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Was genau bedeutet Resilienz? Was sind Schutzfaktoren? Warum ist die Zusammenarbeit mit den Eltern, aber auch mit der Erziehungsberatung oder den sozialen Diensten wichtig? Und wie steht es um die Resilienz der einzelnen Fachkraft und des Teams selbst? Auf der Grundlage ihres empirisch erforschten Programms "Prävention und Resilienzstärkung in Kindertageseinrichtungen" (PRiK) zeigen die Autor:innen praxisnah und mit vielen Beispielen, wie die Resilienz von Kindern gefördert werden kann. Das bewährte Buch wurde außerdem um einen Exkurs zum Thema "Herausforderndes Verhalten" ergänzt.
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Seitenzahl: 164
Veröffentlichungsjahr: 2025
Maike Rönnau-Böse
Klaus Fröhlich-Gildhoff
Was Kinder stark und widerstandsfähig macht
Die Reflexionskarten für die Teamarbeit
Katrin Höfler | Maike Rönnau-Böse
Klaus Fröhlich-Gildhoff
Resilienz im Kita-Alltag
40 Reflexionskarten für die Teamarbeit
ISBN 978-3-451-03609-5
Kitas sollen gesundheitsförderliche Orte sein! Daher ist der ressourcenorientierte Blick nicht nur auf die Kinder, sondern auch auf das Team so wichtig. Wie lässt sich im Kita-Alltag die seelische Widerstandskraft (Resilienz) von Kindern, Familien und Fachkräften stärken? Was ist die Grundlage für die Förderung von Resilienz? Die Reflexionskarten bieten pädagogischen Fachkräften einzeln, im Team oder im Rahmen von Fortbildungen die Möglichkeit, Grundlagenwissen zum Thema Resilienz zu erarbeiten oder aufzufrischen. Praxisnahe Fragen laden zum Nachdenken ein. Kompakte Infos und Merksätze setzen Impulse für die pädagogische Arbeit.
Aus Umweltschutzgründen wurde dieses Buch ohne Folie produziert.
Aktualisierte und ergänzte Neuausgabe 2025
(4. Gesamtauflage)
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2014
Hermann-Herder-Straße 4, 79104 Freiburg
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Fragen zur Produktischerheit: [email protected]
Lektorat: Caroline Baumer, Freiburg
Umschlagkonzeption und -gestaltung: Gestaltungssaal, Verlag Herder GmbH
Umschlagmotiv: © Varvara Gorbash/123RF
E-Book-Konvertierung: Newgen Publishing Europe
ISBN Print 978-3-451-03520-3
ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-83542-1
ISBN E-Book (PDF) 978-3-451-83533-9
Vorwort
Einleitung
1. Was bedeutet Resilienz?
1.1 Bedeutung des Resilienzbegriffs
1.2 Phasen der Resilienzforschung
1.3 Risiko-und Schutzfaktoren
1.4 Resilienzfaktoren
2. Kitas als gesundheitsförderliche Orte für Kinder und Eltern
2.1 (Neue) Anforderungen an pädagogische Fachkräfte
2.2 Prävention und Präventionsprogramme
EXKURS: Ressourcenorientierte professionelle pädagogische Begegnung mitVerhaltensweisen, die als herausfordernd erlebt werden
3. Bausteine zur Förderung von Resilienz
3.1 Baustein 1: Leitbildentwicklung einer resilienzförderlichen Kita
3.2 Baustein 2: Resilienz von Kindern im Alltag und mit Programmen fördern
3.3 Baustein 3: Zusammenarbeit mit Bezugspersonen
3.4 Baustein 4: Netzwerkbildung
3.5 Baustein 5: Evaluation eigener Maßnahmen und Angebote
4. Förderung von seelischer Gesundheit im pädagogischen Team
4.1 Körperliche und seelische Gesundheit
4.2 Belastungsfaktoren in Kitas
4.3 Arbeitszufriedenheit
4.4 Verarbeitung von Belastungen
4.5 Gesundheitsförderung in der Kita
Fazit
Anhang
Kopiervorlage Resilienzfaktoren
Einladung zu einem themenspezifischen Elternabend
Literaturverzeichnis
Über die Autoren
Über das Buch
Dieses Buch hat das Ziel, Fachkräfte im Bereich der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung zu ermutigen, gezielt die seelische Widerstandskraft (Resilienz) bei Kindern in der Institution Kindertageseinrichtung zu fördern. Dazu folgen sowohl wissenschaftlich abgesicherte Hinweise als auch Impulse zu einer resilienzförderlichen Zusammenarbeit mit Eltern und anderen Netzwerkpartner:innen. Diese basieren unter anderem auf Erfahrungen aus verschiedenen Praxisforschungsprojekten des Zentrums für Kinder- und Jugendforschung (ZfKJ) im Forschungsverbund FIVE e. V. an der Evangelischen Hochschule Freiburg, die in den letzten 20 Jahren durchgeführt wurden. Die positiven Erfahrungen und Evaluationsergebnisse haben dazu geführt, dass das Prinzip der Resilienzförderung mittlerweile in vielen Kindertageseinrichtungen Eingang gefunden hat, wissenschaftlich begründete sowie praktisch erprobte Materialien entwickelt wurden (Fröhlich-Gildhoff, Dörner & Rönnau-Böse 2021). Mittlerweile werden auch Multiplikator:innen zur Unterstützung der Organisationsentwicklung resilienzförderlicher Kitas geschult.
Durch die große Resonanz aus der Praxis, aber auch von Fachberatungen, Trägern, (Gesundheits-)Ämtern und wissenschaftlichen Kolleginnen und Kollegen, wurde das Resilienzkonzept weiterentwickelt für den U3-Bereich (Kaiser 2019), die Grundschule und für weiterführende Schulen. Darüber hinaus gibt es Anpassungen an spezifische Rahmenbedingungen, wie zum Beispiel Bildungsinstitutionen in Quartieren mit besonderen sozialen Problemlagen (Zentrum für Kinder- und Jugendforschung o. J.). Die vierte Auflage dieses Buches enthält deshalb auch ein neues Kapitel zur ressourcenorientierten Begegnung mit herausforderndem Verhalten (HeVeKi) und wurde vor allem durch neue Studien und Literatur aktualisiert.
Wir möchten uns bei allen bedanken, die uns in den vergangenen Jahren in der freudvollen Arbeit am Resilienzthema begleitet und unterstützt haben. Dies sind neben den Kolleginnen und Kollegen im ZfKJ insbesondere die vielen pädagogischen Fachkräfte, deren Engagement und Kompetenz die Ideen haben lebendig werden lassen.
Maike Rönnau-Böse Klaus Fröhlich-Gildhoff
Resilienz ist für viele pädagogische Fachkräfte kein Fremdwort mehr und hat einen immer größeren Stellenwert im pädagogischen Alltag. Das zeigt sich in der wachsenden Zahl der Publikationen, Vorträge und Fortbildungen zur Thematik. Auch die Bildungspläne der verschiedenen Bundesländer beziehen sich immer mehr auf die Förderung von Resilienz. So wird in zehn von 16 Bildungsplänen Resilienz explizit benannt, in zwei weiteren Bildungsplänen werden personale Fähigkeiten oder Ich-Kompetenzen als Bildungsziele beschrieben. Bayern und Hessen benennen Resilienz sogar als eine der Basiskompetenzen der Kinder und beschreiben die Förderung näher, in Baden-Württemberg wird Resilienz als zentrales Thema des Orientierungsplans aufgeführt. Sieben andere Bundesländer (Rheinland-Pfalz, Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein, Saarland, Thüringen, Hamburg und Berlin) nehmen Resilienz als Querschnittsthema auf. Sie wird hier als personale (Kern-)Kompetenz und Fähigkeit, Ich-Kompetenz oder Selbstkompetenz bezeichnet. Die Bildungspläne von Niedersachsen, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Bremen erwähnen Resilienz bzw. personale Fähigkeiten zwar, aber sie thematisieren sie nicht als Querschnittsthematik oder in Form eines eigenen Bereichs.
Kindertageseinrichtungen, die sich zu einem resilienzförderlichen Bildungs- und Lebensort für Kinder weiterentwickeln möchten, müssen verschiedene Aspekte berücksichtigen. Häufig wird unter Resilienzförderung lediglich die direkte Arbeit mit Kindern verstanden. Dies wäre aber zu kurz gegriffen und ist wenig nachhaltig. Verschiedene Studien zur Unterstützung der seelischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen verdeutlichen, dass ein multimodaler Ansatz – also die Berücksichtigung aller Ebenen um das Kind – wesentlich dazu beiträgt, langfristige Effekte zu gewährleisten (dazu z. B. Rathgeber & Hanisch 2024). Aus diesem Grund sollte eine Einrichtung neben der direkten Förderung der Kinder in der Institution selbst resilienzförderliche Strukturen verankern, die Eltern in ihre Arbeit einbeziehen und das soziale Netzwerk um die Kita ausbauen. Je mehr Anknüpfungspunkte es für die Kinder gibt und je stärker der Bezug zu ihrer Lebenswelt ist, desto besser gelingt eine nachhaltige Förderung ihrer seelischen Gesundheit. Deshalb stehen im Mittelpunkt dieses Buches fünf Bausteine (siehe Kapitel 3), die zentral sind für eine umfassende und nachhaltige Resilienzförderung. Diese Bausteine sollen im Sinne eines integrierten Konzepts Orientierung für die Praxis in Kindertageseinrichtungen bieten.
Im ersten Kapitel finden Leser und Leserinnen die Grundlagen von Resilienz, über die pädagogische Fachkräfte als Basiswissen verfügen sollten. Die wichtigsten Forschungen zur Resilienz werden dargestellt sowie Schutz- und Risikofaktoren für die kindliche Entwicklung erläutert. Außerdem werden die Resilienzfaktoren näher beleuchtet, die für die Resilienzförderung der Kinder wesentlich sind.
Kapitel zwei greift die Bedeutung der Kindertageseinrichtung für die gesunde Entwicklung der Kinder auf. Es skizziert die Aufgaben und Herausforderungen der pädagogischen Fachkräfte in Kitas und die Möglichkeiten von Präventionsprogrammen.
Im Mittelpunkt des dritten Kapitels stehen dann die fünf Bausteine, die bei der Förderung der Resilienz im Zentrum stehen. Die Leserinnen und Leser erfahren, welche Aspekte eine nachhaltige Resilienzförderung in ihrer Einrichtung gewährleisten. Sie erhalten für jeden der fünf Bausteine Handlungsorientierungen und Beispiele, die eine alltagspraktische Resilienzförderung in ihrer Einrichtung erleichtern:
• Der erste Baustein beschäftigt sich mit der Leitbildentwicklung. Sie ist Voraussetzung, um eine Kita zielgerichtet zu einem resilienzförderlichen Lern- und Lebensort für Kinder gestalten zu können.
• Im zweiten Baustein werden konkrete Handlungsmöglichkeiten vermittelt, wie die pädagogischen Fachkräfte die Resilienz der Kinder im Alltag unterstützen können. Ein Exkurs zum Umgang mit herausforderndem Verhalten ergänzt diesen Baustein.
•Baustein drei widmet sich der Zusammenarbeit mit den Bezugspersonen der Kinder, in der Regel also den Eltern. Ihre Erziehungskompetenz ist ein wichtiger Faktor für eine gelingende Resilienzentwicklung der Kinder.
• Der vierte Baustein beschreibt das Vorgehen zur Bildung von Netzwerken. Die Leser:innen erfahren, mit welchen Instrumenten sie ein Netzwerk analysieren, aufbauen und etablieren können.
• Im fünften Baustein werden Anregungen und Instrumente zur (Selbst-) Evaluation vorgestellt, mit denen Kindertageseinrichtungen ihre Angebote zur Resilienzförderung überprüfen können.
Bei der Resilienzförderung der Kinder im Kita-Alltag spielt auch die Resilienz der pädagogischen Fachkräfte eine wesentliche Rolle. Eine Fachkraft, die sich überfordert fühlt, gestresst und übermüdet ist, hat wenig Möglichkeiten, sich intensiv der Begleitung der Kinder sowie der Zusammenarbeit mit den Eltern zu widmen. Die Resilienz des pädagogischen Teams stellt deshalb die Basis für eine gelingende Unterstützung dar. Ausgangspunkt für Resilienzförderung ist somit die eigene Gesundheit, die im vierten Kapitel behandelt wird.
Zum Schluss folgt eine Zusammenfassung der zentralen Schritte, die notwendig sind, um sich zu einer resilienzförderlichen Kita zu entwickeln.
Die Themen in diesem Kapitel sind
→ Bedeutung des Resilienzbegriffs
→ Forschungslage zum Thema Resilienz
→ Risiko- und Schutzfaktoren
→ Resilienzfaktoren
Der Begriff Resilienz stammt aus dem englischsprachigen Raum. Resilience bedeutet dort Widerstandsfähigkeit, Elastizität und Spannkraft. Genauer gefasst beschreibt Resilienz die Fähigkeit, »erfolgreich mit belastenden Lebensumständen und negativen Stressfolgen« (Wustmann Seiler 2020, S. 18) umgehen zu können. Wenn also ein Mensch eine schwierige Situation, etwa den Verlust einer nahen Bezugsperson, angemessen bewältigt und sich trotz dieser Erfahrung gut entwickelt, wird von resilientem Verhalten gesprochen. Dementsprechend müssen für das Vorliegen von Resilienz immer zwei Bedingungen erfüllt sein:
• Es besteht eine Risikosituation.
• Diese Risikosituation wird von der betroffenen Person positiv bewältigt.
Wustmann Seiler (2020) definiert Resilienz als die »psychische Widerstandsfähigkeit gegenüber biologischen, psychologischen und psychosozialen Entwicklungsrisiken« (ebd.).
In den frühen Anfängen der Resilienzforschung beschrieben einige Forschungsergebnisse faszinierende Lebensverläufe von Menschen, die sich trotz schwierigster Bedingungen sehr gut entwickelten. Diese Personen galten als »Wunderkinder« oder als »unbesiegbar«, weil ihnen von Geburt an herausragende Fähigkeiten zugesprochen wurden. Man war der Ansicht, dass diese Fähigkeiten angeboren waren und sich nicht im Laufe der Zeit entwickeln können. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass man davon ausging, keinen Einfluss auf die Resilienzentwicklung nehmen zu können. Auch wurde Resilienz als Charakterzug dargestellt, was dazu führte, fehlende Resilienz als individuelles Charakterdefizit zu interpretieren. Gabriel (2005, S. 213) warnt deshalb explizit vor dieser Betrachtungsweise und verdeutlicht den Einfluss und die Relevanz von Erziehung, Bildung und Familie sowie von sozialen Netzwerken auf die Ausbildung von Resilienz.
Heute ist klar: Resilienz ist nicht angeboren und man kann sie auch nicht für immer erwerben. Sie verändert sich im Laufe des Lebens und muss immer wieder neu erlernt bzw. »aufgefrischt« werden. Dafür brauchen Kinder die Hilfe ihrer Bezugspersonen in der Familie und der pädagogischen Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen und Schulen. Resilienz ist deshalb auch keine Persönlichkeitseigenschaft, sondern »ein dynamischer Anpassungs- und Entwicklungsprozess […] und wird im Verlauf der Entwicklung im Kontext der Kind-Umwelt-Interaktion erworben« (Wustmann Seiler 2020, S. 28). Damit wird deutlich, dass Resilienz nicht passiv übernommen wird, sondern dass das Kind aktiv am Prozess der Entwicklung und Ausformung seiner eigenen Stärken beteiligt ist.
Inzwischen liegt eine große Bandbreite an Definitionen vor, die jeweils verschiedene Aspekte des Konzepts akzentuieren. Diese beinhalten die Beschreibung von Resilienz als Kapazität, als Prozess oder als Outcome. Im Sinne eines Modells, das alle drei Perspektiven integriert, beschreiben Arnold, Schilbach und Rigotti (2023), dass die Resilienzentwicklung zum einen durch die Resilienzkapazität, also durch verschiedene Schutz- und Resilienzfaktoren, beeinflusst wird und zum anderen durch das Outcome, d. h. die erfolgreiche Anpassung an eine belastende Situation. Allen aktuellen Definitionen gemeinsam ist, dass unter Resilienz keine angeborene Eigenschaft oder einmal erlernte Fähigkeit verstanden wird, sondern es sich um einen lebenslangen Prozess handelt. Resilienz kann nicht einmal erworben und dann für immer behalten werden, sondern verändert sich im Laufe des Lebens eines Menschen, abhängig von den Erfahrungen und Erlebnissen, die bei der Bewältigung von Krisen und Herausforderungen gemacht werden. In dem Prozess spielen verschiedenste Resilienzmechanismen eine Rolle, die nach wie vor im Fokus der Forschung stehen (Kalisch, Müller & Tüscher 2015).
Die Resilienz ist also nicht in jeder Lebensphase und bei jedem Menschen gleich, sondern eine variable Größe. Dadurch kann es vorkommen, dass Kinder, ebenso wie Erwachsene, zu einem bestimmten Zeitpunkt ihres Lebens resilient sind, zu anderen Zeitpunkten mit anderen Risikolagen jedoch mehr Schwierigkeiten haben, die Belastungen zu bewältigen (Opp, Fingerle & Suess 2024). Außerdem ist Resilienz nicht auf alle Lebensbereiche eines Menschen übertragbar. So können Kinder, die in ihrer Freizeit resilient sind, im Kindergarten oder in der Schule Schwierigkeiten haben, Beziehungen einzugehen und sich dort als sozial wenig kompetent erweisen. Deshalb spricht man auch von situationsspezifischer Resilienz (Petermann & Schmidt 2006). Es geht bei Resilienz somit vor allem um den »Erwerb bzw. Erhalt altersangemessener Fähigkeiten und Kompetenzen« und die »erfolgreiche Bewältigung von altersspezifischen Entwicklungsaufgaben« (Wustmann Seiler 2020, S. 20).
ÜBERBLICK
Merkmale von Resilienz
• Resilienz ist ein dynamischer Anpassungs- und Entwicklungsprozess.
• Resilienz ist eine variable Größe.
• Resilienz ist situationsspezifisch und multidimensional.
Parallel zu den Anfängen der Resilienzforschung richtete die Entwicklungspsychologie und Klinische Psychologie ihr Augenmerk schon in den 1970er-Jahren vermehrt auf die positiven Fähigkeiten von Kindern, die sich trotz andauerndem, hohem Risikostatus (z. B. Armut oder psychische Erkrankung der Eltern) gut entwickelten. Damit wurde ein Paradigmenwechsel, also eine Änderung der Blickrichtung, eingeläutet. Nachdem die Forschung bis dahin hauptsächlich Studien zu den Risikoeinflüssen auf die kindliche Entwicklung durchführte und der Blick maßgeblich auf den Defiziten und Schwierigkeiten lag, wurde jetzt die Aufmerksamkeit vermehrt auf die Ressourcen und Schutzfaktoren von Kindern gerichtet.
In der Resilienzforschung lassen sich vier Phasen identifizieren: In der ersten Phase entstand die empirische Grundlage, d. h. die Identifikation von Schutzfaktoren und Schlüsselkonzepten in Bezug auf Resilienz. In der zweiten Phase wurden vor allem die Prozesse und Wirkmechanismen der verschiedenen Faktoren untersucht und ihre Wechselwirkungen in den Fokus gestellt. Diese Forschungen unterstrichen die Bedeutung des Kontextes. In der parallel entstandenen dritten Phase wurden resilienzfördernde Maßnahmen und Präventionsprogramme entwickelt. Hier ging es weniger um Grundlagenforschung, sondern vielmehr um die Umsetzung der Erkenntnisse im Alltag (O’Dougherty Wright & Masten 2006 in Bengel, Meinders-Lücking & Rottmann 2009, S. 15 ff.). Inzwischen stehen insbesondere die verschiedenen Resilienzmechanismen im Fokus (z. B. Kalisch et al. 2015) und die Entwicklung von passgenauen Messinstrumenten.
Verschiedenste Längsschnittstudien, also Forschungen über mehrere Jahre bzw. Jahrzehnte, beschäftigen sich mit dem Phänomen der Resilienz (Zusammenstellung bei Rönnau-Böse 2013; Lindert, Schick, Reif, Kalisch, & Tüscher 2018). Die wohl bekannteste und auch älteste Studie davon ist die Kauai-Studie von Werner und Smith (1982). Die Amerikanerin Emmy Werner und ihre Forschungsgruppe haben die Entwicklung des gesamten Geburtsjahrgangs von 1955 der hawaiianischen Insel Kauai über einen Zeitraum von über 40 Jahren dokumentiert. Von 698 Menschen wurden im Alter von 1, 2, 10, 18, 32 und 40 Jahren Daten zu ihrer Lebens- und Gesundheitssituation erhoben. Dabei wurde deutlich, dass ein Drittel dieser Menschen mit einer Vielzahl von Risiken konfrontiert war, wie zum Beispiel chronischer Armut oder psychischen Erkrankungen der Eltern. Trotzdem entwickelten sich nicht alle betroffenen Kinder wie anfangs erwartet weniger gut, sondern ein Drittel bewältigte die schwierigen Anforderungen (Werner 2000). Das zeigte sich zum Beispiel daran, dass sie Beziehungen eingehen konnten, optimistisch waren oder einer erfüllenden Arbeit nachgingen. Im Laufe ihres Lebens zeigten sich bei ihnen im Vergleich zu den anderen Kindern derselben Risikogruppe weniger chronische Krankheiten und Scheidungen, und auch die Todesrate war geringer (Wustmann Seiler 2020). Worin unterschieden sich diese Menschen von den anderen?
Werner beschrieb eine »Kette schützender Faktoren«, die sich zusammensetzt aus Schutzfaktoren, die das Individuum selbst mitbringt, und Faktoren innerhalb der Familie und im sozialen Umfeld des Menschen. Diese Schutzfaktoren bedingen sich gegenseitig und führen zu einem positiven Zusammenspiel (Werner 2024).
Zu ähnlichen Ergebnissen kamen auch andere Längsschnittstudien, obwohl sie ganz unterschiedliche Zielgruppen untersuchten und in verschiedenen Settings stattfanden. So untersuchte die Mannheimer Risikokinderstudie (Hohm et al. 2017) die Entwicklung von Kindern, die zum Zeitpunkt ihrer Geburt verschiedenen Belastungen ausgesetzt waren. Die Bielefelder Invulnerabilitätsstudie (Lösel & Bender 2008) dagegen befasste sich mit Jugendlichen, die in einem Heim aufwuchsen.
ÜBERBLICK
Studien zur Resilienz
Die Anfänge der Resilienzforschung liegen in den 1970er-Jahren und führten zu einem Paradigmenwechsel: Die Forschung interessierte sich zunehmend für die Kompetenzen und Ressourcen der Menschen und nicht nur für ihre Schwierigkeiten und Risiken. Die bekannteste Studie ist die Kauai-Studie von Emmy Werner und ihrem Forschungsteam, die 1955 begann. Die zwei größten Studien in Deutschland sind die Mannheimer Risikokinderstudie und die Bielefelder Invulnerabilitätsstudie.
Vier Phasen der Resilienzforschung lassen sich identifizieren:
1. Grundlagenforschung
2. Untersuchung der Prozesse und Wirkmechanismen
3. Entwicklung von Präventions- und Resilienzförderprogrammen
4. Identifikation von Resilienzmechanismen
Zusammengetragen aus allen Studien ergeben sich eine Reihe von Risiko- und Schutzfaktoren, die im Folgenden erläutert werden sollen.
Eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung von Resilienz spielen Risiko- und Schutzfaktoren. Lange Zeit standen vor allem die Risikofaktoren im Fokus der Forschung. Diese beschäftigten sich mit der Frage, welche Risiken die Entwicklung von Kindern beeinflussen. Damit verbunden ist eine pathogenetische Sichtweise, d. h., im Mittelpunkt der Betrachtung stehen Faktoren und Lebensbedingungen, die die kindliche Entwicklung gefährden, beeinträchtigen und zu seelischen Störungen und Erkrankungen führen können (Holtmann & Schmidt 2004). Unterschieden wird dabei zwischen kindheitsbezogenen Merkmalen, den Vulnerabilitätsfaktoren (biologische und psychologische Faktoren), und den eigentlichen Risikofaktoren, den Stressoren, die sich aus der psychosozialen Umwelt des Kindes ergeben (Petermann, Niebank & Scheithauer 2004). Letztere sind am häufigsten dafür verantwortlich, dass die Entwicklung eines Kindes ungünstig verläuft, und beeinträchtigen vor allem die kognitive und sozial-emotionale Entwicklung.
ÜBERBLICK
Risikofaktoren
Die Risikofaktoren unterteilen sich in Vulnerabilitätsfaktoren (biologische und psychologische Faktoren) und Stressoren (Umwelteinflüsse).
Vulnerabilitätsfaktoren
• prä-, peri- und postnatale Faktoren, zum Beispiel Frühgeburt, Geburtskomplikationen, niedriges Geburtsgewicht, Ernährungsdefizite, Erkrankung des Säuglings
• neuropsychologische Defizite, zum Beispiel Teilleistungsstörungen im Bereich der Wahrnehmungsverarbeitung
• psychophysiologische Faktoren, zum Beispiel ein sehr niedriges Aktivi-
• tätsniveau genetische Faktoren wie Chromosomen-Anomalien
• chronische Erkrankungen, zum Beispiel Asthma, Neurodermitis, Krebs, schwere Herzfehler, hirnorganische Schädigungen
• schwierige Temperamentsmerkmale, wie zum Beispiel frühes impulsives Verhalten, hohe Ablenkbarkeit, Schwierigkeiten, in den Schlaf zu finden
• unsichere Bindungsorganisation
• geringe kognitive Fähigkeiten: niedriger Intelligenzquotient, Defizite in der Wahrnehmung und sozial-kognitiven Informationsverarbeitung
• geringe Fähigkeiten zur Selbstregulation von Anspannung und Entspannung
Stressoren
• niedriger sozioökonomischer Status, chronische Armut
• unsicheres Wohnumfeld, zum Beispiel in Wohngegenden mit hohem
• Kriminalitätsanteil chronische familiäre Disharmonie
• elterliche Trennung und Scheidung
• Alkohol-/Drogenmissbrauch der Eltern
• psychische Störungen oder Erkrankungen eines bzw. beider Elternteile
• Kriminalität der Eltern
• Obdachlosigkeit
• niedriges Bildungsniveau der Eltern
• Abwesenheit eines Elternteils bzw. alleinerziehender Elternteil
• Erziehungsdefizite oder ungünstige Erziehungspraktiken der Eltern, zum Beispiel inkonsequentes, zurückweisendes oder inkonsistentes Erziehungsverhalten, Uneinigkeit der Eltern in Erziehungsmethoden, körperliche Strafen, zu geringes Beaufsichtigungsverhalten, Desinteresse/ Gleichgültigkeit gegenüber dem Kind, mangelnde Feinfühligkeit und ein zu geringes Eingehen auf die Interaktions- und Kommunikationsversuche der Kinder (Responsivität)
• sehr junge Elternschaft (vor dem 18. Lebensjahr)
• unerwünschte Schwangerschaft
• häufige Umzüge, Schulwechsel
• außerfamiliäre Unterbringung
• Migrationshintergrund in Verbindung mit niedrigem sozioökonomischem
• Status soziale Isolation der Familie
• Verlust eines Geschwisters oder einer eng befreundeten Person
• Geschwister mit einer Behinderung, Lern- oder Verhaltensstörung
• mehr als vier Geschwister
• Mobbing/Ablehnung durch Gleichaltrige
(Vgl. Wustmann Seiler 2020, S. 38 f.)
Ob und inwieweit ein Risikofaktor zum Tragen kommt, hängt von verschiedenen Aspekten ab. Holtmann und Schmidt (2004, S. 196) sprechen deshalb bei ihrer Definition von Risikofaktoren nur von einer »potenziellen Gefährdung«. Vor allem in Phasen erhöhter Vulnerabilität – also in Zeiten, in denen ein Kind »verwundbarer« ist – ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Risikofaktor die Entwicklung gefährdet, größer. Dies sind zum Beispiel der Übergang vom Kindergarten in die Schule oder die Pubertät. In diesen Zeiten werden viele Anforderungen an das Kind gestellt und müssen von ihm oft gleichzeitig bewältigt werden, sodass ein zusätzlich auftretender Risikofaktor, wie zum Beispiel die Trennung der Eltern, eine Anforderung zu viel darstellen kann.
Ob Risikofaktoren sich negativ auswirken oder eher eine untergeordnete Rolle spielen, hängt von zahlreichen Bedingungen ab (Scheithauer & Petermann 1999, S. 6 f.):
•Anhäufung (Kumulation) von Risikofaktoren: Je mehr Risikofaktoren gleichzeitig auftreten, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit für eine fehlangepasste Entwicklung.
•Dauer/Kontinuität der Risikofaktoren: Je länger ein Risikofaktor auf das Kind einwirkt, desto größer ist das Risiko für negative Auswirkungen.
•Abfolge der Risikofaktoren: Je früher ein Risikofaktor auftritt, desto anfälliger sind Kinder in ihrer Entwicklung.
•Geschlechtsspezifische Aspekte: Es gibt vermehrt Belege dafür, dass das männliche Geschlecht insgesamt anfälliger für Risikofaktoren ist.
•Subjektive Bewertung der Risikofaktoren: Wenn das Kind die Situation als nicht belastend erlebt, wird der Risikofaktor abgeschwächt.
Aufgrund dieser vielen Aspekte ist es für die Beurteilung eines Entwicklungsverlaufs bzw. -standes und zum Verstehen seines Verhaltens wichtig, die individuelle Geschichte eines Kindes – und damit das Zusammenspiel von Risiko- und Schutzfaktoren – zu berücksichtigen.
Die oben beschriebenen Studien führten dazu, dass deutlich stärker die Schutzfaktoren