Rezitativ - Toni Morrison - E-Book
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Toni Morrison

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Beschreibung

Die Wiederentdeckung von Toni Morrisons einziger Erzählung, erstmals 1983 erschienen und nie zuvor ins Deutsche übersetzt, ist eine literarische Sensation und enthält die Quintessenz ihres Schaffens. Die Nobelpreisträgerin spielt darin mit unserer Wahrnehmung: Von Beginn an wissen wir, dass eine der beiden Hauptfiguren schwarz ist und die andere weiß – doch welche ist welche? Twyla und Roberta begegnen sich als Achtjährige im Kinderheim. Sie werden Vertraute, geben einander Halt und Trost. Sie sind unzertrennlich, doch später verlieren sie sich aus den Augen. Zufällig begegnen sie einander immer wieder, erst in einem Diner, dann im Supermarkt und bei einer Demonstration. Sie stehen in jeder Hinsicht auf verschiedenen Seiten und sind sich uneinig über die wichtigsten Fragen – trotzdem fühlen sich die beiden Frauen einander tief verbunden. Rezitativ erzählt eindrucksvoll und mit frappierender Aktualität über eine Mädchenfreundschaft und die Auswirkungen von Rassismus und Klassenzugehörigkeit auf die Beziehungen, die unser Leben prägen.

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Seitenzahl: 87

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Toni Morrison

Rezitativ

 

 

Aus dem Englischen von Tanja Handels

 

Über dieses Buch

Die Wiederentdeckung von Toni Morrisons einziger Erzählung, erstmals 1983 erschienen und nie zuvor ins Deutsche übersetzt, ist eine literarische Sensation und enthält die Quintessenz ihres Schaffens. Die Nobelpreisträgerin spielt darin mit unserer Wahrnehmung: Von Beginn an wissen wir, dass eine der beiden Hauptfiguren schwarz ist und die andere weiß – doch welche ist welche?

 

Twyla und Roberta begegnen sich als Achtjährige im Kinderheim. Sie werden Vertraute, geben einander Halt und Trost. Sie sind unzertrennlich, doch später verlieren sie sich aus den Augen. Zufällig begegnen sie einander immer wieder, erst in einem Diner, dann im Supermarkt und bei einer Demonstration. Sie stehen in jeder Hinsicht auf verschiedenen Seiten und sind sich uneinig über die wichtigsten Fragen – trotzdem fühlen sich die beiden Frauen einander tief verbunden. Rezitativ erzählt eindrucksvoll und mit frappierender Aktualität über eine Mädchenfreundschaft und die Auswirkungen von Rassismus und Klassenzugehörigkeit auf die Beziehungen, die unser Leben prägen.

Vita

Toni Morrison wurde 1931 in Lorain, Ohio, geboren. Sie studierte an der renommierten Cornell University Anglistik und hatte an der Princeton University eine Professur für afroamerikanische Literatur inne. Zu ihren bedeutendsten Werken zählen Sehr blaue Augen, Solomons Lied, Menschenkind und diverse Essaysammlungen. Sie war Mitglied des National Council on the Arts und der American Academy of Arts and Letters. Ausgezeichnet mit zahlreichen Preisen, u. a. mit dem National Book Critics Circle Award und dem American Academy of Arts and Letters Award für Erzählliteratur. 1993 erhielt sie den Nobelpreis für Literatur, und 2012 zeichnete Barack Obama sie mit der Presidential Medal of Freedom aus. Toni Morrison starb am 5. August 2019.

 

Tanja Handels, geboren 1971 in Aachen, lebt und arbeitet in München, übersetzt zeitgenössische britische und amerikanische Literatur, unter anderem von Zadie Smith, Bernardine Evaristo, Anna Quindlen und Charlotte McConaghy, und ist auch als Dozentin für Literarisches Übersetzen tätig. 2019 wurde sie mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis ausgezeichnet.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel «Recitatif» bei Alfred A. Knopf, Publisher, New York.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, April 2023

Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

«Recitatif» Copyright © by 1983 by Toni Morrison

 Nachwort Copyright © 2022 by Zadie Smith

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung Anzinger und Rasp, München

Coverabbildung Tracy Murrell

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01719-1

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Meine Mutter tanzte die ganze Nacht, und die von Roberta war krank. Darum wurden wir ins St. Bonny’s gebracht. Wenn man erzählt, man war im Kinderheim, wollen einen alle gleich in den Arm nehmen, dabei war es gar nicht so schlimm. Keine großen, langen Säle mit hundert Betten wie im Bellevue. Es gab Viererzimmer, und als Roberta und ich dorthin kamen, waren gerade nur wenige Kinder in staatlicher Fürsorge dort, und wir waren allein auf der 406 und konnten von Bett zu Bett wechseln, wenn wir wollten. Und ob wir wollten! Wir wechselten jeden Abend, und während der ganzen vier Monate, die wir dort waren, entschieden wir uns nie für ein endgültiges Bett.

So war es aber nicht von Anfang an. Als ich reinkam und das Riesenross uns einander vorstellte, wurde mir ganz schlecht. Schlimm genug, früh am Morgen aus dem eigenen Bett geholt zu werden – aber dann noch an einem fremden Ort festzusitzen, zusammen mit einem Mädchen von ganz anderer Hautfarbe! Und Mary, so heißt meine Mutter, hatte ja recht. Von Zeit zu Zeit hörte sie nämlich gerade so lang mit dem Tanzen auf, um mir was Wichtiges zu erklären, und unter anderem hat sie mir erklärt, dass die sich nie die Haare waschen und komisch riechen. Wie Roberta. Also, sie roch wirklich komisch. Und darum habe ich, als das Riesenross (kein Mensch redete je von «Mrs. Itkin», so wie auch kein Mensch je von «St. Bonaventure» redete) – als es also sagte: «Twyla, das ist Roberta. Roberta, das ist Twyla. Seid nett zueinander», da habe ich gesagt: «Das wird meiner Mutter aber gar nicht gefallen, dass Sie mich hier unterbringen.»

«Gut», sagte das Riesenross. «Vielleicht holt sie dich dann ja wieder nach Hause.»

So eine Gemeinheit! Wenn Roberta gelacht hätte, ich hätte sie umgebracht, aber sie lachte nicht. Sie ging nur rüber zum Fenster und drehte uns den Rücken zu.

«Dreh dich um», sagte das Riesenross. «Sei nicht so unhöflich. Also, Twyla, Roberta. Wenn ihr es laut klingeln hört, heißt das, es gibt Abendessen. Dann kommt ihr runter ins Erdgeschoss. Zankt euch nicht, sonst gibt es nachher keinen Film.» Und damit uns klar war, was wir verpassen würden: «Der Zauberer von Oz.»

Roberta dachte wohl, ich hätte gemeint, meine Mutter wäre sauer, weil ich ins Kinderheim gebracht worden war. Und nicht weil ich mit ihr ein Zimmer teilen musste, denn kaum war das Riesenross weg, kam sie zu mir und fragte: «Ist deine Mutter auch krank?»

«Nein», sagte ich. «Sie tanzt nur gern die ganze Nacht.»

«Ach so.» Sie nickte, und mir gefiel das, wie schnell sie begriff. Es war also erst mal egal, dass wir nebeneinander wie Salz und Pfeffer aussahen, und so riefen die anderen Kinder uns dann auch oft. Wir waren acht Jahre alt und bekamen nur schlechte Noten. Ich, weil ich mir nicht merken konnte, was ich gelesen hatte oder was die Lehrerin sagte. Und Roberta, weil sie überhaupt nicht lesen konnte und der Lehrerin auch nicht zuhörte. Sie war in nichts gut, außer beim Jacks-Spielen, da war sie unschlagbar: zack-schnapp-zack-schnapp-zack-schnapp.

Am Anfang mochten wir uns nicht besonders, aber von den anderen wollte niemand mit uns spielen, weil wir keine richtigen Waisen mit lieben verstorbenen Eltern im Himmel waren. Uns hatte man abserviert. Nicht mal die Puerto Ricaner aus New York City und die Kinder aus den Reservaten upstate beachteten uns. Im Heim waren alle möglichen Kinder, schwarze, weiße, sogar zwei aus Korea. Aber das Essen war lecker. Fand ich zumindest. Roberta fand es schrecklich, sie ließ immer jede Menge auf dem Teller liegen: Pökelfleisch, Salisbury-Steak – sogar Wackelpudding mit Konservenobst –, und es war ihr egal, wenn ich aufaß, was sie nicht wollte. Bei Mary gab’s zum Abendessen Popcorn und Schokomilch aus der Dose. Heißer Kartoffelbrei und zwei Wiener Würstchen waren für mich wie Thanksgiving.

Es war wirklich nicht schlimm im St. Bonny’s. Hin und wieder schikanierten uns die großen Mädchen aus dem ersten Stock. Aber mehr auch nicht. Sie benutzten Lippenstift und Kajal und wippten mit den Knien, wenn sie vor dem Fernseher saßen. Sie waren fünfzehn, manche sogar sechzehn. Größtenteils Verstoßene, verängstigte Ausreißerinnen. Arme kleine Mädchen, die sich gegen ihre Onkel wehren mussten, auf uns aber stark wirkten und gemein. Gott, waren die gemein. Die Belegschaft versuchte, sie von den jüngeren Kindern fernzuhalten, aber manchmal erwischten sie uns, wie wir sie im Obstgarten beobachteten, wo sie das Radio laufen ließen und miteinander tanzten. Dann liefen sie uns nach, zogen uns an den Haaren und verdrehten uns die Arme. Wir hatten Angst vor ihnen, Roberta und ich, gaben das aber nicht zu. Darum legten wir uns eine ordentliche Liste Schimpfnamen zurecht, die wir über die Schulter brüllen konnten, wenn wir durch den Obstgarten vor ihnen wegrannten. Ich träumte damals sehr viel, und fast immer kam der Obstgarten darin vor. Zwei Morgen Land, vielleicht auch vier, mit lauter kleinen Apfelbäumen. Hunderten. Nackt und knorrig wie Bettelweiber, als ich ins St. Bonny’s kam, und dick von Blüten, als ich wieder ging. Ich weiß gar nicht, warum ich so oft von diesem Obstgarten träumte. Eigentlich ist da ja nichts passiert. Also, zumindest nichts Wichtiges. Da waren nur die großen Mädchen, die dort tanzten und das Radio laufen ließen. Und Roberta und ich, die sie beobachteten. Einmal ist Maggie dort gestürzt. Die Küchenhilfe mit den Beinen wie Klammer auf, Klammer zu. Und die großen Mädchen haben sie ausgelacht. Ich weiß schon, wir hätten ihr aufhelfen sollen, aber wir hatten Angst vor diesen Mädchen mit ihrem Lippenstift und Kajalstrich. Maggie konnte nicht sprechen. Die anderen Kinder behaupteten, ihr wäre die Zunge rausgeschnitten worden, aber ich glaube, sie war einfach so auf die Welt gekommen: stumm. Sie war alt, hatte eine Haut wie Sand und arbeitete in der Küche. Was weiß ich, ob sie nett war. Ich erinnere mich nur an ihre Beine wie Klammer auf, Klammer zu und dass sie beim Gehen wackelte. Sie arbeitete von morgens früh bis zwei, und wenn sie mal spät dran war, weil sie viel sauber zu machen hatte, und erst gegen Viertel nach zwei wegkam, nahm sie die Abkürzung durch den Obstgarten, um den Bus nicht zu verpassen und eine Stunde auf den nächsten warten zu müssen. Sie trug eine richtig blöde Mütze – so eine Kindermütze mit Ohrenklappen –, und sie war nicht viel größer als wir. Eine richtig scheußliche Mütze. Wirklich blöd, sogar für eine Stumme – rumzulaufen wie ein kleines Kind und keinen Ton zu sagen.

«Und was ist, wenn jemand sie umbringen will?» Das fragte ich mich damals oft. «Oder wenn sie weinen muss? Kann sie weinen?»

«Klar», sagte Roberta. «Aber nur Tränen. Töne kommen keine.»

«Sie kann also nicht schreien?»

«Nein. Gar nicht.»

«Kann sie was hören?»

«Glaub schon.»

«Rufen wir sie mal», sagte ich. Und das taten wir.

«Trampel! Trampel!» Sie wandte nicht mal den Kopf.

«O-Bein! O-Bein!» Gar nichts. Sie wackelte einfach weiter, und die Kinnriemen ihrer Babymütze baumelten hin und her. Ich glaube, wir lagen falsch. Ich glaube, sie hat uns gehört und sich bloß nichts anmerken lassen. Bis heute schäme ich mich, wenn ich mir vorstelle, dass dadrinnen doch jemand war, unsere Schimpfwörter hörte und uns nicht verpetzen konnte.

Wir kamen gut aus, Roberta und ich. Wechselten jeden Abend das Bett, kriegten schlechte Noten in Gemeinschaftskunde, freier Rede und Turnen. Für das Riesenross waren wir eine Enttäuschung. Von uns hundertdreißig Fürsorgefällen waren neunzig noch keine zwölf. Fast alle waren echte Waisen mit lieben verstorbenen Eltern im Himmel. Wir waren die einzigen Abservierten und die Einzigen mit schlechten Noten in drei Fächern, einschließlich Turnen. Darum kamen wir gut aus – Roberta ließ ja auch immer jede Menge Essen auf ihrem Teller liegen und war so nett und stellte keine Fragen.