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Als in Graun begonnen wurde, das Dorf zu räumen, da haben die Leute geweint. Einige sind in Baracken untergekommen oder notgedrungen ausgewandert. In das italienische Pustertal oder nach Österreich. Mit der Stauung des Reschensees im Sommer 1950 versanken das gesamte Dorf Graun und ein Großteil des Dorfes Reschen in den Fluten. Mehr als 1000 Betroffene wurden durch das von staatlicher Willkür geprägte Bauprojekt zur Stromgewinnung ihrer Existenz beraubt. Für Touristen, die das Vinschgau in Südtirol besuchen oder über den Reschenpass fahren, ist der mahnend aus dem Reschensee herausragende Kirchturm St. Katharina eine Attraktion. Doch bei den Menschen, die die Flutung ihres damaligen Zuhauses noch miterlebt hatten, steigt noch heute die Wut empor, wenn sie auf das letzte Überbleibsel von ihrer ehemaligen Heimat blicken. Die einheimische Bevölkerung hatte zum Teil sogar am Bau der Staumauer mitgearbeitet. Die Menschen dort haben dabei ihr eigenes Grab geschaufelt. Der Roman beschreibt in einer sehr persönlichen Erzählung das Leben und Schicksal einer Familie und eines Ehepaars in Graun, die zusehen mussten, wie ihre Häuser in den Fluten versanken. Aber sie haben nicht aufgegeben und für ihre Zukunft gekämpft. Aber dennoch hat sie das Schicksal immer wieder stark gebeutelt.
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Seitenzahl: 295
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Für Luca
Das Leben einer Tiroler Familie vor und nach der Flutung des Reschensees
Ich bekenne, ich brauche Geschichten, um die Welt zu verstehen.
Siegfried Lenz
Prolog
Nauders in Tirol: Spätsommer 2022
77 Jahre vorher - Graun in Südtirol: Frühjahr 1945
Der Staudamm und der Papst: In den Jahren 1947 und 1948
Graun in Südtirol: Im Jahr 1949
Graun in Südtirol: Sommer 1950 und 1951
Nauders in Tirol: Im Jahr 1955
Nauders in Tirol: Sommer 1960
Eine Tiroler Hochzeit: Sommer 1972
Nauders in Tirol: Herbst 1976
Nauders in Tirol: Frühling 1985
Nauders in Tirol: Sommer 1988
Nauders in Tirol: Herbst 1988
Nauders in Tirol: Winter 1988
Nauders in Tirol: Sommer 1996
Nauders in Tirol: Sommer 2004
Berlin, Deutschland: November 2004
Nauders in Tirol: Weihnachten 2004
Nauders/Berlin: Frühsommer 2005
Berlin, Deutschland: Frühjahr 2022
Nauders in Tirol: Weihnachten 2022
Quellen
Der Leumund von Ambros Dachgruber war über alle Zweifel erhaben. Die Familie, seine Nachkommen und auch die angeheirateten Familienmitglieder waren ehrliche, zuverlässige und arbeitsame Leute.
Aber warum musste ihnen immer wieder das Schicksal, das überwiegend von Menschenhand beeinflusst wurde, einen Knüppel zwischen die Beine werfen? Ein großer Eingriff in ihre Eigentumsrechte war diese unsägliche Flutung des Reschensees. Dadurch hat man ihnen Haus und Hof gestohlen, ja richtig, gestohlen und nicht nur weggenommen.
Die Menschen in Tirol oder deren Vorfahren hatten sich etwas aufgebaut. Sie wollten es nachhaltig bewahren und darin ihren Frieden und ihr persönliches Glück finden. Wollten sich ihre Zukunft erarbeiten. Aber plötzlich wurden sie fortgejagt, ohne nach ihren Bedürfnissen oder geschweige denn, nach ihren Wünschen gefragt zu werden.
Dann kamen noch Ereignisse hinzu, die sich durch unglückliche Verkettungen ergeben haben und zu allem Übel auch noch der Zweite Weltkrieg. Wie alle Kriege wurde auch der völlig zu Unrecht begonnen. Hitlers Krieg brachte unendliches Leid über die Bevölkerung. Er war das traurige Ergebnis menschlicher Absurdität und Grausamkeit.
Leider lernen manche Leute niemals hinzu. Auch jetzt, Anfang des Jahres 2022, wurde in Europa wieder ein Krieg unter fadenscheinigen, geschichtlichen Begründungen, die auch nicht den Tod eines einzigen Menschen rechtfertigen würden, vom Zaun gebrochen.
Dieser Roman ist frei erfunden und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit; er erzählt eine Geschichte, in der sich Recht und Unrecht konfrontieren. Dabei werden die Probleme des Lebens widergespiegelt, die sich auf der ganzen Welt ereignen können, genau so, oder so ähnlich.
Ambros (der Unsterbliche) Dachgruber geb. 7.10.21 in Graun.
Genoveva (die Schicksalsweberin) Dachgruber, geb. Hichegger, geb. 17.10.22 in Graun.
Jakob (der von Gott beschützte) Gruber, geb. 19.9.1917 in Graun.
Anna (die Anmutige) Gruber, geb. Hichegger, geb.
15.1.1920 in Graun. Schwester von Genoveva.
Filomena (die Geliebte) Salzlechner geb. Dachgruber, geb. 15.4.1948 in Graun, 1. Tochter von Genoveva und Ambros.
Valentina (die Mutige) Dachgruber, geb. 16. 5. 1952 in Nauders. 2. Tochter von Genoveva und Ambros.
Urban Salzlechner, geb. 1.6.1946 in Mals.
Birgit (die Erhabene) Wirsching, geb. Salzlechner, geb.
15.3.1968 in Nauders. Tochter von Filomena und Urban Salzlechner.
Sven (junger Krieger) Wirsching, geb. 18.7.1967 in Laas.
Crescencia (die Wachsende) Jones geb. Wirsching, geb.
29.7.1988 in Zams. Tochter von Sven und Birgit Wirsching.
Tom (der Zwilling) Jones, 14.2.1987 in Zams.
Woody (der Waldreiche) Jones, Toms jüngerer Bruder.
Veronika (die Siegbringerin) Lynn Jones, geb. 1.5.2005 in Zams.
Thomas (der Zwilling) Brümmer, geb. 24.9.2004 in Nauders.
Dr. Sarah Brümmer, Mutter von Thomas Brümmer
Dr. Niklas Brümmer, Vater von Thomas Brümmer
Gabriele Brümmer, Schwester von Thomas Brümmer
Oliver Kramer, Freund von Thomas Brümmer
Ferdinand Krämer-Boltenhagen mit seinen Eltern
Ulrike Unger-Netz, Lehrerin in Landeck
Vincent van Gogh, Niederländischer Maler
Don McLean, US-amerikanischer Sänger
Hans Noggler und Franz Frötscher, Skifreunde von Thomas B.
Irving Stone, US-amerikanischer Schriftsteller
Hermann Hesse, Deutsch-schweizerischer Schriftsteller
Andrea Conrad, Mitschülerin von Veronika Jones
Projektleiter Gardumi, Reschensee
Adriano Gelatti, Arbeiter am Projekt Reschensee
Richard Eckert, Bürger von Graun
Die schwarze Trinali, Bürgerin von Graun
Michael Heinrich, Psychologe in Nauders
Frau Dr. Mutabo, Gynäkologin in Berlin
Bruno Brenneisen, Bürger von Graun
Alfred Rieper, Pfarrer von Graun
Johann Haselgruber, Bürger von Graun
Karl Erckert, Landeshauptmann von Südtirol
Raimund von Klebelsberg, Südtiroler Geologe
Andreas Hofer, Freiheitskämpfer von Tirol
Jan Vermeer, Niederländischer Maler
Josef Vogeltanz, Lehrer in Nauders
Gerhard Neuber, Freund von Jakob Gruber
Rembrandt van Rijn, Niederländischer Maler
Walter Chrzan, Hubschrauberpilot in Karres
Emil von Behring, Robert Koch und Paul Ehrlich
Isabel Heinrich, Erzieherin in Nauders
Tobias Heinrich, Bankkaufmann in Landeck
Marie Heinrich, Freundin von Crescencia
Josefine Euring, Freundin von Crescencia
Prof. Hans Jürgen Kunde, Chefarzt im Krankenhaus Zams
Harry Jones und Erika, mit Jimmy und Jenny
Reinhard und Andrea Fendrich
Gerhard Schulz, Biolandwirt in Nauders
In dem idyllischen Tiroler Bergdorf Nauders regnete es schon seit den frühen Morgenstunden. Die sonst so gewaltigen Gebirgszüge waren im Dunst der Regenschauer verschwunden. Das mächtige Grau dominierte die großflächigen Wolken, die unbeweglich am Himmel standen.
Der Regen trommelte unwirklich gegen die Fensterscheiben. In seinem Zimmer war es warm, fast zu warm. Thomas Brümmer träumte vor sich hin, wog seine Gedanken ab, konnte es sich noch nicht so richtig erklären. Veronika Jones hatte ihn heute Mittag in der Schule zum ersten Mal angesprochen. Völlig überraschend. Er hatte die plötzlich auftretende Röte in seinem Gesicht nicht mehr verhindern können, was ihm sehr peinlich gewesen war.
Thomas hatte die neue Mitschülerin lange Zeit überhaupt nicht beachtet. Sie war zwar sehr hübsch, aber irgendwie eine Nummer zu groß für ihn, dachte er. Kannte sie auch erst seit ein paar Wochen. Man hat sich in seiner Schule erzählt, dass sie aus Deutschland gekommen sei, aus Berlin. Ihr Vater, Tom Jones, habe dort seine Frau und damit auch seine Tochter verlassen und jetzt sei Crescencia Jones zusammen mit ihrer siebzehnjährigen Tochter Veronika wieder in das heimatliche Bergdorf Nauders gezogen.
Tom und Crescencia waren einst in Nauders aufgewachsen und auch zur Schule gegangen. Hier hatten sie sich kennengelernt.
Am 1. Mai 2005 kam dann ihre Tochter Veronika auf die Welt. Unmittelbar danach war die junge Familie verschwunden. Zusammen mit dem Baby, das erst ein paar Tage alt gewesen war, waren Crescencia und Tom ohne jegliche Vorankündigung weggegangen. Sie hatten fast alles in ihrer Wohnung zurückgelassen, Möbel, Kleider, ihre Teller und ihr Besteck. Das Haus, in dem sie gewohnt haben, hatte einst ihrer verstorbenen Urgroßtante Anna Gruber gehört. Da damals in Nauders sehr schnell bekannt geworden war, dass sie nur sehr wenige Gegenstände mitgenommen hatten, spekulierten die Leute in alle Richtungen. Ein vorbereiteter Umzug wäre natürlich anders abgelaufen. Es hatte eher nach einer übereilten Flucht ausgesehen.
Am Vorabend war es in der Bierkneipe Yetibar von Nauders noch zu einem Streit zwischen Tom Jones und seinem Bruder Woody gekommen. Aber auch Woody Jones konnte sich nicht erklären, warum sein Bruder mit seiner Familie plötzlich verschwunden war. Das hatte er damals zumindest behauptet. Der Grund der Auseinandersetzung sei lediglich eine kleine Unstimmigkeit unter Brüdern gewesen. Nichts Wichtiges. Man hatte auch schon einiges getrunken. Woody zeigte sich aber sehr aggressiv, wenn er auf den damaligen Streit in der Yetibar angesprochen worden war.
Die junge Familie war nach ihrem Verschwinden überall in Nauders und Umgebung gesucht worden, da man auch einen Unfall nicht ausschließen konnte. Aber sie war nirgends gefunden worden. Taucher suchten sogar den Reschensee ab, weil ein Zeuge in der Nacht zuvor die Familie dort gesehen haben wollte. In der Nähe von Graun. Am Kirchturm St. Katharina, der noch heute als politisches Mahnmal aus dem Wasser ragt und täglich an das versunkene Dorf Alt-Graun erinnert.
Der Zeuge Johann Haselgruber, ein zweiundachtzig-jähriger Bürger aus Graun, wollte zusätzlich auch noch Stimmen gehört haben, die aus dem Kirchturm gekommen seien. Auch habe er ganz leise, fast gespenstisch, die Glocken von St. Katharina läuten hören.
Aber die Taucher hatten die junge Familie weder im Kirchturm noch im See finden können. Außerdem waren die Glocken vom Kirchturm St. Katharina bereits Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts abgehängt worden. Jedoch wollten einzelne Bürger, die das Fluten des Reschensees hautnah miterleben mussten, später immer wieder die Glocken des Kirchturms gehört haben ...
Der Vorfall, der sich damals Mitte Mai im Jahr 2005 abgespielt hatte, war im Lauf der Jahre immer mehr in Vergessenheit geraten.
Erst durch das kürzliche Auftauchen von Crescencia Jones mit ihrer Tochter Veronika wurde er wieder zum interessanten Gesprächsthema stigmatisiert.
Dass der Vater, Tom Jones, bei der Rückkehr nicht dabei war, verstärkte natürlich die Neugier der Bürgerschaft, … auch über Nauders hinaus.
Heute Mittag, direkt nach dem Unterrichtsende, war dann Veronika völlig überraschend auf Thomas zugekommen. Ob er vielleicht etwas Zeit habe, sie würde bei einigen Grammatikaufgaben nicht so richtig durchblicken. Hatte sie das wirklich ernst gemeint? Er musste seine Mitschülerin erst einige Sekunden überrascht anschauen, bevor er überhaupt zu einer Antwort fähig gewesen war. Nachdem er sich gefasst und einigermaßen gesammelt hatte, stammelte er verlegen: „Ja … gut, sagen wir 17.00 Uhr? Bei mir?“ Sie hatte nur leicht genickt und sich dann zufrieden lächelnd weggedreht.
Er hatte ihr irritiert nachgeschaut.
Sein bester Freund Oliver Kramer hatte ihm von hinten rau auf die Schulter geklopft und ihn aus seinen Gedanken gerissen. „Siehe da, unser Tommy macht sich an die Neue ran. Date heute Abend? Habe ich gerade noch mitbekommen. Oder habe ich mich vielleicht verhört, Tommy?“
Thomas hatte ihn verärgert angesehen. „Arschloch! Setze bitte keine Halbwahrheiten in die Welt, sonst bist du mein bester Freund gewesen … für immer und ewig.“ Dann war er borniert weggelaufen.
Das war natürlich eine Schlussfolgerung, die Oliver nicht gefallen hatte. „War doch nicht so gemeint, Alter. Spaß! Komm wir gehen noch bei Giovanni ein Eis essen, natürlich auf meine Kosten.“
Thomas lächelte schon wieder, als Oliver den Arm freundschaftlich auf seine Schulter gelegte hatte. Beide waren gemeinsam in Richtung Ausgangstür gegangen.
Inzwischen saß Thomas in seinem Zimmer. Ungläubig schüttelte er den Kopf. Es war jetzt genau 16.30 Uhr. In einer halben Stunde würde sie kommen. Grammatik-aufgaben? War es nur ein Vorwand? Thomas war in der Klasse einer der besseren Schüler. Er beteiligte sich sehr oft aktiv am Unterricht. Meldete sich auch regelmäßig, öfter als alle anderen. Er konnte auch diejenigen Aufgaben ohne größere Mühe lösen, mit denen seine Mitschüler und seine Mitschülerinnen überwiegend ihre Schwierigkeiten hatten.
War das vielleicht der Grund, warum Veronika heute gerade ihn angesprochen hat?
Thomas sah sich in seinem Zimmer um. Man könnte schon mal aufräumen. Er wollte das Bild seiner Eltern in den Schrank legen, entschied sich aber dann doch dagegen und ließ es auf dem Schreibtisch stehen. Auch das seiner Schwester Gabriele vom letzten Urlaub vor dem Rathaus von Poreč.
Aber die Socken, T-Shirts, seine Lieblingsjeans und die Motorradhefte sammelte er schnell zusammen, warf die Wäsche in den alten Rattankorb. Er nannte ihn Zauberkorb, da er seine schmutzige Wäsche einfach hineinwerfen konnte und sie nur wenige Tage später frisch gewaschen und ordentlich gestapelt in seinem Kleiderschrank wohlriechend wiederfand.
Ordnete dann die Motorradhefte sogar nach ihrem Ausgabedatum und legte sie sorgfältig in das Regal.
Er war heute allein im Haus. Gabriele, seine um zwei Jahre jüngere Schwester, hatte sich nach der Schule mit ihrer Freundin verabredet und seine Eltern, beide Ärzte, hatten heute Morgen erklärt, dass sie noch eine Spätschicht anhängen müssten. Gestern seien wieder acht Coronapatienten eingeliefert worden. Innerhalb einer Stunde.
Die Intensivstation der St. Vinzenzklinik in Zams sei schon seit Wochen ausgelastet. Das Personal reduziere sich aufgrund von Kündigungen der völlig überforderten Krankenhausmitarbeiter rapide, während immer mehr Patienten eingeliefert würden. Und ausgerechnet jetzt sei auch noch dieser neue Virus Omikron aus Südafrika im Anmarsch.
Thomas überlegte. Von Südafrika an den Reschensee … ein langer Weg. Durch das Klingeln an der Haustür wurde er aus seinen Gedanken gerissen.
Veronika lächelte Thomas selbstsicher an, nachdem er die Tür geöffnet hatte. Mit einer kurzen Kopfbewegung bat er sie, einzutreten.
„Kann ich meinen Mundschutz abnehmen? Bin doppelt geimpft.“
„Natürlich, wir sind ja alle in der Klasse geimpft, außer Ferdinand, aber das hat ja, wie wir inzwischen wissen, andere Gründe.“
Veronika erschrak und sah ihn fragend an. „Ferdinand ist noch nicht geimpft?“
Thomas nickte. „Ja, aber das erzähle ich dir mal später. Ist 'ne ziemlich tragische Geschichte. Der arme Ferdl muss da gerade einiges durchmachen.“
Veronika lächelte unsicher und trat zögerlich ein. Sie stellte ihren Schirm in die dafür vorgesehene, bunt bemalte Milchkanne im Eingangsbereich und schaute sich interessiert um. „Hübsch habt ihr’s hier.“
Thomas nickte nur. Sie folgte ihm durch den großen lichtdurchfluteten Flur und anschließend die Wendeltreppe hoch in den ersten Stock.
Er öffnete die Tür zu seinem Zimmer, an der ein großes Poster von Valentino Rossi hing. Es war schon etwas älter und zeigte den mehrfachen italienischen Motorradweltmeister noch auf einer Ducati.
„Er hört dieses Jahr auf. Hat auch neunmal den Weltmeistertitel in der MotoGP gewonnen. Mit dem zehnten Titel wird es dann wohl nichts mehr werden.“
Veronika nickte nur. Sie verstand überhaupt nichts von Motorradrennen.
Thomas' Grammatikheft lag aufgeschlagen auf seinem Schreibtisch. Neben dem Bild seiner Eltern.
„Wir machen ja zur Zeit dieses Plusquamperfekt durch. Ist eigentlich ganz einfach, wenn man sich mal näher damit befasst hat und durchgestiegen ist.“
Jetzt nickte Veronika verhalten und wiederholte dann sarkastisch seine letzten Worte: „Ja, wenn man mal durchgestiegen ist. Aber gerade das ist mein Problem. Ich bin leider noch nicht durchgestiegen und in Berlin gibt es kein Plusquamperfekt, … oder ich habe halt noch nichts davon gehört.“
Thomas lächelte seine Mitschülerin freundlich an. „Das Plusquamperfekt ist kein großes Geheimnis, sondern nur eine Zeitform für die Vorvergangenheit.“ Er zog seine Stirn in Falten. „Und wie ist die Vorvergangenheit zu verstehen?“
„Und genau das weiß ich nicht, Herr Oberlehrer. Vergangenheit ist doch Vergangenheit, fertig, aus! Einfach alles was früher mal passiert ist.“ Veronika schaute unsicher in seine Augen, dann lächelte sie wieder.
„Aber deshalb bin ich ja bei dir … hauptsächlich.“
Er schüttelte irritiert und etwas dümmlich den Kopf. „Wie hauptsächlich? Ich dachte ...“ Veronika legte ihren rechten Zeigefinger auf seinen Mund, was er im ersten Moment doch als eine ziemlich persönliche und gleichzeitig überraschende Geste deutete. Es fühlte sich aber im selben Augenblick sehr angenehm an.
Sie lächelte überlegen und zog dann ihren Zeigefinger wieder langsam zurück. „Das erkläre ich dir später. Erst machen wir die Arbeit und dann ...“, sie unterbrach sich selbst. „Wie sieht es jetzt mit dieser Vorvergangenheit aus?“ Thomas nickte unsicher. Er war von Veronikas spontanem Verhalten überrascht, konnte sich dann aber wieder schnell auf ihre Frage konzentrieren.
„Gut, pass auf! Es handelt sich dabei um eine Tätigkeit, die zeitlich vor einer anderen Tätigkeit in der Vergangenheit passiert ist. Das heißt, dass wir dazu zwei Verben benötigen.“
Veronika hob abweisend die rechte Hand. „Aber das braucht doch kein Mensch. Das Präteritum, oder wie die Österreicher sagen, die Mitvergangenheit, würde mir vollauf genügen. Stehe sowieso auf Kriegsfuß mit der Vergangenheit. Aber das ist eine ganz andere Geschichte. Wenn ich etwas zu sagen hätte, würde ich das Plusquamperfekt komplett aus dem Grammatikbuch streichen. Fertig … aus!“
„Ja, kannst du versuchen, aber es steht nun mal drin. Wie schon gesagt, wir brauchen es halt, wenn es zwei Handlungen in der Vergangenheit gibt, die nicht gleichzeitig, sondern eine nach der anderen geschehen sind. Hat schon irgendwie seinen Sinn. Sag mir doch einfach mal zwei Verben!“
Sie überlegte kurz, bevor ihre braunen Augen frech strahlten: „Lernen und küssen.“
Thomas lief rot an. Wurde unsicher. Da er im Moment nichts sagen konnte, lächelte ihm Veronika provokativ zu: „Als sie seiner Ansicht nach genug gelernt hatten, küsste er sie.“
Unsicher stammelte Thomas. „Ja, das wäre schon ein Plusquamperfektsatz. Der erste Teilsatz greift zeitlich vor und ist abgeschlossen. Er steht im Plusquamperfekt, darauf folgt eine Aussage im Präteritum. Stimmt. Aber wie ...“
Sie nahm seine Hand. „Ein Tropfen Liebe ist mehr als ein Ozean Verstand.“
Er schaute sie überrascht an und lächelte dann verhalten zurück. Diesen Satz hatte er jetzt nicht so richtig verstanden, aber ihre spielerische Leichtigkeit und die spontane Offenheit von Veronika gefielen ihm.
Am nächsten Morgen liefen sie gemeinsam zum Schulbus. Thomas hatte vorher auf sie gewartet.
Er versuchte sich an einer Klarstellung. „Das was gestern Abend … also, dass wir … ich meine, könnten wir das für uns behalten?“
„Jetzt übertreibst du aber, soviel ist ja gar nicht passiert. Wir sind doch lediglich von der grauen Theorie, ich meine damit meinen Plusquamperfekt-Beispielsatz, in die praktische Welt übergegangen. Dadurch kann man sich den Lernstoff einfach besser merken. Learning by doing, wenn du verstehst, was ich damit meine? Aber natürlich, es geht niemanden etwas an … und die Klasse schon gar nicht. Wir dürfen uns nur nichts anmerken lassen.“ Veronika ergriff seine Hand. Nach ein paar Schritten drückte sie kurz fester zu und ließ sie dann wieder los.
Er lächelte nur bestätigend. Plötzlich hatte sich einiges in seinem Leben verändert.
Veronika war seine erste Freundin. Seine erste richtige Freundin. Auf diversen Partys war er zwar schon einigen Mädchen mehr oder weniger näher gekommen, aber daraus hatte sich bisher nichts Dauerhaftes entwickelt. Mit Veronika war das anders. Er fühlte es bereits an ihrem ersten Abend. Sie war ihm in einer ganz besonderen Weise nahe, aber er konnte sich diese Nähe nicht erklären. Eigentlich ging ihm das alles viel zu schnell. Veronika kam ja erst vor wenigen Wochen nach Nauders, aber er hatte immer wieder das Gefühl, dass er sie schon eine Ewigkeit lang kannte. Es war noch eine imaginäre Verbindung, die er nicht so richtig verstanden hatte. Oder war es schon Liebe? Richtige Liebe? Was war Liebe überhaupt? War es Zuneigung, Vertrauen, Sympathie oder noch mehr? Etwas völlig Neues ...? Auf jeden Fall hatte es bei ihm etwas mit Schmetterlingen im Bauch zu tun. Dann war es also doch Liebe?
In ihrem Klassenzimmer konnte Thomas Veronika von hinten beobachten. Ihm fiel zum ersten Mal auf, dass sie ihr langes, blondes Haar immer wieder mit der rechten Hand sorgsam nach hinten strich, nachdem sie sich zum Lesen oder Schreiben nach vorne gebeugt hatte. Er glaubte, dass sie das unbewusst machte.
Vielleicht weil sie unsicher war? Thomas lächelte in sich hinein. Manchmal wartete er sogar gespannt auf dieses auffällige Ritual, das er noch nicht so richtig deuten konnte. Auf jeden Fall wusste sie, dass er die Möglichkeit hatte, sie jederzeit von hinten beobachten zu können.
„Unser Thomas ist heute wohl nicht so recht bei der Sache! Das bin ich von meinem besten Schüler aber überhaupt nicht gewohnt.“ Dass seine Lehrerin, Frau Unger-Netz, neben ihm stand, hatte er zunächst überhaupt nicht bemerkt. Aber Thomas konnte diese überraschende Situation schnell erfassen. „Ja, stimmt, habe schon den ganzen Morgen starkes Kopfweh und meine Paracetamoltabletten sind mir leider ausgegangen“, log er spontan. „Werde aber nach der Schule gleich zur Apotheke Öttl gehen und Nachschub holen.“
Frau Unger-Netz nickte mitfühlend und fuhr mit ihrem Geschichtsunterricht fort.
Nach der Schule lief Veronika zusammen mit ihrer Mitschülerin Andrea Conrad zur Haltestelle. Auch im Bus setzte sie sich zusammen mit Andrea ganz vorne hin. Thomas saß vorher schon in der letzten Reihe. In Nauders folgte er den beiden zwar ein kurzes Stück zu Fuß auf der Martinsbrucker Straße, bog dann aber gleich in die Reschenstraße ein, in Richtung seines Wohnhauses.
„Hattest du gestern Abend Besuch?“
Thomas erschrak. „Nein, wie kommst du darauf?“ Er schaute seine Mutter gespielt verdutzt an.
„Nun, es hat mich halt gewundert, dass du aus zwei Gläsern getrunken und an einem sogar noch Lippenstift zurückgelassen hast.“
Er lief rot an. „Ja, gut! Ich bin … ich musste … ich habe einer Mitschülerin aus meiner Klasse Nachhilfe in Grammatik gegeben und habe ihr natürlich auch etwas zu trinken angeboten. Das macht man ja bei uns so, wenn man Gäste hat, oder nicht?“
„Aha … doch … na gut. Ja, das macht man so bei uns. Gehört zu den einfachsten Regeln der Gastfreundschaft. Kenne ich die Mitschülerin zufällig?“
Ein gewisses Unbehagen stand ihm ins Gesicht geschrieben. „Nein, bestimmt nicht. Sie kam erst vor ein paar Wochen in unsere Klasse und ist mit dem Lernstoff noch nicht so weit. Habe ihr nur geholfen und bitte jetzt keine weiteren Spekulationen oder falsche Rückschlüsse, Mam.“ Thomas wechselte absichtlich das Thema. „Was gibt es zu essen?“
Sarah Brümmer ging zunächst nicht auf seine Frage ein und lachte erhaben. „Natürlich nicht. Ihr habt zusammen gelernt und das war’s.“ Um ihren Sohn nicht weiter in Verlegenheit zu bringen, verließ sie wieder das Zimmer und rief ihm noch über die Schulter „Berner Rösti“ zurück.
Thomas sah aus dem Fenster. Er erfreute sich an dem regen Treiben auf der Straße. Leute, die geschäftig in alle Richtungen liefen. Zwei Männer trugen gerade einen schweren Balken zu der nahegelegenen Baustelle des neuen Hotels, ein Junge hatte mit seinem Kinderfahrrad angehalten und sah ihnen interessiert nach. Drei Frauen mit vollen Einkaufstaschen unterhielten sich so laut, dass er hinter dem geschlossenen Fenster jedes Wort verstehen konnte. Sie teilten sich gegenseitig stolz mit, dass sie bereits seit zwei Wochen geboostert seien und bei sämtlichen Impfungen nicht die geringsten Nebenwirkungen verspürt hätten. Die eine Frau könne beim besten Willen nicht verstehen, dass es auch Leute gebe, die sich nicht impfen lassen wollen. Die andere meinte abwertend, dass das wohl deren Sache sei und sie schon sehen werden, was dabei rüberkomme.
Ein junges Ehepaar lief zügig mit Wanderstöcken zur Ortsmitte. Zwei Motorradfahrer fuhren langsam zum nahegelegenen Hotel Lamm und hielten direkt vor dem Eingang an. Offensichtlich hatten sie eine lange Reise hinter sich. An beiden Motorrädern war ein finnisches Kennzeichen angebracht.
Thomas beobachtete gerne Menschen und versuchte dabei in seiner Fantasie zu erkunden, was sie sonst so taten, wo sie wohnten, wie sie lebten … wer sie waren?
Dann dachte er an sich selbst, an sein bisheriges, noch junges Leben. Wer war er eigentlich? Versuchte dabei herauszufinden, welche Wünsche und Träume tief in ihm schlummerten. Dann fiel ihm spontan Veronika ein. Dachte bei seinen Gedanken an sie sogar an einen blonden Engel. War sie schon sein Engel? Schob diese kitschigen Gedanken aber dann sofort wieder beiseite. Lächelte aber trotzdem beflügelt in sich hinein und war glücklich. Veronika Jones. So hieß sie also … seine erste Freundin ... seine erste richtige Freundin. Aber ganz so weit war es noch nicht … oder doch?
Thomas Brümmer wohnte bereits seit seiner Geburt in Nauders. Ein Bergdorf in Tirol, wie viele andere auch. Knapp 1500 Einwohner. Die Seehöhe betrug fast 1400 Meter. Man lebte hier überwiegend vom Tourismus und zusätzlich von der Vieh- und Landwirtschaft. Nauders war nur ein Dorf von vielen im Tiroler Bundesland Österreich, aber es war seine Heimat. Ihr Haus war zwar keine Villa, aber schon ein schmuckes Einfamilienhaus. Seine Eltern arbeiteten beide in Zams im dortigen St. Vinzenz-Krankenhaus. Seine Mutter war Anästhesistin und Thomas' Vater arbeitete als Oberarzt auf der Intensivstation.
Thomas konnte kein Blut sehen, obwohl beide Elternteile Ärzte waren. Er wollte später etwas mit Kunst machen, liebte besonders die Arbeiten von Vincent van Gogh und auch den Maler selbst. Hatte schon viele Bücher über ihn gelesen. Ein sehr intelligenter Mann voller Visionen mit einem schwierigen Leben und einem schrecklichen Ende, das bis heute nicht vollständig aufgeklärt ist. Die Sieben-Millimeter-Pistole wurde sehr spät, erst in den 1960er Jahren, auf einem Feld nahe des südfranzösischen Dorfes Auvers-sur-Oise gefunden. Van Gogh soll sich damit im Jahr 1890 in die Brust geschossen haben. Zwei Tage später starb er. Es ist aber bis heute ungeklärt, ob er sich selbst erschossen hat, oder ob es doch zwei Jugendliche waren, mit denen Vincent van Gogh oft Probleme gehabt hatte, … nur weil er anders war, … anders dachte und anders lebte. Er hatte, wie jeder Mensch, auch seine Schwächen und die wurden rücksichtslos ausgenutzt.
Vincent hatte viele unerfüllte Liebeleien mit Frauen, die ihn teilweise ebenfalls ausgenutzt hatten oder von vorne herein ablehnten. Aber er war eine Lichtgestalt, was jedoch zu seinen Lebzeiten vom überwiegenden Teil seiner Mitmenschen unerkannt blieb. Man sah in ihm eher den unliebsamen, komischen Kauz, mit dem keiner etwas zu tun haben wollte. Besonders gut gefiel Thomas Van Goghs Sternenhimmel. Das Bild wurde von dem amerikanischen Sänger Don McLean sogar besungen. Es heißt bezeichnenderweise Vincent.
Thomas musste dann aber wieder an Veronika denken. Sie hatte den ersten Schritt gemacht. Er musste ihr daher etwas bedeuten, oder wollte auch sie ihn nur ausnutzen, so wie es Vincent ergangen war? Verwarf aber diesen absurden Gedanken sofort wieder.
Er überlegte. Veronikas Mutter Crescencia kam wieder zurück in ihr Heimatdorf, in dem sie aufgewachsen und aus dem sie als junge Frau weggegangen war.
Thomas kannte die Familie nicht. Als Veronikas Mutter, zusammen mit ihrem Freund Tom Jones, Nauders verlassen hatte, war Thomas nicht einmal ein Jahr alt.
Von seinem Smartphone ertönten die Glocken von Hells Bells. Sein Klingelton von Whatsapp. Veronika! „Können wir uns heute Abend treffen?“ Dahinter ein großes pulsierendes Herz.
Er schrieb zurück. „Ja, freue mich schon. Wo?“
„Am Gasthof Martha?“
„Ja, natürlich. Gerne. Bis heute Abend. 19.00 Uhr.“
„Ja. Freue mich auch.“
Sie saßen gemeinsam beim Abendessen. Thomas, seine jüngere Schwester Gabriele und ihre Eltern Niklas und Sarah. Die beiden Ärzte hatten sich heute sogar von ihrer Klinik loseisen können, was aber zur Zeit eine absolute Ausnahme darstellte.
„So, Leute, was gibt es Neues im Hause Brümmer? Bekomme ja zur Zeit überhaupt nichts mehr mit, seit sich dieser neue Covid-19-Virus förmlich in unserem Krankenhaus eingenistet hat, oder besser gesagt immer stärker mit der neuen Variante Omikron ausbreitet.“
Niklas lächelte seine Frau herausfordernd an. „Alles was es bei mir Neues gibt, kannst du in den Krankenakten unserer Patienten nachlesen und was ich daheim mache, siehst du jeden Abend und jeden Morgen. Obwohl die Hausarbeit zur Zeit doch etwas zu kurz kommt. Bei mir also nichts Neues von Radio Eriwan.“
Thomas lachte verschmitzt. „ … und bei mir ist auch nichts Altes kaputtgegangen ...“ Er strahlte in die Runde, als hätte er gerade die Frohe Botschaft verkündet. Die restlichen Familienmitglieder sahen sich fragend an und blickten dann kopfschüttelnd zu Thomas. Gabriele war die Erste, die wieder Worte fand. „Aber sonst bist du doch gesund, Thomas, oder soll ich einen Rettungswagen für dich rufen oder besser gleich den Hubschrauber von der Bergrettung?“
„Nein, brauche ich alles nicht. Weder einen Rettungswagen, noch einen Heli. Bin kerngesund.“ Er schaute seine Schwester mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Aber ich kann es meiner unwissenden Familie gerne erklären. Es ist doch eigentlich so, wenn nichts Altes kaputt geht, dann gibt es auch nichts Neues … und genau das war eben die Frage. Ist halt nur so eine Redensart.“
Sarah lächelte. „Ach so, der Herr Sohn hat einen Witz aufgeschnappt und muss ihn jetzt unbedingt bei seiner Familie ausprobieren. Hat vermutlich einen Clown verschluckt.“
Thomas blickte die anderen gespielt skeptisch an. „Jetzt habt ihr mir aber richtig Angst gemacht, ich dachte schon, ihr würdet mich ernst nehmen.“
Sein Vater hob beide Hände. „Bei deinem Verhalten ist das eigentlich nicht zu befürchten.“
Gabriele lachte laut über den Tisch. „Stimmt, Papa, seit gestern redet unser Thomas nur noch dummes Zeug daher und Mamas Bemerkung mit dem Clown kann ich voll bestätigen.“ Die beiden Frauen der Familie waren sich wieder mal einig und lächelten sich zufrieden an.
Jetzt schaltete sich Niklas wieder ein. „Und, Thomas, was war gestern anders als vorgestern?“
„Och. Nun, ... eigentlich gar nichts, warum fragst du?“
„Naja, weil natürlich auch mir aufgefallen ist, dass du seit gestern deutlich sichtbar über alle vier Backen strahlst … heller als die Venus.“
„Nein, da ist nichts, Papa. Alles gut. Bitte nichts hineininterpretieren oder ins Blaue spekulieren. Aber ich muss heute Abend nochmal kurz weg.“
Sarah wurde hellhörig. „Wieder Nachhilfestunden?“
„Nein, natürlich nicht. Treffe mich im Almhof mit meinen Skifreunden Franz und Hans. Es geht um die Vorbereitung für unser Abfahrtsrennen im Dezember am Mutzkopf. Die Tiroler Skimeisterschaft steht ja bald an und ich will meinen Titel bei den Junioren verteidigen.“
Diese Notlüge war unbedingt erforderlich. Nur dadurch konnte sich Thomas weitere unangenehme Fragen seiner Familie ersparen. Er war noch nicht so weit und Humor ist immer noch das beste Mittel, die Realität zu entschärfen, besonders, wenn einem die eigene Familie auf die Nerven geht.
Bereits um 18.45 Uhr war Thomas am Hotel Martha. Sie war noch nicht da. Als dann Veronika um 19.30 Uhr immer noch nicht aufgetaucht war und auch auf seine fünf WhatsApp-Anfragen nicht geantwortet hatte, lief er enttäuscht zum Almhof. Tatsächlich saßen seine beiden Freunde Hans und Franz an der Theke. Zufall? Zumindest hatte sich seine Notlüge jetzt neutralisiert.
Er gesellte sich zu ihnen. Trank aber nur zwei Bier; musste immer wieder an Veronika denken. Warum hatte sie sich nicht gemeldet?
Schon gegen 22.00 Uhr lag Thomas in seinem Bett und las die Biographie Vincent van Gogh von Irving Stone, als von seinem Handy Hells Bells ertönte.
„Es ging heute leider nicht. Entschuldigung! Meine
Mutter hat mich dringend gebraucht. Es war wichtig, denn es geht ihr nicht besonders gut. Konnte dir leider auch nicht Bescheid sagen. Es ging nicht. Jetzt schläft sie … Gott sei Dank!
Bis morgen in der Schule.“
Thomas dachte nach. Er hatte Frau Jones zwei- oder dreimal im Dorf gesehen. Eine großgewachsene, stattliche Frau. Sehr vornehm. Eigentlich passte sie nicht in das Bergpanorama von Nauders. In ihrer Jugend musste sie sehr begehrt gewesen sein. Aber sie strahlte immer noch etwas ganz besonders Erotisches aus. Sie war hübsch, sehr hübsch, wie auch ihre Tochter Veronika.
Jetzt schläft sie ...? Er konnte die Worte von Veronika nicht nachvollziehen. Es klang, als wäre sie froh gewesen, dass ihre Mutter endlich eingeschlafen war. Und warum hatte sie ihm nicht vorher eine Nachricht übermitteln können? Dann hätte er wenigstens nicht so lange warten müssen. Und warum hatte sie an diesem Abend ihre Mutter nicht alleine lassen können? Nicht einmal für ein paar Sekunden um eine WhatsApp zu verfassen?
Kurz danach fanden aber dann die zwei Bier im Almhof doch ihre Wirkung und Thomas schlief ein, ohne dass er Antworten auf seine Fragen gefunden hätte.
Als sie aus dem Schulbus ausgestiegen waren, lief Veronika auf eine Parkbank zu und setzte sich hin, nachdem Thomas ihr einen fragenden Blick zugeworfen hatte. Die anderen Schüler liefen weiter. Als sie außer Sichtweite waren, setzte er sich zu ihr auf die Bank. Gerne hätte er den Arm um sie gelegt und dabei ihren Kopf an seiner Schulter gespürt. Aber es wäre der falsche Zeitpunkt gewesen. Sie hatte gerötete Augen. „Entschuldigung, Thomas. Das bin ich nicht. Ich meine, dass ich gestern Abend einfach nicht zu unserem vereinbarten Treffpunkt am Hotel Martha gekommen bin, aber ...“ Sie unterbrach sich selbst und schaute ihn schuldbewusst an.
„Ja … nein, kein Problem. Heute Abend selbe Zeit, selber Platz? Dann könnten wir reden.“
Veronika nickte nur verhalten und stand langsam auf. Bevor sie wegging, bedachte sie ihn mit einem sorgenvollen Blick, den er im Moment nicht deuten konnte. Brach die erst vor kurzem entfaltete Liebe schon wieder in sich zusammen?
Thomas spürte kurz eine tiefe Distanz, aber danach sofort wieder diese warme Verbindung zu ihr, die er sich nicht erklären konnte. Blieb noch auf der Bank sitzen, als Veronika bereits hinter der Werbetafel der Brauerei Forst verschwunden war. Er hatte in ihren traurigen Augen Enttäuschungen und Verletzungen gelesen. Er wollte ihr helfen. Sah sich nach so kurzer Zeit bereits als Teil ihres Schicksals, wovon er aber noch nichts wusste. Gleichzeitig fühlte er sich hilflos, verstand aber nicht warum. Noch nicht!
Erwartungsvoll lief Thomas auf der Alten Straße, vorbei am Schloss Naudersberg, das seine Ortschaft auf einem kleinen Hügel im Süden überragt. Für die Schönheit des alten Gemäuers hatte er aber im Moment keinen Blick übrig. Auch hatte er es bisher noch nicht geschafft, die Innenräume des Schlosses, das sich in Privatbesitz befindet, zu besichtigen. Aber irgendwann würde er das nachholen. Vielleicht sogar mit Veronika?
Es war 18.45 Uhr. Veronika stand schon an der runden Après-Ski Hütte vom Hotel Martha.
„Gehen wir spazieren?“
Thomas nickte freudig. „Ja, gerne.“
Die knapp zwei Kilometer bis zur Talstation der Berg-kastelseilbahn sprachen sie nicht miteinander. Kein Wort unterbrach die abendliche Stille. Er wollte ihr Zeit lassen. Wollte sie nicht drängen. Sie war heute in sich gekehrt und nicht so redefreudig, so spontan wie sonst. An der Skulpturenbank kurz vor der Talstation deutete Thomas an, dass sie sich doch setzen könnten.
Veronika warf die Stirn in Falten, dann entspannte sie sich und begann mit ihrer Erzählung, ohne dass er sie vorher fragen musste. „Es fällt mir sehr schwer, dir zu erzählen was mich bedrückt, aber ich will es auch nicht verheimlichen und ich habe Vertrauen zu dir. Wir kennen uns erst sehr kurz, aber wie gesagt, ich habe Vertrauen zu dir und … und ich liebe dich.“
Überrascht sah er sie an. Das tat ihm gut. „Ja, ich liebe dich auch und du kannst offen mit mir sprechen, denn nur wenn ich weiß was dich bedrückt, kann ich dir auch helfen.“ Er kaute auf seiner Unterlippe. „Genau das ist es, was ich will. Ich will dir helfen.“ Thomas sah auch in ihrer Offenheit ein Zeichen der Liebe. Es regte sich etwas in seinem Herzen. Ein Gefühl, das er inzwischen verstanden hatte.
Veronika schluckte mehrmals, bevor sie zu sprechen begann. „Du weißt ja, dass ich mit meiner Mutter vor kurzer Zeit wieder nach Nauders zurückgekommen bin. Eigentlich ist aber nur meine Mutter zurückgekommen; ich selbst war noch nie hier. Doch, eigentlich schon, aber nur als kleines Baby. Ich habe meine Kinder- und Jugendzeit in Berlin verbracht. Es war für mich schon ein großer Schock, als meine Mutter mir eines Tages sagte, dass sie wieder zurück nach Tirol ziehen wolle. Von der Großstadt auf’s Land. Ich heulte, schlug die Zimmertür laut zu und schloss mich in meinem Zimmer ein. Warf mich schluchzend auf mein Bett und trommelte wild gegen die Matratze. Als meine Mutter nach mir sehen wollte, schickte ich sie wieder aus meinem Zimmer heraus. Ich befürchtete, alles zu verlieren, die Großstadt, meine Freunde … meine Heimat. Meine Stadt Berlin. Ich war so unendlich traurig. Meine heile Welt brach in sich zusammen. Aber ich sah auch, dass es meine Mutter unbedingt wollte und stimmte dem Umzug nach Nauders schließlich zu.“
Veronika sah ziellos in die Ferne. „Als ich dann hier ankam, habe ich die Schönheit der umliegenden Berge völlig ignoriert, ich fühlte mich nur fremd, bedroht, ja sogar irgendwie ausgesetzt. Der Unterschied zwischen Berlin und Nauders war doch zu groß, zumindest für mich. Obwohl ich mich in Berlin manchmal sogar auf die neue Heimat gefreut hatte. Bin aber eigentlich am Ende nur meiner Mutter zuliebe hierher gegangen.“
Sie lächelte in sich hinein. „Und jetzt sitze ich hier bei dir, in diesem zuvor so gehassten Bergdorf und … ja, ich bin glücklich … glücklich mit dir. Besser gesagt, ich könnte glücklicher sein, wenn da nicht … irgendein Schatten auf meiner Vergangenheit liegen würde, den ich im Moment selbst noch nicht richtig verstehen kann. Der Grund, warum meine Mama wieder zurück nach Nauders wollte, waren die ständigen Streitigkeiten mit meinem Papa. Dabei ging es immer wieder um mich, aber ich wusste nicht warum.“
Thomas legte den Arm um Veronika und tatsächlich neigte sie jetzt den Kopf gegen seine Schulter.
So verharrte das junge Paar eine Weile; er wollte sie nicht drängen, wollte ihr seine Empathie zeigen. Beide verloren sich in ihren Gedanken.
Dann begann sie mit brüchiger Stimme weiterzuer-zählen. „Wie ich dir schon gesagt habe, wegen mir haben meine Mama und mein Papa damals Nauders verlassen. Ich war erst ein paar Tage alt. Den Grund habe ich aber bis heute nicht erfahren. Meine Eltern wollten einfach nicht darüber sprechen. Wurden jedes Mal richtig wütend, wenn ich sie danach gefragt hatte.
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