Rendezvous in Paris - Stephanie Perkins - E-Book

Rendezvous in Paris E-Book

Stephanie Perkins

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Beschreibung

Was passiert nach dem Happy End?

Isla kann ihr Glück kaum fassen: Zu Beginn ihres letzten Schuljahres in Paris sucht Josh tatsächlich ihre Nähe. Innerhalb kürzester Zeit schwebt Isla im siebten Himmel, denn Josh ist alles, wovon sie immer geträumt hat. Aber was passiert eigentlich nach dem Happy End? Als Josh von der Schule fliegt, werden die beiden auf eine harte Probe gestellt …

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Seitenzahl: 425

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DIE AUTORIN

© Destinee Blau

Stephanie Perkins, geboren in North Carolina, ist in Arizona aufgewachsen und hat in San Francisco und Atlanta studiert. Sie hat schon immer mit Büchern gearbeitet – erst als Buchhändlerin, dann als Bibliothekarin und jetzt als Autorin. Sie liebt spannende Abenteuer, Mocca Latte, Märchen, laute Musik, Nachmittagsschläfchen und Küssen.

Weitere lieferbare Titel bei cbj:

Herzklopfen auf Französisch

Schmetterlinge im Gepäck

Stephanie Perkins

Rendezvous

in

Paris

Aus dem Englischen

von Stefanie Mierswa

Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House

1. Auflage

Deutsche Erstausgabe März 2015

Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform

© 2014 by Stephanie Perkins

Published by Arrangement with Stephanie Perkins

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel

»Isla and the Happily Ever After« bei Dutton Books,

a member of the Penguin Group (USA), Inc., New York

© 2015 der deutschsprachigen Ausgabe:

cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House, München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Dieses Werk wurde vermittelt durch die

Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.

Übersetzung: Stefanie Mierswa

Umschlagbild: Shutterstock (Nata Sdobnikova, Nikonaft); Gettyimages (Photodisc)

Umschlaggestaltung: *zeichenpool, München

kg · Herstellung: ReD

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-14813-3

www.cbj-verlag.de

Für Jarrod,

bester Freund & wahre Liebe

Kapitel eins

Es ist Mitternacht, es ist brütend heiß und ich stehe unter Schmerzmitteln, aber der Typ da vorne – genau da drüben –, das ist er.

Derjenige welcher.

Seine Haltung ist mir so vertraut wie ein wiederkehrender Traum. Die Schultern gerundet, der Kopf schräg nach rechts geneigt, die Nase dicht über dem Stiftende. Vertieft. Ein schmerzliches Glücksgefühl durchdringt mich. Er ist ganz nah, nur zwei Tische entfernt, und blickt in meine Richtung. Im Lokal ist es schwülwarm und die Luft ist von bittersüßem Kaffee erfüllt. Drei Jahre Sehnsucht rasen durch meinen Körper und sprudeln aus mir heraus:

»Josh!«

Er hebt ruckartig den Kopf. Eine Weile, eine sehr lange Weile, sieht er mich einfach nur regungslos an. Und dann … stutzt er. »Isla?«

»Du weißt meinen Namen. Und du sprichst ihn sogar richtig aus.« Die meisten Leute nennen mich Ihs-la, aber richtig heißt es Ei-la. Wie Eiland ohne nd. Ich verziehe den Mund zu einem Grinsen, lasse es aber sofort wieder sein. Autsch.

Josh blickt sich um, als suchte er jemanden, und legt dann vorsichtig seinen Stift beiseite. »Ähm, klar. Wir haben ja in zig Kursen nebeneinander gesessen.«

»In fünf haben wir nebeneinander gesessen, zwölf hatten wir insgesamt zusammen.«

Schweigen.

»Okaaay«, sagt er gedehnt. Wieder Schweigen. »Alles in Ordnung mit dir?«

Ein Typ, der wie ein junger Abraham Lincoln mit einem Piercing-Fetisch aussieht, wirft mir eine einseitige laminierte Speisekarte auf den Tisch.

Ich sehe sie gar nicht erst an. »Irgendwas Weiches, bitte.«

Abraham kratzt sich müde den Bart.

»Nur keine Tomatensuppe, Schokoladenpudding oder Himbeerapfelmus. Das hatte ich nämlich heute schon«, füge ich hinzu.

»Ach so.« Abrahams Miene hellt sich auf. »Du bist krank.«

»Nein.«

Sein Gesicht verfinstert sich wieder. »Dann halt nicht.« Er nimmt die Speisekarte vom Tisch. »Bist du gegen irgendwas allergisch? Muss es koscher sein? Bist du Vegetarierin?«

»Häh?«

»Ich sehe mal in der Küche nach.« Damit stolziert er davon.

Ich wende mich wieder Josh zu, der mich immer noch beobachtet. Er blickt auf sein Skizzenbuch hinunter, dann wieder auf, dann wieder hinunter. Als wäre er sich nicht sicher, ob unsere Unterhaltung schon beendet ist oder nicht. Ich schaue auch nach unten, denn mich beschleicht das immer beunruhigendere Gefühl, dass ich morgen vielleicht etwas bereue, wenn ich jetzt weiterrede.

Aber … als könnte ich mich nicht dagegen wehren – und das kann ich tatsächlich nicht, wenn ich in seiner Nähe bin –, blicke ich auf. Das Blut pulsiert in meinen Adern, während ich ihn mit den Augen verschlinge. Seine lange, wohlgeformte Nase. Seine schlanken, selbstbewussten Arme. Seine blasse Haut ist durch die Sommersonne etwas dunkler geworden und sein schwarzes Tattoo lugt unter dem Ärmel seines T-Shirts hervor.

Joshua Wasserstein. Ich bin so verknallt in ihn, dass es kaum auszuhalten ist.

Er sieht auch wieder zu mir und ich laufe rot an. Dieses ewige Rotwerden. Der Fluch aller Rothaarigen. Ich bin froh, als Josh sich räuspert und etwas sagt. »Schon komisch, oder? Dass wir uns vorher noch nie über den Weg gelaufen sind.«

Ich steige sofort darauf ein. »Bist du oft hier?«

»Ach so.« Er spielt mit seinem Stift herum. »Ich meinte eigentlich in der Stadt. Ich wusste, dass du auf der Upper West Side wohnst, aber ich hab dich noch nie in der Gegend gesehen.«

Mein Brustkorb schnürt sich zusammen. Ich wusste das von ihm, aber ich hatte keine Ahnung, dass er das auch von mir wusste. Wir gehen beide auf ein Internat für Amerikaner in Paris, aber die Ferien verbringen wir in Manhattan. Alle wissen, dass Josh hier wohnt, weil sein Vater für New York im Senat der Vereinigten Staaten sitzt. Aber es gibt keinen Grund, warum sich jemand merken sollte, dass ich auch hier wohne.

»Ich komme nicht oft raus«, platze ich hervor. »Aber ich hab einen Mordshunger und zu Hause gibt’s nichts zu essen.« Und dann lasse ich mich irgendwie auf den freien Platz ihm gegenüber gleiten. Meine Kompass-Halskette klackert gegen die Tischplatte. »Mir wurden heute Morgen die Weisheitszähne rausgenommen, und ich bin ohne Ende voll mit Medikamente, aber mein Mund tut immer noch so weh, dass ich nichts Hartes essen kann.«

Josh lächelt zum ersten Mal.

Ich frohlocke innerlich und lächle so breit wie möglich zurück, auch wenn es wehtut. »Was ist?«

»Schmerzmittel. Jetzt verstehe ich.«

»Ach, Shit.« Ich ziehe ein Bein an und stoße mit der Kniescheibe an den Tisch. »Benehme ich mich so bescheuert?«

Er lacht überrascht auf. Ständig lacht irgendjemand, weil er nicht damit rechnet, dass ein so zierliches Wesen mit einer so leisen, lieblichen Stimme Wörter wie »Shit« sagt. »Ich hab nur gemerkt, dass irgendwas anders ist. Das ist auch schon alles.«

»Zu den Nebenwirkungen gehört eine grausame Kombination aus Erschöpfung und Schlaflosigkeit. Und genau deshalb bin ich hier.«

Josh lacht erneut. »Meine wurden mir letzten Sommer rausgenommen. Morgen geht’s dir besser.«

»Versprochen?«

»Nicht ganz. Aber in ein paar Tagen auf jeden Fall.«

Wir hören auf zu lächeln und verfallen in nachdenkliches Schweigen. Bisher haben wir in der Schule nur selten miteinander gesprochen und noch nie außerhalb. Ich bin zu schüchtern und er ist zu distanziert. Außerdem hatte er ewig ein und dieselbe Freundin.

Hatte.

Sie haben sich letzten Monat getrennt, genau bevor sie ihren Abschluss gemacht hat. Josh und ich haben unser letztes Jahr noch vor uns. Und ich wünschte, es gäbe einen logischen Grund dafür, dass er plötzlich Interesse an mir zeigt, aber … den gibt es nicht. Seine Exfreundin war hartnäckig und direkt. Genau das Gegenteil von mir. Vielleicht bin ich deshalb so erschrocken, als ich plötzlich auf sein Skizzenbuch zeige und diesen vorübergehenden Zustand in die Länge ziehen will.

»Woran arbeitest du gerade?«, erkundige ich mich.

Er bewegt den Arm, um die offen liegende Zeichnung zu verdecken, die jemanden zeigt, der wie ein junger Abraham Lincoln aussieht. »Ich hab nur … ein bisschen rumgekritzelt.«

»Aha, unsere Bedienung.« Ich grinse. Autsch.

Er nimmt mit betretenem Gesicht den Arm weg, zuckt dann aber nur die Schultern. »Und das Pärchen da in der Ecke.«

Wir sind nicht allein hier?

Ich drehe mich um und entdecke ganz hinten einen Mann und eine Frau mittleren Alters, die zusammen in einem Stadtmagazin lesen. Sonst ist niemand da, also bin ich immerhin nicht völlig neben der Spur. Glaube ich jedenfalls. Ich drehe mich mit wachsendem Mut wieder zu Josh um.

»Darf ich das mal sehen?«

Ich habe ihn gefragt. Ich kann gar nicht glauben, dass ich ihn tatsächlich gefragt habe. Ich wollte immer schon mal einen Blick in seine Skizzenbücher werfen, mal eins in der Hand halten. Josh ist der talentierteste Künstler unserer Schule. Er benutzt verschiedene Ausdrucksformen, aber seine wahre Leidenschaft ist der Comic. Ich habe ihn mal sagen hören, er arbeite an einer Graphic Novel über sein Leben.

Eine Autobiografie. Ein Tagebuch. Welche Geheimnisse wohl darinstehen?

Ich begnüge mich mit Kritzeleien, die ich über seine Schulter hinweg sehe, mit Gemälden, die im Kunstraum trocknen, mit Skizzen, die an den Zimmertüren seiner Freunde hängen. Sein Stil ist recht eigenwillig. Melancholisch, schön und ganz individuell. Seine Linienführung ist sorgfältig. Man erkennt an ihr, dass er sehr aufmerksam ist. Man würde das von ihm nicht glauben, weil er häufig mit offenen Augen träumt, Kurse schwänzt und seine Hausaufgaben nicht macht, aber wenn ich seine Zeichnungen sehe, weiß ich, dass es stimmt.

Wenn er mich doch nur so ansehen würde wie das, was er malt. Dann würde er nämlich merken, dass ich noch etwas anderes als nur schüchtern bin, so wie ich erkenne, dass er nicht bloß ein Faulenzer ist.

Meine Wangen glühen wieder – zum Glück kann er meine Gedanken nicht lesen –, doch dann merke ich … er sieht mich tatsächlich aufmerksam an. Sollte ich lieber gehen? Seine Miene wirkt jetzt besorgt und ich mache ein finsteres Gesicht. Josh deutet mit dem Kopf auf den Tisch. Sein Skizzenbuch liegt bereits vor mir.

Ich muss lachen. Er lacht ebenfalls, aber es klingt leicht verwirrt.

Das Buch ist immer noch an der Stelle mit den unfertigen Zeichnungen aufgeschlagen. Ein freudiger Schauer durchrieselt mich. Auf einer Seite starrt Abraham gelangweilt den Rücken des Skizzenbuchs an. Selbst die Ringe in seiner Nase, seinen Augenbrauen und seinen Ohrläppchen sehen lustlos und verstimmt aus. Auf der Seite gegenüber hat Josh perfekt das leichte, konzentrierte Stirnrunzeln des Pärchens in der hinteren Ecke eingefangen.

Ich berühre ganz sanft eine unbemalte Ecke. Um mir selbst zu beweisen, dass dieser Moment auch wirklich passiert. Meine Stimme wird ehrfürchtig. »Die sind toll. Ist das ganze Buch voll mit solchen Porträts?«

Josh klappt das Skizzenbuch zu und zieht es zu sich zurück. Die Seiten sehen abgenutzt aus. Vorne drauf ist ein blauer Aufkleber, der wie Amerika geformt ist. Handschriftlich darüber geschrieben ist ein einzelnes Wort:

WILLKOMMEN

Ich weiß nicht, was das bedeuten soll, aber es gefällt mir.

»Danke.« Er lächelt mich noch mal an. »Eigentlich ist es für alles Mögliche gedacht, aber du hast recht. Es sind hauptsächlich Porträts drin.«

»Und darfst du das?«

Er runzelt die Stirn. »Was denn?«

»Ich meine, musst du die Leute nicht erst fragen?«

»Um sie zu malen?«, fragt er. Ich nicke und er spricht weiter. »Nö. Ich mache ja nichts Besonderes mit den Zeichnungen. Das hier ist nicht mal mein gutes Skizzenbuch. Siehst du? Ich kann die Seiten nicht rausreißen.«

»Machst du das oft? Fremde Leute malen?«

»Klar.« Er greift mit dem Zeigefinger nach seiner Kaffeetasse. In der Nähe des Nagels ist ein schwarzer Tintenklecks. »Um etwas gut zu können, muss man es üben.«

»Möchtest du an mir üben?«, frage ich.

Joshs Wangen färben sich dunkelrot, als Abraham zwei Gerichte auf den Tisch knallt. »Hühnerbrühe und Käsekuchen«, sagt Abraham zu mir. »Mehr war nicht da.«

»Merci«, antworte ich.

»De nada.« Abraham verdreht die Augen und geht wieder.

»Was ist bloß los mit dem Typ?«, frage ich und schaufle mir den Käsekuchen in den Mund. »O Mann, istdaslecker«, murmle ich mit vollem Mund. »MöchtestdueinStück?«

»Äh, nein, danke.« Josh macht einen verwirrten Eindruck. »Du siehst hungrig aus.«

Ich stürze mich gierig auf den Rest.

»Dann wohnst du ganz in der Nähe?«, erkundigt er sich nach einer Weile.

Ich schlucke. »Zwei Minuten von hier.«

»Ich auch. Zehn Minuten.«

Anscheinend mache ich ein überraschtes Gesicht, denn er fährt fort. »Ich weiß. Ist schon komisch, nicht?«

»Cool.« Ich schlürfe meine Brühe. »O Mann. Die schmeckt so was von gut.«

Er sieht mir noch einen Moment lang schweigend zu. »Hast du das eben … ernst gemeint? Du hättest nichts dagegen, wenn ich dich zeichne?«

»Nein, das wäre super.« Duuuuuu bist super. »Was soll ich machen?«

»Gar nichts. Mach einfach weiter mit dem, was du gerade machst.«

»O nein. Dann malst du ein Bild von mir, auf dem ich esse wie ein Pferd. Äh nein, ein Schwein. Ich meinte, wie ein Schwein. Meine ich ein Schwein oder ein Pferd?«

Josh schüttelt amüsiert den Kopf. Er öffnet das Skizzenbuch auf einer neuen Seite und blickt auf. Dann sieht er mich fest an. Ich bin sprachlos.

Haselnussbraun.

Das Wort setzt sich auf meine innere Liste der Fakten über Josh. Manchmal waren mir seine Augen grün vorgekommen, manchmal braun. Jetzt weiß ich, warum.

Haselnussbraun. Joshs Augen sind haselnussbraun.

Ich versinke in grünbraunem Nebel. Das Kratzen seines Stifts vermischt sich mit dem Kratzen eines alten Folksongs, der aus den Lautsprechern kommt. Ihre vereinigte Melodie beinhaltet Sehnsucht und Aufruhr, Qual und Liebe. Draußen brechen Gewitterwolken los. Regen und Wind stimmen mit ein und ich summe dazu. Mein Kopf stößt mit einem dumpfen Geräusch gegen ein Fenster.

Erschrocken setze ich mich auf. Meine Schale und mein Teller sind leer. »Wie lang bin ich schon hier?«

»Eine Weile.« Josh grinst. »Also diese Medikamente, die du da nimmst. Muss ziemlich gutes Zeug sein, was?«

Ich stöhne auf. »Sag mir jetzt bitte, dass mir keine Spucke aus dem Mund gelaufen ist.«

»Nein. Keine Spucke. Du siehst glücklich aus.«

»Ich bin glücklich«, bestätige ich. Denn … das bin ich wirklich. Mein Blick trübt sich.

»Isla?«, flüstert Josh. »Zeit zu gehen.«

Ich nehme den Kopf vom Tisch hoch. Wie ist er da hingekommen?

»Kismet schließt.«

»Was ist Kismet?«

»Schicksal«, antwortet er.

»Was?«

»So heißt das Café.«

»Ach so. Okay.« Ich folge ihm nach draußen in die Nacht. Es regnet noch. Die Tropfen sind dick und warm. Ich bedecke meinen Kopf mit bloßen Händen und Josh steckt sich das Skizzenbuch unter das Shirt. Ich erhasche einen kurzen Blick auf seinen Bauch. »Zum Anbeißen.«

Er zuckt zusammen. »Was?«

»Hmm?«

Ein Lächeln umspielt seine Mundwinkel. Ich möchte sie küssen, einen Kuss auf jede Seite.

»Na schön, Mrs Schmerzmittel.« Er schüttelt den Kopf. »In welche Richtung?«

»In welche Richtung wohin?«

»Zu dir nach Hause.«

»Kommst du mit?« Ich bin entzückt.

»Ich bringe dich nach Hause. Es ist spät. Und es regnet.«

»Oh, das ist aber nett. Du bist nett.«

Die Ampellichter leuchten gelb auf den nassen Asphalt. Ich zeige Josh die Richtung und wir rennen über die Amsterdam Avenue. Es regnet stärker. »Da rüber!«, sage ich, und wir ducken uns unter ein Baugerüst an einem Häuserblock. Schwere Regentropfen prallen gegen das Aluminium und klingen wie ein Flipperautomat.

»Isla, warte!«

Aber es ist zu spät.

Normalerweise sind Baugerüste ein idealer Regenschutz, aber manchmal verlaufen die Stangen schräg und bilden einen Trichter, in dem sich Wasser sammelt, das einen pitschnass machen kann. Ich bin pitschnass. Die Haare kleben mir im Gesicht, das Sommerkleid klebt mir am Körper und Wasser gluckst zwischen meinen Sandalen und meinen Fußsohlen.

»Ha-ha.« Ich bin nicht sicher, ob das ein echtes Lachen ist.

»Alles okay?« Josh bückt sich unter das Gerüst, weicht dem Wasserfall aus und duckt sich neben mich.

Ich lache tatsächlich. Ich halte mir den Bauch. »Lachen … tut … am Mund weh. Am Mund und am Bauch. Und am Mund.«

Er lacht auch, aber es wirkt abgelenkt. Plötzlich blickt er betont zu meinem Gesicht hinauf, und mir wird klar, dass er vorher woanders hingesehen hat. Mein Grinsen wird breiter. Dankeschön, du unanständiger Trichter.

Josh entfernt sich ein Stück und scheint sich in seiner Haut unwohl zu fühlen. »Jetzt sind wir bald da, oder?«

Ich deute auf eine Reihe von Giebelhäusern auf der anderen Straßenseite. »Das zweite. Mit den kupfergrünen Fenstern und dem Ziegeldach.«

»Die habe ich schon mal skizziert.« Er macht große Augen und scheint beeindruckt. »Sie sind toll.«

Die Wohnung meiner Eltern liegt in einer Reihe flämisch aussehender Häuser aus dem späten neunzehnten Jahrhundert. Wir leben in einer der wenigen Gegenden, in denen sich die Anwohner Blumen auf die Veranda stellen können, ohne dass sie von Passanten kaputt gemacht werden.

»Maman gefallen sie auch. Sie mag hübsche Sachen. Sie ist Französin. Deshalb gehe ich auch auf unsere Schule.« Ich verstumme, als mich Josh zum Hauseingang mit den rosa Kletterrosen über der Tür führt. Zu Hause. Er nimmt seine Hand von meinem Kreuz, und ich begreife erst jetzt, dass sie überhaupt da gelegen hat.

»Merci«, sage ich.

»Gern geschehen.«

»Danke«, sage ich.

»De rien.«

Die Luft ist erfüllt vom Duft der regennassen Rosen. Ich taste mich unbeholfen ins Haus und er wartet wie eine Statue auf dem Gehweg. Sein dunkles Haar ist jetzt genauso nass wie meins. Ein Wasserrinnsal läuft an seiner Nase hinunter. Mit einem Arm drückt er sich das Skizzenbuch unter seinem T-Shirt an die Brust.

»Danke«, sage ich noch einmal.

Er spricht lauter, damit ich seine Stimme durch die Glastür hören kann. »Ruh dich aus, Mrs Schmerzmittel. Träum schön.«

»Träum«, wiederhole ich. »Schön.«

Kapitel zwei

AchdumeineGüte was zum Teufel habe ich letzte Nacht gemacht?????????

Kapitel drei

Und ich kann mich an nichts mehr erinnern! Ich habe keinen Schimmer, was ich gesagt habe oder was er gesagt hat, und er muss mich nach Hause gebracht haben, weil er wusste, dass ich so auf Droge war, dass ich sonst von einem Taxi überfahren worden wäre.

Kurt Donald Cobain Bacon blickt weiter stur zur Decke. »Dann hat Josh also dein Essen bezahlt.«

Es dauert einen Moment, bis diese Aussage bei mir angekommen ist. Mein bester Freund und ich liegen nebeneinander auf meinem Bett. Meine Hand greift von selbst nach der Vorderseite seines Shirts und verdreht es zu einem festen Knoten.

»Lass das.« Seine Stimme klingt schroff wie so oft, aber nicht unhöflich.

Ich ziehe die Hand weg und fasse mir direkt ans geschwollene, pochende, sich schlimmer als gestern anfühlende Zahnfleisch. Und gebe ein ziemlich beängstigendes Stöhnen von mir.

»Du hast gesagt, er hat dich geweckt und dann seid ihr gegangen«, fasst Kurt zusammen. »Das bedeutet, er hat die Rechnung bezahlt.«

»Ich weiß. Ich weiß.« Trotzdem klettere ich vom Bett runter. Ich schnappe mir meine Handtasche, drehe sie um und schüttle sie hektisch.

»Du wirst keine finden«, sagt er.

Ein heiß geliebtes Taschenbuch über eine Bergsteigerkatastrophe auf dem Mount Everest fällt mit einem dumpfen Schlag auf meinen Läufer. Stifte, Lippenstifte und kleine Münzen prasseln heraus und kullern davon. Mein Portemonnaie. Eine leere Taschentücherpackung, eine Sonnenbrille, ein zerknitterter Flyer für einen neuen Bagelshop. Nichts. Ich schüttle fester. Immer noch nichts. Ich sehe in meinem Portemonnaie nach, obwohl ich genau weiß, was ich nicht finden werde: eine Quittung aus dem Lokal.

»Sag ich doch«, sagt Kurt.

»Ich muss mich dafür entschuldigen, dass ich so durchgeknallt war. Ich muss ihm das Geld geben.«

»Wem musst du Geld geben?«, will Hattie wissen.

Ich wirble herum und sehe meine kleine Schwester neugierig in der Tür stehen. Sie lehnt mit verschränkten Armen am Türrahmen und sieht trotzdem viel zu groß aus. Und das ist sie auch. Sie hat mich letztes Jahr nicht nur eingeholt, sondern überragt mich inzwischen um ein gutes Stück.

»Ich weiß, was du gestern Abend gemacht hast«, sagt sie. »Ich weiß, dass du dich rausgeschlichen hast.«

»Ich hab mich nicht rausgeschlichen. Ich bin nur ein paar Stunden rausgegangen.«

»Aber Maman und Dad wissen nichts davon.«

Ich gebe keine Antwort und Hattie grinst. Sie wirkt selbstzufrieden wie eine Stubenkatze. Natürlich wird sie nichts verraten. Eine so wertvolle Information wird sie für sich behalten, bis sie sie irgendwann gebrauchen kann. Hattie schnappt sich mein Portemonnaie vom Fußboden – wobei sie mich dabei durch ihren blöden Wachstumsschub überheblich von oben herab ansieht – und lässt es in meine Tasche fallen. Dann ist sie weg.

Ich werfe die Tasche an die Stelle, wo Hattie gestanden hat, und klettere wieder aufs Bett. Dann schlinge ich beide Arme um Kurts Arm. »Du musst mitkommen«, bitte ich ihn. »Zum Kismet. Heute Abend.«

Er zieht die Augenbrauen zum üblichen V zusammen. »Glaubst du, dass er dort Stammgast ist?«

»Vielleicht.« Keine Ahnung, wie ich darauf komme. Eigentlich wünsche ich es mir bloß. »Bitte, ich muss es ihm erklären.«

Ich spüre, wie er mit den Schultern zuckt. »Dann suche ich den ›richtigen Weg‹.«

Kurt ist ein Gewohnheitsmensch und weiß immer gern vorher, wo er hingeht. Er ist besessen davon, die beste Route an einen bestimmten Ort auszuarbeiten, auch wenn es um ein Lokal geht, das nur ein paar Minuten weit weg ist. Diese Routen nennt er »den richtigen Weg«. Der richtige Weg beinhaltet niemals öffentlichen Personennahverkehr, überfüllte Kreuzungen oder Straßen mit Geschäften im Stile von Abercrombie & Fitch, aus denen furchtbare Musik und/oder Parfümgestank strömt.

Die Kartografie fasziniert ihn, seit er sechs Jahre alt war und den Times-Weltatlas entdeckte, mit dem meine ältere Schwester gerade eine ihrer klebrigen Werkarbeiten beschwerte. Von da an ließ ihn das Buch nicht mehr los und er vertiefte sich jahrelang in die Seiten und lernte Namen, Formen und Entfernungen auswendig. Als wir noch klein waren, legten wir uns bei mir auf den Fußboden und malten unsere eigenen Karten. Kurt zeichnete ordentliche, detaillierte, maßstabsgetreue Karten unserer Gegend, während ich England-förmige Inseln mit altenglisch klingenden Namen entwarf. Sie hatten dichte Wälder, krakelige Flüsse und schneebedeckte Gipfel und waren umgeben von dreieckigen Haifischflossen und gebogenen Meerungeheuern. Es brachte Kurt auf die Palme, dass ich nichts Reales malen wollte.

Ich kenne ihn schon ewig. Unsere Mütter sind ebenfalls beste Freundinnen – und sie sind beide Französinnen in New York –, deshalb war er einfach … immer schon da. Wir sind bereits in Manhattan auf dieselben Schulen gegangen und jetzt besuchen wir dieselbe Highschool in Paris. Er ist dreizehn Monate jünger als ich, daher waren wir nur ein Jahr voneinander getrennt – als er in die achte Klasse ging und ich im ersten Jahr der Highschool war. Keiner von uns beiden denkt gern an dieses Jahr zurück.

Ich puste mir eine Strähne seines struppigen blonden Haares aus dem Gesicht. »Könnte es nicht sein …«

»Du musst den Satz schon zu Ende sprechen.«

»Es ist bloß … Josh und ich haben uns unterhalten. Ich erinnere mich, dass ich mich gut gefühlt habe. Könnte es nicht sein, dass das letzte Nacht nicht … irgendein peinliches Missgeschick war, sondern … eine Chance für mich?«

Kurt runzelt wieder die Stirn. »Chance worauf?«

Er ist nicht besonders gut darin, meine Gedanken zu Ende zu denken. Und obwohl er schon seit Langem weiß, was ich für Josh empfinde, zögere ich, es laut auszusprechen. Diese winzige aufflackernde Hoffnung. »Eine Beziehung. Kismet, weißt du?«

»Es gibt kein Schicksal.« Er verzieht abschätzig das Gesicht. »Hake letzte Nacht einfach als weiteres peinliches Missgeschick ab. Du hattest schon lange keins mehr«, fügt er hinzu.

»Fast ein Jahr nicht«, seufze ich. »Kommt ja genau pünktlich.«

Josh und ich hatten bisher jeweils ein bedeutsames Aufeinandertreffen pro Jahr. Bei keinem davon habe ich einen anziehenden Eindruck hinterlassen. Im ersten Jahr auf der Highschool sah Josh mich in der Mensa Joann Sfar lesen. Er freute sich, jemanden gefunden zu haben, der sich auch für europäische Comics interessiert, und bombardierte mich mit einer Reihe von Fragen. Ich war aber viel zu überwältigt, um zu antworten, und glotzte ihn nur stumm an. Woraufhin er verwirrt dreinschaute und ging.

Im zweiten Jahr ließ uns unsere Englischlehrerin zu zweit einen Zeitungsartikel schreiben. Ich war so nervös, dass ich die ganze Zeit mit meinem Stift auf den Tisch klopfte. Bis er mir aus der Hand flog. Und sich in Joshs Stirn bohrte.

Im dritten Jahr erwischte ich ihn und seine Freundin beim Knutschen im Aufzug. Nicht in der Schule, sondern bei BHV, einem riesigen Kaufhaus. Ich stotterte ein unverständliches Hallo, ließ die Türen wieder zugehen und nahm die Treppe.

»Aber«, beharre ich, »jetzt habe ich doch einen Grund, mit ihm zu reden. Meinst du nicht, dass sich daraus vielleicht was ergeben könnte?«

»Seit wann verhalten sich die Menschen logisch?«

»Ach, komm.« Ich sehe Kurt mit unschuldigen Rehaugen an. »Können wir es uns nicht einfach vorstellen? Wenigstens einen Moment lang?«

»Ich wüsste nicht, wozu das gut sein soll.«

»Das war ein Witz«, erkläre ich, weil Kurt manchmal Erklärungen braucht.

Er macht ein finsteres Gesicht. »Notiert.«

»Ach, ich weiß ja auch nicht.« Ich kuschle mich an seine Seite. »Es gibt eigentlich keinen Grund dafür und ich kann es nicht erklären, aber … ich glaube, Josh wird heute Abend da sein. Ich glaube, wir werden ihn sehen.«

»Bevor du fragst« – drei Monate später platzt Kurt in mein neues Wohnheimzimmer in Paris und stößt dabei fast mit einem leeren Koffer zusammen – »nein. Ich hab ihn nicht gesehen.«

»Ich wollte gar nicht fragen.« Doch, wollte ich.

Mein letzter Funken Hoffnung erlischt. Im Laufe des Sommers war er immer kleiner geworden, bis er kaum noch zu sehen war. Nur noch eine Spur von Hoffnung. Denn Kurt hatte recht, Menschen verhalten sich nicht logisch. Oder vorhersehbar. Oder sogar zufriedenstellend. Josh war an jenem Tag danach nicht um Mitternacht da. Auch nicht in der Nacht darauf. Oder am folgenden Tag. Zwei Wochen lang habe ich rund um die Uhr im Kismet nachgesehen, und all meine Erinnerungen an Glück lösten sich in Nichts auf, als ich der Realität ins Auge sehen musste: Ich hörte keine Musik. Ich spürte keinen Regen. Nicht einmal Abraham bekam ich zu Gesicht.

Es war, als hätte es diese eine Nacht nie gegeben.

Ich suchte im Internet nach Josh. Seine E-Mail-Adresse stand im Schulhandbuch aus dem letzten Jahr. Doch als ich versuchte, ihm eine lässig-freundliche Erklärung/Entschuldigung zu schicken – ich brauchte vier Stunden, um diese E-Mail zu schreiben –, informierte mich der Server, dass der Account wegen Nichtbenutzung nicht mehr aktiv sei.

Dann versuchte ich es über die verschiedenen sozialen Netzwerke, kam aber nicht weit. Ich selbst habe nirgendwo einen Account, da mir dieses Social Networking immer wie ein Beliebtheits-Wettbewerb vorkommt. Ein öffentliches Zeugnis meiner eigenen Unzulänglichkeiten. Das Einzige, was ich immer wieder fand, war ein Schwarz-Weiß-Foto von Josh, wie er an der Seine steht und melancholisch auf irgendeinen Punkt in der Ferne starrt. Ich muss zugeben, ich kannte es schon. Dieses Bild steht schon seit Monaten im Internet. Aber ich fand es zu armselig, mich irgendwo anzumelden, nur um sein sogenannter »Freund« zu werden.

Also tat ich das, was ich eigentlich niemals tun wollte: Ich googelte seine Heimatadresse. Die Wogen meiner Scham waren vermutlich bis in andere Staaten zu spüren. Aber dieser letzte Schritt in Richtung Stalking führte mich schließlich zu der Information, die ich die ganze Zeit gesucht hatte. Auf der Website seines Vaters prangte ein Foto der Familie beim Verlassen eines Flughafengebäudes in Washington. Das Bild war zwei Tage nach dem Abend im Kismet aufgenommen worden und darunter stand, dass sie bis zum Herbst in der Hauptstadt bleiben würde. Der Senator sah erhaben und zufrieden aus. Rebecca Wasserstein winkte mit strahlendem Politikergattinnen-Lächeln in die Kamera.

Und das einzige Kind der beiden?

Es trabte mit gesenktem Kopf und seinem Skizzenbuch im Arm hinter ihnen her. Ich klickte auf das Bild, um es zu vergrößern, und mein Blick fiel auf einen blauen Aufkleber, der die Form von Amerika hat.

Ich bin da drin. Ich bin in diesem Skizzenbuch.

Seine Zeichnung habe ich nie zu Gesicht bekommen. Was hätte sie wohl über mich verraten? Über ihn? Ob er sie manchmal ansah? Den ganzen Sommer lang fragte ich mich das.

Kurt rüttelt am Griff meiner neuen Zimmertür und holt mich dadurch unsanft nach Frankreich zurück. »Der klemmt irgendwie. Du musst ihn reparieren lassen.«

»Je mehr sich Dinge verändern, desto mehr bleiben sie gleich«, sage ich.

Er runzelt die Stirn. »Das ergibt doch keinen Sinn. Die Tür, die du letztes Jahr hattest, war völlig in Ordnung.«

»Vergiss es.« Ich seufze. Drei Monate sind eine lange Zeit. Das Selbstbewusstsein, das ich hatte, um mit Josh zu sprechen, ist inzwischen wieder zu Schüchternheit und Angst zusammengeschrumpft. Selbst wenn Kurt ihn im Flur gesehen hätte, hätte ich sicher nicht mein Zimmer verlassen, um mit ihm zu reden.

Kurt drückt sich mit seinem ganzen Gewicht gegen meine Tür, lauscht auf das verräterische Klicken und lässt sich neben mich aufs Bett fallen. »Eigentlich sollen sich die Türen automatisch verriegeln. Ich sollte gar nicht so hereinkommen können.«

»Und trotzdem …«

»… tu ich es die ganze Zeit.« Er grinst.

»Aber schon komisch, oder?« Seit unserer Ankunft vor zwei Tagen schwingt in meiner Stimme eine gewisse Ehrfurcht mit. »Wessen Tür das vorher war?«

»Statistisch gesehen unwahrscheinlich. Aber nicht unmöglich.«

Ich bin schon mein ganzes Leben lang daran gewöhnt, Kurts wahnsinnig aufbauende Kommentare einfach auszublenden, daher stört mich seine Antwort nicht. Vor allem weil ich, Isla Martin, nach einem Sommer der Enttäuschungen und Rückschläge …

… ab sofort in Joshua Wassersteins letztem offiziellen Zuhause residiere.

Das hier waren seine Wände. Das war seine Zimmerdecke. Der dunkle Fettfleck auf der Sockelleiste, genau über der Steckdose? Geht wahrscheinlich auf sein Konto. Für den Rest des Schuljahres werde ich denselben Blick aus demselben Fenster auf dieselbe Straße haben. Ich werde auf seinem Stuhl sitzen, seine Dusche benutzen und in seinem Bett schlafen.

In seinem Bett.

Ich fahre mit dem Finger an den Nähten meiner Steppdecke entlang. Es ist eine gestickte Karte von Manhattan. Wenn ich in Manhattan bin, schlafe ich unter einer gestickten Karte von Paris. Aber unter dieser Decke und unter diesen Laken gibt es einen heiligen Ort, der einmal Josh gehört hat. Er hat hier geträumt. Das muss doch etwas bedeuten. Jedenfalls wünschte ich mir, es wäre so.

Wieder fliegt meine Tür auf.

»Mein Zimmer ist größer als deins«, verkündet Hattie. »Das hier ist ja eine Gefängniszelle.«

O ja. Ich muss unbedingt die Tür reparieren lassen.

»Stimmt«, antwortet Kurt, denn die Zimmer in der Résidence Lambert sind tatsächlich so groß wie begehbare Schränke. »Aber wie viele Zimmergenossinnen hast du bekommen? Zwei oder drei?«

Meine Schwester ist im ersten Jahr an der SOAP, der School of America in Paris. In meinem ersten Jahr hier war unsere ältere Schwester, Gen, schon im Abschlussjahrgang. Jetzt bin ich im Abschlussjahr und Hattie ist neu hier. Sie ist im Wohnheim für die unteren Klassen ein Stück weit die Straße runter untergebracht. Die Schüler im Grivois-Wohnheim sind mit mehreren in einem Zimmer, werden ohne Ende überwacht und haben Ausgangssperren, an die sie sich halten müssen. Hier im Lambert haben wir jeder ein eigenes Zimmer, einen einzigen Wohnheimleiter und weitaus mehr Freiheiten.

Hattie wirft Kurt einen finsteren Blick zu. »Immerhin muss ich mich nicht vor meinen Zimmerkumpanen verstecken.«

Letztes Jahr – als ich schon hier im Lambert wohnte, Kurt aber noch im Grivois – hat er mehr in meinem als in seinem eigenen Bett geschlafen, weil er mit seinen Zimmergenossen nicht auskam. Aber mich störte das nicht. Wir haben schon in einem Bett geschlafen, bevor wir sprechen konnten. Außerdem sind Kurt und ich tatsächlich nur Freunde. Bei uns gibt es keinen Blödsinn nach dem Motto: Er ist mein bester Freund, aber insgeheim lieben wir uns oder so was. Eine Beziehung mit ihm würde mir wie Inzest vorkommen.

Hattie kneift die Augen zusammen. »In der Eingangshalle warten alle aufs Abendessen.« Sie meint sowohl seine als auch unsere Eltern. »Beeilt euch.« Damit knallt sie meine Tür zu. Die Tür fliegt wieder auf, aber Hattie ist schon weg.

Ich stehe schwerfällig auf. »Hätten meine Eltern sie doch nur auf ein Internat in Belgien geschickt. Da wird auch Französisch gesprochen.«

Kurt setzt sich auf. »Das soll ein Witz sein, oder?«

Soll es. Meinen Eltern ist es wichtig, dass meine Schwestern und ich einen Teil unserer Ausbildung in Frankreich erhalten. Wir haben die doppelte Staatsbürgerschaft. Wir alle sind zuerst in den USA zur Schule gegangen und absolvieren hier in Frankreich die Highschool. Wo wir danach hingehen, dürfen wir selbst entscheiden. Gen hat sich das Smith College in Massachusetts ausgesucht. Ich weiß noch nicht genau, wo ich später leben möchte, aber bald werde ich mich sowohl um einen Studienplatz an der Sorbonne hier in Paris als auch um einen an der Columbia in New York bemühen.

Kurt setzt sich die Kapuze seines dunkelgrauen Lieblingssweatshirts auf, obwohl es draußen warm ist. Ich schnappe mir meinen Zimmerschlüssel und wir gehen. Kurt braucht beide Hände, um meine Tür zuzuziehen. »Du musst wirklich mit Nate darüber sprechen.« Er deutet mit dem Kinn in Richtung der Wohnung unseres Wohnheimleiters, nur zwei Türen weiter.

Zugegeben, Joshs früheres Zimmer hat Nachteile. Es liegt außerdem im Erdgeschoss, deshalb ist es immer laut. Sogar superlaut, weil es auch noch direkt neben dem Treppenhaus liegt.

»Da ist er«, sagt Kurt.

Ich gehe davon aus, dass er Nate meint, folge aber seinem Blick und bleibe zögernd stehen.

Er ist es.

Josh wartet in der Eingangshalle auf den Aufzug. In weniger als einer Sekunde löst sich ein ganzer Sommer des Träumens, Planens und Probens mit einem Schlag in Nichts auf. Ich muss die Augen zumachen, um nicht umzukippen. Mir ist schwindelig. Es tut mir faktisch weh, ihn anzusehen. »Ich kann nicht atmen.«

»Natürlich kannst du das«, entgegnet Kurt. »Du atmest doch gerade.«

Josh sieht allein aus.

Ich meine, er ist allein, aber … er sieht allein aus. Er hält einen Stoffbeutel mit Lebensmitteln in der Hand, starrt auf die Aufzugtür und wirkt völlig losgelöst von der Menge hinter ihm. Kurt zieht mich in Richtung Eingangshalle. Der Aufzug macht Bing!, die Tür geht auf und Josh schiebt das altmodische Gitter zur Seite. Hinter ihm drängen sich Schüler und Eltern hinein – viel zu viele Leute für einen so kleinen Raum –, und als wir vorbeigehen, zuckt Josh zusammen, weil er in eine Ecke gezwängt wird. Das Zucken dauert nur einen winzigen Moment, dann zeigt sich auf seinem Gesicht wieder Gleichgültigkeit.

Die Menge rempelt und drückt Knöpfe, und einer der Väter zieht mit Gewalt das Gitter zu, aber da passiert etwas Merkwürdiges. Josh blickt über das Meer aus Fahrgästen durch das Metallgitter hindurch. Und auf einmal sehen seine ausdruckslosen Augen etwas. Mich.

Die Aufzugtür schließt sich.

Kapitel vier

Die Direktorin beendet gerade ihre übliche Rede, die sie immer am ersten Tag nach dem Frühstück hält, um uns alle wieder in der Schule willkommen zu heißen. Kurt und ich stehen ganz hinten im Hof, zurückgezogen zwischen zwei Bäumen, die wie riesige Lutscher geschnitten sind. Ein leichter Eisengeruch liegt in der Luft. Vor uns ragt die Schule auf, ein graues Gemäuer mit Kaskaden von Kletterpflanzen und schweren Türen. Davor stehen unsere Mitschüler.

Es gibt hier fünfundzwanzig Schüler pro Jahrgang – also alles in allem einhundert – und es ist schwierig, angenommen zu werden. Man muss hervorragende Noten, ausgezeichnete Prüfungsergebnisse und mehrere Empfehlungsschreiben haben. Gute Beziehungen sind ebenfalls von Vorteil. Gen hat einen Platz bekommen, weil Maman jemanden in der Verwaltung kannte, ich bekam einen wegen Gen und Hattie bekam einen meinetwegen. So eine Cliquenwirtschaft ist das hier.

Außerdem ist es teuer. Man muss aus einer reichen Familie kommen, um aufgenommen zu werden.

Als mein Vater gerade mal neunzehn Jahre alt war, baute er ein Overdrivepedal für einen Gitarristen namens Cherry Bomb. Es war rot und revolutionär und machte den Sohn eines Farmers aus Nebraska zu einem wohlhabenden Mann. Das Ding gehört zu den meistkopierten Pedalen überhaupt, aber Musiker zahlen immer noch Höchstpreise für das Original. Der Firmenname ist Martintone, und obwohl er noch heute an solchen Pedalen herumbastelt, arbeitet er seither hauptsächlich als Studiotechniker.

»Eine letzte Sache möchte ich noch bekanntgeben.« Die Stimme unserer Schulleiterin ist ebenso fest wie ihr schneeweißer Dutt. Sie ist Amerikanerin, könnte aber locker auch als Französin durchgehen.

Kurt betrachtet eine Karte auf seinem Handy. »Ich habe eine bessere Route zum Baumhaus gefunden.«

»Was? Nach so langer Zeit?« Ich suche den Hof mit den Augen nach Josh ab. Entweder hat er verschlafen oder er schwänzt schon wieder. Ich habe mir genau überlegt, was ich heute anziehe, da ich ihn zum ersten Mal seit Monaten ganz sicher sehen werde. Mein Stil ist eher feminin und heute trage ich ein Kleid mit winzigen Tupfen drauf. Es hat einen tiefen, runden Ausschnitt und einen kurzen Saum. Beides lässt mich größer wirken, aber ich habe zusätzlich ein Paar trendige Pariser High Heels angezogen, damit ich nicht zu unschuldig oder gewöhnlich aussehe. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich Josh in jemand Gewöhnliches verknallen würde.

Nicht dass er sich jemals in mich verknallen würde.

Aber ich will mir meine Chance nicht verderben.

Auch wenn ich keine habe.

Aber für den Fall, dass doch.

Auch wenn es nicht so ist.

»… aber er soll es euch mit seinen eigenen Worten erklären«, beendet die Direktorin einen Satz, dessen Anfang ich nicht mitbekommen habe. Sie rückt zur Seite und ein kleiner Mann mit rasiertem Kopf tritt vor. Es ist Nate, unser Wohnheimleiter. Er ist jetzt im dritten Jahr hier. Nate ist auch Amerikaner, aber er ist jung, macht gerade seinen Doktor und ist dafür bekannt, recht locker mit den Regeln umzugehen, dabei aber streng genug zu sein, um uns im Griff zu haben. Er ist die Art Mensch, die irgendwie jeder mag.

»Hey, Leute.« Nate tritt von einem Fuß auf den anderen, als fühlte er sich in seiner Haut nicht ganz wohl. »Das Kollegium hat davon Kenntnis erlangt …« Er sieht kurz zur Direktorin hinüber und fängt noch mal von vorn an. »Ich habe davon Kenntnis erlangt, dass die Situation im Wohnheim Lambert letztes Jahr ein wenig außer Kontrolle geraten ist. Natürlich rede ich von der Gepflogenheit, dass sich Schüler des jeweils anderen Geschlechts in euren Zimmern aufhalten. Wie ihr wisst, herrscht bei uns die strenge Regel …«

Die Schüler kichern.

»… die strenge Regel, dass sich Männlein und Weiblein nur bei geöffneten Türen gegenseitig besuchen dürfen.«

»Isla.« Kurt wirkt verärgert. »Du guckst ja gar nicht auf mein Handy.«

Ich schüttle den Kopf und stupse ihn an, damit er nach vorn sieht. Das verheißt nichts Gutes.

»Dieses Jahr wird Einiges anders laufen bei den oberen Jahrgängen. Um euch an die Regeln zu erinnern …« Nate streicht sich über den Kopf und wartet, dass das Getuschel aufhört. »Erstens: Wenn sich ein Besucher des anderen Geschlechts in eurem Zimmer aufhält, muss die Tür offen stehen. Zweitens: Besucher des anderen Geschlechts müssen bei Einbruch der Dunkelheit aus euren Zimmern verschwunden sein. Die entsprechenden Zeiten an Werktagen und an Wochenenden stehen in eurem offiziellen Schulhandbuch. Und das bedeutet drittens: Niemand übernachtet bei euch. Haben wir uns verstanden? Das Missachten dieser Regeln hat weitreichende Konsequenzen. Nachsitzen. Vorübergehender Ausschluss. Verweisung von der Schule.«

»Was denn, willst du etwa ohne Ankündigung die Zimmer kontrollieren?«, brüllt ein Junge aus dem Abschlussjahrgang namens Mike.

»Ja«, antwortet Nate.

»Das ist verfassungswidrig!«, brüllt Mikes Kumpel Dave.

»Na, dann ist es ja gut, dass wir in Frankreich sind.« Nate stellt sich wieder in die Reihen des versammelten Kollegiums und steckt sich die Hände in die Taschen. Man sieht ihm an, dass ihn diese neue Unannehmlichkeit in seinem Leben nervt. Die Menge zerstreut sich ebenso plötzlich, wie Nates Ankündigung über sie hereingebrochen ist, und alle machen sich schimpfend auf den Weg zur ersten Unterrichtsstunde.

ENDE DER LESEPROBE