Selbstachtung - Toni Morrison - E-Book

Selbstachtung E-Book

Toni Morrison

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Beschreibung

Das Vermächtnis von Toni Morrison: Dieser Band versammelt Essays, Reden und Vorträge aus einem halben Jahrhundert. Toni Morrison befasst sich mit umstrittenen gesellschaftlichen Fragen, die zeitlebens ihre Themen gewesen sind: dem Alltagsrassismus in Amerika, der Assimilation des Fremden, dem Erbe des Sklaventums, der Gewalt gegen Schwarze, den Menschenrechten. Sie denkt über die Kunst, die Möglichkeiten der literarischen Phantasie, die Kraft der Sprache, die afroamerikanische Präsenz in der US-Literatur und in der Gesellschaft nach. Es geht um Achtung und Selbstachtung, um Leerstellen in der Geschichte und jahrzehntelang tradierte Vorurteile. Eine umfassende Bestandsaufnahme - manche Beobachtungen wiederholen sich in ihren Reden und Vorträgen im Lauf der Jahrzehnte, es sind die alten Fragen in einem neuen Kontext. Gibt es gesellschaftlichen Fortschritt? Gibt es Hoffnung? Die Eleganz ihres Denkens, die klare Schönheit ihrer Sprache und, vor allem, ihre aufrechte moralische Haltung waren ihre herausragenden Kennzeichen und maßgeblich dafür, dass Toni Morrison 1993 mit dem Nobelpreis für Literatur geehrt wurde. Diese Texte sind eine Positionsbestimmung von brennender Aktualität und ein leidenschaftlicher Aufruf, sich gegen Unterdrückung zu wehren.

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Toni Morrison

Selbstachtung

Ausgewählte Essays, Reden und Betrachtungen

 

 

Aus dem Englischen von Thomas Piltz, Nikolaus Stingl, Christiane Buchner, Dirk van Gunsteren und Christine Richter-Nilsson

 

Über dieses Buch

Dieser Band versammelt Essays, Reden und Vorträge aus einem halben Jahrhundert.

 

Toni Morrison befasst sich mit umstrittenen gesellschaftlichen Fragen, die zeitlebens ihre Themen gewesen sind: dem Alltagsrassismus in Amerika, der Assimilation des Fremden, dem Erbe des Sklaventums, der Gewalt gegen Schwarze, den Menschenrechten. Sie denkt über die Kunst, die Möglichkeiten der literarischen Phantasie, die Kraft der Sprache, die afroamerikanische Präsenz in der US-Literatur und in der Gesellschaft nach. Es geht um Achtung und Selbstachtung, um Leerstellen in der Geschichte und jahrzehntelang tradierte Vorurteile. Eine umfassende Bestandsaufnahme – manche Beobachtungen wiederholen sich in ihren Reden und Vorträgen im Lauf der Jahrzehnte, es sind die alten Fragen in einem neuen Kontext. Gibt es gesellschaftlichen Fortschritt? Gibt es Hoffnung?

 

Die Eleganz ihres Denkens, die klare Schönheit ihrer Sprache und, vor allem, ihre aufrechte moralische Haltung waren ihre herausragenden Kennzeichen und maßgeblich dafür, dass Toni Morrison 1993 mit dem Nobelpreis für Literatur geehrt wurde. Diese Texte sind eine Positionsbestimmung von brennender Aktualität und ein leidenschaftlicher Aufruf, sich gegen Unterdrückung zu wehren.

Vita

Toni Morrison wurde 1931 in Lorain, Ohio, geboren. Sie studierte an der renommierten Cornell University Anglistik und hatte an der Princeton University eine Professur für afroamerikanische Literatur inne. Zu ihren bedeutendsten Werken zählen «Sehr blaue Augen», «Solomons Lied» «Menschenkind», «Jazz», «Paradies» und diverse Essaysammlungen. Sie war Mitglied des National Council on the Arts und der American Academy of Arts and Letters. Ausgezeichnet mit zahlreichen Preisen, u. a. mit dem National Book Critics' Circle Award und dem American Academy and Institute of Arts and Letters Award für Erzählliteratur. 1993 erhielt sie den Nobelpreis für Literatur, und 2012 zeichnete Barack Obama sie mit der Presidential Medal of Freedom aus. Toni Morrison starb am 5. August 2019.

 

Thomas Piltz, geboren 1949 in München, ist freier Fotograf und Übersetzer. Er übertrug unter anderem Werke von Thomas Pynchon, Jonathan Franzen und John Updike ins Deutsche. Ausgezeichnet mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Übersetzerpreis.

Inhaltsübersicht

Auf eigene Gefahr

Erster Teil Die Heimat des Fremden

Die Toten des 11. Septembers

Die Heimat des Fremden

Rassismus und Faschismus

Heimat

Die Sprache des Krieges

Krieg dem Irrglauben

«Rasse» im Hinterkopf

Moralbegabte Lebewesen

Der Preis des Wohlstands und die Kosten des Gemeinwohls

Kunst als Lebensform

Der Künstler als Einzelkämpfer

Förderung der Künste

Rede vor Absolventen am Sarah Lawrence College

Die Sklaven und die Schwarzen

Harlem on My Mind

Frauen, «Rasse» und Gedächtnis

Literatur und öffentliches Leben

Die Nobelvorlesung in Literatur

Aschenputtels Stiefschwestern

Die Zukunft der Zeit. Literatur und schwindende Erwartungen

Schwarze Angelegenheiten

Verbeugung vor Martin Luther King jr.

Thema «Rasse»

Schwarze Angelegenheiten

Das unausgesprochene Unaussprechliche: Die afroamerikanische Präsenz in der amerikanischen Literatur

I

II

III

Akademisches Geflüster

Gertrude Stein und der Unterschied, den sie macht

Was weh tut, was wahr ist und was wirklich zählt

Zweiter Teil Die Sprache Gottes

Trauerrede anlässlich des Todes von James Baldwin

Fundstätte Erinnerung

Die Sprache Gottes

Grendel und seine Mutter

Der Autor vor der Seite

Teerbaby

Gestaltung

Das Problem mit dem Paradies

Über Menschenkind

Chinua Achebe

Vorstellung von Peter Sellars

Zu Ehren von Romare Bearden

Faulkner und die Frauen

Der Ursprung der Selbstachtung

Wiedererinnern

Erinnerung, Schaffensprozess und Fiktion

Schluss mit alldem

Unsichtbare Tinte

Quellennachweise

Verwendete Übersetzungen und Texte

Auf eigene Gefahr

Autoritäre Regime, Diktatoren, Despoten sind oft, wenn auch nicht immer, dumm. Aber nie sind sie so dumm, wachsamen Autoren aus dem gegnerischen Lager den Freiraum zu gewähren, den diese für die Veröffentlichung ihrer Meinung und das Ausleben ihrer kreativen Impulse benötigen. Sie wissen um das Risiko. Sie sind nicht so dumm, die Kontrolle über die Medien, sei sie offen oder verhüllt, aufzugeben. Ihre Methoden umfassen die Überwachung, die Zensur, die Verhaftung und sogar die Liquidierung der Autoren, die die Öffentlichkeit informieren und wachrütteln – Autoren, die Unruhe stiften, die Fragen stellen, die genauer hinschauen. Schreibende – ob Journalisten, Essayisten, Blogger, Dichter oder Dramatiker – können die gesellschaftliche Schweigespirale durchbrechen, die die Menschen in das Wachkoma versetzt, das die Despoten «inneren Frieden» nennen, und sie stillen den Blutstrom des Krieges, an dem sich die Falken und Gewinnler erregen.

Das ist es, was die Despoten fürchten.

Was wir zu fürchten haben, ist von anderer Dimension.

Wie öde, wie unerträglich, wie unlebbar wird das Leben, wenn ihm die Dimension der Kunst entzogen wird. So dringlich es ist, das Leben und das Werk von Autoren zu schützen, die in Gefahr sind, so wenig dürfen wir vergessen, dass ihr Verschwinden, das Ersticken ihrer Stimme, die gnadenlose Amputation ihres Werks auch eine Gefährdung unserer selbst darstellt. Die rettende Hand, die wir ihnen ausstrecken, ist in unserem eigenen Interesse.

Wir alle kennen Länder, deren entscheidendes Merkmal darin besteht, dass ihre Autoren ihnen den Rücken kehren. Es sind Regime, deren Angst vor unzensiertem Schreiben berechtigt ist, weil die Wahrheit Ärger bedeutet. Ärger für den Kriegstreiber, den Folterer, den Wirtschaftskriminellen, den rückgratlosen Journalisten, die korrupte Justiz und auch die komatöse Öffentlichkeit. Autoren, die nicht verfolgt, nicht eingesperrt, nicht bedroht werden, bedeuten Ärger für den ignoranten Machthaber, den verschlagenen Rassisten und die Raubtiere, die sich an den Ressourcen unserer Welt vergreifen.

Die Besorgnis, die Unruhe, die Schriftstellerinnen und Schriftsteller auslösen, ist heilsam, weil sie offen und empfindlich macht; weil sie, wenn nicht von den Autoritäten eingehegt, als bedrohlich erlebt wird. Deshalb ist die Unterdrückung von Schriftstellern von jeher das erste Warnzeichen für die bald darauf folgende Erosion von Freiheiten und Bürgerrechten. Die Geschichte der verfolgten Autoren reicht so weit zurück wie die Literaturgeschichte selbst. Und die Versuche, uns zu zensieren, uns auszuhungern, uns in unserer Handlungsfreiheit einzuschränken und zu vernichten, sind untrügliche Zeichen, dass etwas Gravierendes geschehen ist. Gesellschaftliche und politische Kräfte können jegliche Kunst hinwegfegen, die nicht «sicher», nicht staatlich abgesegnet ist.

Ich habe mir sagen lassen, es gebe zwei menschliche Reaktionen auf die Erfahrung von Chaos: Benennung und Gewalt. Ist Chaos schlicht nur das Unbekannte, ergibt sich die Benennung wie von selbst – eine neue Art oder Formel oder Gleichung, ein neuer Stern, eine Prognose. Es gibt die Möglichkeit der Eingrenzung, des Kartographierens, des Ersinnens von Namen für namenlose oder ihrer Namen beraubte Regionen, Länder oder Völker. Wenn sich das Chaos damit aber nicht domestizieren lässt, wenn es in veränderter Gestalt wiederkehrt oder sich der aufgezwungenen Ordnung widersetzt, gilt Gewalt als die gewöhnlichste und auch rationalste Reaktion im Umgang mit dem Unbekannten, Katastrophischen, Wilden, Widerständigen oder Unbeherrschbaren. Die Zensur kann eine solche rationale Reaktion sein, genauso Lagerhaft, Gefängnis oder Tötung, individuell oder im Krieg. Es gibt aber noch eine dritte Reaktion auf das Chaos, von der mir niemand berichtet hat, nämlich das Verstummen. Dieses Verstummen kann bloße Passivität sein oder eine Schockstarre oder eine Folge lähmender Angst. Aber es kann auch eine künstlerische Haltung sein. Wer auch immer es auf sich nimmt, im Dunstkreis der Macht, sei es näher oder ferner von militärischer, wirtschaftlicher oder hegemonialer Gewalt, ein Gerüst von Sinn gegen das Chaos zu errichten, verdient Schutz und Unterstützung. Und wer sollte diesen Schutz initiieren, wenn nicht die Kollegen der bedrängten Autorinnen und Autoren? Ebenso wichtig aber ist es, nicht nur drangsalierte Schriftsteller zu retten, sondern auch uns selbst. Nur noch mit Grauen kann ich konstatieren, dass andere Stimmen ausradiert werden und Romane ungeschrieben bleiben; dass Gedichte nur geflüstert oder ganz verschluckt werden aus Angst, die falschen Ohren könnten sie hören; dass unerwünschte Sprachen nur noch im Untergrund blühen; dass kritische Fragen nicht gestellt werden und Theaterstücke nicht auf die Bühne oder Filme nicht mehr ins Kino kommen – und dieser Gedanke ist ein Albtraum. Als würde ein ganzes Universum mit unsichtbarer Tinte beschrieben.

Gewisse Wunden, die Bevölkerungsgruppen zugefügt werden, sind so tief, so grausam, dass nicht Geld und nicht Vergeltung und nicht einmal Gerechtigkeit und Sühne oder menschliche Güte, sondern nur die Werke von Schriftstellern das Trauma übersetzen und dem Leiden einen Sinn abgewinnen, das moralische Empfinden schärfen können.

Leben und Werk der Autoren sind kein Geschenk an die Menschheit; sie sind eine Notwendigkeit.

Erster TeilDie Heimat des Fremden

Die Toten des 11. Septembers

Manche haben das Wort Gottes, andere Lieder des Trostes für die Hinterbliebenen. Ich möchte, wenn ich den Mut dazu aufbringe, direkt zu den Toten sprechen – den Septembertoten. Zu den Kindern von Ahnen, die aus allen Kontinenten des Planeten stammen, aus Asien, Europa, Afrika, den beiden Amerikas; Kindern von Vorfahren, die Kilts, Kimonos oder Saris trugen, Turbane, Strohhüte oder Kippas, Ziegenleder oder Holzschuhe, Federn oder Kopftücher auf ihren Häuptern. Aber ich möchte kein Wort sagen, ehe ich nicht alles vergessen habe, was ich über Nationen, Kriege, Regierende und Regierte und die Unregierbaren weiß oder zu wissen glaube; und was ich argwöhne über Panzer und Gedärm. Erst möchte ich meine Zunge säubern von Sätzen, die gebildet wurden, um das Böse zu verstehen – ob mutwillig oder absichtsvoll, ob explosiv oder von stillem Grauen, ob aus Übersättigung oder Hunger geboren, aus Rache oder dem schlichten Drang, sich zu erheben, ehe man fällt. Ich möchte meine Sprache reinigen von Übertreibungen, von ihrem Eifer, die Stadien der Verworfenheit zu analysieren, sie abzustufen, einen höheren oder niedrigeren Rang unter ihresgleichen zu bestimmen.

Zu den Zerschmetterten und Toten zu sprechen, ist zu schwierig für einen Mund voller Blut. Ein zu heiliger Akt für unreine Gedanken. Denn die Toten sind frei, sind absolut. Sind nicht verführbar durch Feuer.

Um zu euch, den Septembertoten, zu sprechen, darf ich nicht falsche Vertrautheit in Anspruch nehmen oder ein überhitztes Herz ausstellen, das pünktlich für die Kamera glüht. Ich muss behutsam sein und deutlich und immer wissen, dass ich nichts zu sagen habe – keine Worte, die stärker wären als der Stahl, der euch in sich verschlungen hat; keine Schrift, die älter oder eleganter wäre als die urzeitlichen Atome, zu denen ihr geworden seid.

Und ich habe auch nichts zu geben – außer dieser Geste, diesem Faden, der gespannt ist zwischen eurem Menschsein und meinem: Ich will euch in meinen Armen halten, und so wie eure Seele, gesprengt aus ihrem Fleischgehäuse, will ich mit euch den Geist der Ewigkeit verstehen: sein Geschenk befreiender Erlösung, die das Dunkel des Totengeläuts durchdringt.

Die Heimat des Fremden

Vom Höhepunkt des Sklavenhandels im neunzehnten Jahrhundert abgesehen, ist die Wanderungsbewegung der Völker in der zweiten Hälfte des zwanzigsten und zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts größer als jemals zuvor. Es ist eine Wanderung von Arbeitern und Intellektuellen, von Flüchtlingen und Migranten, quer über Ozeane oder durch Kontinente, an Bord zerbrechlicher Boote oder in den Amtsstuben von Einwanderungsbehörden. Sie spricht in vielen Sprachen von Handel und politischer Intervention, von Verfolgung, Exil, Gewalt und Armut. Kein Zweifel, dass diese weltweite Umverteilung von Menschen (teils freiwillig, teils unfreiwillig) weit oben steht auf den Tagesordnungen der Regierungsämter und Vorstandsbüros, dass sie das Gespräch auf der Straße bestimmt, im eigenen Viertel und zu Hause. Politische Maßnahmen zur Eindämmung der Ströme beschränken sich keineswegs darauf, die Entwurzelten zu überwachen. Vieles an diesem Exodus kann als Wanderung der Kolonisierten in die Länder der Kolonialherren (die Sklaven verlassen die Plantage und ziehen in das Herrenhaus) und, häufiger noch, als Flucht von Kriegsopfern beschrieben werden, während die Versetzungen der Diplomaten und der Management-Eliten an immer neue Außenposten der Globalisierung und die mit der Errichtung neuer Militärbasen einhergehende Stationierung frischen Truppenmaterials für die Regierungen eine wichtige Rolle bei dem Versuch spielen, der Völkerwanderung Herr zu werden.

Das Schauspiel der Massenmigration lenkt den Blick unweigerlich auf die Grenzen, jene porösen und verletzlichen Membranen, an denen das Konzept der Heimat als von Fremden bedroht erlebt wird. Ein großer Teil der Alarmstimmung, die dort herrscht, wird meines Erachtens von zwei Faktoren angefacht: 1.) dem Globalismus, sowohl als Bedrohung wie als Chance; und 2.) einer heiklen Beziehung zu unserem eigenen Fremdsein, unserem immer rascher erodierenden Gefühl von Zugehörigkeit.

Lassen Sie mich mit der Globalisierung beginnen. Nach unserem derzeitigen Verständnis ist Globalisierung etwas grundlegend anderes als eine neue Version weltwirtschaftlicher Hegemonie nach dem Muster Großbritanniens im neunzehnten Jahrhundert – auch wenn postkoloniale Unruhen noch heute von der Dominanz künden, die eine Nation, Großbritannien, damals über die meisten anderen ausübte. Der Begriff «Globalisierung» zielt auch auf etwas durchaus anderes als den alten Vereinigungstraum des proletarischen Internationalismus – auch wenn der Präsident des Gewerkschafts-Dachverbands AFL-CIO auf einer Tagung von Gewerkschaftsführern ausdrücklich den Begriff «Internationalismus» gebrauchte. Natürlich hat diese Globalisierung auch nichts mit der Sehnsucht der Nachkriegszeit nach einer vereinten Welt zu tun, jener Rhetorik, die die fünfziger Jahre umtrieb und die UNO hervorbrachte. Und sie entspricht auch nicht dem «Universalismus» der sechziger und siebziger Jahre – sei es als Forderung nach dem Weltfrieden oder als Beharren auf kultureller Vorherrschaft. «Weltreich» oder «Vereinigung der Nationen», «Internationalismus» oder «Universalismus» – bei alldem scheint es sich weniger um historische Entwicklungsphasen als um den Ausdruck einer Sehnsucht zu handeln, der Sehnsucht, dem Planeten einen Anschein von Einheit und Beherrschbarkeit zu geben oder sich das Schicksal seiner Bewohner von einem ideologischen Einklang der Nationen geleitet vorzustellen. Der Globalismus folgt den gleichen Sehnsüchten und Hoffnungen wie seine Vorgänger. Auch er versteht sich als historischer Fortschritt, der zu Wachstum und Einheit führt, der eine Utopie verwirklicht, der vorbestimmt ist. Im engeren Sinn meint Globalismus ungehinderten Kapital-, Waren- und Datenverkehr in einem von politischen Einflüssen freien Rahmen, der von den Bedürfnissen multinationaler Konzerne gesetzt wird. Weit weniger unschuldig sind jedoch die Nebenwirkungen jenseits der Märkte, zu denen nicht nur die Dämonisierung ganzer Staaten durch Handelsembargos oder die Aufwertung von Warlords durch kommerzgeleitete Rücksichtnahme gehören, sondern auch der Bedeutungsverlust der Nationalstaaten unter dem Druck grenzenloser Ströme von Waren, Kapital und Arbeitsmigranten; der weltweite Anpassungsdruck der Wirtschaft und der Kultur des Westens; die Amerikanisierung der entwickelten und der Entwicklungsländer durch die Vorherrschaft amerikanischer Populärkultur; sowie die kommerzielle Ausbeutung der Kulturen der Dritten Welt in der Mode, in Filmen und selbst in den Essgewohnheiten des Westens.

Mit ähnlicher Begeisterung begrüßt wie einst die Vorstellung vom amerikanischen Erwähltsein oder wie der Internationalismus, spielt die Globalisierung in unserem Denken eine geradezu majestätische Rolle. Denn bei all ihren Versprechungen von Freiheit und Gleichheit spendet sie ihre Segnungen mit herrschaftlicher Willkür. Sie kann viel geben und viel verwehren, im Hinblick auf ihren Geltungsbereich (über Grenzen hinweg); in Bezug auf schiere Masse (die Zahl der Begünstigten oder Abgehängten); oder in puncto Wohlstand (endlose Geschäftsfelder für die Ausbeutung von Ressourcen oder das Angebot von Dienstleistungen). Doch so sehr der Globalismus mit geradezu messianischen Heilserwartungen befrachtet wird, so heftig wird er auch als ein Übel verteufelt, das einer gefährlichen Dystopie den Weg bereitet. Wir fürchten seine Gleichgültigkeit gegenüber Grenzen, nationalen Infrastrukturen, lokalen Verwaltungen, Datenschutz-Richtlinien, Zollbestimmungen, Gesetzen, Sprachen; seine Achtlosigkeit angesichts von Randbezirken und an den Rand Gedrängten; seine erstaunliche, alles ergreifende Fähigkeit zu einer ständig sich beschleunigenden Nivellierung, einem Kahlschlag aller nützlichen Differenzierungen im Dienste des Marketings – eine Antithese zu unserer Idee von Vielfalt. Wir denken an Gleichmacherei, befürchten das Verschwinden der Sprachen und Kulturen lokaler Minderheiten in seinem Gefolge. Oder wir malen uns mit Schrecken aus, wie die Wucht der Globalisierung die großen Sprachen und Kulturen einem unwiderruflichen, lähmenden Zwang zur Anpassung unterwerfen kann.

Weitere Gefahren, die der Globalismus mit sich bringt, sind die Verzerrung unseres Begriffs von Öffentlichkeit und die Zerstörung des Privaten. Was als öffentlich zu gelten hat, übernehmen wir zum größten Teil, wenn auch nicht ausschließlich, von den Medien. Vieles von dem, was einst privat war, verlangen uns die Datensammler aus Politik, Verwaltung, Wirtschaft und neuerdings auch der Sicherheitsdienste ab. Die Verunsicherung, die die poröse Grenze zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten umgibt, hat eine ihrer Ursachen sicher in der sprachlichen Verwilderung, die den Gebrauch der beiden Termini kennzeichnet. Wir haben «privatisierte» Gefängnisse, in denen eine privatwirtschaftlich organisierte Firma öffentliche Aufgaben wahrnimmt. Wir haben Privatisierung auch im staatlich verantworteten Schulwesen. Und wir haben das Privatleben, das in den Medien freigiebig mit der Öffentlichkeit geteilt oder von «Personen des öffentlichen Lebens» vor Gericht gegen Übergriffe ebendieser Medien verteidigt wird. Es gibt Rückzugsräume des Privaten (Innenhöfe, Gärten), zu denen die Öffentlichkeit Zutritt hat, und öffentliche Räume (Parks, Spielplätze, Badestrände in exklusiven Lagen), die privater Nutzung vorbehalten sind. Es gibt das Spiegelphänomen des für die Öffentlichkeit inszenierten häuslichen Lebens. Unsere Wohnumgebung gleicht einem Schaufenster (mit Regalmetern voller stolz präsentierter «Sammlungen»), und Schaufenster werden gestaltet wie private Räume. Von jungen Menschen heißt es, ihr Verhalten orientiere sich an Bildschirm und Leinwand, während von Film und Fernsehen behauptet wird, sie würden die Interessen und Verhaltensweisen der Jugend lediglich widerspiegeln und nicht erst erzeugen. Weil der Raum, in dem sich sowohl das bürgerliche wie das intime Leben abspielen, keine Unterscheidung von Innenwelt und Außenwelt mehr kennt, haben sich die beiden Sphären zu etwas Allgegenwärtigem vermengt, das unsere Vorstellung von Zuhause wie hinter einem Schleier verschwimmen lässt.

Ich glaube, dass es diese Unschärfe ist, die den zweiten Punkt bedingt: unser Unbehagen angesichts unserer Empfindung von Fremdheit, unser sich rasant zersetzendes Gefühl von Zugehörigkeit. Wem schulden wir die größte Loyalität? Unserer Familie, unserer Kultur, unserem Land, den Menschen gleicher Sprache, unseren Geschlechtsgenossinnen oder -genossen? Unserer Religion oder Ethnie? Und wenn gar niemandem oder nichts davon, sind wir dann urban, kosmopolitisch – oder nur einsam? Mit anderen Worten, wie entscheiden wir, wohin wir gehören? Was überzeugt uns von der Richtigkeit unserer Entscheidung? Oder, anders gefragt, woher rührt unser Gefühl des Fremdseins?

Ich möchte auf einen Roman zurückgreifen, der in den fünfziger Jahren von einem Autor aus Ghana verfasst wurde, um dieses Dilemma näher zu beschreiben – diese Unschärfe rund um Innen und Außen, die jede Form von Grenze, ob politisch, metaphorisch oder psychologisch, umgeben kann und unsere Suche nach Zugehörigkeit, unseren Umgang mit Begriffen wie Nation und Nationalismus, Rasse, Ideologie und dem sogenannten Kampf der Kulturen so sehr erschwert.

Afrikanische und afroamerikanische Schriftsteller sind nicht die einzigen, die sich dieser Themen annehmen, aber sie können auf eine besonders lange und unmittelbare Geschichte des Betroffenseins verweisen – nicht zu Hause in ihrem Heimatland, Exilanten am Ort ihrer Herkunft.

Ehe ich mich dem Roman als solchem widme, möchte ich etwas erzählen, das meiner Lektüre afrikanischer Literatur weit vorausging, aber bereits damals die Weichen stellte für meine Beschäftigung mit alldem, was unsere aktuellen Definitionen des Fremden so problematisch macht.

Mit Samt bezogene Tabletts wanderten von Hand zu Hand durch die Bankreihen der Kirche bei der sonntäglichen Kollekte. Eines davon, das letzte, war besonders klein und immer in Gefahr, ganz leer zu bleiben. Sein Rang und seine Größe waren typisch für die pflichtschuldigen, aber bescheidenen Erwartungen, die damals, in den dreißiger Jahren, in nahezu alles gesetzt wurden. Die Münzen, nie waren es Scheine, die den Samt sprenkelten, kamen meistens von Kindern, die ermahnt worden waren, ihre Pennys und Nickels für eine gute Sache zu opfern, für die Erlösung Afrikas. Auch wenn dieses Wort, Afrika, so einen schönen Klang hatte, war es beladen mit den widerstreitenden Gefühlen, die es hervorrief. Anders als das hungernde China, war Afrika ein Kontinent, der einerseits uns, andererseits aber auch anderen gehörte, der eng mit uns verbunden und uns gleichzeitig zutiefst fremd war. Eine riesige, bedürftige Urheimat, von der es immer hieß, dass dort unser eigentlicher Platz sei, die aber keiner von uns je gesehen hatte oder sehen wollte, bewohnt von Menschen, mit denen wir eine heikle Beziehung wechselseitiger Ignoranz und Ablehnung unterhielten und eine Mythologie passiver, traumatisierter Andersartigkeit teilten, die in Schulbüchern, Filmen, Comics und jener Schimpfwortkultur, die Kinder zu lieben lernen, zementiert wurde.

Als ich später begann, Romane zu lesen, die in Afrika spielen, stellte ich fest, dass jede dieser Erzählungen – von wenigen Ausnahmen abgesehen – immer wieder den Mythos zum Ausgangspunkt nahm und weiterspann, der jene samtbezogenen Tabletts auf ihren Reisen durch die Kirchenbänke umgeben hatte. Für Joyce Cary, Elspeth Huxley oder H. Rider Haggard war Afrika genau das, was die Missionskollekte stumm vorausgesetzt hatte: ein dunkler Kontinent, verzweifelt bedürftig des Lichts. Des Lichts der Christenheit, der Zivilisation, des Fortschritts. Des Lichts der milden Gaben, angeknipst mit ein wenig Gutherzigkeit. Es war eine Idee von Afrika, in der sich die Ahnung einer komplexen Nähe mit dem Akzeptieren einer nicht mehr aufhebbaren Entfremdung mischte. Diese schwer nachvollziehbare Fremdherrschaft über Grund und Boden, die die lokale Bevölkerung enteignete, die Verdrängung der Sprecher einheimischer Sprachen aus ihren Lebensräumen, das Exil der indigenen Bevölkerung in ihrem eigenen Land, all dies legte einen Schimmer von Unwirklichkeit über die Erzählungen und verführte ihre Autoren, ein metaphysisch leeres Afrika zu entwerfen, das reif war, neu erfunden zu werden. Mit ein oder zwei Ausnahmen war das Afrika der Literatur eine unerschöpfliche Selbsterfahrungsarena für Touristen und ausländische Besucher. Ob von konventionellen westlichen Vorstellungen eines in Finsternis gehüllten Afrikas durchdrungen oder gegen sie anschreibend, haben Joseph Conrad, Tania Blixen, Saul Bellow und Ernest Hemingway die Protagonisten ihrer Bücher in einen Kontinent – den zweitgrößten dieser Erde – versetzt, der so leer ist wie das Samttablett jener Kollekte, ein Gefäß, das nur auf die Kupfer- und Silbermünzen warten kann, die die Vorstellungskraft zu spenden geruht. Als Korn für westliche Mühlen, gewährend stumm und angenehm leer, konnte Afrika zum Vehikel einer Vielzahl von literarischen und/oder ideologischen Anliegen werden. Es konnte sich zurücknehmen als Hintergrund jeglicher Großtat oder in den Vordergrund drängen und die Malaisen jedes fremdländischen Reisenden begründen; es konnte sich eine furchteinflößende, feindselige Gestalt verleihen, die westlichen Besuchern Gelegenheit gab, über das Böse zu meditieren; oder es konnte demütig auf die Knie sinken und sich von den Vertretern des Fortschritts wohlfeile Ratschläge erteilen lassen. Für alle, die diese buchstäbliche oder imaginierte Reise unternahmen, bot die Begegnung mit Afrika die erregende Gelegenheit, das Leben in einem primitiven, sich erst formenden Urzustand zu erleben. Die Folge war eine Erleuchtung – nämlich in Gestalt der Gewissheit, dass die europäische Vorherrschaft für den schwarzen Kontinent ein Segen war und man sich die Mühe, allzu viele Informationen über irgendeine der afrikanischen Kulturen einzuholen, getrost sparen konnte. So großherzig war dieses Afrika, dass ein wenig Geographie, viel Klimakunde, ein paar Gebräuche und Anekdoten ausreichten für die Leinwand, auf die das Porträt einer weiser oder betrübter gewordenen oder ganz mit sich selbst versöhnten Hauptfigur gepinselt werden konnte. Bis in die fünfziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts hinein konnte der Kontinent Afrika in den Romanen westlicher Autoren mit dem Titel von Albert Camus als «Der Fremde» bezeichnet werden, der Einsicht ermöglicht, aber selbst undurchschaubar bleibt. In Joseph Conrads Herz der Finsternis beschreibt Marlowe Afrika als einen einst riesigen weißen Fleck, den ein Knabe mit stolzen Träumen füllen konnte, der inzwischen aber mit Flüssen und Seen und Namen ausgestattet und kein leerer Raum verlockender Geheimnisse mehr sei. «Er war zu einem Ort der Finsternis geworden.» Das wenige, das man wissen konnte, war rätselhaft, abstoßend oder hoffnungslos widersprüchlich. Afrika stellte sich der Imagination als ein Füllhorn von Unwägbarkeiten dar, die, wie der monströse Grendel im Beowulf, sich jeder Erklärung verweigerten. So lässt sich in der Literatur eine Vielzahl von Metaphern finden, die miteinander unvereinbar sind. Als Wiege der Menschheit ist Afrika altehrwürdig, doch unter der paternalistischen Herrschaft der Kolonialmächte erscheint es auch infantil, wie eine Art greisenhafter Fötus, der seit Ewigkeiten auf seine Geburt wartet, seine Hebammen aber immer wieder enttäuscht. Roman um Roman und Erzählung um Erzählung schildern Afrika als gleichzeitig unschuldig und korrupt, brutal und arglos, irrational und weise.

In diesem rassistisch grundierten literarischen Kontext auf Camara Layes Der Blick des Königs (Le Regard du roi, 1954) zu stoßen, war ein Schock. Plötzlich wird die klischeebeladene Reise in das finstere Bilderbuch-Afrika, um dort Erleuchtung zu spenden oder zu erfahren, vollkommen neu gedacht. Der Roman bietet nicht nur raffinierte, zutiefst afrikanische Sprachbilder auf, die in eine diskursive Beziehung zu der Welt des Westens gesetzt werden; er nutzt auch die Bilder von Heimatlosigkeit, die der Eroberer der indigenen Bevölkerung aufgebürdet hat: die gesellschaftlichen Verwerfungen, wie sie in Joyce Carys Mister Johnson dargestellt werden; die zwanghafte Beschäftigung mit Gerüchen, die wir in Elspeth Huxleys Die Flammenbäume von Thika finden; die europäische Fixierung auf die Bedeutung von Nacktheit in den Büchern von H. Rider Haggard oder Joseph Conrad oder so gut wie in allen Reiseberichten.

Die Hauptfigur in Camara Layes Roman ist ein Europäer namens Clarence, der aus Gründen, die er selbst nicht recht benennen kann, nach Afrika gekommen ist. Dem Glücksspiel verfallen, häuft er bei seinen weißen Landsleuten hohe Schulden an und versteckt sich nun in einer schmuddeligen Herberge unter den Einheimischen. Aus dem Hotel der Kolonialherren bereits vertrieben und nun auch von seinem afrikanischen Gastwirt mit dem Rauswurf bedroht, sucht Clarence den Ausweg aus seiner Mittellosigkeit, indem er seine Dienste dem König anbieten will. Doch eine undurchdringliche Menge von Dorfbewohnern hindert ihn daran, dem König nahe zu kommen, und seine Absichten erregen Unwillen. Er trifft auf ein Pärchen von zu jeder Schandtat bereiten Halbwüchsigen und einen gerissenen Bettler, die ihm helfen wollen. Von ihnen geführt, macht er sich auf den Weg nach Süden, wo der nächste öffentliche Auftritt des Königs erwartet wird. Durch diese – einer Pilgerfahrt nicht unähnliche – Reise gelingt es dem Autor, die unterschiedlichen Gefühlswelten Europas und Afrikas in Beziehung zu setzen und zu parodieren.

Die literarischen Topoi, deren er sich bei der Schilderung Afrikas bedient, entsprechen genau der Wahrnehmung von Fremdheit: 1.) Bedrohung; 2.) moralische Verderbtheit; 3.) Unbegreiflichkeit. Und es ist faszinierend zu beobachten, wie geschickt Camara Laye diese Blickwinkel handhabt.

Bedrohung. Sein Protagonist Clarence ist wie betäubt vor Angst. Er registriert zwar, dass «die Wälder der Herstellung von Beerenwein dienen», dass die Landschaft «kultiviert» wird, dass die dort lebenden Menschen ihm ein «herzliches Willkommen» entbieten, aber er empfindet nur Abschottung und «allgemeine Feindseligkeit». Während die Landschaft aufgeräumt und übersichtlich ist, befindet sich der bedrohliche Dschungel in seinem Kopf.

Verderbtheit. Clarence ist es auch, der der Lasterhaftigkeit verfällt, als er sich dem ganzen Horror dessen hingibt, was man sich im Westen unter «Leben wie ein Eingeborener» vorstellt – jene «unreine und räudige Schwäche», die der Fluch aller Männlichkeit ist. Die unverhüllte Freude und geradezu weibliche Willfährigkeit, mit der er in endloser Folge den Geschlechtsakt ausübt, spiegeln seine Vorliebe und seine bewusste Ignoranz wider. Als im Lauf der Zeit immer mehr Mischlingskinder das Dorf bevölkern, wundert sich Clarence, der einzige Weiße weit und breit, immer noch, wo sie wohl alle herkommen. Er weigert sich, das Offensichtliche zu glauben – dass er verkauft worden ist als Zuchthengst für den Harem.

Unbegreiflichkeit. Camara Layes Afrika ist nicht finster – es ist durchflutet von Licht: dem wässrig-grünen Licht der Wälder; den rubinroten Färbungen der Erde und der Häuser; dem «unerträglichen Azurglanz des Himmels»; und sogar dem Schimmer der Schuppen bei den Fischweibern, die «wie ein Gewand aus verlöschendem Mondlicht» leuchten. Verständnis für die Motive und Empfindsamkeiten der Afrikaner – seien sie böswillig oder wohlgesonnen – erfordert nicht mehr als einen Abschied vom Glauben an unüberbrückbare Unterschiede zwischen den Menschen.

Der Roman legt die verkrüppelten Diskurse des Fremdlings, der einem die Heimat raubt, der Delegitimierung der Indigenen, der Verkehrung des Anspruchs auf Zugehörigkeit offen und erschließt uns die Erfahrungswelt eines Weißen, der allein, ohne einen Broterwerb, ohne soziale Geltung, ohne eigene Mittel, ja sogar ohne einen Familiennamen nach Afrika auswandert. Aber er verfügt über einen Aktivposten, der in Ländern der Dritten Welt immer funktioniert (und nur dort funktionieren kann): Er ist weiß, was er auch betont, und deshalb ohne weitere Begründung fähig, als Ratgeber einem König zu dienen, den er niemals gesehen hat – in einem Land, das er nicht kennt, und unter Einheimischen, die er weder versteht noch verstehen will. Was als Streben nach gesellschaftlichem Rang, als Flucht vor der Verachtung durch seine weißen Landsleute beginnt, wird zu einem vernichtenden Prozess der Umerziehung. Im Denken dieser Afrikaner kommt es nicht auf das Vorurteil, sondern auf die Nuance an, auf die Fähigkeit und den Willen, zu sehen und zu erspüren. Die Weigerung des Europäers, sich umfassend auf irgendeinen Umstand einzulassen, der nichts mit seinem persönlichen Wohlergehen zu tun hat, gereicht ihm zum Verhängnis. Als ihm dies endlich zu dämmern beginnt, fühlt er sich förmlich ausgelöscht. Mit dem fiktionalen Exkurs über die beschränkte Wahrnehmung einer Kultur lässt Camara Laye uns am Scheitern des rassistischen Blicks teilhaben, den ein entwurzelter Weißer ohne Rückhalt, Protektion oder Weisung aus seiner europäischen Heimat auf Afrika wirft. Er ermöglicht es uns, neu zu entdecken, oder uns neu vorzustellen, wie es sich anfühlt, an den Rand gedrängt, ignoriert, überflüssig zu sein; nie beim Namen genannt zu werden; seiner Geschichte und Bedeutung verlustig zu gehen; nur noch verkaufte oder ausgebeutete Arbeitskraft zum Nutzen einer Herrscherfamilie, eines skrupellosen Unternehmers, eines Regimes zu sein.

Es ist eine verstörende Begegnung, die uns vielleicht im Umgang mit dem Druck und den destabilisierenden Kräften der transglobalen Völkerwanderung von Nutzen sein kann – dem Druck, der uns verführen könnte, uns an unsere eigenen Kulturen und Sprachen zu klammern und die anderen auszugrenzen; der unsere moralischen Maßstäbe dem täglich Opportunen unterwerfen könnte; der uns legalistisches Denken nahelegt, uns zu Vertreibung, Konformitätszwang, Säuberungen verleitet und uns bei Phantasiegebilden und Gespenstern Zuflucht suchen lässt. Vor allem aber kann dieser Druck dazu führen, dass wir den Fremden in uns selbst verleugnen und uns von der Idee einer gleichberechtigten Gemeinschaft aller Menschen verabschieden.

Nach vielen Prüfungen beginnt Camara Layes Europäer allmählich zu begreifen. Der Wunsch, den König zu treffen, wird Clarence erfüllt. Doch inzwischen haben er und seine Absichten sich gewandelt. Gegen den Rat der Dorfbewohner kriecht Clarence nackt vor den Thron. Als er den König, der sich als ein mit Gold behängter Knabe entpuppt, endlich zu Gesicht bekommt, fällt die «schreckliche Leere in ihm», die Leere, die ihn bisher zu einem Unsichtbaren gemacht hat, von ihm ab und öffnet ihn für den Blick des Königs. Mit dieser Offenheit, diesem Zerbrechen des aus Angst vor Fremdheit angelegten kulturellen Panzers, diesem von einem bisher nicht gekannten Mut zeugenden Akt macht Clarence den ersten Schritt zu seiner Erlösung, in sein Glück, in seine Freiheit. Geborgen in der Umarmung des Knabenkönigs, das Pochen des jungen Herzens spürend, hört Clarence ihn diese wunderbaren Worte wahrer Zugehörigkeit flüstern, Worte, die ihn im Reich der Menschlichkeit willkommen heißen: «Wusstest du, dass ich auf dich gewartet habe?»

Rassismus und Faschismus

Wir dürfen nicht vergessen, dass es, ehe es zu einer Endlösung kommt, eine erste Lösung geben muss, eine zweite, sogar eine dritte. Der Weg zu einer Endlösung ist kein Sprung. Es braucht einen ersten Schritt und noch einen und noch einen. Eine Folge, etwa wie diese:

Konstruiere ein Feindbild, sowohl als Ziel wie zur Ablenkung.

Isoliere und dämonisiere diesen Feind, indem du offene und verhüllte Schmähungen in Umlauf bringst und für deren Weiterverbreitung sorgst. Nutze persönliche Angriffe als legitime Mittel im Kampf gegen den Feind.

Suche und schaffe Quellen und Verbreiter von Gerüchten, die den Prozess der Dämonisierung vorantreiben, weil es sich für sie lohnt, weil es Macht verleiht und weil es funktioniert.

Sichere deine Mittel; überwache, verjage oder diskreditiere alle, die die Prozesse der Dämonisierung oder der Verklärung in Frage stellen oder hintertreiben.

Unterdrücke und verleumde alle Repräsentanten und Sympathisanten deines konstruierten Feindes.

Gewinne Kollaborateure aus den Reihen des Feindes, die den Prozess der Verdrängung unterstützen und als gerechtfertigt erscheinen lassen.

Pathologisiere den Feind in wissenschaftlicher und in Unterhaltungsliteratur, z.B. durch Rückgriffe auf pseudowissenschaftlichen Rassismus und die Mythologie rassischer Überlegenheit, um das Krankhafte an ihm selbstverständlich werden zu lassen.

Kriminalisiere den Feind. Dann bereite alles – Geld, Planung, Begründung – für seine Internierung in geeigneten Lagern vor. Das gilt besonders für die Männer und unbedingt für die Kinder.

Belohne Gedankenlosigkeit und Trägheit mit großen Unterhaltungsspektakeln und mit kleinen Freuden, unmerklichen Verführungen: ein paar Minuten im Fernsehen; ein paar Zeilen in der Zeitung; einem kleinen Pseudo-Erfolgserlebnis; der Illusion von Macht und Einfluss; ein wenig Spaß, ein wenig Style, ein wenig Bedeutung.

Bewahre Stillschweigen, um jeden Preis.

1995 mag der Rassismus ein neues Kleid tragen und sich ein paar neue Stiefel kaufen, aber weder er noch sein dämonischer Zwilling Faschismus ist neu oder kann uns mit irgendetwas Neuem überraschen. Er kann nur das Umfeld reproduzieren, das ihn am Leben erhält: Angst, Verweigerung und ein Klima, in dem seine Opfer den Willen zum Widerstand verlieren.

Die Kräfte, die an faschistischen Lösungen nationaler Probleme interessiert sind, lassen sich nicht einer bestimmten politischen Partei oder dem einen oder anderen Flügel irgendeiner Partei zuordnen. Die Demokraten haben keineswegs eine makellose Geschichte des Egalitarismus vorzuweisen. Auch die Liberalen sind nicht frei von Dominanzgelüsten. Die Republikaner hatten sowohl Sklavereigegner wie auch glühende Anhänger der weißen Vorherrschaft in ihren Reihen. Konservativ, gemäßigt, liberal; rechts, links, links- oder rechtsextrem; religiös, säkularisiert, sozialistisch – wir dürfen solchen Etiketten nicht trauen, denn das Genie des Faschismus besteht darin, dass sich das Virus in jede politische Struktur einnisten und so gut wie jedes entwickelte Land zu seinem Wirt machen kann. Der Faschismus spricht ideologisch, aber in Wahrheit ist er nichts als Marketing – ein Marketing von Macht.

Man erkennt ihn an seiner Sucht nach Reinheit, an den Strategien, die er bei seinen Säuberungen verfolgt, und an seiner Urangst vor wahrhaft demokratischen Entscheidungsprozessen. Man erkennt ihn an seiner Entschlossenheit, öffentliche Dienstleistungen zu privatisieren und alle gemeinnützigen Institutionen zu profitorientierten zu machen, auf dass der schmale, aber so überaus nützliche Graben zwischen staatlicher Verwaltung und Kommerz verschwinde. Er verwandelt Bürger in Steuerzahler, damit das Individuum auf Investitionen in das Gemeinwohl mit Argwohn reagiert. Er verwandelt Nachbarn in Konsumenten, auf dass nicht unsere Menschlichkeit, unsere Empathie, unser Großmut unseren Wert bestimme, sondern unser Eigentum. Er verwandelt Elternschaft in ein Angstregime, damit wir gegen die Interessen unserer Kinder stimmen, gegen gute Ausbildung, gute Gesundheitsvorsorge und Schutz vor allgegenwärtigen Waffen. Und durch all diese Verwandlungen bringt er den perfekten Kapitalisten hervor, der bereit ist, für ein Produkt (ein paar Sneakers, eine Jacke, ein Auto) einen Menschen zu opfern oder ganze Generationen zu opfern für den Zugriff auf Ressourcen (Öl, Drogen, Agrarprodukte, Gold).

Wenn unsere Ängste alle zu Fernsehserien, unsere Ideen zu Handelsware, unsere Rechte zu Ramsch geworden sind; wenn unsere Kreativität zensiert, unsere Intelligenz auf Leerformeln reduziert, unser politisches Gewicht entkräftet, unsere Privatsphäre verhökert worden ist; wenn das Leben gänzlich zu einer Inszenierung, einem Unterhaltungsspektakel, einer Konsumveranstaltung geworden ist, werden wir nicht mehr in einer Nation beheimatet sein, sondern in einem Firmenkonsortium, in dem wir von uns selbst nur noch wahrnehmen, was uns auf einem düsteren Bildschirm gezeigt wird.

Heimat

Voriges Jahr wurde ich von einer Kollegin gefragt, wo ich in meiner Kindheit zur Schule gegangen sei. In Lorain, Ohio, antwortete ich ihr. Sie erkundigte sich weiter: War die Rassentrennung an euren Schulen da schon aufgehoben? Wie bitte?, erwiderte ich. Es gab keine Rassentrennung in den dreißiger und vierziger Jahren – was hätte man da aufheben können? Nebenbei, wir hatten eine Highschool und vier Junior-High-Mittelschulen im Ort. Dann machte ich mir bewusst, dass sie um die vierzig Jahre alt war, als überall von der Aufhebung der Rassentrennung gesprochen wurde. Offenbar befand ich mich in einer Zeitschleife, und offenbar war die damalige bunte Gesellschaft des Städtchens meiner Jugend nicht so wie das übrige Land. Ehe ich Lorain verließ, um nach Washington D. C., dann Texas, dann Ithaca, dann New York City zu gehen, glaubte ich, dass es, von der unterschiedlichen Größe der Städte abgesehen, überall mehr oder weniger ähnlich aussah. Nichts konnte der Wahrheit ferner sein. Jedenfalls veranlassten mich ihre Fragen, noch einmal neu über diese Gegend von Ohio und meine Erinnerungen an meine Heimat nachzudenken. Der Landstrich rund um Lorain, Elyria, Oberlin ist nicht mehr so wie zu der Zeit, als ich dort lebte, aber darauf kommt es kaum an, weil die Heimat in der Erinnerung liegt und in den Gefährten, Freundinnen und Freunden, die diese Erinnerungen teilen. Ebenso wichtig wie die Erinnerungen und den Ort und die Menschen ist aber die Vorstellung, die man von Heimat hat. Was meinen wir eigentlich, wenn wir «Heimat» sagen?

Es ist eine virtuelle Frage, weil das Schicksal des einundzwanzigsten Jahrhunderts von der Möglichkeit oder dem Scheitern einer gemeinsam geteilten Welt bestimmt sein wird. Die Frage kultureller Apartheid und/oder kultureller Integration berührt den Kernbereich allen Regierungshandelns; sie bestimmt unsere Wahrnehmung der Art und Weise, wie Politik und Gesellschaft die (freiwilligen oder der Not gehorchenden) Migrationsbewegungen der Gegenwart bedingen, und sie hat unbequeme Fragen nach Vertreibung und Ankommen und der neuerlichen Zunahme einer Belagerungsmentalität im Gefolge. Wie widerstehen Individuen der Dämonisierung von Fremden, und wie werden sie zu Komplizen bei diesem Prozess, der den Zufluchtsort eines Migranten zu feindlichem Territorium machen kann? Indem sie Immigranten willkommen heißen – oder aus ökonomischen Gründen Sklaven in ihre Mitte holen und noch deren Kinder wie moderne Untote behandeln. Oder eine komplette Urbevölkerung, oft mit einer Jahrhunderte oder Jahrtausende alten Geschichte, zu verachteten Fremdlingen im eigenen Land erklären. Oder in der privilegierten Gleichgültigkeit einer Regierung der schier biblischen Flut, die eine ganze Stadt vernichtet, tatenlos zusehen, weil deren Bürger überflüssige Schwarze oder Habenichtse ohne Transportmittel, Trinkwasser, Nahrung und Hilfe sind, die man getrost sich selbst überlassen und in fauligem Wasser, in Dachkammern, Krankenhäusern, Gefängissen, Arrestzellen oder aller Öffentlichkeit schwimmen, um ihr Leben kämpfen und verrecken lassen kann. Solcher Art sind die Folgen beharrlicher Dämonisierung. Es ist eine Ernte der Schande.

Natürlich ist die Völkerwanderung der Bedrängten zu den Grenzen und über die Grenzen hinaus nichts Neues. Erzwungene oder von der Lust auf Neuland getragene Migration in geographisch oder psychologisch fremdes Territorium ist aus der Geschichte jedes Quadranten dieser Welt nicht wegzudenken, vom Zug der Afrikaner bis nach China und Australien über die Feldzüge der Römer, Türken, Europäer bis zu den merkantilen Raubzügen, die die Gelüste zahlloser Regime, Monarchien und Republiken gestillt haben. Von Venedig bis Virginia, von Liverpool bis Hongkong. Sie alle haben Reichtümer und Kulturen über die Grenzen getragen. Und sie alle haben eine Blutspur hinterlassen, auf fremdem Boden und/oder in den Adern der Eroberten. Während die Sprachen der Eroberten wie der Eroberer ihren Wortschatz in der Folge um wechselseitige Schmähungen erweitern.

Die Neuordnung politischer und ökonomischer Allianzen und die geschmeidige Anpassung der Nationalstaaten wirken sich ermutigend oder bremsend auf die Verschiebung ganzer Populationen aus. Vom Höhepunkt des Sklavenhandels einmal abgesehen, ist die Wanderungsbewegung der Völker heute größer als jemals zuvor. Es ist eine Wanderung von Arbeitern und Intellektuellen, von Flüchtlingen, Händlern, Migranten und Armeen, über die Meere oder durch Kontinente, auf heimlichen Pfaden oder durch die Amtsstuben von Einwanderungsbehörden. Sie spricht in vielen Sprachen von Handel und politischer Intervention, von Verfolgung, Exil, Gewalt, Armut, Tod und Schande. Kein Zweifel, dass diese weltweite Umverteilung von Menschen (teils freiwillig, teils unfreiwillig) weit oben steht auf den Tagesordnungen der Regierungsämter und Vorstandsbüros, dass sie das Gespräch bestimmt auf der Straße und im Viertel. Politische Maßnahmen zur Lenkung der Ströme beschränken sich keineswegs darauf, die Entwurzelten zu überwachen. Die Versetzung von Diplomaten und Managern an die Außenposten der Globalisierung sowie die Errichtung von Militärbasen und die Stationierung frischen Truppenmaterials rangieren weit oben im Arsenal der Mittel, mit denen die Regierungen der Völkerwanderung Herr zu werden suchen. Die Lawine von Migranten stellt unser Konzept von Staatsbürgerschaft auf die Probe und verändert unsere Wahrnehmung von Raum – öffentlich oder privat. Die allgemeine Verunsicherung hat zu einer Unzahl von hybriden, mit einem Bindestrich zusammengekoppelten Bezeichnungen nationaler Identität geführt. In Zeitungsartikeln ist die geographische Herkunft zu einem wichtigeren Merkmal geworden als die Staatsangehörigkeit, man liest von einem «deutschen Staatsbürger dieser oder jener Herkunft» oder einem «englischen Staatsbürger dieser oder jener Herkunft». Und all das, während gleichzeitig ein neues Ideal von Weltbürgertum, eine Bürgerlichkeit von bunter kultureller Vielfalt propagiert wird. Die Verpflanzung ganzer Völker hat den Begriff «Heimat» explosiv und unsicher gemacht, während sich die Definition von «Identität» von nationaler Zugehörigkeit hin zur Abgrenzung gegenüber Fremdem verschoben hat. «Wer ist der Fremde?» ist eine Frage, die uns empfinden lässt, dass in Verschiedenheit eine heimliche, aber wachsende Bedrohung lauert. Wir merken es an der Abgrenzung der Einheimischen von den Neuankömmlingen; an der Verunsicherung, die uns beim Gedanken an die eigene Zugehörigkeit beschleicht (bin ich ein Fremder im eigenen Land?); an der Empfindung ungewollter Nähe statt sicherer Distanz. Gut möglich, dass das treffendste Charakteristikum unserer Zeit darin besteht, dass Mauern und Waffen heute eine ähnlich bedeutende Rolle spielen wie einst im Mittelalter. Durchlässige Grenzen werden in manchen Kreisen als eine Zone der Bedrohung, des unvermeidlichen Chaos begriffen, gegen welches, ob real oder nur eingebildet, Abschottung das einzige Gegenmittel ist. Mauern und Munition – sie mögen funktionieren. Für eine Weile. Aber langfristig versagen sie total, denn die notdürftig Verscharrten, die Bewohner der Massengräber kehren wieder als jene Geister, die die ganze Geschichte der Zivilisation heimsuchen.

Betrachten wir eine weitere Konsequenz der eklatanten Gewalttätigkeit, der das Fremdsein ausgesetzt ist – ethnische Säuberungen. Wir wären nicht nur vergesslich, sondern verantwortungslos, würden wir nicht das Schicksal jener Millionen von Menschen erwähnen, die auf den Status von Ungeziefer oder Umweltschmutz reduziert werden von Staaten, die über eine uneingeschränkte und bedenkenlos ausgeübte Macht der Definition von Fremdheit verfügen und sich anmaßen, über Leben oder einen Tod fern der Heimat zu entscheiden. Ich habe bereits erwähnt, dass die Vertreibung und das Abschlachten von «Feinden» so alt sind wie die Geschichte selbst. Aber in diesem und dem vergangenen Jahrhundert hat sich etwas verändert, das die Seelen zerstört. In keiner anderen Epoche haben wir eine solche Unzahl von Aggressionen gegenüber Menschen erlebt, die als «nicht wie wir» stigmatisiert werden. Und Sie alle haben gesehen, dass die zentrale politische Frage in den beiden letzten Jahren so gelautet hat: Wer, oder was, ist ein Amerikaner?

Nach allem, was ich von den Historikern des Genozids – seiner Definition und Durchführung – gelernt habe, scheint sich ein Muster abzuzeichnen. Nationalstaaten, Regierungen auf der Suche nach Legitimation und Identität sind offenbar in der Lage und auch dazu entschlossen, sich durch die Vernichtung eines kollektiven «Anderen» zu stabilisieren. Als die europäischen Nationen unter dem Joch monarchischer Konsolidierung standen, konnten sie diese Schlächtereien in ferne Länder – Afrika, Südamerika, Asien – auslagern. Australien und die Vereinigten Staaten, die sich selbst zu Republiken erklärt hatten, mussten ihre indigenen Völker liquidieren oder zumindest ihrer Ländereien berauben, um den neuen, demokratischen Staat aufzubauen. Der Niedergang des Kommunismus brachte einen bunten Strauß neuer oder wiederbegründeter Staaten hervor, die ihre Unabhängigkeit daran maßen, wie weit die Säuberungen unter den Gruppen der Unliebsamen gediehen waren. Ob es Angehörige anderer Religionen, Ethnien, Kulturen waren – immer fand sich ein Grund, sie erst zu dämonisieren, um sie dann vertreiben oder liquidieren zu können. Um einer vermeintlichen Sicherheit willen, oder um die Vorherrschaft zu behaupten, oder um sich ihr Land unter den Nagel zu reißen, wurden die Fremdartigen zur Verkörperung all dessen stilisiert, was die werdende Nation bedrohte. Wenn meine Gewährsleute, die Historiker, recht behalten, werden wir immer neue Wellen von widersinnigen Kriegen erleben – nur dazu gedacht, den Herrschern dieser Staaten die Macht zu erhalten. Gesetze können sie so wenig stoppen wie irgendein Gott. Interventionen provozieren sie nur.

Die Sprache des Krieges

Will man sich mit dem Pro und Kontra des Globalismus befassen, muss man erkennen, dass der Begriff an seiner Vorgeschichte leidet. Es handelt sich nicht um Imperialismus, um Internationalismus oder gar Universalismus. Ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Globalismus und seinen Vorgängern besteht sicher darin, dass Geschwindigkeit eines seiner Hauptmerkmale ist – die rasche Neuformierung von politischen und ökonomischen Allianzen und die fast sofortige Anpassung der Nationalstaaten. Beide Entwicklungen haben ihre – fördernden oder hindernden – Auswirkungen auf die Umsiedlung ganzer Massen von Menschen. Vom Höhepunkt des Sklavenhandels abgesehen, ist diese Wanderungsbewegung der Völker heute größer als jemals zuvor. Sie umfasst die Umverteilung von Arbeitskräften, Intellektuellen, Flüchtlingen, Händlern, Emigranten und Armeen quer über Ozeane und durch Kontinente, auf offiziellen wie auf geheimen Wegen. Sie spricht in vielen Sprachen von kommerziellen und von politischen Interessen, von Verfolgung und Exil, von Gewalt und von menschenunwürdiger Armut. Kein Zweifel, dass diese freiwilligen oder unfreiwilligen Migrationsströme weit oben stehen auf den Tagesordnungen der Regierungsämter und der Vorstandsbüros, dass sie Gesprächsstoff sind in den Wohnvierteln und auf den Straßen. Politische Maßnahmen zur Lenkung dieser Ströme beschränken sich keineswegs auf die Überwachung der Entwurzelten. Die Versetzungen von Diplomaten und Managern an die Außenposten der Globalisierung, aber auch die Entsendung von Truppen und die Errichtung von Militärbasen spielen eine wichtige Rolle bei den Bemühungen der Gesetzgeber, den stetigen Menschenstrom zu kanalisieren.

Das Konzept der Staatsbürgerschaft ist von diesen weltweiten Verfrachtungen verändert und belastet worden. In den Vereinigten Staaten hat die Presse ihre Aufmerksamkeit von der Staatsangehörigkeit auf die Herkunft verlagert und eine Vielzahl hybrider Benennungen hervorgebracht. Menschen werden als «deutsche Staatsbürger dieser oder jener Herkunft» oder als «britische Staatsbürger mit diesem oder jenem Hintergrund» bezeichnet, während gleichzeitig ein neues Weltbürgertum, eine Art von universaler kultureller Teilhabe propagiert wird. Die Völkerwanderung, die von der Globalisierung angestoßen wird, hat die Idee der Heimat beschädigt, sie geradezu zu einer Peinlichkeit gemacht und den Fokus der Identität von der Zuordnung zu einem Staat auf die Abklärung von Fremdheit verlagert. «Wer ist der Fremde?» lautet die Frage, die uns in der Andersartigkeit eine latente Bedrohung fühlen lässt. Freilich kann der Mechanismus der globalen Märkte all diese Unsicherheiten neutralisieren und die Ausdifferenzierung von Vielfalt zu einem Geschäftsmodell machen, bei dem jede Form von Andersartigkeit eine neue Zielgruppe bedeutet. Ein solcher Markt kann sich endlos an jedes erweiterte Konzept von Bürgerschaft, an immer zahlreichere und immer enger gefasste Identitäten und sogar an die Disruption eines globalen Krieges anpassen. Aber es schleicht sich ein Unbehagen angesichts dieser segensreichen Anpassungsfähigkeit ein, wenn man auf die andere Seite der Konfliktlinie Staatsbürgerschaft blickt. Der chamäleonartige Charakter der globalisierten Wirtschaft führt zu einer Verteidigung des Lokalen und stellt die Frage nach Fremdheit neu – nach einer Fremdheit, die jetzt weniger Distanz signalisiert als eine Aufforderung zur Nähe (Ist er mein Nächster?) sowie eine tiefreichende Irritation bezüglich unseres eigenen Gefühls von Zugehörigkeit (Ist er wie wir? Bin ich der Fremde?). Solche Fragen problematisieren das Konzept von Zugehörigkeit, von Heimat und sind bezeichnend für die in vielen Milieus spürbare Sensibilisierung für die einschlägige Rolle von offiziellen, verbotenen, unregulierten, geschützten oder subversiven Sprachen.

Es kann einem den Atem verschlagen, wenn man hört, wozu Nordafrikaner im Umgang mit dem Französischen fähig waren oder noch sind; was Türken mit dem Deutschen gemacht haben; oder dass nicht wenige Katalanen sich kategorisch weigern, Spanisch zu sprechen oder auch nur zu lesen. In Schulen kommt das Keltische wieder zu Ehren, an Universitäten werden Indianersprachen erforscht, das Newyorican der in New York lebenden Puertoricaner erlebt eine poetische Blüte. Und es gibt zaghafte (und wie ich finde: irregeleitete) Versuche, etwas zu etablieren, das sich, von ebony wie Ebenholz, «Ebonics» nennt.

Je mehr der Globalismus sprachliche Differenzen durch Missachtung, durch Einverleibung, durch Angleichung einebnet, desto leidenschaftlicher werden diese Abgrenzungen und Selbstermächtigungen verteidigt. Denn die Sprache, die wir sprechen und in der wir träumen, diese Sprache ist unsere Heimat.

Ich glaube, dass es das Feld der Geisteswissenschaften und insbesondere der Literatur ist, wo solche Antagonismen einen fruchtbaren Boden für Kreativität bilden und für ein milderes Klima zwischen den Kulturen und den Grenzen überschreitenden Wanderern sorgen können. Schriftsteller spielen in diesem Prozess aus vielerlei Gründen eine Schlüsselrolle, zuvorderst deshalb, weil sie die Gabe haben, aus der Sprache und ihren Alltagsidiomen, ihrem porösen Wortschatz und den Hieroglyphen der elektronischen Medien neuen Sinn herauszukitzeln, neue Intimität und, nicht zuletzt, neue Schönheit. Diese Arbeit ist nichts Neues für Autoren, aber die Herausforderungen sind neu, weil alle Sprachen, die großen, dominanten ebenso wie die kleinen, beschützten, unter dem Druck des Globalismus ins Taumeln geraten.

Doch die Globalisierung muss nicht immer schädliche Auswirkungen auf die Sprachen haben. Sie kann auch Situationen herbeiführen, in denen Zufall und Notwendigkeit zu einer Eruption von Kreativität führen. Ich möchte ein Beispiel erwähnen, in dem die allgegenwärtige Kommunikationsüberflutung zu tiefgreifenden Veränderungen des öffentlichen Sprachgebrauchs geführt hat. Historisch hat sich die Rede vom Krieg stets eines hohen Tons bedient, sich an die erhebende Rhetorik literarischer Helden angelehnt – in der Beredsamkeit der Trauer um die Opfer, der Feier des Muts, der Ehrenhaftigkeit von Vergeltung. Diese heroische Sprache, wie wir sie von Homer und Shakespeare, aus Sagen und aus den Reden von Staatsmännern kennen, ist kraftvoll und wohlklingend wie sonst nur die religiöse Rede, mit der sie oft verschmilzt. In der langen Geschichte dieses erhabenen Sprechens vom Krieg, die vor Christi Geburt beginnt und sich bis ins zwanzigste Jahrhundert erstreckt, hat es jedoch Brüche gegeben. Ein solcher Augenblick des Argwohns, der Verachtung für diese Sprache kam unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, als Schriftsteller wie, unter anderen, Ernest Hemingway und Wilfred Owen die Unangemessenheit von Begriffen wie «Ehre», «Ruhm», «Mut» oder «Tapferkeit» angesichts der Realität des Krieges, ihre Obszönität angesichts des Blutbads der Jahre 1914 bis 1918 herausstellten.

«Mir war es immer peinlich», schrieb Hemingway, «wenn Wörter wie heilig, ruhmreich, Opfer oder vergebens benutzt wurden. Seit langem hatten wir diese Wörter gehört, manchmal fast außer Hörweite im Regen stehend … und noch hatte ich nichts Heiliges gesehen, und was ruhmreich war, verbreitete keinen Ruhm, und die Opfer erinnerten nur an die Schlachthöfe von Chicago, wenn das Fleisch nicht verwendet, sondern nur begraben wurde. Es gab viele Wörter, die einem unerträglich waren, und am Ende besaßen nur die Ortsnamen Würde.»

Die Ereignisse von 1938 drängten diese Einsprüche wieder in den Hintergrund, und bald fand die Sprache des Krieges den neuen Anlass eines zweiten Weltkriegs. Die glanzvollen Bilder, die wir von Roosevelt, Churchill und anderen Staatsmännern vor Augen haben, beruhen wenigstens zum Teil auf ihren mitreißenden Reden und bezeugen die Macht militärischer Rhetorik. Doch nach dem Zweiten Weltkrieg vollzog sich eine interessante Entwicklung. In den späten fünfziger und in den sechziger Jahren kam es, wenig verwunderlich, zu weiteren Kriegen – heißen und kalten, großen und kleinen, auf der Nord- wie auf der Südhalbkugel –, die immer katastrophaler und herzzerreißender, weil so unnötig, waren – so gnadenlos gegenüber unschuldigen Zivilisten, dass man nur vor Kummer auf die Knie sinken konnte. Doch die Sprache, die diese jüngsten Kriege begleitete, wurde seltsam einsilbig. Die schwindende Überzeugungskraft der Kampfrhetorik mag mit der sprachlichen Verflachung in den kommerziellen Medien zu tun haben, ihrer Scheu vor komplizierten Sätzen und ungewöhnlichen Sprachbildern und der Dominanz der visuellen über die sprachliche Kommunikation. Vielleicht lag es auch an der Tatsache, dass all diese Kriege nur stumm sich vermehrende Kinder früherer Kriege waren. Jedenfalls ist das Reden über Kämpfe und Kämpfer, aus welchem Grund auch immer, kindlich geworden. Armselig. In gewisser Weise kindisch. Durch all die Reden, Bulletins, Rechtfertigungen, Aufsätze hört man das Gewinsel aus den Sandkästen hindurch: «Er hat mich gehauen.» «Hab ich nicht.» «Hast du doch.» «Das gehört mir.» «Nein mir.» «Nein mir.» «Ich hasse dich.» «Ich hasse dich.»

Mir scheint, dass dieser Niedergang, dieses Echo aufgeregter Kindersprache noch die höchsten Ebenen zeitgenössischen Redens über Kriege infiziert und sprachliche Klischees hervorbringt, die an Comics oder Actionfilme erinnern. «Ich kämpfe für die Freiheit!», «Wir müssen die Welt retten!», «Houston, wir haben ein Problem.» Eine inhaltsleere, schwächliche Suada, mit der politische und ökonomische Probleme angesprochen werden, die einem das Hirn zerspringen lassen könnten. Das Faszinierende ist jedoch, dass diese Sprache genau zu der Zeit ihren Tiefpunkt erreichte, als eine andere Sprache vernehmbar zu werden begann: die Sprache der Gewaltlosigkeit, des friedlichen Widerstands, der Verhandlungsethik. Die Sprache Gandhis, Martin Luther Kings, Nelson Mandelas, Vaclav Havels. Eine überzeugende Sprache, robust, motivierend, subtil, erhebend, intelligent und komplex. Während die Folgen von Kriegen immer grauenvoller wurden, hat das Sprechen darüber seine Glaubwürdigkeit verloren, ist vor lauter Panik immer kindischer geworden. Ein Wandel, der genau in dem Augenblick erkennbar wurde, als die Sprache der Resolutionen, der Diplomatie ihr eigenes Idiom entwickelte – ein moralisches Idiom, das der menschlichen Intelligenz Ehre macht und den Nebel der Schwäche, der Abwiegelung vertreibt, der sie in der Vergangenheit stets umgeben hat.

Ich glaube nicht, dass dieser Wandel ein Zufall ist. Ich glaube, er belegt eine grundlegende Veränderung unserer Einstellung zum Krieg – eine nicht sonderlich geheime Überzeugung in allen möglichen Bevölkerungsgruppen, unterdrückten wie privilegierten, dass der Krieg, endlich, etwas Überholtes ist; dass er die wirklich ineffektivste Methode darstellt, langfristige Ziele zu erreichen. Trotz aller bezahlten Paraden, dem erzwungenen Applaus, der angezettelten Rebellionen, der organisierten Demos für oder wider, der staatlichen oder der Selbstzensur, der ganzen Propaganda; trotz der Gelegenheiten für riesige Renditen und Profite; unabhängig auch von der langen Geschichte der Ungerechtigkeit – zu guter Letzt ist es unmöglich, sich des Verdachts zu erwehren, dass die Idee des Krieges umso antiquierter erscheint, je raffinierter die für ihn ersonnenen Waffen werden. Je unverhohlener der Griff nach der Macht, je salbungsvoller die Rechtfertigung, je überheblicher die Ansprüche, desto barbarischer und unglaubwürdiger ist die Sprache des Krieges geworden. Führer, die im Krieg die einzige und unvermeidliche Antwort auf Zwistigkeiten, Vertreibung, Agression, Ungerechtigkeit oder menschenunwürdige Armut sehen, wirken nicht nur heillos altmodisch, sondern geistig minderbemittelt, was genau zu der comicartigen Schlagwortsprache passt, mit der sie sich ausdrücken.

Ich bin mir darüber im Klaren, dass meine Kommentare zum jetzigen Zeitpunkt, in diesem Jahr 2002, in dem Gesetzgeber, Revolutionäre und die Entflammten Krieg nicht «erklären», sondern einfach führen, unzeitgemäß erscheinen können. Aber ich bin davon überzeugt, dass die Sprache, die die größte Kraft hat, die am meisten Scharfsinn, Talent, Gnade, Genie und, ja, Schönheit erfordert, niemals in Hymnen auf glorreiche Kriege oder in brünstigen Schlachtgesängen zu finden war oder je zu finden sein wird. Die Macht dieser anderen Sprache entspringt nicht dem öden, sinnlosen Geschäft des Krieges, sondern der fordernden, glanzvollen Kunst des Friedens.

Krieg dem Irrglauben

Die Einladung, heute vor Vertretern von Amnesty International zu sprechen, habe ich mit spontaner Freude angenommen. Wie sollte ich auch Bedenken haben angesichts der Gelegenheit, zu einer so außergewöhnlichen Gemeinschaft aktiver Humanisten zu sprechen, deren Arbeit mir tiefen Respekt abnötigt. Ich fühlte mich geehrt und herausgefordert und ging davon aus, dass es ein Leichtes sein würde, etwas Erwägenswertes zu finden, das ich Ihnen mitteilen könnte. Monate später jedoch begann ich, meinen anfänglichen, unreflektierten Enthusiasmus mit wachsender Skepsis zu betrachten. Betäubt von Nachrichten über geschürtes Chaos, angezettelte Hungersnöte, Opferzahlen, Kriegsgelüste angesichts wehrloser Länder wurde ich buchstäblich sprachlos, in stumme Fassungslosigkeit getrieben, gelähmt von der Tatenlosigkeit schwerfälliger Parlamente und Institutionen, die ihren Geschäften nachgingen, als ginge es dabei um nichts anderes als um Geschäfte. Die Belanglosigkeit der etablierten Medien, garniert mit Sensationshascherei, ihr unbegreifliches Schweigen zu lebenswichtigen Themen, ihre als Journalismus ausgegebene Publicitysucht taten ihre Wirkung und verwirrten meine ziel- und hilflosen, unaussprechlichen Gedanken.

Zwar lag das für den Anlass typische Thema auf der Hand – die üblichen Glückwünsche und Komplimente für Amnesty –, aber obwohl mich die Dimensionen der Widerstandskraft von Amnesty wahrlich beeindrucken, kam ich zu dem Schluss, dass die Zeit für Komplimente vorbei ist. Es ist nicht mehr angesagt, sich auf die Schulter zu klopfen, obwohl es genug Gründe dafür gäbe – gute Gründe, sich die Bilanz der Aktivitäten von Amnesty International bewundernd in Erinnerung zu rufen, die Auswirkungen auf das Leben der Vergessenen, die Erfolge bei der Demaskierung der Mächtigen.

Keinem System zugehörig, auf noble Weise zur Einmischung bereit, weder von Nationalitäten tangiert noch von politischen Parteien, persönlichen Interessen oder dem Überdruss der Öffentlichkeit, sieht Amnesty International Staaten, Mauern und Grenzen als irrelevant für seine humanitären Ziele an, als Hindernis bei der Erfüllung seiner Aufgaben, dem Wecken von Verantwortungsgefühl und der Weigerung, kurzsichtigen Regierungen ihr Handlungsnarrativ abzunehmen.

Ich kann nachfühlen, wie es in Millionen von Menschen gärt, aber das bringt nichts voran. Wut hat einen begrenzten Nutzen und ernste Nachteile. Sie schaltet den Verstand aus und ersetzt konstruktives Handeln durch kopfloses Theater. Im Übrigen kann die Beschäftigung mit den offenen oder versteckten Lügen und Halbwahrheiten der Regierungen, mit ihrer Heuchelei, die so aalglatt ist, dass selbst die Entlarvung an ihr abperlt, nur zu einem zermürbten und verstörten Geist führen.

Wir leben in einer Welt, in der Gerechtigkeit mit Rache verwechselt wird. In der persönlicher Profit die Politik antreibt. In der die bürgerlichen Freiheiten, die Zelle um Zelle und Bein um Bein von den Tapferen und Toten erkämpft wurden, in der sengenden Hitze des «Einmal Krieg, immer Krieg» verdorren und angesichts dieses ewigen Krieges die Achtung vor humanitären Lösungen, ja sogar das Interesse für sie, schwinden kann. Obwohl der Grundsatz, wonach «die Sicherheit jeder anderen Nation dieser Welt dem Wohlergehen der Vereinigten Staaten untergeordnet» ist, endlich in Frage gestellt wird, werden die Bürgerrechte und humanitäre Lösungen auch weiterhin im Namen dieses Grundsatzes mit Füßen getreten.

Lassen Sie mich ein paar Dinge schildern, die sich derzeit in meinem Land abspielen.

Die Befürworter der Todesstrafe festigen ihre Position, obwohl in Texas Tausende noch nicht vollstreckter Urteile überprüft werden müssen, nachdem haarsträubende Fehler bei DNA-Analysen festgestellt wurden.

Eine Gesetzesvorlage namens «Clear Skies Act» soll ein bestehendes Gesetz zur Luftreinhaltung, den «Clean Air Act», ersetzen und wird genau den gegenteiligen Effekt haben. Konzerne, der Bergbau, die Industrie können dann alle einschlägigen Umweltschutzmaßnahmen der Vorgängerregierung ignorieren oder verzögern und den «Tod durch Atmen» in Gold verwandeln.

Die verfassungsmäßigen Rechte werden ausgehöhlt oder abgeschafft, denn das ist die größte und die am wenigsten bekannte Story, die sich zurzeit in den USA abspielt: die drohende Entmachtung der Wähler. Es geht um den «Help America Vote Act», das neue Wahlgesetz von 2002, das neue elektronische Wahlmaschinen einführt, die angeblich nicht können, was jeder Geldautomat und jede Supermarktkasse könnte – nämlich eine Quittung über die erfolgte Wahlentscheidung ausgeben. Während sich umgekehrt jeder einigermaßen fitte Hacker Zugang verschaffen und der größte Hersteller dieser neuen Geräte die Ergebnisse von seinem Homeoffice aus kalkulieren (und womöglich manipulieren) kann.

Kündigung oder Umgehung von Verträgen, Destruktivität, Massenverhaftungen ohne Anklage oder Rechtsbeistand; Richter, die vom Justizministerium zu Maximalstrafen angehalten werden; Whistleblower, die ihren Job verlieren; drakonische Zensurmaßnahmen – all dies existiert in einer Atmosphäre voller Aggression, Panik, Gier und Böswilligkeit, die an das oppressive politische System erinnert, das wir überwunden zu haben glaubten. Natürlich wissen Sie das alles. Die Geschichte Ihrer Aktivitäten ist eine Dokumentation dieser grotesken Vorgänge und der Einsprüche dagegen.

Mir scheint, dass unter den diversen Kriegen, die derzeit auf diesem Planeten geführt werden, einer hervorsticht und an Dringlichkeit alle anderen übertrifft. Das ist der Krieg gegen den Irrglauben.

«Krieg gegen den Irrglauben» ist eine Formel, die ursprünglich die Bemühungen der institutionalisierten Religionen im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert beschreiben sollte, Abweichungen vom rechten Glauben zu korrigieren. In einer Epoche und einem Weltteil, in dem der Staat eine Religion zur Norm erhebt, wird der Abfall vom Glauben buchstäblich zum Hochverrat. Unsere moderne Welt hat aus dieser Zeit «ein komplettes Arsenal von Verfolgungsmaßnahmen und eine geistige Tradition geerbt, die das Töten im Namen Gottes rechtfertigt». Der heilige Thomas von Aquin schrieb, Abtrünnige müssten «durch den Tod von dieser Welt geschieden» werden. Entscheidend war in diesem mittelalterlichen Krieg weniger das an sich Sündhafte des Zweifels oder Unglaubens, als vielmehr die Weigerung, seinen Irrtum zu bekennen. Die Lektion, die gelernt werden sollte, lautete: kuschen oder Tod. Eine strenge Erziehung in einer problematischen Schule, deren Tore auch heute wieder offen stehen – ehrfürchtig und freudig aufgehalten von Ungläubigen und Frommen gleichermaßen, von Politikern ebenso wie von Skandalkonzernen wie Enron, Halliburton oder WorldCom.

Nachdem diese mittelalterliche Schule den Lehrbetrieb wieder aufgenommen hat, werden alte Unterrichtspläne zeitgemäßen Anpassungen unterzogen. Begierig, möglichst bald ihre Lektionen zu erteilen, überbieten sich die Regierungen in hektischer Aktivität, schwanken zwischen dem Pragmatismus spickender Schüler und der Brutalität der Dummköpfe; zwischen Nachhilfe in fundamentalistischen Reichsideen und Seminaren in theokratischer Unterjochung. Nationen und Pseudostaaten nehmen sich bei der Ausbildung ihrer Zöglinge im Säubern, Reinigen und Abschlachten Freiheiten heraus, die Caligula ein zustimmendes Lächeln abgenötigt hätten. Es werden Abschlusspartys gefeiert, bei denen die Ausbeutung im verführerischen Kostüm des Globalismus mit jedem Partner tanzt, der ihr zu Willen ist. In ihrem Gefolge knallen Konzerne Niederlassungen in jeden Winkel des Erdballs, wo sie «Demokratie» verkaufen, als wäre das eine Zahnpasta, für die sie allein die Patentrechte besitzen.

Ich glaube, die Zeit ist reif für einen neuen Krieg gegen den Irrglauben. Einen mit gesteigerter Aufmerksamkeit geführten Kampf gegen gezüchtete Dummheit, erzwungenes Schweigen und metastasierende Lügen. Einen umfassenden Krieg, der tagtäglich von Menschenrechtsorganisationen geführt wird in Zeitschriften, Berichten und Statistiken, bei gefährlichen Lokalterminen, bei Konfrontationen mit Repräsentanten der Unterdrückung. Einen großzügig finanzierten und engagiert geführten Befreiungskampf gegen die Gewalt, die die Entrechteten verschlingt.