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Sie hat ihn verraten. Doch das Schicksal führt sie wieder zusammen … Bly hat zwar die Revenant Games gewonnen – doch dabei alles verloren. In dem Versuch, ihre Schwester zu retten, hat sie ihre große Liebe, den Vampir Kerrigan, verraten. Doch als sie nun die Spur aufnimmt auf der Suche nach ihrer verschollenen Schwester, führt sie das Schicksal wieder mit Kerrigan zusammen. Denn nur, wenn beide eine sagenumwobene Pflanze aufspüren, werden sie der Rache der Vampirköniginnen entgehen … Der furiose Abschluss der unwiderstehlichen Slow-Burn-Fantasy-Dilogie für alle Leser*innen von »Hunger Games«, »Wicca Creed« und »Crush« – süchtig-machender Enemies-to-Lovers-Stoff!
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Margie Fuston
Jagd des Schicksals
Sie hat ihn verraten. Doch das Schicksal führt sie wieder zusammen …Bly hat zwar die Revenant Games gewonnen – doch dabei alles verloren. In dem Versuch, ihre Schwester zu retten, hat sie ihre große Liebe, den Vampir Kerrigan, verraten. Doch als sie nun die Spur aufnimmt auf der Suche nach ihrer verschollenen Schwester, führt sie das Schicksal wieder mit Kerrigan zusammen. Denn nur, wenn beide eine sagenumwobene Pflanze aufspüren, werden sie der Rache der Vampirköniginnen entgehen …
Der furiose Abschluss der unwiderstehlichen Slow-Burn-Fantasy-Dilogie für alle Leser*innen von »Hunger Games«, »Wicca Creed« und »Crush« – süchtig-machender Enemies-to-Lovers-Stoff!
Weitere Informationen finden Sie unter www.fischer-sauerlaender.de
Margie Fuston ist in Kalifornien aufgewachsen. Die Wälder dort inspirierten sie schon früh zu vielen phantastischen Welten, in denen immer Einhörner vorkamen. Sie studierte BWL und Englische Literatur und hat einen Master im Studiengang Kreatives Schreiben. Heute lebt sie wieder in den Wäldern Kaliforniens, zankt sich täglich mit ihren Katzen und hilft ihren Neffen dabei, Geistern, Teichmonstern und Meerjungfrauen hinterherzujagen.
Erschienen bei Fischer Sauerländer E-Book
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2025 unter dem Titel »The Hallow Hunt«
bei Margaret K. McElderry Books, einem Imprint der Simon & Schuster Children's Publishing Division, New York.
Published by Arrangement with Margaret K. McElderry Books.
Text © 2025 by Margie Fuston
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2025 Fischer Sauerländer GmbH,
Hedderichstraße 114, 60596 Frankfurt am Main
Lektorat: Svenja Kopfmann
Covergestaltung: Birgit Gitschier Grafikdesign & Illustration
Coverabbildung: Birgit Gitschier unter Verwendung von Motiven von Shutterstock
ISBN 978-3-7336-0870-5
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[Widmung]
EINS
ZWEI
DREI
VIER
FÜNF
SECHS
SIEBEN
ACHT
NEUN
ZEHN
ELF
ZWÖLF
DREIZEHN
VIERZEHN
FÜNFZEHN
SECHZEHN
SIEBZEHN
ACHTZEHN
NEUNZEHN
ZWANZIG
EINUNDZWANZIG
ZWEIUNDZWANZIG
DREIUNDZWANZIG
VIERUNDZWANZIG
FÜNFUNDZWANZIG
SECHSUNDZWANZIG
SIEBENUNDZWANZIG
ACHTUNDZWANZIG
NEUNUNDZWANZIG
DREISSIG
EINUNDDREISSIG
DANKSAGUNG
Den Menschen gewidmet, die für ihre Liebsten alles opfern.
Und Liam, dem mutigsten Jungen, den ich kenne.
Bly erstarrte unter dem eiskalten Blick des Hexers, dessen Augen vor dem Hintergrund des frisch gefallenen, in der schwächer werdenden Abendsonne glitzernden Schnees grellblau leuchteten. In einem früheren Leben hätte sie die Augen des jungen Mannes vielleicht als hübsch und ihn selbst als gut aussehend empfunden, mit seinen dunkelbraunen, bis zum kantigen Kinn reichenden Locken.
Vielleicht aber auch nicht. Er umklammerte die Eisenstangen des Käfigs, in dem er stand, und aus seinem Gesicht sprach unverhohlene Abscheu, als er auf Bly hinabstarrte. So sah man niemanden an, der gekommen war, um einen zu retten, zumal sie ihn noch nicht einmal aus dem Käfig befreit hatte.
»Bly.«
Beim Klang ihres Namens fuhr sie herum. Hazel stand neben ihr und sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. Die ältere Frau verstand, warum Bly zögerte, würde es jedoch nicht tolerieren, wenn sie einen Rückzieher machte.
Bly konzentrierte sich für einen Moment ganz auf Hazel. Ihre Hexenaugen blickten freundlich und verrieten ihr gutes Herz, auch wenn sie ebenso eisblau leuchteten wie die Augen des Hexers im Käfig. Es war eben dieses Blau, das noch immer Blys Albträume heimsuchte. Zum Glück genügte oft ein Blick auf Hazel, um ihr in Erinnerung zu rufen, dass nicht alle Hexen böse waren und nur ein kleiner Teil von ihnen zu der Gruppe gehörte, die Elise verschleppt hatte. Hazel hatte Bly nach der Hexenprüfung geholfen, und Bly hatte sie sogar dabei ertappt, wie sie während der Spiele zwei Menschen befreit hatte. Es gab viele Hexen, die Mitleid hatten und ein gutes Herz besaßen. Blys Verstand wusste das, wohingegen ihr eigenes Herz in Momenten wie diesen noch immer in ihrer Brust anschwoll und allzu schnell bereit war, ihr Gegenüber als schuldig zu betrachten.
»Beeil dich, Mensch«, drängte der Hexer, der vor ihr im Käfig stand.
Bly drehte sich zu ihm zurück und fletschte die Zähne wie eine Vampirin, die ein Stück aus ihm herausbeißen wollte. Er bedachte sie mit einem höhnischen Grinsen. Vielleicht war er ja doch böse. Sie konnte sich jedenfalls mühelos vorstellen, wie er Elise auf eine Trage zerrte und über ihren schlaff zur Seite fallenden Kopf lachte.
Vehement schüttelte sie dieses Bild ab. »Warum bist du hier gelandet?«, presste sie hervor.
Er starrte sie weiter so abfällig an, als wäre sie eine Maus, die über seinen Stiefel huschte.
»Antworte mir, oder ich gehe wieder.«
Insgeheim hoffte sie, dass er stumm blieb. Dann konnte sie ihn zurücklassen, so lautete die Regel. Sämtliche Gefangenen erhielten die Gelegenheit zu erklären, warum sie in einem dieser tief im Wald versteckten Gefängnisse gelandet waren. Sowohl die Vampire als auch die Hexen hatten geheime Orte voller Gefangener, die sie eigentlich nicht am Leben erhalten durften: Vertreter der Gegenseite, die während der Spiele an sie ausgeliefert worden waren oder sich auf den Märkten des Ödlands an einem Menschen vergriffen hatten und auf diese Weise dafür bestraft wurden. Laut Gesetz mussten die Gefangenen eigentlich getötet werden, ein einmaliges Vergießen feindlichen Bluts. Keiner von ihnen dürfte also unbefristet festgehalten werden, um ein elendes Dasein als nie versiegende Blutquelle zu fristen.
Und dann waren da noch die menschlichen Gefangenen. Die meisten von ihnen hatten im Kampf ums Überleben Verzweiflungstaten begangen. Oder es waren Menschen wie Elise, die nichts weiter verbrochen hatte, als einen mit einem Fluch belegten Pilz zu berühren, und die dafür von den Hexen an die Vampire verkauft worden war.
Bly wollte sich gerade abwenden, als der Hexer sagte: »Ich bin vor drei Jahren während der Spiele an die Vampire ausgeliefert worden.« Seine Stimme klang jetzt nicht mehr ganz so höhnisch.
Bly musterte seine abgewetzte Kleidung, die rotbraunen Flecken, die sein Hemd auf Höhe der Ellbogen aufwies.
Er hätte natürlich lügen können, damit sie ihn befreite, aber es war erstaunlich, wie viele Gefangene die Wahrheit sagten. Die Hexe im Käfig daneben würde nicht freikommen. Sie hatte gestanden, eine Frau mit einem Todesfluch belegt zu haben, nur weil diese ihren Rock auf einem Markt im Ödland versehentlich mit Schlamm bespritzt hatte. Durch ihre Unbeherrschtheit hatte sie es den dortigen Vampirwachen ermöglicht, sie zur Strafe gefangen zu nehmen, was sie nicht zur Einsicht gebracht zu haben schien. Sie behauptete, stolz auf ihre Tat zu sein.
Bly umklammerte fest den Zaubergegenstand, mit dem sie das Schloss des Käfigs aufbrechen würde, zögerte jedoch.
Wenn sie diesen Hexer freiließ, würde er vielleicht eines Tages einem Menschen schaden.
Hazels Schulter berührte die ihre, als sie sich neben sie stellte. »Soll ich das für dich übernehmen?«
»Ja, bitte!«, drängte der Hexer.
Hazel konzentrierte sich allein auf Bly. »Er ist keiner der Täter.«
»Ich weiß.« Bly konnte nicht anders: Sie sah in jeder neuen Hexe und jedem neuen Hexer diejenigen, die ihre Schwester entführt hatten.
Seufzend sagte Bly den Zauberspruch auf und brachte das Schloss zum Zerbersten. Bevor sie auch nur einen Schritt nach hinten machen konnte, schob sich der Hexer schon ungeduldig durch die Käfigtür, sodass eine der Metallstangen gegen ihren Arm stieß. Bly taumelte nach hinten, und nur Hazels Hand auf ihrem Ellbogen hielt sie davon ab, mit dem Hintern im Schnee zu landen.
Bly zischte wutentbrannt und zog blitzschnell einen Pfeil aus ihrem Köcher. Dabei besaß sie noch nicht einmal einen Bogen, denn sie war bisher keine besonders gute Schützin. Aber sie hatte Fesselzauber an die Pfeilspitzen gebunden, wodurch sie ihre Gegner bei einem Kampf unschädlich machen konnte, ohne ihnen zu nahe zu kommen. Sie wollte dem Hexer erst nachsetzen, blieb dann jedoch stehen. Wozu die Mühe? Nichts, was sie tat, konnte ihr zurückgeben, was sie verloren hatte. Mit hängenden Schultern sah sie sich um, ließ den Blick über die leeren Käfige schweifen.
Das Gefängnis war tief in den Wäldern um Vagaris versteckt, innerhalb eines dichten Rings aus Kiefern, an deren Stämmen die Vampirwachen gelehnt hatten, bevor die Rebellen sie in Schlaf versetzt hatten. In der Mitte der Lichtung, die sich zwischen diesen Bäumen auftat, stand eine Ansammlung schimmernder Metallkäfige, die hoch und schmal waren, zu schmal, um sich in ihnen hinlegen zu können.
Die meisten Wachen waren friedlich eingeschlummert, nachdem die Rebellen sich mithilfe eines Unsichtbarkeitszaubers genähert und sie durch Schlafzauber unschädlich gemacht hatten. Doch diese Schlafzauber waren schwer zu bekommen, und die Gruppe musste sie sparsam einsetzen. Es war daher ein kurzer Kampf entbrannt, bei dem sie eine der Wachen, die der Hälfte der Rebellen blutige Wunden verpasst hatte, enthaupten mussten.
Bly betrachtete blinzelnd die Folgen: Überall verunzierten rote Flecken die verschneite Landschaft.
Blut und Schnee, aber keine Elise. Es war fast eineinhalb Jahre her, dass Blys Schwester den Pilz berührt hatte und von den Hexen davongetragen worden war, tot, wie Bly fälschlicherweise geglaubt hatte. Und sechsundvierzig Tage, seit Bly an den Spielen teilgenommen hatte, um den Hexenpreis zu gewinnen und ihre Schwester von den Toten zu erwecken, nur um nach ihrem Sieg festzustellen, dass Elise gar nicht tot war.
Ihr einziger Hinweis auf den Verbleib ihrer Schwester stammte aus der unwahrscheinlichsten aller Quellen: von Donovan, dem Vampir, den Bly den Hexen ausgeliefert hatte, um den von ihnen ausgesetzten Preis zu gewinnen. Bevor die Hexen Donovan davongeschleift hatten, hatte er ihr zugeraunt, dass er wisse, wo ihre Schwester sei, es ihr allerdings nur verraten werde, wenn sie ihn zuvor befreie.
Durch seine Anspielung war neue Hoffnung in ihr erwacht, aber nachdem sie wochenlang keine weiteren Hinweise auf Elises Schicksal gefunden hatte, war der Funken Hoffnung beinahe wieder erloschen, und sie wusste kaum noch, woher sie die Kraft nehmen sollte weiterzumachen.
Donovan war nicht in dem Hexengefängnis gewesen, das die Rebellen letzte Woche im Wald von Havenwhile überfallen hatten, aber wenn er, der Vampirprinz, wusste, wo Elise war, hieß das vermutlich, dass sie in einem Gefängnis der Vampirstadt ihr Dasein fristete. Als Bly den Hinweis auf diese im Wald versteckten Käfige erhalten hatte, hatte sie daher zu glauben gewagt, dass sie ihre Schwester hier finden würde.
Hazel hatte ihr erzählt, dass es viele solche Geheimgefängnisse gab, außerhalb der Stadtmauern, damit die Herrscherinnen behaupten konnten, nichts von ihrer Existenz geahnt zu haben. Sie wurden bewusst klein gehalten, damit im Falle eines Angriffs nicht die gesamten Blutvorräte der Stadt verloren waren.
Bly blieb nichts anderes übrig, als weiter mit Hazels Rebellengruppe zusammenzuarbeiten, die jeden zu befreien versuchte, der sein Schicksal nicht verdient hatte. Irgendwann musste Elise in einem der Gefängnisse auftauchen, doch in der Zwischenzeit brauchten andere ihre Hilfe. Leider fiel es Bly ungemein schwer, sich auf etwas anderes zu konzentrieren als die Rettung der Person, die ihr am meisten bedeutete.
Hazel hatte sie längst durchschaut und wusste, dass ihr oberstes Ziel nicht darin bestand, möglichst viele Unschuldige zu befreien. Bly glaubte nicht, dass die alte Hexe sich daran störte, schließlich war sie – Bly – es gewesen, die der Gruppe unter Einsatz ihres Lebens die Information geliefert hatte, wo genau sich dieses Gefängnis befand. Ob sie es für Elise getan hatte oder für den Hexer, der sie gerade fast zu Boden gestoßen hatte, war der Rebellenführerin sicher egal. Ihr war nur wichtig, was am Ende dabei herauskam.
Hazel drückte Blys Ellbogen noch einmal aufmunternd, bevor sie ihn losließ. Bly hatte gar nicht gemerkt, dass sie sich immer noch auf die ältere Frau gestützt hatte.
»Kommst du mit uns nach Hause?«, fragte die Hexe.
Bly verstand nicht, warum Hazel es hartnäckig ein Zuhause nannte. Die Rebellen wechselten alle vier Wochen, immer bei Neumond, ihren Lagerplatz. Da es sich um eine gemischte Gruppe aus Vampiren, Hexen und Menschen handelte, fanden sie weder in der Vampirstadt Vagaris noch in der Hexenstadt Havenwhile eine sichere Zuflucht. Und in den von Armut geplagten menschlichen Dörfern des Ödlands, das auf einem unfruchtbaren Streifen Land zwischen den verfeindeten Städten lag, war noch nie jemand sicher gewesen.
Bly schüttelte den Kopf. Sie würde nicht mitkommen ins Rebellenlager. Sie hatte kein Zuhause mehr.
Nach ihrer Teilnahme an den Spielen der Wiederkehr hatte sie zunächst nicht gewusst, wohin. Elise war irgendwo dort draußen und brauchte ihre Hilfe, denn durch ihre Adern strömte ein Todesfluch. Bly ging davon aus, dass sie in Vagaris gefangen gehalten wurde, aber sicher war sie sich dessen nicht.
Zurück ins Ödland zu ihren Eltern konnte sie nicht – sie hätte den beiden beichten müssen, was diese von Anfang an vorhergesehen hatten: dass sie die Spiele verloren hatte. Streng genommen stimmte das nicht, denn Bly hatte sowohl den Hexenpreis als auch den Vampirpreis gewonnen, aber es war ihr nicht gelungen, Elise zurückzuholen, und den Geldpreis, der auf den Sieg ausgesetzt gewesen war, konnte sie auch nicht vorweisen, schließlich hatte sie ihn ihren Mitstreitern abtreten müssen.
Und so war es ausgeschlossen, dass sie in das Haus ihrer Eltern zurückkehrte. Zumal sie sich dort nie wirklich wohlgefühlt hatte. Das Elternhaus sollte eigentlich ein Ort sein, an dem man Geborgenheit und Trost fand, aber Bly war nichts dergleichen zuteilgeworden, auch nicht vor Elises Verschwinden.
Seit Bly wusste, dass ihre Schwester noch lebte, war diese immerhin kein Gespenst mehr. Doch sie selbst hatte sich in eins verwandelt. Alles, was sie tat, war, verzweifelt nach den Dingen zu streben, die ihr einst das Gefühl gegeben hatten, lebendig zu sein.
In einem Moment der Schwäche schweiften ihre Gedanken zu Kerrigan ab, der die Fähigkeit in ihr wachgerufen hatte zu fühlen, obwohl sie geglaubt hatte, sie für immer eingebüßt zu haben. Inzwischen mied sie die Erinnerung an ihn, so gut sie konnte. Es war sinnlos, über etwas nachzugrübeln, was sie nicht mehr haben konnte – nicht nach dem, was sie ihm angetan hatte.
Kerrigan war bereitwillig mit ihr nach Havenwhile gegangen, damit sie ihn den Hexen ausliefern und Elise aus dem Totenreich zurückholen konnte. Aber als der Gedanke, ihn zu verlieren, ebenso unerträglich geworden war wie der Gedanke, ihre Schwester nicht retten zu können, hatte Bly versucht, alles zu haben. Sie hatte Kerrigan auf die schlimmstmögliche Weise betrogen: indem sie den Hexen an seiner Stelle seinen Bruder Donovan übergeben hatte.
Sie hatte ihm seinen Bruder genommen, um ihre Schwester zu retten.
Dieses Dasein als ruheloses Gespenst hatte sie also verdient.
Und als solches war sie nach den Spielen bei den Rebellen gelandet. Sie hatte Hazel ausfindig gemacht, weil sie nicht gewusst hatte, was sie sonst tun sollte. Die Hexe selbst nannte sich und die ihren allerdings gar nicht Rebellen. Für ihren Geschmack war dieses Wort zu gewalttätig, was genau der Grund war, warum Bly es vorzog. Hazel nannte ihren Trupp von Gefängnisstürmern »Heiler«. Es handelte sich um eine Gruppe aus Hexen, Menschen und Vampiren, die das Böse, das ihre Welt beherrschte, erkannt hatten und es seither mit ihren begrenzten Mitteln bekämpften. Sie versuchten nicht nur, die illegalen Gefängnisse zu leeren, die beide Seiten betrieben, sie stahlen auch Vorräte, wo immer sie konnten, um sie an jene Bewohner des Ödlands weiterzuleiten, die sie am dringendsten benötigten.
Sie nannten sich Heiler, weil sie retten wollten, nicht töten – zumindest immer dann, wenn es ihnen möglich war.
Blys Blick huschte zu dem enthaupteten Vampir. Die Heiler hatten versucht, seine Selbstheilungskräfte anzuregen und ihn vor dem Tod zu bewahren, aber es war zu spät gewesen.
Zum Glück musste sie selbst nicht die Welt retten, nur Elise finden. Die Rebellen brauchten Gespenster wie sie – Menschen, denen es gleichgültig war, ob sie bei der hartnäckigen Verfolgung ihrer Ziele verletzt wurden oder starben.
Bly schüttelte sich. Hazel war davongegangen, um sich um die Befreiten zu kümmern, sofern sie nicht blindlings in den Wald geflohen waren. Die übrigen Rebellen taten dasselbe, oder sie schlossen die Vampirwachen in den nun leeren Käfigen ein, wo die Ablösung sie bald finden würde.
Bly hätte ihnen helfen müssen, zog sich jedoch stattdessen die Kapuze über den Kopf und wollte sich in den Wald davonstehlen.
»Bly!«, rief Hazel ihr nach.
Die Stimme der Hexe drang zwar an ihr Ohr, aber Bly ignorierte sie. Es hatte sie viel Kraft gekostet, Interesse für die heutige gute Tat der Heiler zu heucheln.
»Wir haben einen neuen Hinweis auf ein Hexengefängnis in der Nähe von Havenwhile«, fügte Hazel hinzu. »Gut möglich, dass wieder nichts dabei herausspringt für dich, aber unsere Späher haben dort einen Mann mit roten Haaren gesichtet.«
Bly blieb stehen.
War das vielleicht Donovan?
In ihrer Brust regte sich etwas – das letzte Aufflackern der Hoffnung, die sie so verzweifelt am Leben zu erhalten versuchte.
»Wo genau?«, fragte sie tonlos und blickte endlich über die Schulter zu Hazel zurück.
Die Heilerin schüttelte den Kopf. Sie war zu klug, um Bly so kurz nach einer erlittenen Enttäuschung den exakten Standort zu verraten. »Wir brechen in vier Tagen um Mitternacht auf.«
»Warum so spät? Wir könnten problemlos früher angreifen!«, fuhr Bly die Hexe an.
Hazel schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Dann wären wir aber nicht im Vollbesitz unserer Kräfte. Außerdem müssen wir das Gefängnis erst genauer auskundschaften und einen Schlachtplan schmieden. Du bist herzlich eingeladen, mit uns ins Lager zu kommen und bei den Vorbereitungen zu helfen. Dann bist du beschäftigt und kannst dich von der vielen Grübelei ablenken.«
Bly seufzte. Sie mochte keine Vorbereitungen, wollte am liebsten sofort lospreschen. Hazel wusste das.
»Ich stöbere lieber weitere Gefängnisse hier in Vagaris auf.«
Es half, umgehend ein neues Ziel in Angriff zu nehmen, rastlos zu bleiben und weiterzusuchen. Wenn sie innehielt, ging ihr vielleicht der innere Antrieb verloren, und davor hatte sie panische Angst.
Hazel bedrängte sie nicht weiter, was Bly sehr zu schätzen wusste. Die Hexe mochte ihre eigenen Ansichten zu der Art und Weise haben, wie Bly an die Sache heranging, aber sie verstand, dass es allein ihre Entscheidung war. Das Wichtigste war, dass sie ihr trotzdem half.
»Pass auf dich auf«, sagte sie nun.
Bly konnte es ihr nicht versprechen. Sie wandte sich ab und glitt mit derselben Leichtfüßigkeit zwischen den Bäumen hindurch, mit der sie sich immer schon durch den Wald bewegt hatte. Zärtlich strich sie mit der Hand über die raue Borke einer Eiche, durchkämmte mit den Fingern die Nadeln einer Kiefer, wodurch weicher Schnee herunterrieselte und sich auf dem Waldboden anhäufte. Der Horror der Spiele hatte ihr nicht ihre Liebe zum Wald nehmen können. Hinter den breiten Stämmen und dichten, dornigen Sträuchern hatten schon immer Gefahren gelauert, aber durchaus auch Möglichkeiten. Daran hatte sich nichts geändert.
Allerdings musste Bly zugeben, dass ihr Herz in letzter Zeit öfter aus Angst denn aus Vorfreude raste. Sie war gut darin geworden, beide Gefühle zu ignorieren, denn sie halfen ihr nicht dabei, ihre Schwester zu finden.
Nach kurzem Fußmarsch erreichte Bly die Stadtmauer von Vagaris und schlüpfte durch eine ihrer verborgenen Spalten, von deren Existenz sie wusste, seit sie Demelza während der Spiele beobachtet hatte.
Wenigstens eins, wofür sie dieser elenden Hexe zu danken hatte.
Wenn Bly ehrlich war, gab es noch einen zweiten Grund, der neuen Herrscherin von Havenwhile dankbar zu sein: Demelza hatte sich dazu erweichen lassen, gegen die Regeln zu verstoßen und Donovan am Leben zu lassen.
Er war für Bly der Schlüssel zum Erfolg, durch ihn würde sie es hoffentlich schaffen, ihre Schwester zurückzubekommen. Und Kerrigan. Auch wenn die Hoffnung, dass er ihr irgendwann verzeihen würde, vermutlich anmaßend war.
Bly schob sich durch die Mauer und glitt die dunklen Straßen entlang, als würde sie hierhergehören. Früher waren ihre Träume hell und blumig gewesen, mehr wie Havenwhile, wohingegen sie sich heute in Vagaris sicherer fühlte – nicht etwa, weil sie Kerrigan hier näher war, sondern weil sie wusste, dass Demelza und Nova möglichst weit entfernt waren.
Bevor sie nach den Spielen Hazel ausfindig gemacht hatte, war sie noch einmal zu Demelza in die Hexenstadt zurückgekehrt. Sie wusste selbst nicht genau, warum sie es getan hatte, schließlich besaß sie nichts, was sie gegen Donovans Freilassung hätte eintauschen können. Aus irgendeinem Grund hatte sie geglaubt, die oberste Hexe würde Erbarmen zeigen, doch weit gefehlt: Demelza hatte ihr Nova auf den Hals gehetzt, die sie inzwischen zu ihrer persönlichen Leibwache gemacht hatte. Und Nova hatte nur allzu gern dafür gesorgt, dass Bly sich Demelza nicht erneut nähern konnte.
Die junge Frau aus dem Ödland gab Bly noch immer die Schuld am Tod ihres Zwillingsbruders Vincent. Während der Spiele waren Bly und die Zwillinge ein Team gewesen und hatten sich darauf geeinigt, die Siegesprämie der Hexen unter sich aufzuteilen: Nova und Vincent würden den Geldpreis einstreichen, während Bly den Wiedererweckungspreis für sich beanspruchte. Doch nach Novas Tod hatte Vincent versucht, Bly den Wiedererweckungspreis abzuluchsen, um seine Schwester aus dem Reich der Toten zurückzuholen. Demelza hatte daraufhin verfügt, dass Bly und Vincent sich duellieren sollten, und Bly hatte den erbitterten Kampf gewonnen.
Als Verlierer war Vincent das menschliche Opfer geworden, mit dessen Blut der Wiedererweckungsprozess in Gang gesetzt worden war. Nachdem sich herausgestellt hatte, dass Elise noch lebte und daher nicht wiedererweckt werden konnte, hatte Demelza Nova von den Toten auferstehen lassen.
Die junge Frau war entsetzt gewesen, als sie erfahren hatte, zu welchem Preis ihr das Leben zurückgeschenkt worden war. Seither loderte ein glühender Hass in ihrer Brust, den Bly nur allzu gut verstand.
Das änderte jedoch nichts daran, dass sie sich tunlichst von der jungen Frau fernhielt, und sie hatte Havenwhile seitdem nicht mehr betreten.
Bly erreichte ein Haus, das aussah wie viele andere in Vagaris. Es war aus dunklen, moosbewachsenen Steinen erbaut und verströmte eine Kälte, die nur Vampiren gleichgültig sein konnte. Bly fröstelte, sie spürte ihr Gesicht kaum noch in der eisigen Winterluft. Mühsam ballte sie ihre steifen Finger zur Faust und klopfte an die Haustür.
Die Tür wurde aufgerissen, als hätte er wartend dahintergestanden, und Emersons Blick glitt erst über sie hinweg und dann an ihr vorbei zu der leeren Stelle, an der er sich Elise erhofft hatte.
Bly bestätigte mit einem Kopfschütteln, was er bereits ahnte. Enttäuschung zeichnete sich in seinem Gesicht ab, und er drehte sich für einen Moment von ihr weg.
Emersons Reaktion schmerzte Bly nicht mehr so, wie es früher der Fall gewesen wäre. Ihr war inzwischen bewusst, dass ihre Gefühle für ihn nie wirklich über eine Freundschaft hinausgegangen waren. Was sie sich mit ihm erträumt hatte, war ihrer kindlichen Fantasie entsprungen, ein Luftschloss, das sie fälschlicherweise für die Realität gehalten hatte.
Emerson ging zum Küchentisch, und sie folgte ihm und setzte sich ihm gegenüber. In seinem Haus war es kaum wärmer als draußen.
Sie sahen sich an, zwei zu Eis erstarrte Gestalten, die darauf hofften, dass jemand kam und ihnen neues Leben einhauchte.
Wenigstens hatten sie einander. Die Spiele waren eine harte Probe für ihre Freundschaft gewesen, und Emerson hatte Bly mehr als einmal zu verstehen gegeben, dass er nichts von ihrer Kühnheit und ihren riskanten Entscheidungen hielt. Doch letztendlich hatte die gemeinsame Erfahrung sie zu einer Einheit zusammengeschweißt, zu einer vollkommenen Schwertklinge, die aus zwei gleichwertigen, messerscharfen Seiten bestand. Das einzige Ziel dieser Schwertklinge bestand darin, jeden aufzuschlitzen, der sie davon abhalten wollte, Elise zu finden.
Mittlerweile hatte sich Emerson mehrmals dafür entschuldigt, dass er nicht von Anfang an an Bly geglaubt hatte. Elise war noch am Leben, sie war irgendwo dort draußen, und Emerson wäre längst tot gewesen, wenn Bly nicht für ihn gekämpft hätte.
Ihre frühere Freundschaft war brüchig gewesen, das war Bly erst durch die Spiele bewusst geworden. Er hatte ihre Träumereien kleingeredet, hatte sie albern gefunden, und ihr wiederum war seine vorsichtige Art verhasst gewesen.
Aber jetzt war alles anders. Sie befanden sich auf Augenhöhe, besprachen sämtliche Ideen miteinander. Er wusste ihr Talent für waghalsige Pläne zu schätzen und sie seine Fähigkeit, diese Pläne nach Schwachstellen abzuklopfen.
Es gab immer etwas zu tun. Nur hin und wieder, wenn sie gerade einen Plan umgesetzt hatten und zum Warten verdammt waren, teilten sie einen seltenen, friedlichen Moment miteinander. Dann trat Elises Fehlen vorübergehend in den Hintergrund, und es gab nur sie beide. Manchmal buk Bly einen Apfelkuchen, und sie rissen Witze darüber, dass er nicht annähernd an Elises Backkünste herankam. Oder Bly brachte Emerson ein Stück Holz aus dem Wald mit und sah ihm dabei zu, wie er eine Figur daraus zu schnitzen begann. Zu Ende brachte er seine Skulpturen nie, doch die gemeinsamen Momente genügten, um die Erinnerung an jene Menschen wachzuhalten, die sie einst gewesen waren und hoffentlich wieder sein würden, sobald sie Elise gefunden hatten.
Und daran klammerten sie sich fest.
Aber heute war kein solcher Tag.
Bly ergriff als Erste das Wort, denn sie hatte das Gefühl, ihm etwas liefern zu müssen. »Die Rebellen haben einen neuen Hinweis auf ein Gefängnis in der Nähe von Havenwhile.« Die Information mit dem rothaarigen Gefangenen ließ sie vorsichtshalber weg – ein wenig Hoffnung konnte einem die Kraft geben weiterzumachen, aber zu viel Hoffnung konnte töten. »Kannst du dir dafür freinehmen? Wir müssten in vier Tagen im Rebellenlager sein.«
»Ich werde versuchen, eine Vertretung zu finden.«
Zum heutigen Gefängnisüberfall hatte Emerson es nicht geschafft. Als Vampirprinz hatte er die Oberaufsicht über die Schmieden der Vampirstadt übernommen – sogar sein eigener Vater arbeitete nun für ihn. Bly merkte Emerson an, dass ihm die neue Aufgabe gefiel. Schon jetzt hatte er es geschafft, die Arbeitsbedingungen für die menschlichen Arbeiter spürbar zu verbessern. Zumindest in dieser Hinsicht hatte sie recht behalten: Emerson gab einen guten, großherzigen Vampir ab.
Trotzdem fragte sie sich manchmal, ob er es bereute – ob der Grund für die grenzenlose Trauer in seinem Gesicht tatsächlich nur Elises Verschwinden war oder zum Teil auch der Verlust seiner Menschlichkeit.
Bly hatte Angst davor, ihn zu fragen … Angst davor, wie er diesbezüglich empfinden würde, falls sie es nicht schafften, Elise rechtzeitig zu finden.
Er stand vom Tisch auf und zündete den Kamin an, wie er es immer tat, wenn Bly da war. Für sich selbst machte er sich nur selten diese Mühe, dabei liebten Vampire offenes Feuer, auch wenn sie die Kälte nicht spürten.
Auch Bly zog die alles betäubende Kälte vor, wusste Emersons Geste jedoch zu schätzen.
Eine Weile saßen sie schweigend da, vereint in einem Schmerz, über den sie nicht reden wollten.
Blys Finger und Zehen begannen aufzutauen, ein schmerzhafter Prozess. Sie durfte es sich nicht allzu bequem machen, ihre Nacht hatte gerade erst begonnen.
Sie stand vom Tisch auf. »Ich ziehe mich um.«
Zum ersten Mal sah Emerson ihr direkt ins Gesicht. Für einen kurzen Moment flackerte Sorge in seinem Blick auf, aber er äußerte sie nicht. Schließlich hatten sie sich gemeinsam auf dieses riskante Vorgehen geeinigt.
Bly versuchte, sich einzureden, dass es irgendwann Früchte tragen würde, glaubte jedoch nicht ernsthaft daran. Sie schien ihre ganze Zuversicht während der Spiele verbraucht zu haben.
Damals war ihr Ziel eindeutig gewesen: zu gewinnen und Elise zurückzuholen. Es hatte gewisse Regeln gegeben und ein erhofftes, klar definiertes Ergebnis.
Heute hingegen erschien es Bly immer mehr wie ein unrealistischer Traum, ihre Schwester zu retten. Und Träume waren dazu verdammt, unerfüllt zu bleiben, diese Erfahrung hatte sie immer wieder gemacht.
Ihr Stuhl kratzte über den Steinboden, als sie ihn vom Tisch zurückschob, und es tat gut, die Stille mit einem Geräusch zu erfüllen. Emerson streckte den Arm aus, als sie an ihm vorbeiging, und legte für einen Moment seine Finger um ihr Handgelenk. Diese Geste hatte ihr früher immer Kraft gegeben, aber seine Hand war kalt, und er ließ Bly bald wieder los.
Sie ging in das Zimmer, in dem sie schlief, wenn sie in Vagaris war, und öffnete den Schrank, in dem sie ihre Kleider aufbewahrte. Ihre Finger glitten über die seidigen Gewänder, die sie sich mithilfe von magischen Spinnweben herbeigezaubert hatte. Hazel hatte ihr die Spinnweben gegeben, nachdem Bly ihr erzählt hatte, dass sie auf den ausschweifenden Vampirbällen nicht nur nach Elise Ausschau hielt, sondern womöglich auch entscheidende Informationen über andere Gefangene aufschnappte. Und genau diese Informationen gab sie regelmäßig an die Heilerin weiter.
Vor drei Nächten war sie beispielsweise auf das Geheimgefängnis gestoßen, das sie gerade überfallen hatten, und zwar, indem sie Kerrigan heimlich aus der Vampirfestung gefolgt war. Bly wusste genau, warum er die im Wald versteckten Käfige durchkämmte: Er war auf der Suche nach Halfryta, der mächtigen Herrscherin Havenwhiles, die Blys Team im Zuge der Spiele an die Vampire ausgeliefert hatte, um Emerson Unsterblichkeit zu erkaufen.
Deren Tochter Demelza hatte Kerrigan die Freilassung Donovans versprochen, wenn er ihr im Gegenzug ihre Mutter zurückbrachte. Unglücklicherweise wollte Donovan genau das verhindern. Er würde Bly nur dann verraten, wo ihre Schwester war, wenn sie ihn befreite, bevor Kerrigan die Hexe aus den Fängen der Vampirköniginnen holte, die damals ihrer beider Eltern getötet hatte.
Bly lieferte sich also einen Wettlauf mit Kerrigan, ohne dass der davon wusste.
Sie wählte ein knallrotes Kleid, dessen Farbe sie an die enthauptete Vampirwache und die Blutflecke im Schnee erinnerte. Der Ausschnitt zog sich zwischen ihren Brüsten fast bis zum Bauchnabel hinunter, aber die Ärmel waren lang und würden sie warmhalten. Der Rock des Kleids war vorne kurzgehalten und verlängerte sich zum Rücken hin wasserfallartig. Bly trug eine hautenge schwarze Hose darunter, sodass sie trotz ihrer sexy Aufmachung nicht frieren musste. Dazu kombinierte sie kniehohe schwarze Schnürstiefel.
Sie blickte in den kleinen Spiegel über der Kommode, befreite ihre Locken aus dem Haarknoten und ließ sie in sanften Wellen über ihre Schultern fallen. Die meisten Bluterinnen trugen ihre Haare hochgesteckt, um ihre verletzlichen Hälse zu betonen, aber Bly fühlte sich sicherer mit offenen Haaren, als wären diese ihr Schutzschild.
Ihr war bewusst, wie töricht das war. Wenn sie die Aufmerksamkeit der falschen Vampire erregte, würden ihr ihre offenen Haare auch keinen Schutz bieten.
Bly berührte ihren eng anliegenden Halsschmuck, eine schmale Goldkette mit einem blutroten, tropfenförmigen Juwel, dem Erkennungszeichen der Bluter. Ihr war nicht klar gewesen, wie begehrt dieser Posten war, bis sie dringend einen Vorwand gebraucht hatte, um in der Vampirstadt zu bleiben. Emerson hatte seinen neuen Status als Vampirprinz widerstrebend dazu genutzt, ihr eine Genehmigung als freiwillige Bluterin zu beschaffen.
Wann immer sie die Kette nicht brauchte, versteckte sie sie, schließlich wusste sie, wie viel Unbehagen es ihrem Freund aus Kindheitstagen bereitete, dass sie dieses Risiko einging. Aber heute Nacht war es unerlässlich, dass sie die Goldkette mit dem Blutstropfen offen zur Schau stellte.
Bly betrachtete sich im Spiegel und zupfte an den ausgefransten Enden des blauen Bands an ihrem Handgelenk. Es diente ihr als Mahnung, als ständige Erinnerung an ihren Egoismus, der so viele Leben zerstört hatte – damit sie niemals vergaß, warum sie das alles tat.
Als sie aus ihrem Zimmer kam, war Emerson verschwunden. Doch seine Abwesenheit beunruhigte sie nicht. Er suchte auf eigene Faust nach Elise, wenn er nicht arbeitete, trieb sich in Spelunken herum, um potenzielle Gerüchte aufzuschnappen.
Die Vampire prahlten gern herum.
Vielleicht hatten sie ja irgendwann Glück. Oder sie suchten beide nach einer jungen Frau, die längst tot war. Jede Sekunde, in der sie Elise nicht fanden, konnte der Moment sein, in dem sich ihr Todesfluch auf schreckliche Weise vollzog.
Blys Brust schnürte sich zusammen, und ihre Atmung wurde flach. Sie zwang sich, tief und regelmäßig Luft zu holen. Am besten agierte sie, ohne allzu viel nachzudenken, denn wenn sie erst einmal ins Grübeln geriet, erwachte die Lust in ihr, sich zu einer Kugel zusammenzurollen und zu sterben.
Sie schlüpfte zur Tür hinaus und bewegte sich zielstrebig durch die Dunkelheit. Vagaris war ein wilder, lärmender Ort, wenn man erst einmal die Seitengassen hinter sich gelassen und eine der Hauptstraßen betreten hatte. Dort reihten sich Bars aneinander, in denen die Vampire zu gleichen Teilen Blut und Alkohol in sich hineinkippten. Hier und da mischte sich ein Mensch unter die ausgelassene Meute und lachte, während sein Blut aus alten, nie verheilenden Wunden tropfte, aber Bluter waren in diesen Etablissements selten und wurden streng überwacht. Die meisten von ihnen hielten sich in der Festung auf, wo die wohlhabendsten Vampire ihre Partys feierten.
Und genau dort würde Bly ihre Suche fortführen. Sie verbrachte die meisten Nächte in der Festung. Nachdem sie die Wachen am Tor passiert hatte, ging sie mit einer Unbekümmertheit, die sie nicht empfand, den langen Korridor zum Ballsaal entlang. Sie war sich der Gefahr bewusst, dass sich jederzeit Vampirzähne in ihren Hals bohren konnten, Zähne, die erst wieder von ihr ablassen würden, wenn sie tot war. Sie würde wohl kaum die erste Bluterin sein, die von der Bildfläche verschwand.
In dieser blutdurchtränkten Welt ging jede Glückssträhne früher oder später zu Ende.
Nachdem Bly den Ballsaal betreten hatte, blieb sie stehen und nahm staunend ihre Umgebung wahr. Sie hatte schon davon gehört, dass die Vampire gern nach Lust und Laune die Dekoration änderten, war jedoch noch nie Zeugin dieses Vorgangs geworden.
Verschwunden war das Labyrinth aus goldenen Beerensträuchern, das den großen, zentralen Brunnen umgeben hatte. An seiner Stelle ragten nun goldene Eichen mit rot gefärbten Blättern auf, behängt mit leuchtenden Kugeln, die die Schatten der klauenähnlichen Zweige an die Wände warfen. Luxuriöse, schwarze Samtsofas und Sessel standen in kleinen Grüppchen unter den Bäumen, und obwohl die Nacht noch jung war, waren die Sitzmöbel bereits voller Paare, die sich entweder küssten oder voneinander tranken.
Bly ging zögernd weiter in den Saal hinein. Sie zog das scharfkantige, goldene Labyrinth vor, weil es mehr Versteckmöglichkeiten geboten hatte. Obgleich sie die Halskette einer Bluterin trug, hatte sie es noch keinem Vampir erlaubt, von ihrem Blut zu trinken. Kerrigans Vampirzähne waren die einzigen, die je ihre Haut durchbohrt hatten.
Bisher war es ihr immer gelungen, Anfragen mit dem Vorwand abzuweisen, sie sei schon einem anderen Vampir verpflichtet. Das funktionierte deshalb, weil die reichsten Vampire tatsächlich ihre persönlichen Bluter bezahlten und sie nicht gern mit anderen teilten.
Ohne das unübersichtliche, sich hierhin- und dorthinschlängelnde Labyrinth würde diese Lüge schwerer aufrechtzuerhalten sein.
Bly musste einen dunklen Winkel finden, in dem sie unbemerkt bleiben konnte. Stattdessen ertappte sie sich dabei, wie ihr Blick suchend durch den Saal schweifte. Sie hasste es, dass sie automatisch immer zuerst nach ihm Ausschau hielt, und redete sich ein, dass es nur an seiner Körpergröße und dem kupferroten Glanz seiner Haare lag, dass sie ihn so mühelos entdeckte. Es war unmöglich, ihn zu übersehen. Sie hätte es selbst dann nicht geschafft, wenn sie es versucht hätte.
Aber sie versuchte es nie.
Jedes Mal, wenn sie ihn in der Menge ausmachte, schnürte sich ihre Kehle zusammen, als würde er die Hände ausstrecken und sie um ihren Hals legen. Dabei kam er ihr nie nah genug, um sie berühren zu können.
Heute hörte sie sein Lachen schon, bevor sie ihn sah. Nicht sein echtes Lachen, sondern das künstliche, das ihm den Anschein eines arroganten Schnösels verlieh, dem es nur darum ging, sich zu amüsieren.
Sie wirbelte auf dem Absatz herum und spähte in seine Richtung. Seine Lippen waren zu einem verführerischen Lächeln verzogen, doch sein Blick ruhte nicht auf ihr, sondern auf der hübschen, brünetten Vampirin, die sich bei ihm eingehakt hatte. Er schien so entzückt von ihr zu sein, dass er Bly vermutlich gar nicht bemerkt hätte, wäre er nicht im Vorbeigehen mit der Schulter gegen sie gestoßen.
»Pardon«, sagte er mit einem erneuten Lachen, das langsam erstarb, als er sah, wen er vor sich hatte. Sein Gesicht wurde ausdruckslos, so schnell, dass ihr beinahe schwindlig wurde.
So nah war Bly ihm nicht mehr gewesen, seit er an jenem Tag im Wald von ihr fortgegangen war. Sie hatte auf mehreren Bällen versucht, sich ihm zu nähern, um ihm erneut zu sagen, wie leid ihr alles tat, doch er drehte ihr immer sofort den Rücken zu und ließ sie stehen. Also beobachtete sie ihn dabei, wie er flirtete und lachte, und wartete darauf, dass sein Blick irgendwann auf ihr landete, aber dazu kam es nie.
Er wollte nichts mehr mit ihr zu tun haben, das stand außer Frage.
Als er nun auf sie herabblickte, lag nicht einmal Hass in seinen Zügen. Sie waren vollkommen ausdruckslos.
»Kerrigan.« Der Name kam heiser und gepresst heraus.
Er zuckte zusammen, als hätte sie ihm einen Dorn ins Fleisch getrieben. Endlich sah Bly etwas über sein Gesicht huschen: Ekel.
Ihr Herz begann zu rasen. Wenigstens empfand er noch irgendetwas für sie. Sie existierte noch für ihn, auch wenn sein Gesichtsausdruck überdeutlich seinen Wunsch verriet, Bly möge für immer verschwinden.
»Diese Bluterin ist ja entzückend!«, säuselte die Vampirin an seiner Seite. »Sollen wir sie mitnehmen?«
»Nein«, antwortete Kerrigan schroff.
»Aber sie hat so einen hübschen Hals«, insistierte die Brünette.
Huschte Kerrigans Blick etwa für eine Sekunde zu ihrer Kehle? Fast hätte Bly sich die Haare nach hinten gestrichen, damit er besser sehen konnte, aber das wäre lächerlich gewesen.
»Nicht mein Fall«, sagte er kühl.
Bly verzog schmerzhaft das Gesicht.
Er wandte sich ab, während die junge Vampirin einen Schmollmund machte und sich sehnsüchtig nach Bly umblickte.
»Kerrigan, es tut mir …«, setzte Bly an.
»Lass es!«, fauchte er so boshaft, dass sie erschrocken zurückwich.
Selbst die Brünette an seinem Arm wirkte irritiert. Er ging mit großen Schritten davon und zog seine Gespielin mit sich. Kurz darauf schallte sein künstliches Gelächter erneut zu Bly herüber. Seine unbekümmerte Maske war wieder an Ort und Stelle. Immerhin war es ihr gelungen, sie für einen Moment zur Seite zu reißen. Als er Bly damals an sich herangelassen hatte, hatte sie einen verletzlichen Jungen gesehen, der seine monströse Vergangenheit bereute. Jetzt schien der kleine Junge wieder von dem Monster verschlungen worden zu sein, in das sich Kerrigan zurückverwandelt hatte.
Sie war schuld daran, dass es so gekommen war.
Bly verfolgte seine Bewegungen durch den Saal. Er nahm auf einem Sofa Platz, den Arm um die Braunhaarige gelegt. Auch wenn er ohne Bly sicher besser dran war – sie konnte ihn nicht in Ruhe lassen, sie spürte einfach, dass seine scheinbare Sucht, sich zu amüsieren, nur Fassade war. Aus zwei Gründen hatte sie gar keine andere Wahl, als ihn zu beschatten: Erstens, um mit seiner Hilfe möglichst viele Geheimgefängnisse aufzuspüren und in einem davon hoffentlich Elise zu finden. Und zweitens, damit er ihr nicht zuvorkam und Halfryta aufstöberte, um sie in Havenwhile gegen Donovan einzutauschen. Falls er die mächtige Hexe tatsächlich befreite und den Tauschhandel perfekt machte, würde die Wahrheit über Elises Verbleib Donovans Geheimnis bleiben. Bly war sich sicher, dass Kerrigans Bruder ihr in diesem Fall nicht helfen würde.
Und genau deshalb war sie hier. Zum Glück hatte Hazel sie mit Unsichtbarkeitszaubern ausgestattet. Kerrigan durfte auf keinen Fall merken, dass sie ihm bei seinen Streifzügen hinterherschlich.
Manchmal durchkämmte er die dunklen Gänge der Festung, andere Male die Gassen der Stadt oder den Wald, der die Vampirstadt umgab. Er schien trotz seines hohen, gesellschaftlichen Rangs keine Ahnung zu haben, wo die Vampirköniginnen ihre Erzfeindin versteckten.
Dennoch war er Blys größte Hoffnung.
Wenn sie nur nicht ständig versucht gewesen wäre, die Hand nach ihm auszustrecken. Sie wollte ihn festhalten, ihm ins Gesicht brüllen, was sie in ihrem tiefsten Inneren wusste: dass seine Gleichgültigkeit nur gespielt war. Hinter seiner unbekümmerten Maske war er tief verletzt, und sie war diejenige, die ihm diese Wunde beigebracht hatte. Und statt ihm bei der Heilung zu helfen, vertiefte sie die Verletzungen immer weiter. Gerade erst hatte Kerrigan bestätigt, dass ihre Anwesenheit nichts als ein Messer für ihn war, das sich wieder und wieder in sein Fleisch bohrte.
Wenn sie ihn liebte, musste sie ihn in Ruhe lassen. Aber das konnte sie nicht, denn sie kämpfte immer noch für Elise und hatte schon zu viel für diesen Kampf geopfert, um jetzt aufzugeben.
Bly nahm sich vor, auf den Bällen künftig Distanz zu Kerrigan zu wahren. Immerhin das konnte sie für ihn tun.
Sie blieb in einer schattigen Ecke am Rand des Saals stehen und beobachtete die Feiernden. Zweimal wurde sie von Vampiren angesprochen, woraufhin sie behauptete, sie sei bereits vergeben. Einmal erwischte sie den widerwärtigen Vampirprinzen Benedict dabei, wie er sie mit nachdenklichem Gesicht fixierte. Das tat er häufig. Wie üblich löste seine Aufmerksamkeit Unbehagen in ihr aus. Während der Schlussphase der Spiele hatte er versucht, ihrem Team Halfryta zu stehlen. Er war mit Donovan befreundet und außerdem der Bruder von Jade, was ihn automatisch zu Blys Feind machte.
Sie ignorierte ihn und konzentrierte sich darauf, Kerrigan aus der Ferne im Blick zu behalten. Nach einer unerträglich langen Zeitspanne löste er sich aus dem Pulk aus Partygästen, der ihn umgab, und steuerte das hintere Ende des Saals an, wobei er so unsicher auf den Beinen war, dass es schien, als wäre nur noch ein Glas Wein nötig, bevor er vollends zusammenbrach. Einen Augenblick lang verharrte er in einer Ecke und ließ seinen Blick erst durch den Saal und dann hinauf zur Galerie gleiten, auf der die Königinnen Hof zu halten pflegten. Zu Beginn der Ballnacht hatten sich beide über die Brüstung gebeugt, Melvina, um mit einigen Partygästen zu scherzen, und Allena, um alles mit kühlem Blick zu beobachten. Inzwischen hatten sie sich zurückgezogen oder versteckten sich weiter hinten im Schatten.
Kerrigan torkelte zum hinteren Tor weiter, das, wie Bly wusste, zur Kampfarena hinausführte. Es widerstrebte ihr, diesen blutigen Ort zu betreten, aber sie würde tun, was getan werden musste.
Unauffällig suchte sie die Falten ihres Kleids nach dem kleinen Beutel ab, in dem sie ihre Zaubergegenstände versteckte. Als ihre Finger nur den Seidenstoff ertasteten, erstarrte sie. Der Beutel musste noch an ihrem letzten Kleid hängen. Er enthielt die Flügel einer Libelle, mit deren Hilfe Bly unsichtbar wurde, sowie ein Fellbüschel von einem Wolf, das ihre Bewegungen lautlos machte. Wie leichtsinnig von ihr, dass sie diese wichtigen Hilfsmittel vergessen hatte. Sie war zu sehr mit der niederschmetternden Enttäuschung beschäftigt gewesen, Elise erneut nicht gefunden zu haben.
Einem Vampir folgen zu wollen, ohne ihre Anwesenheit durch Zaubergegenstände zu verschleiern, war ein fataler Fehler. Aber sie brauchte dringend eine neue, heiße Spur, an die sie sich klammern konnte. Was, wenn bei dem Überfall auf das Havenwhile-Gefängnis in vier Tagen nichts herauskam?
Unauffällig schob sich Bly durch die Menge. Ausnahmsweise hielt kein Partygast sie auf, um sie um eine Kostprobe ihres Bluts zu bitten. Sie öffnete vorsichtig das Tor und streckte ihren Kopf in die Nacht hinaus. Der Vollmond erhellte die Arena wie ein Scheinwerfer. Zum Glück war Bly heute nicht hier, um eine Vampirprüfung zu bestehen. Es schien Jahre her zu sein, dass sie auf dem blutverschmierten Steinboden um Kerrigans Aufmerksamkeit gekämpft hatte, wohingegen sie sich jetzt nur eins wünschte: dass er sie nicht bemerkte.
Sie schlüpfte ins Freie und schloss leise das Tor hinter sich. Kerrigan hatte bereits das Ende der Arena und damit den See erreicht, der sich hinter der Festung erstreckte. Bly hielt die Luft an, als sie sah, wie er den Blick in beide Richtungen schweifen ließ. Schließlich wandte er sich nach rechts und eilte am Ufer entlang.
Sie wartete, bis sein dunkler Schatten mit dem Wald verschmolzen war, dann erst rannte sie die schräg abfallende Arena hinunter. Wenigstens waren heute keine Hindernisse zu überwinden, an deren Ende eine Hexe auf ihr grausames Schicksal wartete. Bly verharrte am rechten Ufer des Sees und suchte die Baumstämme nach einer Bewegung ab. Nichts. Sie hatte zu lange gewartet, aber es wäre noch törichter gewesen, Kerrigan blindlings hinterherzurennen und von ihm erwischt zu werden.
Sie hoffte, dass sie irgendeinen Hinweis darauf entdeckte, wohin er verschwunden war. Zaghaft betrat sie den Wald. Dort drüben! Wie ein Wolf, der die Fährte eines Kaninchens aufnahm, drehte sie den Kopf.
Kerrigan hätte bestimmt geschmunzelt über diesen Vergleich: sie als Wolf, er als Kaninchen.
Bly schüttelte sich. Natürlich hätte er nicht geschmunzelt. Was für ein lächerlicher Gedanke.
Kerrigan war umgekehrt und hatte den Wald wieder verlassen. Sie entdeckte ihn an der Festungsmauer, die er nun in die entgegengesetzte Richtung entlangschlich. Wusste er vielleicht längst, dass sie ihm auf den Fersen war? Besser, sie gab auf. Schließlich bestand die Chance, dass Donovan der rothaarige Gefangene war, den die Späher der Rebellen gesehen hatten. Emerson und sie würden am nächsten Abend aufbrechen, um die dreitägige Strecke zum derzeitigen Lager der Heiler zurückzulegen.
Aber was, wenn Elise in dem Geheimgefängnis war, das Kerrigan heute ausspionierte? Bly wollte sich diese Gelegenheit auf keinen Fall entgehen lassen, gleichgültig, wie groß die Gefahr war.
Sie konnte Kerrigan unmöglich direkt an der Festungsmauer folgen, ohne jede Deckung. Also blieb sie im Schutz der Bäume und bewegte sich parallel zu ihm, huschte so lautlos wie möglich von Stamm zu Stamm, in der Hoffnung, dass er nicht den Kopf drehte und herauszufinden versuchte, woher das leise Knirschen des Schnees unter ihren Stiefeln oder das gelegentliche Knacken eines Zweigs rührten.
Mit ein wenig Glück würden ihn diese Laute an eine Herde Rotwild denken lassen. Mal davon abgesehen, musste man im Wald jene Wesen fürchten, die keine Geräusche machten.
Die Steinmauer der Festung endete, und Kerrigan schlich, ohne zu zögern, weiter. Jetzt war auch er wieder innerhalb des Waldes, und Bly folgte ihm, bis sie weder ihre Finger noch ihre Zehen spürte und die einzige Wärme ihrer laufenden Nase zu entspringen schien. Irgendwann blieb Kerrigan stehen, in einem Waldabschnitt, der genauso aussah wie das Gelände, das sie bereits durchquert hatten. Trotzdem ging er zu einem besonders dicken Eichenstamm und fuhr mit der Hand darüber, bevor er scharf links abbog.
Als plötzlich Gelächter die nächtliche Stille durchbrach, suchte Bly hinter einer Kiefer Zuflucht. Kerrigan befand sich rechts vor ihr. Er verharrte und lehnte sich mit dem Rücken gegen einen Baum, während er eine Hand in seine Weste schob. Dann war er verschwunden.
Verflucht. Im Gegensatz zu Bly hatte er seine Zaubergegenstände nicht vergessen. Er war unsichtbar geworden und somit unmöglich zu verfolgen. Das Gelächter musste von Gefängniswärtern stammen, aber Bly konnte nicht an ihnen vorbeigelangen und daher nicht in Erfahrung bringen, was sie hier draußen im Wald bewachten. Also blieb sie stehen und wartete.
Vermutlich wäre es am besten gewesen, wenn sie den Rückzug angetreten hätte, schließlich konnte sie nicht wissen, ob Kerrigan auf demselben Weg zurückkommen würde, und falls ja, ob er dabei immer noch unsichtbar sein würde. Die Zeitspanne, in der ein Zaubergegenstand wirkte, ließ sich nur schwer abschätzen. Mal waren es nur einige Minuten, mal mehrere Stunden. Kerrigan ging ein hohes Risiko ein, indem er sich mithilfe eines solchen Hexenzaubers an den Wachmännern vorbeischlich. Im Gegensatz zu den Rebellen hatte er keine Verstärkung im Rücken. Er schien genauso verzweifelt und leichtsinnig zu sein wie Bly. Wenigstens das hatten sie gemeinsam.
Sie bezweifelte, dass er sofort versuchen würde, Halfryta zu befreien, falls er sie hier fand. Dafür war er zu schlau. Er würde nach Schwachstellen des Gefängnisses Ausschau halten, mit dem Vorhaben, später zurückzukommen. Bly wollte unbedingt sein Gesicht sehen, wenn er von seinem Erkundungsgang zurückkehrte. Sie war sich sicher, darin ablesen zu können, ob er fündig geworden war oder nicht.
Deshalb verharrte sie weiter frierend hinter der Kiefer.
Zitternd schob sie die Ränder ihres tiefen Ausschnitts zusammen, damit ihr Kleid ein wenig mehr Schutz vor der Kälte bot.
Ohne einen Wärmezauber würde sie nicht mehr lange durchhalten. Sie musste sich bewegen und beschloss, zumindest ein Stück zurück Richtung Festung zu gehen. Dort würde sie ohnehin bessere Chancen haben, Kerrigan zu entdecken.
Die Wärter lachten erneut, ihre Stimmen schwollen an und wurden wieder leiser. Sie schienen sich angeregt zu unterhalten.
Bly machte zaghaft einen Schritt von ihnen weg. Dabei berührte ihr Stiefel einen trockenen Kiefernzapfen, und das Knirschen hallte ohrenbetäubend durch die Nacht.
Ihr Herz klopfte wie verrückt, übertönte alles andere. Verzweifelt spitzte sie die Ohren. Die Wachen schienen verstummt zu sein, und ihr Schweigen war schlimmer, als wenn sie lärmend die Verfolgung aufgenommen hätten. Bly befahl ihren Muskeln, reglos zu verharren, obwohl sie zuckten und danach verlangten davonzurennen. Doch ohne Geschwindigkeitszauber hatte sie keine Chance, den Vampiren zu entkommen.
Eine Hand legte sich so abrupt und fest über ihren Mund, dass der Schrei, der ihr entfahren wollte, kaum zu hören war. Eine zweite Hand schob sich um ihre Taille und fixierte ihre Arme an den Seiten. Dann wurde sie nach hinten gegen eine harte Brust gezogen. Sie wehrte sich und strampelte mit den Beinen, bis sie hinabblickte und nichts als den Waldboden sah. Sie war unsichtbar.
»Schsch!«, zischte Kerrigan leise an ihrem Ohr.
Sie gab ihre Gegenwehr auf und erschlaffte an seinem Körper. Ihre Füße baumelten herunter, weil er sie noch immer in der Luft hielt.
Nur Sekunden später tauchten rot gekleidete Wachmänner auf und suchten den umliegenden Wald ab. Ihre angestrengten Blicke glitten über Bly und Kerrigan hinweg. Dann stapften sie eilig weiter.
Bly erwartete, dass Kerrigan sie herunterließ, doch er hielt sie weiter fest. Sie gab der Versuchung nach, die Augen zu schließen und sich auszumalen, sie lägen wieder eng aneinandergeschmiegt in einer Hängematte, über sich den Sternenhimmel. Die Erinnerung schmerzte, aber sie verharrte dennoch darin, bis Kerrigan das Gewicht verlagerte, ihren Mund losließ und mit beiden Händen unter ihre Arme und Beine griff, um sie zu tragen. Pfeilschnell rannte er mit ihr durch den Wald. Bly versuchte, sich enger an seine Brust zu drücken, doch die vorbeifliegenden Äste zerrten an ihren offenen Haaren und zogen ihr einige Büschel heraus. Trotzdem schaffte sie es, nicht zu schreien.
Sobald sie den Waldrand erreicht hatten und die Festung vor sich aufragen sahen, setzte Kerrigan den Unsichtbarkeitszauber mit einem zweiten Zauber außer Kraft.
Er ließ Bly so unvermittelt fallen, dass sie auf den Knien landete und nur mit Mühe verhindern konnte, bäuchlings in den Dreck zu stürzen.
Nachdem sie sich aufgerappelt hatte, wurde ihr klar, warum er nicht unsichtbar geblieben war: Sie sollte den rasenden Zorn in seinem Gesicht sehen.
Erschrocken wich sie zurück. Er folgte ihr und drängte sie mit dem Rücken gegen einen Baumstamm. Bly wollte sich von ihm wegdrehen, doch seine Finger legten sich um ihren Hals, und seine Daumen strichen auf beiden Seiten ihrer Luftröhre entlang.
Ihr Puls raste, allerdings nicht vor Angst. Sie musste daran denken, wie oft sie von seinen Händen an ihrem Hals geträumt hatte, von seinem Körper, der sich gegen ihren presste. Schwer atmend hob sie den Kopf und sah ihm ins Gesicht.
Der Zorn war verschwunden, wie Bly verunsichert feststellte. Ihr war klar, dass sie seine Wut verdient hatte, damit konnte sie umgehen. Doch jetzt war sein Gesicht gleichgültig, seine Augen kalt und leer. Zum ersten Mal konnte sie sich vorstellen, wie Kerrigan als Kind in der Vampirarena gestanden hatte, um seinen jüngeren Bruder ein ums andere Mal zu Boden zu schlagen, gnadenlos und mit distanzierter Kälte.
Bly hatte eine Seite in ihm geweckt, die sie lieber nicht gesehen hätte.
Sie versuchte nicht, sich zu befreien. Manchmal war es besser, sich totzustellen.
»Wusste ich es doch!«, stieß Kerrigan hervor. »Vor einigen Stunden wurde ein Gefängnis überfallen – eins, das ich erst letzte Woche aufgespürt habe.« Sein Griff um ihren Hals wurde fester – wenn er noch mehr zudrückte, würde er sie erwürgen. »Das warst du!«
Bly versuchte zu nicken, aber die Bewegung schmerzte zu sehr.
»Wie hast du das angestellt?«
Sie hatte versucht, ihn einzuweihen, direkt nachdem sie sich den Heilern angeschlossen hatte. Doch jedes Mal, wenn sie sich ihm genähert hatte, hatte er ihr den Rücken zugekehrt und sie stehen gelassen. Inzwischen wusste sie nicht mehr, ob sie sich ihm anvertrauen wollte – jedenfalls nicht dem Kerrigan, der jetzt gerade vor ihr stand.
Seine Daumen setzten sich wieder in Bewegung und rieben an ihrer Luftröhre entlang. Es war eindeutig als Drohung gedacht.
Bly konnte nicht verhindern, dass sie zitterte, auch wenn sie ihm die Genugtuung nicht gönnte.
Etwas durchbrach seinen unbewegten Gesichtsausdruck, seine Augen wurden so schwarz wie die Nacht um sie herum. Der Anflug von Begierde verschwand so schnell, wie er gekommen war.
»Raus mit der Sprache!«, herrschte er sie an.
Sie hustete keuchend. Ihr blieb keine andere Wahl, als sich aus der Deckung zu wagen.
»Die Hexe, der wir im Wald begegnet sind, nachdem wir …«
Nachdem sie einen ganzen Abend im Arm des jeweils anderen verbracht und so getan hatten, als wären ihre Küsse nur gespielt, als würden sie nicht sehenden Auges auf eine Tragödie zusteuern. Es war ein Fehler gewesen, sich ihren Gefühlen hinzugeben.
Bly hustete erneut, und Kerrigan lockerte kaum merklich seinen Griff um ihren Hals.
»Die Hexe, die damals im Wald vor Havenwhile die gefesselten Menschen befreit hat … Sie führt eine Gruppe von Abtrünnigen an, die nach Geheimgefängnissen suchen und die illegal festgehaltenen Häftlinge befreien.«
Kerrigan schüttelte den Kopf. »Ein aussichtsloser Kampf. Damit werdet ihr nichts erreichen. Das weiß ich am allerbesten.«
Auch er war einst ein Rebell gewesen, hatte versucht, Menschen bei der Flucht aus einer grausamen Welt zu helfen, die sie als Blutlieferanten missbrauchte. Sein riskanter Einsatz hatte damit geendet, dass er nicht nur seinen besten Freund, sondern auch den Respekt der anderen Vampire verloren hatte.
Er hielt inne und sah sie forschend an. Inzwischen hatte er seinen Griff so weit gelöst, dass Bly das Gesicht von ihm wegdrehen konnte. Als Kerrigan sah, wie sie ihm auswich, stieß er ein scharfes, verbittertes Lachen aus. »Aber das ist dir ohnehin völlig gleichgültig, nicht wahr? Dich interessiert nur das eine: die Person zu finden, die dir am Herzen liegt.«
Sie schämte sich dafür, dass ihr die anderen Gefangenen egal waren. Wie gern hätte sie sich verteidigt und Kerrigan erklärt, dass ihr Herz nun mal angefüllt war mit der Sorge um Elise, dass sie das Gefühl hatte, nicht noch mehr Kummer aufnehmen zu können. Wenn sie anfing, das Schicksal anderer in den Blick zu nehmen, entglitt ihr womöglich das letzte Quäntchen Kraft, das sie brauchte, um weiter nach ihrer Schwester zu suchen.
»Ich suche nicht nur nach ihr, sondern auch nach Donovan«, flüsterte sie. Es war die Wahrheit. Kerrigan brauchte nicht zu wissen, was sein Bruder ihr in Havenwhile zugeraunt hatte. Zumal Bly auch so gewollt hätte, dass er freikam, denn nur so konnte sie ihre Schuld gegenüber Kerrigan tilgen.
Seine Hände schlossen sich wieder fester um ihren Hals. »Deine Hilfe ist das Letzte, was ich will«, stieß er hervor.
Er verlagerte sein Gewicht nach hinten, als wäre er kurz davor, sie loszulassen und davonzugehen.
Bly wollte nicht, dass er ging. Seit den Spielen hatte er nicht mehr so viel mit ihr gesprochen. Sie wollte ihn in ihrer Nähe haben, auch wenn er sie hasste. Auch wenn es wehtat.
»Warte, Kerrigan. War … war Elise in dem Gefängnis?« Ihre Stimme klang gequält und verzweifelt. Sie schluckte und verfluchte ihre eigene Verletzlichkeit. Er sollte nichts davon mitbekommen.
»Ich habe nicht nach ihr Ausschau gehalten«, behauptete er barsch.
»Ich weiß … Ich dachte nur …« Bly hatte gehofft, er würde ihr immer noch helfen, zumindest, wenn sich die Gelegenheit dazu ergab.
Aber warum hätte er das tun sollen? Sie hatte ihm seinen Bruder genommen, hatte dafür gesorgt, dass er die gleichen Höllenqualen litt wie sie.
Für einen kurzen Moment wurden seine Gesichtszüge weicher. Vielleicht war es aber auch nur der Schatten eines Zweigs, der sich bewegte.
»Ich habe niemanden gesehen, der so ausgesehen hat wie sie«, sagte er leise.
Bly sackte gegen den Baum und rutschte ein Stück nach unten. Kerrigans Finger lagen noch immer um ihren Hals und rutschten nun nach oben, bis sie gegen ihren Kiefer drückten. Er ließ von ihr ab und stemmte seine Hände stattdessen auf beiden Seiten ihres Kopfes gegen den Baumstamm.
Bly vermisste seine Berührung und hasste sich selbst dafür.
»Halfryta?«, fragte sie.
Er antwortete nicht, seine Miene war undurchdringlich.
»Ich könnte dir helfen, sie zu befreien«, schlug Bly vor.
Sie war hin- und hergerissen. Einerseits wünschte sie sich verzweifelt, wieder auf seiner Seite zu stehen. Sie konnte Kerrigan einweihen, nachdem sie Halfryta zusammen befreit hatten, konnte ihm erzählen, dass Donovan ihr nur verraten würde, wo Elise war, wenn sie ihn befreite, bevor sein Bruder die verhasste Hexe gegen ihn eintauschen konnte.
Vielleicht erklärte er sich dann bereit, noch damit zu warten, Halfryta auszuliefern, und half den Rebellen in der Zwischenzeit, Donovan aufzuspüren.
Andererseits wusste Bly, wie illusorisch es war, auf Kerrigans Kooperation zu hoffen. Er würde seinen jüngeren Bruder befreien und danach nichts mehr von ihr und ihrer Schwester wissen wollen. Schließlich war er ein Vampir, und auch wenn sie einst einen Blick auf seine weiche Seite erhascht hatte, war ihr klar, dass die Königinnen ihn dazu erzogen hatten, sich selbst an die erste Stelle zu setzen. Er hatte einmal den Fehler begangen, für Bly gegen seine Natur anzukämpfen. Ihr Verrat an ihm hatte dafür gesorgt, dass er es nicht ein zweites Mal tun würde.
»Ich will dich nie wieder auch nur in der Nähe von mir oder meinem Bruder sehen«, sagte er langsam.
Ihr entfuhr ein scharfer Atemzug, der sich mit den leisen Geräuschen der Nacht vermischte.
Auch sein Atem ging schnell und glich dem Schnaufen eines aufgebrachten Stiers. Er schien kurz davor zu sein, seine Finger erneut um Blys Hals zu schließen.
Stattdessen nahm er die Hände vom Baumstamm und trat einen Schritt zurück. »Hau ab«, knurrte er.
Ihr Instinkt riet ihr davonzurennen. Sie rief sich mühsam in Erinnerung, dass irgendwo in ihrem Inneren die mutige Wölfin schlummerte, die er bei ihrer ersten Begegnung in ihr gesehen hatte.
Als Bly sich nicht bewegte, knurrte er erneut, tief und bedrohlich. Er packte ihre Schulter, als wollte er sie von sich wegdrehen, damit sie endlich ging.
»Die Rebellen haben einen Hinweis auf ein Geheimgefängnis der Hexen«, stieß Bly eilig hervor. »Die Späher haben dort einen Mann mit leuchtend roten Haaren ausgemacht.«
Kerrigan erstarrte.
»Emerson und ich brechen morgen Abend auf, um zusammen mit den Rebellen zu versuchen, ihn zu befreien. Du könntest mitkommen. Wir können immer einen zusätzlichen …«
»Sei still.«
Das Wort Vampir blieb ihr im Hals stecken.
»Ich will deine Hilfe nicht, Bly.« Seine Finger zerquetschten ihr fast die Schulter. »Woher soll ich wissen, dass du deine Schwester nicht längst bei den Hexen aufgespürt und mit ihnen die Abmachung getroffen hast, mich in die Falle zu locken?«
»Das würde ich niemals …«
»Spar dir deine Proteste für jemanden, den du noch nicht verraten hast.«
Er stieß Bly von sich, und sie stolperte, weil sich ihre Füße in ihrem Kleid verfingen. Unsanft landete sie auf der Seite, begrub knirschend den eisigen Schnee unter sich. Kerrigan machte einen schnellen Schritt in ihre Richtung, und sie wusste nicht, ob er ihr aufhelfen oder nach ihr treten wollte. Er schien in der Stimmung für Zweiteres zu sein, hielt sich jedoch zurück und starrte auf sie herunter, das Gesicht halb vom Mondlicht erhellt.
Bly grub ihre halb tauben Finger ins Eis und zog sich in eine sitzende Haltung, rutschte ein Stück von Kerrigan weg, bevor sie aufstand. Ihre Zähne schlugen klappernd aufeinander, das einzige Geräusch, das zu hören war.
Kerrigan blickte über die Schulter in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Als er sich wieder Bly zuwandte, lag ein zuversichtliches Lächeln auf seinen Lippen, das seine Zähne aufblitzen ließ. »Ich brauche deine Hilfe nicht.«
Und dann stapfte er mit großen Schritten an ihr vorbei und ließ sie mit der eiskalten Ahnung zurück, dass er einer Befreiung Donovans näher war als sie selbst.
Bly stand in der Tür zu Emersons Schmiede und sah ihm dabei zu, wie er ein Schwert über den Flammen erhitzte und es anschließend mit dem Schmiedehammer bearbeitete. Schweißperlen hatten sich auf seiner Stirn gebildet. Früher hatte sie es geliebt, ihn bei der Arbeit zu beobachten. Jetzt empfand sie nur eine nervöse Rastlosigkeit.
Trotz seiner neuen, schärferen Vampirsinne hatte er sie noch nicht bemerkt.
Bly sagte seinen Namen, und er hob den Kopf. Er hasste es, wenn er bei der Arbeit gestört wurde, auch wenn er behauptete, er habe sie gern bei sich in der Schmiede, weil er dann das Gefühl habe, in alte Zeiten zurückkatapultiert zu werden. Prüfend betrachtete er ihr Gesicht, bevor er sich wieder dem Schwert zuwandte. Bly überlegte, woran er eines Tages zu erkennen hoffte, dass sie ihre Schwester gefunden hatte. Würden ihre Augen funkeln? Würde sie lächeln? Vergeblich versuchte sie, sich ihren eigenen Gesichtsausdruck auszumalen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit legte Emerson den Hammer zur Seite und und wischte sich die Hände an einem Tuch ab.