer noch ein Magnet, der mich unweigerlich anzog.
Pantas war verschwitzt und hatte eine beige Abschwitzdecke auf der Kruppe und über dem teuren schwarzen Springsattel liegen. Der Hengst ließ den mächtigen Hals locker fallen und schlurfte hinter seinem Reiter zu den Stallungen. Hallensand klebte an den Gamaschen. Viele hätten das Pferd voller Ehrfurcht angestarrt. Der Rappe sah aus wie aus einem dieser Pferdefilme. Aber ich starrte wie gebannt auf den Reiter. Ich musste wissen, wie es ihm ging!
Ich hatte Lukas seit dieser Nacht am Reitverein erst dreimal gesehen. Er wirkte seitdem ernster, erwachsener. Das beige Poloshirt, das perfekt zur Abschwitzdecke passte, saß locker an seinem Oberkörper, die graue Reithose passte wie angegossen. Die silbernen Dornsporen an seinen schwarzen Reitstiefeln gaben bei jedem Schritt ein leises metallenes Geräusch von sich, das sich mit dem Widerhallen Pantas beschlagener Hufe von den Backsteinmauern der umstehenden Stallungen vermischte.
Hatte ich auf ein verhaltenes Lächeln gehofft, sah er einfach durch mich hindurch. Die grünen Augen leuchteten nicht so wie sonst. Ein trüber Schleier lag über ihm. Nichts war mehr übrig von der eigentlichen Erscheinung, die er war.
Mir lief ein Schauer über den Rücken und ich umfasste Vivas Führstrick fester. Am liebsten hätte ich die Augen geschlossen und ausgeharrt, bis er weg war.
Die geröteten Wangen waren das einzige Indiz, das er am Leben war. So blass und mit so tiefen Ringen unter den Augen hatte ich ihn noch nie gesehen.
Meine Kehle fühlte sich an wie zugeschnürt. Das. Das war meine Schuld! Ich versuchte, gegen das enge Gefühl anzukämpfen und den Gedanken beiseitezuschieben. Aber es ging nicht. Da war nur diese tonnenschwere Gewissheit, die an mir nagte.
Viva zog zum Stall und ich löste mich aus meiner Starre. Die Leere in seinem Blick sorgte immer noch für eine Gänsehaut bei mir.
Lukas hatte allem Anschein nach im Stall angebunden. Sehr zu meiner Erleichterung. Ich hätte es nicht ertragen, neben ihm Viva fertig zu machen. Seine meterhohe Mauer aus Schweigen machte mich mürber, als dass er so offen unter dem, was meinetwegen geschehen war, litt.
Pantas stand jedenfalls nicht am Balken, als wir in Sichtweite des Stalls kamen.
Der Schecke blickte uns vom Anbindebalken entgegen. Seine braunen Ohren spielten neugierig und er reckte die Nase in unsere Richtung. Von Mama fehlte jede Spur.
Jacob war auch schon weg. Nur noch das Halfter am Anbinder links von dem Schecken deutete darauf hin, dass er bis vor wenigen Minuten sein Pferd hier angebunden hatte.
Ich band Viva unter dem Abdach, rechts des Schulpferdes an. Die Putzkiste stand schon an der Stallwand. Sie stellte die Ohren auf. Aufmerksam betrachtete meine Stute den Neuzugang.
Schmunzelnd streichelte ich ihr über die Schulter. Selbst durch die dünne Regendecke konnte ich deutlich ihre Muskeln und die Wärme ihres Fells spüren. Am liebsten hätte ich mich gegen sie sinken lassen und mich einfach für einen Augenblick weggeräumt.
Weg von den Gedanken in meinem Kopf, weg von den Ängsten, weg von den Erinnerungen. Irgendwohin, wo alles normal war. Wo mich niemand versucht hatte zu töten, wo ich nur eine von vielen war und nicht das Mädchen, das überlebt hatte.
Tief atmete ich ein. Es roch nach Pferd. Allerdings anders als in den Ställen des Reitvereins. Dort hatte es nach Pferd gestunken. Hier roch es nur leicht nach Pferd und nicht nach Ammoniak.
Plötzlich war er wieder da. Der Gestank. Diese Trostlosigkeit. Mein Plus schnellte in die Höhe und ich versuchte etwas zu greifen zu bekommen. Der Haflinger neben mir. Leere Augen, matt und so wenig Pferd, dass einem nur schlecht werden konnte. Das Stroh, das sich so unangenehm in den Stoff meiner schwarzen Jeans gebohrt hatte. Die Schritte, die langsam näherkamen. Die Boxentür, die aufgeschoben wurde. Angst kroch in mir hoch. Ich fühlte mich, als würde ich jeden Moment zerspringen.
Da fasste mich jemand an der Schulter. Ich zuckte zusammen und blinzelte in das schummrige Licht. Die Laterne an der Stalltür flackerte auf.
»Alles in Ordnung?«, fragte Mamas warme Stimme direkt neben meinem Ohr.
Ich hatte das Gefühl, mich nicht bewegen zu können. Meine Atmung ging immer noch unregelmäßig und das Flattern meines Herzens ließ nur langsam nach.
»Es ist alles gut. Hey, Mäuschen, du bist in Sicherheit. Ich bin hier.« Sie strich mir über die Haare und presste mich an sich.
Ich starrte nur mit immer verwaschener Sicht auf die roten Backsteine, während ich ihrem ruhigen Herzschlag lauschte. Wann hörte das auf?
»Vielleicht war das alles zu früh.« Sie klang unheimlich weit weg und würde sie mich nicht im Arm halten, hätte ich den Impuls gehabt nach ihr zu rufen. Sie hatte diese traurige Nachdenklichkeit in der Stimme. Alles schnürte sich nur noch enger in mir zusammen.
Schwer schluckte ich und konzentrierte mich auf meine Atmung. Was hatte Frau Hoffmann gesagt? Atmen und etwas anderes suchen, auf das ich mich fokussieren konnte. Blinzelnd versuchte ich wieder ein klares Bild vor Augen zu bekommen.
Ein. Aus. Eins. Ein. Aus. Zwei.
Langsam sah ich schon wieder die Konturen der Backsteine.
Ein. Aus. Drei. Ein. Aus. Vier.
Meine Konzentration lag nur auf dem Gefühl von Luft, die durch meine Lungen strömte.
Ein. Aus. Fünf.
Der Mörtel zwischen den Steinen wurde immer erkennbarer. Langsam nahm das enge Gefühl in meiner Brust ab. Meine Schultern sackten gefühlt einen Zentimeter tiefer.
Mamas Griff um mich wurde wieder lockerer. »Willst du immer noch ausreiten gehen? Vielleicht wäre die Halle doch die bessere Option.«
Ich schüttelte entschieden den Kopf. »Nein. Wir reiten am Deich lang. Das … Das geht schon.«
Kapitel 4
Der Ausritt war ruhig. Ich konnte spüren, wie angespannt Mama war. Der Regen hatte nicht nachgelassen und war erst lichter geworden, als wir vom Feldweg gegenüber der Hofeinfahrt wieder auf den Hof einbogen.
Vor dem Stall hielten wir an und wollten uns aus dem Sattel schwingen, da sahen wir Hannah unter dem Abdach stehen.
Breit grinste sie Mama an und ihre braunen Augen funkelten vergnügt. »Mensch, das ist ja fast wie früher!«
»Wie meinst du das?« Mama nahm die braunen abgegriffenen Zügel des Scheckens namens Donatello in eine Hand und schlüpfte aus den Steigbügeln.
Hannah kam mit großen Schritten näher. »Na du auf einem Schecken. Der könnte fast als eine etwas verfehlte Kopie von Milka durchgehen.«
Mama lachte. »Ach Quatsch! Wo hast du den Kleinen her? Der ist wirklich schön zu reiten.«
»Aus Polen. Ich habe ihn günstig von Bekannten angeboten bekommen und da Donna bald in Rente gehen soll …« Hannah machte eine wegwerfende Handbewegung. »Aber du sagst, er ist gut im Gelände?«
»Klar. Vor nichts Angst und lässt sich immer bremsen. Selbst die Schafe haben ihn nicht interessiert. Da hatten wir am Anfang mit Viva ja ganz schön zu kämpfen. Wenn du mal wieder jemanden für ihn brauchst, sag einfach Bescheid.«
Hannah sah zu mir. Ihre Mundwinkel zuckten nach oben und ihr Blick nahm einen mitleidigen Zug an. Schnell sah sie wieder Mama an. »Mache ich gerne. Wenn ich ehrlich bin, ist der zu schade für den Schulbetrieb. Mal sehen, was wir mit dem machen.« Plötzlich flackerte etwas in ihrem Blick auf und sie strahlte über das ganze Gesicht. »Hättest du nicht mal Lust, mit dem ne Springstunde zu reiten?«
»Also Hannah, die Zeiten sind vorbei. Dressur vielleicht, aber … nee lass mal! Lieb gemeint.«
»Du, ich hab da ne Idee!« Dann wandte sich Hannah an mich. Ein verschwörerisches Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus. »Die Auswahltrainings sind durch.«
Ich presste die Lippen zusammen. Ich hatte die letzten Trainings verpasst, da ich noch nicht wieder reiten konnte und die Prellungen und Brüche noch nicht gut genug verheilt gewesen waren. Meine Chance auf eine brillante Saison bis zum Abi hatte ich damit verpasst. Genauso wie die Möglichkeit von einer so großartigen Reiterin wie Steffi zu lernen. »Ok. Dann Glückwunsch an alle, die es geschafft haben.«
Hannah schmunzelte und trommelte mit ihren langen Fingernägeln auf ihrem Oberschenkel herum. »Du hast die Liste nicht gesehen, oder?«
»Sollte ich?«
Barbie war doch eh durchgekommen, genauso wie mindestens eine ihrer Tussis. Vielleicht auch Felix, der so ganz nett war, aber bisher nur sporadisch auf Turniere gefahren war. Liz war durch. Ganz bestimmt. Sie ritt viel zu gut. Genauso wie Ole und wahrscheinlich auch Lukas. Auch bei Thilo würde es mich nicht wundern. Als Ponyreiter war er wirklich bei allem, was regional gelaufen war. Ich passte nicht in diese Liste. Warum sollte ich sie mir dann ansehen?
Sie zog beide Augenbrauen hoch. »Na dann man Tau! Du wirst dich echt wundern.«
Nein, würde ich garantiert nicht. In den Trainings vor der Sache war ich nicht herausragend gewesen und dass ich danach nicht mehr hatte teilnehmen können, hatte mich doch schon ausgesiebt. Da half es nichts, dass die letzten zwei Runden verschoben worden waren, damit Lukas und ich teilnehmen konnten. Nur durch Liz wusste ich, dass Lukas sich beide Male fast umgebracht hatte, bei dem Tempo, das er im Parcours vorgelegt hatte.
Mama schwang sich aus dem Sattel. »Wann ist Steffi denn mal wieder hier? Bisher habe ich sie immer verpasst.«
»Montag wollte sie für eine halbe Stunde kommen und mit Paps reden. Du weißt schon Saisonplanung und so.« Hannah fingerte ihr Handy aus der Tasche. Kurz dachte ich, sie wäre krank. Hannah ohne ihr Handy, wenn ich den Tag mal erlebe, fresse ich einen Besen.
»Dann schreib mir doch bitte. Ich habe seit damals nicht mehr mit ihr gesprochen. Wir waren so gut befreundet.« Sie lächelte, aber es erreichte nicht die Augen. Zum ersten Mal, seitdem alles passiert war, fiel mir auf, wie müde sie aussah.
»Wird gemacht!« Ohne von ihrem Handy aufzusehen, wies Hannah auf mich. »Und du, guck dir die Liste an!« Dann lief sie schon an uns vorbei zum Schulpferdestall.
Kopfschüttelnd sah Mama ihr nach. »Dass die nie ihr Handy weglegen kann!«
»Mhm«, machte ich, während ich mich ebenfalls aus dem Sattel schwang. Ich kannte Hannah nicht anders und hatte sie auch nie ohne ihre falschen Fingernägel gesehen, die nur an Extravaganz zu und abnahmen.
Gedanklich war ich allerdings schon wieder ganz woanders. Kaum, dass meine Füße wieder den Steinboden berührten, schoss mir wieder meine Begegnung mit Lukas durch den Kopf. Sein Blick … Ich erschauderte. Schnell schüttelte ich den Kopf und lockerte den Sattelgurt. Nicht dran denken! Weiter machen!
Mama klopfte Doni, wie sie ihn getauft hatte, den Hals und lockerte ebenfalls den Sattelgurt. »Willst du dir gleich die Liste angucken?«
Ich schüttelte den Kopf. »Lohnt sich doch gar nicht. Ich bin doch eh raus gewesen.« Meine Stimme hallte dumpf und wie von einem anderen Wesen in meinem Kopf nach.
»Das glaube ich nicht. Steffi ist nicht so, oder war sie zumindest früher nicht. Wenn sie etwas in dir gesehen hat, dann warst du für sie trotzdem noch dabei.«
»Quatsch. Dann wird mir das ausgelegt, als wenn das nur so wäre, weil ihr befreundet wart.«
»Den Bonus hast du garantiert nicht bekommen.« Mama griff nach Donis Zügeln. Zuversichtlich zwinkerte sie mir zu. »Ach guck mal, Jacob ist auch schon wieder da.«
Tatsächlich stand sein Vollblut am Anbinder und wartete geduldig darauf, seine Decke wieder über-geschmissen zu bekommen, um noch einmal für ein paar Stunden auf die Weide zu kommen.
Meine Stute lief erleichtert wieder am Stall zu sein neben mir her. Ihre Ohren wippten bei jedem Schritt, und sie hielt den Hals entspannt gesenkt. Das war einfach nicht ihr Wetter und wer konnte ihr das verübeln. Ich hatte oft das Gefühl, hier an der Nordsee regnete es sich mehr ein als anderswo in Deutschland.
Mama band Doni an, da kam Jacob wieder aus dem Stall. Eine Schüssel Mash in der Hand und eine leichte Regendecke über dem Arm. »Schon wieder zurück?« Überrascht sah er zwischen uns hin und her.
»Bei dem Wetter … war die Halle voll?«
»Ging so. Außer mir war nur Lena da, ihr Sohn ist, kurz nachdem ich rein bin, schon abgestiegen und dann kamen zwei/drei Ponyreiter dazu.« Die Decke legte er vorsichtig neben Doni über den Balken. »Wie geht es Till?« Seine Stimme nahm einen vorsichtigen Klang an.
Mama atmete tief ein. Ja, wie sollte es Papa schon gehen? Er versuchte, wie wir alle nur klarzukommen. »Es war schon mal besser. Er geht gerade sehr viel laufen und vergräbt sich bei jeder sich bietenden Gelegenheit in seinem Büro.« Mama ließ die Schultern hängen. »Was macht Ellie? Ich war heute kurz im Café.«
»Der Podcast setzt ihr zu. Ständig sind Leute da und stellen Fragen. Das stresst sie nur zusätzlich.«
Ich wollte mir gar nicht vorstellen, wie Massen an Leute auf Ellie losstürmten. Ich hatte sie als nette und bemühte Person kennengelernt, die unheimlich unter dem plötzlichen Verschwinden ihrer besten Freundin gelitten hatte. Sie hatte sowas nicht verdient. Bei der Beerdigung hatte sie nur auf den Boden gestarrt und man hatte ihr angemerkt, dass es für sie nicht greifbar gewesen war.
»Wenigstens lassen sie dich in Ruhe.« Mama presste die Lippen zusammen. »Habt ihr schon über rechtliche Schritte nachgedacht?«
»Lena hat mich dasselbe gefragt. Stimmt das, dass sie mit einer Armee an Anwälten diesen Podcast in die Knie zwingen will?«
Mama zuckte mit den Schultern. »Ich würde es ihr zutrauen. Auch Robert und Meredith. Ich glaube, gerade Robert macht da kurzen Prozess.«
Kurz überlegte ich, ob ich mich an Lukas Großeltern erinnern konnte, aber musste feststellen, dass das zu lange her war.
»Ja, das würde passen.« Jacob nickte nachdenklich und löste den Führstrick seines Pferdes vom Anbindeharken. »Ich habe reingehört. Wie die Stüwes dargestellt werden, wird ihnen nicht gerecht. Die großen schrecklichen Industriellen. Was dabei vergessen wird, ist doch, dass sie jemanden verloren haben und es sie sogar härter getroffen hat, weil sie plötzlich ohne Erben dastanden.«
»Als wenn das das Schlimmste wäre!« Mama seufzte. »Ich bin diese Jagd leid. Interviewanfragen schön und gut. Die kann man ja noch ablehnen, aber ist nur eine Frage der Zeit bis sie hier drauf warten, dass jemand etwas sagt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie in ihrer Sensationsgier die Kinder daraus halten. Und leider haben wir niemanden, der für unsere Familie einen Pressetermin organisiert, ein professionell geschriebenes Statement verließt und dann Fragen beantwortet.«
Die Pressekonferenz der Stüwes hatte Wellen geschlagen. Es wurde sich aufgeregt, dass die Familie nicht selbst etwas gesagt hatte, es wurde sich über die wenigen Details beschwert und es als Anlass genommen, reiche Menschen zu verteufeln. Den Grund für die Konferenz und vor allem, was das für die Familie bedeutete, wurde dabei komplett aus dem Fokus verloren.
Ich strich Viva über die kurzgeschnittene Mähne. In Lukas Haut wollte ich gerade nicht stecken.
Ein feiner Stich in meinem Herzen machte sich bemerkbar und trieb mir unweigerlich Tränen in die Augen. Wie er mich angesehen hatte. Seine Haltung. All das – meine Schuld!
Mama wuchtete Donis Sattel auf den Anbinder. Ein alter abgewetzter Springsattel aus Hannahs Fundus. »Tja, die sind alle ganz schön …« Sie schüttelte den Kopf.
»Abgefuckt? Anders kannst du diese Sensationsgier doch gar nicht betiteln. Man kann nur hoffen, dass das schnell wieder versandet, und bloß Sommerlochfüller war.« Mit der Fußspitze schob Jacob den Masheimer näher zu seinem Pferd. »Ellie macht das nicht mehr lange mit. Sie liebt das Café. Ich will mir nicht vorstellen, was das für sie heißen würde, sollte sie es schließen müssen wegen dieser Idioten.«
»Kommt doch mal zu Abendessen. Oder wir treffen uns alle hier im Reiterstübchen. Steffi, Ellie, Lena, du und ich.«
Jacob schüttelte den Kopf. »Ellie bekommst du hier nicht mehr her. Was glaubst du, was ich seit Jahren versuche! Sie sagt, sie fühlt sich hier, als würden an jeder Ecke Geister lauern.«
»Kann ich verstehen. Aber wenn wir bei uns Abendessen?«
Wieder schüttelte Jacob den Kopf. »Ihr könnt bei uns vorbeikommen, wenn ihr wollt. Ellie meidet alles, was sie auch nur ansatzweise an Lina erinnern könnte.«