Requiem für einen Toten - Jan Schäfer - E-Book

Requiem für einen Toten E-Book

Jan Schäfer

0,0

Beschreibung

Clemens Brückner wird unvermittelt Opfer eines Mordes. Aber anders als zu erwarten, ist er nicht tot, sondern fortan Teil einer Körperschaft der Knochen. Er ist somit ein lebender Toter, der Quartier auf einem Friedhof bezieht und dass Leben der Menschen, der Lebensmenschen, aus einer ganz anderen Perspektive verfolgt. In dieser, seiner Eigenschaft als Totheit, agiert er als Zuschauer, Beobachter und Zeitzeuge in einem. Natürlich beschäftigt ihn auch die Suche nach seinem Mörder, doch zunächst muss er lernen, sein Schicksal anzunehmen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 284

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Jan Schäfer

REQUIEM FÜR EINEN TOTEN

Erzählung

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2024

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

Copyright (2024) Engelsdorfer Verlag Leipzig Alle Rechte beim Autor

Titelbild © Kal’vān [Adobe Stock]

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Requiem für einen Toten

Ich ging die Straße entlang. Etwas war ganz anders als sonst. Die Passanten nahmen keine Notiz von mir. Ich wusste nicht warum und versuchte, eine Erklärung zu finden. Dann fiel mir ein, dass mir etwas zugestoßen war. Ohne noch zu wissen was, versuchte ich, mich zu erinnern. Doch meine Erinnerung wollte mir nicht gehorchen. Mich quälte die Vorstellung, nicht mehr Herr meiner Sinne zu sein. In meinem Kopf spielten sich schreckliche Szenen ab. Dann wurde mir mit grausamer Gewissheit klar, was geschehen war. Nichts in mir und nichts an mir erinnerte mehr an mich: Ich war tot!

Ich machte einen Schritt nach dem anderen. Sehen zu können, nur um zu erleben, dass man nicht wahrgenommen wird, ist eine Strafe. Sprechen zu können, nur um nicht gehört zu werden, auch. Meine Lage missfiel mir außerordentlich, doch ich konnte nichts dagegen tun. Immer wieder sagte ich meinen Namen und versuchte, den Umstehenden meine Gegenwart zu vermitteln. Doch nichts geschah. Mir, der mein Name Clemens Brückner ist, versagte die Sprache. Der Tod konnte doch unmöglich jetzt schon über mich gekommen sein. Mich packte die Angst vor mir und dem schrecklichen Los, das meiner zuteilwurde. Ich führte eine Schattenexistenz als Toter, der noch am Leben war. Und als wäre das nicht schon schlimm genug, fiel mir auch wieder ein, dass man mich umgebracht hatte. Mein Körper war nicht mehr der von einst. Er gehörte jetzt dem Tod und seiner Körperschaft der Knochen. Und das ich überhaupt noch in der Lage war, zu denken, kam mir wie ein tödlicher Irrtum vor. Mir schauderte bei der Vorstellung, was nun als nächstes kommen würde. Die Angst in mir wuchs. Ich hegte keine Hoffnung mehr. Mit dem Tod im Nacken war eigentlich alles vorbei.

Jemand hatte mir ein Messer in den Rücken gestoßen. Wenige Stunden zuvor. Bis dahin hatte ich gedacht, so etwas geschieht nur im Film. Erst spürte ich nichts. Dann fühlte ich einen Strom warmen Blutes an meinem Körper herunterlaufen. Meine Kleidung färbte sich rot. Eine eigenartige Ruhe ergriff Besitz von mir. Sie lähmte meinen Körper. Dann drehte ich mich um. Ich sah in ein Gesicht, das starr vor Schreck war. Der, der mir das angetan hatte, mochte vielleicht sechzehn oder siebzehn Jahre alt sein. Er ließ von mir ab, rannte davon. Das klaffende Loch in meinem Rücken begann zu brennen. Schon bekam ich keine Luft mehr, fühlte mich immer schwächer und sterbensgleich matt. Langsam sank ich zu Boden. Menschen umstanden meinen leblosen Körper, eine Sirene ertönte, doch mir schwanden die Sinne. Nebel hüllten mich ein und ein strahlendes Licht blendete meine Augen. Danach fühlte ich mich getragen, ohne noch zu wissen, ob ich dabei war, diese Welt zu verlassen. Das war das Letzte, woran ich mich erinnern konnte.

Sie können mir glauben, dass es nicht leicht ist, gerade gestorben zu sein. Als Clemens Brückner hatte ich alles, als Toter gehörte mir nichts. So schien es. Die Zeit meines Lebens hatte zweiundvierzig Jahre gewährt. Und nun war da nichts mehr, das ich mit denen teilen konnte, die überall um mich herum waren. Doch ich konnte nicht nur sie sehen. Ich vermochte auch jene zu sehen, denen es ähnlich ergangen war wie mir. Sie schritten schweigend zwischen den Lebenden einher. Ihre Blicke waren auf den Boden gerichtet. Selten schauten sie auf und wenn doch, sahen sie gleich wieder weg. Wie gespenstisch sich das ausnahm, ist schwer zu beschreiben. Ein Stöhnen entrang sich meinem leblosen Körper. Doch noch ehe es an Tiefe gewinnen konnte, flachte es ab. Clemens Brückner, also ich, hatte keine Kraft mehr, die anzeigen konnte, was soeben geschehen war. Eine todtraurige Tragödie, die mich vollkommen hilflos zurückließ, erfüllte meine Gegenwart. Sie führte mir vor, was es hieß, das Jenseits zu betreten. Der Tod allein wusste, warum.

Im Fieber der Wahrnehmung ließ ich mich auf einer Bank nieder. Da saß schon eine andere Totheit. Viel verstand ich nicht von Anatomie, aber genug um zu erkennen, dass ihr Geschlecht weiblich war. Sie nickte mit dem Schädelkopf und zeigte sich neugierig. Ihre wachsbleiche Knochenhaut verschaffte mir einen ersten Eindruck davon, wie ich selbst aussah. Das ganze getrocknete Blut an meiner Körperschaft schreckte sie nicht ab. Ich war es, der mit einer Handbewegung auf die anderen Totheiten deutete. Seit jeher mochte ich es, mit Gesten das Schweigen zu brechen und sodann zeigte meine Hand in Richtung der Straße, wo es geschehen war. Die tote Frau schenkte mir einen Blick des Bedauerns. Wie sehr es ihr nach Sprechen verlangte, zeigten ihre Bemühungen an. Doch mehr als ein Ansatz mochte ihr nicht gelingen. Einzig das Gurren der Tauben, die gierig das Brot vom Pflaster pickten, belebte die Szene. Da endlich fiel mir wieder ein, wie die Verwendung von Worten erfolgt. Wenn schon nicht mutig, so doch zuversichtlich, richtete ich mich auf. Für eine Sekunde stockte mir der Atem, doch dann schaffte ich es frei heraus, mich auszudrücken. Ich hatte die Sprache nicht verloren, sondern nur ihren Gebrauch verlernt. Nie wieder sollte mir das passieren.

Manch ein Lebender hatte schon Tote reden gehört und manch ein Toter Lebende. Auch auf mich, Clemens Brückner, dem ein Gewissenloser das Leben genommen hatte, traf das zu. Mein Schmerz über den Hergang der Ereignisse lähmte mich totengleich noch immer. Doch ich verstand jetzt wieder, was Worte besagten, wenn man des Sprechens mächtig war. Ein Sprechender im Reich der Toten war eine Rarität. Damit hatte er seinen Mittoten etwas voraus. Die Frau Totheit neben mir machte keine Anstalten, als ich Vorübergehende ansprach, ohne gehört zu werden. Aber sie sah mir aufmerksam zu, wenn mein Mund Worte formte, bevor ich sie aussprach. Ich, ehemals Clemens Brückner, jetzt eine Knochenkörperschaft, kam mir dabei reichlich merkwürdig vor. Sie haben keine Ahnung, wie es ist, sich wie ein verdammter Narr vorzukommen, weil man kein Gehör findet. Der Fehler in der Kommunikation zwischen den Lebenden und den Toten beruhte auf der Unfähigkeit, sein Gegenüber wirklich zu erreichen. Und unter Totheiten verhielt es sich häufig nicht anders. Es war unmöglich, ein Gespräch zu beginnen.

Unter diesen Umständen kehrte ich in meine Wohnung zurück. Anders als früher trat ich ein. Der gewohnte Schritt über die Schwelle erfolgte mit einer Fremdheit, die mich traurig machte. Im Spiegel in der Diele vermisste ich mein Spiegelbild. Mein Nichts, meine neue Identität als Toter, hinterließ kein Bild im Spiegel mehr. Mir war bekannt, dass das so ist. Obwohl ich noch fühlte und dachte wie ein Lebender, hatte mich der Tod meiner Seele beraubt. Doch auch das war falsch. Ich spürte meine Seele in mir und wusste, sie nicht verloren zu haben. Von diesem an ein einziges Durcheinander erinnernden Zustand erfüllt, schaute ich mich um. Meine vertraute Lebenswelt war unverändert. Alles noch da, exakt so, wie ich die Wohnung verlassen hatte. Clemens Brückner auf Urlaubsfotos an der Wand, die Garderobe daneben schön aufgeräumt und die Küchentür wie immer offen. Diese fremde, bekannte Welt offenbarte den Mittelpunkt eines Lebens, das plötzlich endete. Ich musste mir das immer wieder klarmachen. Jetzt aber rührte mich der Tod jede Sekunde in der Gewissheit, ein Toter zu sein. Trotzdem ließ ich mich auf die Bequemlichkeit meiner Bettstatt ein, so als wäre ich auf diesen Luxus noch angewiesen. Doch Schlaf brauchte ich keinen mehr. Ich wachte immerzu und überall. Mir schauderte bei dem Gedanken, dass es ewig so weitergehen würde, ganz gehörig.

Die folgende Nacht verbrachte ich auf dem Friedhof. Der Friedhof war groß, etliche Hektar insgesamt, die in mehrere Sektionen unterteilt waren. Als Neuling unter den Untoten kam ich mir fremd vor. Aber weil das jetzt meine neue Wohnung war, musste ich irgendwie heimisch werden. Für Clemens undenkbar. Der, also ich, hatte den Tod stets gefürchtet. Friedhöfe waren in seiner, meiner ersten Welt, Orte zweiter Wahl, die er nie freiwillig besucht hatte. Jetzt war ich hier und fühlte nichts Befremdliches dabei. Über die anderen Toten wusste ich nichts. Die Frauentotheit, die ich in der Stadt an meiner Seite hatte, befand sich nicht unter ihnen. Vielleicht kam sie später dazu. Ich wusste nur, dass ich nichts wusste und von einer Anspannung gefangen war, die mir Angst machte. Inmitten der vielen Gräber aber fühlte ich mich frei. Der Nachthimmel über mir spielte mit den Schatten und die Sterne durchkreuzten den Orbit in endloser Zahl. Solche Bilder sah ich, während ich auf der Oberseite einer Steinplatte saß, die eine Gruft bedeckte. Der Herr Brückner in mir erwiderte auf all das nichts. Und ich hatte Verständnis dafür. Die schöne Wohnung gezwungen zu verlassen, das gewohnte Leben auch. Schuld daran war ein Mörder, den ich irgendwann heimsuchen würde. Die Toten im Umkreis schwiegen mich an. Ich aber erhob das Wort und versuchte, ihnen meine Situation zu erklären.

Sie hatten sich im Halbkreis vor mir aufgestellt. Als ausgewiesene Tote ebenso aschfahl wie blassbleich, war uns allen etwas gemein. Ein Todesengel in Form einer Grabplastik stand zwischen uns. Inmitten der Bäume im Hintergrund stieg das Licht der Grablaternen empor. Lauter ausdruckslose, erstarrte Augenhöhlen-Paare waren auf mich gerichtet. In einigen von ihnen aber waren noch Spuren von Leben sichtbar. Leben, wie auch ich es kannte, bis es mir genommen wurde. Ich mühte mich, einen passenden Einstieg zu finden. Die Blutspur, die mich von oben bis unten bedeckte, musste ich nicht verstecken. Viele von denen, die vor mir standen, waren ganz ähnlich gezeichnet. Sie müssen verstehen, wie besonders das ist, wenn man tags zuvor noch ein Teil der Lebenswelt war. Das verlieh der Situation etwas Befremdliches, war jedoch keineswegs peinlich. So stockte ich zunächst, innehaltend, doch sehr darauf bedacht, die passenden Worte zu finden. Mein Mund stand offen, aber ich brachte keinen Ton heraus. Dann beschrieb ich mit meiner Knochenhand einen Kreis in der Luft. Nur um von mir abzulenken und meinen Auftritt besser vorzubereiten. Schon rückten die Toten noch näher an mich heran. Das war schließlich ihr Friedhof und ich war ihnen noch eine Vorstellung schuldig. Schnell tat ich einen Blick zum Mond. Sein fahler Schein hob sich vom Dunkel des Nachthimmels ab. Jetzt war es an mir, zu beweisen, dass ich etwas zu sagen hatte.

Ich holte noch einmal Luft. Das stünde einem Lebenden eher an, doch auch ich trug noch den Lebenshauch der Lungen in mir. Meine Begrüßung fiel kurz aus. Dazu hatte ich mich auf eine Treppe gestellt, die oberhalb eines Grabmales lag. Von dort blickte ich auf den Todesengel herab. Nun sprach ich und begann mich vorzustellen. Ich verriet, dass mein bürgerlicher Name Clemens Brückner war. Das interessierte offensichtlich keinen der Anwesenden. In der Welt der Toten waren Namen bedeutungslos. Ich merkte schnell, was zu tun war, damit ich einer von ihnen wurde. Das hieß, den Hergang meiner Ermordung schildern, die so plötzlich geschehen war, dass noch nicht einmal ich viel darüber wusste. Dazu verwies ich auf das Loch in meinem Rücken und deutete auf die Spuren des Blutes an meinem Totenkörper. Die Toten rückten noch ein wenig näher an mich heran. Eine dürre Knochenhand befühlte die Stichwunde, durch die das Mördermesser eingedrungen war. Nun merkte ich auch, wie sie mich studierten. Es war, als wäre das Leben in sie zurückgekehrt, so sie doch die meiste Zeit nur herumschlichen und mit sich nichts anzufangen wussten. Das Reden, mein Sprechen, mochte sie vielleicht dazu bringen. Es war tröstlich zu wissen, dass uns der Friedhofswächter nicht sehen konnte. Ich begann die Gaben, die mir der Tod verlieh, zu schätzen. Allmählich endete ich mit meiner Vorstellung und mit all dem, was ich noch gesagt hatte, stand ich nicht mehr allein. Meine Mittoten ließen es auf sich bewenden. Sie wussten nun über den Neuling Bescheid. Ich stieg zu ihnen herab, mischte mich unter sie und wurde vollends einer von ihnen. Ihre leblosen Augenhöhlen versprühten plötzlich wieder Leben. Das war so, als hätten sie ihre Seele zurückgewonnen. Nicht ohne Staunen sah ich das. Der Friedhof hatte mich aufgenommen.

Meine leibliche Hülle war von mir abgefallen. Meinen Leichnam hatte man zur Aufbewahrung in die Kältekammer des Krematoriums gebracht. Ich sah mich dort und musste innehalten. Der Tote da, das war ich. Seiner selbst im Tode ansichtig zu werden, ist nicht schön. Dafür war der Leichnam von Blut befreit. Er wies auch sonst keine Spuren auf, die verstörend wirkten. Weil ich dabei war, als Mitglieder meiner Familie den Toten, also mich, identifizierten, wuchs der Schmerz in mir. Ich hatte keine Frau und keine Kinder, aber wie meine Mutter und meine Schwester sich von mir verabschiedeten, berührte mich zutiefst. Ergriffen vom Schmerz beugten sie sich zu mir herab, streichelten meinen reglosen Körper und beweinten mich. Nun war ich, Clemens Brückner, bekannt dafür, weder besonders mitfühlend noch sentimental zu sein. Doch das nahm mich mit. Ich hätte auch Tränen vergossen, aber als Toter konnte ich das nicht. So trocknete ich mir die Tränen nur zum Schein, während alle anderen sich gegenseitig Trost spendeten. Mein schreckliches Ende war allgegenwärtig. Ich hörte mir das flehentliche Barmen an, das meine Mutter immer wieder von sich gab. Schon nahm ich sie in den Arm, ohne dass sie etwas davon bemerkte. Es war auch für mich nicht leicht, wenn man bedenkt, welches starke Band uns miteinander verband. Mein Privileg aber war, dass ich ihr und den anderen überall hin folgen konnte, wann immer es mir gefiel. Für sie dagegen war ich tot. Gefangen in einer Welt, die keiner von ihnen erreichen konnte, ohne sein irdisches Leben aufzugeben. Sie leiden zu sehen, war wie Ballast für meine untote Seele. Wie gesagt, ich konnte nicht weinen wie sie, doch ich fühlte mich nicht minder betroffen. Der Moment, der sie im Schmerz vereinte, zermarterte mich. Wehe dem Mörder, der mich auf dem Gewissen hatte. Ich würde ihn finden.

Nunmehr oblag es auch nicht mehr mir, über die Art meiner Beisetzung zu entscheiden. Ich favorisierte die Erdbestattung, das klassische Begräbnis. Eine Feuerbestattung mit anschließender Urnenbeisetzung zu erhalten, war nicht so sehr in meinem Sinne. Für einen Moment fand ich das schrecklich schade, denn wie gern hätte ich als Untoter meinen Leichnam in einem Sarg tief unter der Erde gewusst. Dann aber hegte ich Verständnis für die Entscheidung meiner Hinterbliebenen. Mir blieb die Grabstelle, um mich selbst zu betrauern oder davor hinzutreten um anzuzeigen, dass es mich noch gab. Bei meinen lieben Mittoten fand diese Form der Trauerbewältigung vollstes Verständnis. Sie teilten mein Verhalten auch, weil sie es genauso hielten. Ohnehin würde ich am Tag der Beisetzung mit von der Partie sein. Der Platz zur letzten Ruhestätte, also meiner, lag schattig verborgen im Schutz zweier alter Rotbuchen. Sie können sich vielleicht vorstellen, wie dankbar ich war, zwei mächtige, schutzspendende Bäume über mir zu wissen. Am Tage und auch des nachts war ich schon um sie herumgestrichen. Ihre alte, hochbetagte Rindenhaut nahm sich hartgebuckelt aus. Meine dürren Finger erfühlten das ohne Mühe. Ich konnte jedoch auch unschwer erkennen, dass das wirklich eine sehr gute Stelle war. Als einst glücklicher Lebensmensch, der dem Tod keine Aufmerksamkeit beimaß, überraschte ich mich selbst mit meiner Zufriedenheit. Meine Angehörigen hatten diesen Platz ganz bewusst gewählt. Hier konnten noch weitere Urnen eingebracht werden. Wenn die Zeit reif war, kämen die anderen dazu. Ich fühlte weder Tag noch Stunde, doch eines Tages würde es soweit sein.

Im Leben wie im Tod gibt es Dinge, die Lebenden wie Toten zu eigen sind. Wenn ein Name etwas besagt, dann ist ein Lebender gemeint. Da, wie ich schon erwähnte, Namen im Reich der Toten nicht von Bedeutung sind, verbleiben sie als Erinnerung auf dem Grabstein. Der Name Clemens Brückner, also meiner, stand noch an meinem Briefkasten und dem Klingelschild. In dieser Hinsicht war ich noch existent. Aber das bedeutete gar nichts. Namen sind Schall und Rauch, wusste ich mich zu erinnern. Nur der Tod ist ewig, währt ewig und hatte mir das ewige Leben geschenkt. Ich war nun oft damit befasst, selbst zu erleben, wie ein Toter auf den Spuren des irdischen Lebens wandelt. Die Lebensmenschen studierte ich mit einer Inbrunst, die manchmal an Besessenheit erinnerte. Die anderen Toten um mich herum mochten nicht wahrhaben, warum. Ich eigentlich auch nicht. In meiner Wohnung, da wo mein Erdenleben stattgefunden hatte, fand sich alles, was von meinem Leben geblieben war. Doch nun besaß es für mich keine Bedeutung mehr. Es war so unbedeutend, dass mir der Glaube an das Leben schwand. Als Toter fühlte ich mich inzwischen gar nicht so schlecht, befreit von all dem Ballast, den das Leben so mit sich brachte. Trotzdem hielt ich mich ganz gern in meiner ehemaligen Wohnung auf. Mich konnte kein polizeiliches Siegel daran hindern, in sie hinein zu gelangen. Ich kam überall hinein und auch überall wieder hinaus. Als Wanderer zwischen den Welten waren mir keine Grenzen gesetzt. Auf dem Friedhof fehlte es mir an nichts. Ich hatte mich sehr gut eingelebt, wenn man das so sagen kann und stand im Begriff, meinem Leichnam Lebewohl zu sagen. Der fröstelte in der Kühlkammer vor sich hin. Ich konnte keinerlei Ähnlichkeit mit mir mehr feststellen. Das war ein wenig frustrierend.

Wieder war es Nacht geworden. Auf die Tote, mit der ich die erste Zeit nach meinem Tod auf einer Bank verbracht hatte, traf ich erneut. Wieder in der Stadt, diesmal da, wo es geschehen war. Die Tatortreiniger hatten mein Blut durch den Rinnstein gespült. Nur ein kleiner Fleck war noch zu sehen. Nicht mehr und nicht weniger als das, es sei denn, man zählte die Blumen dazu. Das waren nicht wenige, die zu meinem Gedenken dort lagen. Kollegengrüße darunter und solche von Fremden, die nach Medienberichten zum Tatort kamen, um ihre Anteilnahme zum Ausdruck zu bringen. Das Loch in meinem Rücken zeugte vom Geschehen. Meine tote Begleiterin ermunterte mich zu einem Spaziergang. Sie wollte wohl nicht, dass wir länger herumstanden. Ich sah sie an, so wie ich es jüngst schon getan hatte und erkannte erneut eine rätselhafte Schönheit in ihr. Wie erfreut ich erst war, als sie zu sprechen begann, vermag ich nicht zu beschreiben. Für das, was wir darstellten, gab es genau genommen keine Beschreibung. Da wir vor dem Tod kein Paar waren, kostete es mich mein ganzes Geschick, sie ein bisschen für mich einzunehmen. Vielleicht hegte sie ja so eine Art Zuneigung für meine Knochenkörperschaft. Weil ich nicht wusste, was sie für mich empfand, machte ich mir zur Aufgabe, es herauszufinden. Immerhin war es ihr Verdienst, mir über den Verlust des Lebens hinweg geholfen zu haben. Dafür würde ich ihr ewig dankbar sein. Dass wir jetzt miteinander reden, dass wir uns nun tatsächlich unterhalten konnten, grenzte an ein Wunder. In Anbetracht dessen kam dem Tod die Aufgabe zu, uns besser miteinander bekannt zu machen.

Dann kam der Tag meiner Beisetzung. Die Urne mit meiner Asche war schlicht gehalten. Das Grab oder besser das Erdloch, in dem sie versenkt werden würde, war vorbereit. Meine Angehörigen hatten sich versammelt, dazu ein paar Freunde, die alle trauerschwarz gekleidet waren. Ich war auch anwesend. Natürlich wusste keiner von ihnen, dass ich da war. Wenn man schon die Gelegenheit hatte, seiner eigenen Beisetzung beizuwohnen, sollte man es auch tun. Gar nicht weit weg von den anderen, hatte ich mich eingefunden und verfolgte wachen Totenblickes, was geschah. Während der Grabrede, die ein Fremder hielt, grämte ich mich, dass keiner von den Meinen den Mut dazu fand. Doch der Trauerredner machte seine Sache gut. Wenn man einmal davon absah, mit welch einer passionsgeschuldeten Professionalität er auftrat, gelang es ihm aufzuzeigen, wer ich war. Das Werk der Erinnerung brachte schließlich zurück, was für ein Mensch sich mit mir verabschiedet hatte und ließ meine Person ein letztes Mal aufleben. Ein alter Schulfreund, der seine Tränen nicht zurückhalten konnte, schluchzte hörbar an der Stelle, wo der Redner darauf einging, was für ein friedfertiger Zeitgenosse ich war. Meine Mutter hielt sich mit Mühe gestützt auf ihrem Gehstock in der rechten Hand. In der linken Hand trug sie einen Strauß weißer Rosen. Ich sah nun schon, wie sie kämpfte und wie sie zu leiden hatte. Ihre niedergebeugte Haltung verriet den Schmerz, markierte die Ohnmacht eines Herzens, das sich der Trauer nicht erwehren konnte. Meine Schwester trug eine schwarze Sonnenbrille, die sie von Zeit zu Zeit anhob, um die Tränen zu trocknen. Sie hielt meiner Mutter Arm gefasst und gab ihr den Halt, der sie vor dem Zusammenbruch bewahrte. Das zu sehen, bereitete mir alles andere als Vergnügen. Als der Bestatter zur Tat schritt, um die Urne mit meiner Asche niederzulassen, hätte ich am liebsten: „Stopp, hier bin ich doch…!“ ausgerufen. Ich glaube, das habe ich sogar gemacht, aber niemand hat es gehört. Dann schickte mir jeder einen stillen Gruß hinterher. Rosenblüten regneten auf mich nieder und die Glocken begannen zu läuten. Einzig die beiden alten Buchen zeigten sich unbeeindruckt. Sie standen da, während der Wind durch ihre Blätter wehte um anzuzeigen, dass ein Baum darüber bestenfalls ein Blatt verliert. Wie ein Blatt im Wind eben, war so eine Menschenseele.

Da war ich also noch, obwohl auf meinem Grabstein Clemens Brückner stand. Mit dem Ende meiner irdischen Anwesenheit, folgte mein zweites Leben als untote Körperschaft der Knochen. Und da war ich schon mittendrin. Was ich in kurzer Zeit alles erlebt hatte, vermochte kein Menschenleben zu bieten. Man musste erst einmal tot sein und in den Genuss der Unsterblichkeit gelangen, um so wie ich zu werden. Mein Mörder hatte sein Todesurteil schon unterschrieben, ohne es zu wissen. Trotzdem drängte mich keine Macht der Welt zur Eile. Der Tag, an dem ich ihn heimsuchen und er für seine Tat büßen würde, käme ganz bestimmt. Wer, wenn nicht er, lebte gefährlicher mit dem Fluch, bald schon selbst ein Messer im Rücken zu spüren? Wir waren viele, er war allein. Doch ich musste zunächst einmal mit meiner Beisetzung fertig werden, ehe mir der Sinn nach Rache stand. Am besten konnte ich das des Nachts, wenn die Lebenden schlafen gingen und die Toten zum Leben erwachten. Auf dem Friedhof und inmitten des Totenackers hatte ich mein Auskommen gefunden. An den Gräbern von Berühmtheiten, die einst über die Grenzen der Stadt hinaus bekannt waren, ließ es sich gut aushalten. Mit ihnen in Kontakt treten, war noch viel besser. Ich machte, was mir als Lebender nie gelang, weil es unmöglich war. Sie zeigen sich verständlicherweise verwundert über so viel Kontaktfreudigkeit unter Toten. Aber weil ich weiß, wie gut das ebenso ihnen gelingen könnte, sollten sie mit ihrem Urteil nicht so voreilig sein. Ist man erst einmal gestorben, eröffnen sich Möglichkeiten, von denen ein Lebensmensch keine Ahnung hat.

Meine Welt war meine Wirklichkeit. Der Tod, der mich unversehens eingeholt hatte, schenkte mir ein Leben danach. Ich möchte nicht behaupten, damit glücklich zu sein, aber ich fühlte mich in meiner Totenwelt ganz gut. Auch auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen, sage ich es hier noch einmal. Befremdlich möchte man meinen und ja, – das kann ich verstehen. Als Clemens Brückner führte ich ein anderes Leben. In meinem Amt als Angestellter auf Leitungsebene verdiente ich gutes Geld. Monatlich mehr, als ich ausgeben konnte. Die schönen Seiten des Lebens waren mir bestens vertraut. So gut wie nie war es mir in den Sinn gekommen, meine Position anzuzweifeln oder mich selbst dafür mit einem schlechten Gewissen zu belasten. Nein, auch ich war einer von denen, für die Bequemlichkeit an erster Stelle stand und das bereute ich jetzt. Der Luxus, den mein irdisches Dasein mit sich brachte, trieb mich um, ein wenig abgehoben zu sein. Ich hatte keine goldenen Wasserhähne und keinen Ferrari geschweige denn Personal, aber den Tick, mein Frühstücksei aus einem silbernen Eierbecher zu löffeln. Für jeden normalen Menschen eine Verrücktheit vor dem Herrn. Um alles auf mich einwirken zu lassen und um herauszufinden, warum, verbrachte ich viel Zeit in meiner ehemaligen Wohnung. Ich wusste, dass die Beräumung kurz bevorstand. Doch noch befand sich alles an Ort und Stelle. Meine Leute hatten ein wenig Unordnung gemacht. Auf meinem Schreibtisch fanden sich Unterlagen sowie der Mietvertrag, wie ich ihn acht Jahre zuvor unterschrieben hatte. Bei der Gelegenheit kam es mir von selbst in den Sinn, meine ganze ehemalige Existenz anzuzweifeln. Die begann aber nicht mit der Anmietung der Wohnung. Vielmehr störte ich mich an meiner Selbstzufriedenheit und daran, vielfach überheblich gewesen zu sein. Der Spiegel, in dem ich mich einst sehen konnte, blieb leer. Der Tag und die Stunde nahmen sich dabei nicht wichtig aus. Es war eben so, dass ich als Toter kein Spiegelbild hatte, vor das ich mich hinstellen und Kritik üben konnte. Meine Seele scheute sich, einen Vergleich zwischen damals und heute zu wagen. In meinem Bewusstsein nahm sich das wie eine Leere ohne Begründung aus. Diesen Eindruck verband ich mit der Erkenntnis, aus Asche und Staub zu sein. Als Toter hatte ich viele Möglichkeiten, aber keine Wahl.

Eine neue Nacht brach an. Noch war es vergleichsweise warm, obwohl das einen Toten nicht sonderlich kümmert. Wenn ich es richtig behalten hatte, befanden wir uns im Monat September. Auch Zeit ist etwas, das im Leben eines Toten keine Rolle spielt. Es war wieder so eine Nacht, in der ich keine Ruhe fand. Tote sind umtriebiger, als sie ahnen. Sie haben keine Langeweile-Hausfrauenmentalität auf der Suche nach dem ultimativen Kick, auch keinen Autotick wie manch anderer. Tote sind bescheidener, was ihre Aktivitäten anbelangt. Sie haben Sehnsucht nach Särgen oder eine Schwäche für Grabschmuck. Und sie lieben frische Friedhofserde. Tot zu sein bedeutet, sich wie ich zu fügen in eine Welt aus Licht und Schatten. Wenn ich auf dem Friedhof war, gelangte das voll zur Geltung. Befand ich mich aber in der Stadt, erwachte in mir die Sehnsucht nach Leben. Ganz geheuer war mir das auch nicht immer. Doch solche Wechselfälle stifteten nicht etwa Verwirrung, eher kamen sie einer Bereicherung gleich. Als Mann der Mitte hatte ich immer Wert auf maßvolle Aktivität gelegt. Mit der Erinnerung, das war das, was im Menschenleben die Summe der gesammelten Eindrücke ausmacht, hatte ich mich festgelegt, das Erbe meiner Vergangenheit zu pflegen. Meine jetzige und zukünftige Bestimmung aber war die Friedhofswelt. Wie gut, die Nachtluft zwischen den knochenschütteren Rippen zu fühlen, wenn das Menschliche im Begriff stand, die Oberhand zu gewinnen. Dieser Punkt lehrte mich Todesmut. Für einen Toten wie mich eine Vorstellung mit klarer Botschaft. Das war ein Erleben, dem ich mich nicht entziehen konnte. Meine Knochenkörperschaft stand im Begriff, den Tod anzuerkennen. Genau genommen hatte sie es schon getan.

Meine verehrte Favoritin unter den Totheiten war wieder an meiner Seite. Sie sah glücklich aus, wenn man das so sagen kann. Es ist so, dass Tote lächeln können. Viel schöner war natürlich, dass sie die Sprache wiedergefunden hatte. Das versetzte uns in die Lage, miteinander zu reden. Als Lebensmensch war ihr der Name Simone zu eigen. Ihr Nachname lautete Brolenz. Doch das tut nichts zur Sache. So süß wie ihr Lächeln war auch ihre Stimme. Bei unserer ersten Begegnung, kurz nach meinem Tod, war mir das nicht aufgefallen. Konnte ja auch nicht… Jetzt umso mehr. Wenn die anderen Totheiten um uns herum waren, erkannten sie in uns ein Paar. Das kam im Reich der Toten nicht oft vor. Es gab keine Regel, die besagte, dass Tote allein bleiben müssen. Doch die meisten blieben es. In dieser Hinsicht bildeten wir eine Ausnahme. Noch kannte ich sie nicht so gut, um sagen zu können, sie ist mir ans (Toten)Herz gewachsen. Ja, Herzensangelegenheiten gab es durchaus noch, aber eben selten. In meinem Menschenleben als Clemens Brückner hatte ich nie so eine tiefe Verbundenheit zu einer Frau gespürt. Die Frauen, denen ich begegnet war, waren bald wieder weg. Unter ihnen gab es auch keine wie Simone. Das war wohl Schicksal. Für mich kam mit dem Verweis auf das Schicksal eine höhere Macht ins Spiel. Eine, welche die Menschen ständig bemühten, wenn sie keine bessere Erklärung wussten, um dem Geschehen Ausdruck zu verleihen. Dann hieß es immer, das sei Schicksal. Wenn Simone mein Schicksal war, dann muss ich mich ausdrücklich dafür bedanken. Der Paarbetrieb, den wir begonnen hatten, beruhte aber immer noch auf Freundschaft. Das hatte das Schicksal vielleicht übersehen, als es entschied, uns näher miteinander bekannt zu machen. So hatte ich wenigstens etwas davon, wenn ich schon sterben musste. Wir waren begierig darauf, mehr übereinander zu erfahren. Simone wurde in Magdeburg beerdigt. Von dort stammte sie auch. Und sie hatte eine Erdbestattung erhalten, weil ihre Familie katholisch war. Das Ewige Leben, wie es ihrem Glauben nach existierte, hatte sie gefunden. Ich fühlte mich gut mit ihr. Sie sagte mir auch, bereits seit fünf Jahren tot zu sein. Von Magdeburg nach Leipzig kam sie, weil sie als blinde Passagierin in einem Auto mitgereist war. Auf der Rückbank hatte sie gesessen, nicht im Kofferraum, wie manche jetzt vermuten würden. Niemand hatte etwas von ihr bemerkt. Wie auch?

Ich hatte mich der Länge nach hingelegt. Die sattschwarze Erde unterhalb eines Grabhügels bot sich an. Sie war wunderbar weich und sehr bequem. Einen derartigen Luxus wusste ich zu schätzen. Das erinnerte mich an mein Bett mit all seiner Bequemlichkeit. Ich streckte mich, dass alle Knochen knackten und dachte mir nichts dabei. Der Schatten meiner Existenz sicherte mir eine gewisse Autonomie zu. Trotzdem erschraken sich zwei andere Tote über das Geräusch. Ich entschuldigte mich bei ihnen. Meine Ungezwungenheit war der Ursache geschuldet, dass ich mich in meiner Totenhaut wohlfühlte. Na ja – Knochenkörperschaft war sicher die bessere Beschreibung für meine Befindlichkeit. Ich meine nur, dass das, was meine Knochen bedeckte, so etwas wie Haut war. Ganz sicher war es so eine Art friedhofstauglicher Ersatz dafür. Es war Pergament nicht ganz unähnlich… Jedenfalls lag ich lange so da, sehr entspannt, bisweilen sogar verträumt, ja selbstvergessen. Der Tod war weit weg und das ich tot war, merkte ich erst, wenn es mir wieder einfiel. Man konnte sich glatt in Träumen verlieren, während man so dalag und alles weit weg war. Ich wusste nichts mit mir anzufangen, außer herumliegen. Simone war am anderen Ende der Stadt zu Besuch bei einem Verwandten. Sie hatte mir nur gesagt, dass der schon über einhundert Jahre ein Totenleben führt. Ich versuchte mir vorzustellen, wie das ist, wenn man schon vor so langer Zeit offiziell für tot erklärt wurde. Es heißt ja immer, Totgesagte leben länger. Wie es ist, von jetzt auf nachher zu Tode zu kommen, wusste ich selbst sehr genau. Wahrlich keine schöne Angelegenheit. In meinem mörderischen Fall das Werk eines Unholdes, der mir ein Messer in den Rücken stieß. Auf sein Totenteil von der Unsterblichkeit in die Ewigkeit einzugehen, durfte dann schon als besonders angesehen werden. Simones Verwandter hatte es geschafft. Wer wie er über den Tod hinaus mit der Zeit kokettierte, hatte sie besiegt. Was geschieht, wenn sie abgelaufen ist, konnte ich jetzt jedenfalls ähnlich gut nachvollziehen. Hier auf dem Friedhof erinnerte alles an die Endlichkeit des Lebens. Nun hatte auch ich in meiner Totheit keine Lebenskonzepte mehr, dafür sehr viel Freude an Friedhofserde. In dieser Hinsicht konnte ich mich glücklich schätzen, ein Toter zu sein. In manch anderer bot mir der Grabhügel Gelegenheit, nachzudenken.

Es war Sonntag. Nach Sonnenaufgang kam ein frischer Wind auf. Clemens Brückner, also mir, war es eingefallen, im Stadtpark einen Morgenspaziergang zu machen. Kaum dass ich dort war, ging ich runter zum Fluss. Ich lief ein wenig die seichte Uferböschung entlang. Hier und da machte ich mir meine Knochenfüße nass, doch das störte mich wenig. Außer mir waren nur ein paar Jogger unterwegs. Mir fiel wieder ein, wie das war, wenn ich mich frühmorgens aus dem Haus gequält hatte, um den Tag sportlich zu beginnen. So wie die Lebensmenschen sich mühten, hatte ich mich auch abgemüht. In der Regel begann ich mit Lockerungsübungen, dehnte mich dann und machte Kniebeugen. Manchmal ließ ich noch Liegestütze folgen oder absolvierte Rumpfbeugen. Diese Schinderei hatte ich aber bald satt. Als Büromensch betrachtete ich es in der Folge als ausreichend, mich maßvoll zu bewegen und auf eine gesunde Ernährung zu achten. Das hatte sich erledigt. Essen musste ich nichts mehr und Gesundheit war für die Existenz einer Totheit nicht von Bedeutung. So konnte ich getrost alles missachten, was mit Gesundheit zu tun hatte. Wie wäre das bei den anderen Toten angekommen, wenn ich plötzlich angefangen hätte, einen gesunden Lebensstil zu pflegen? Stattdessen widmete ich mich der Schönheit des Parks, der mir am (Toten)Herzen lag. Hier gilt es einmal, den rein sinngemäßen Gebrauch dieser Formulierung zu betonen, denn da, wo mein Herz einst schlug, herrschte gähnende Leere vor. Sie fragen sich nun sicher, wie ein Toter denn dann noch zu Gefühlsregungen fähig ist. Die ehrliche Antwort: „Ich weiß es nicht!“

Meine Freundin Simone teilte dieses Schicksal wie alle Übrigen auch. Trotzdem hatten wir ein inniges Verhältnis zueinander, wie dann wenn es heißt: „Ein Herz und eine Seele.“ Ich hatte mich derweil ins Gras gesetzt, weil mir nichts Besseres einfiel. Eine schnatternde Entenfamilie watschelte an mir vorüber. Die Kleinen waren knuffig, aber der Erpel fauchte mich an. Vielleicht konnte der mich sehen. Ich stand auf und ging meiner Wege.

So schaurig schön anzusehen wie die Mumie, die ich mal in einem Kinofilm gesehen hatte, war einer der Friedhofstoten. Ihm fehlte ein Stück des Schädels, weil ihn jemand mit einer Axt erschlagen hatte. Diese Gemeinheit, wie Dieter zu sagen pflegte, beruhte auf Eifersucht. Dieter, so war der bürgerliche Name des Toten, trug deshalb zumeist einen Hut oder hatte eine Mütze auf. Es ging um eine Frau, die außer ihm noch ein anderer begehrte. Weil er aber bei der Dame besser ankam und der andere das mitschnitt, bekam er eines Tages die Axt zu spüren. Die verlieh seinem Kopf eine ganz neue Form, wie er voller Ironie zu erzählen wusste. Leider hauchte sie auch sein Leben aus. Und weil man sich mit einem halben Schädel nicht so gerne sehen lässt, hielt er sein Haupt bedeckt. Dieter sah das eigentlich sehr pragmatisch, ohne noch eine Minute darüber wütend zu werden oder eine Hasstirade gegen seinen Mörder zu beginnen. Die Frau, um die es ging, hatte sein Nebenbuhler dann aber auch nicht bekommen. Dafür hatte Dieter