Rhimmard - Taly Woods - E-Book

Rhimmard E-Book

Taly Woods

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Beschreibung

Rhimmard verbirgt mehr Geheimnisse, als Malia je ahnte. Nach den dramatischen Ereignissen ist sie fest entschlossen, Nolas Sohn zu finden. Bei ihrer Suche stößt sie auf einen alten Familienstammbaum, der sie in die Tiefen der Vergangenheit führt und zu einem mächtigen Arkanisten namens Flyx. Malia erfährt, dass Nola ein Geheimnis gehütet hat, das tief verborgen versteckt liegt. Während sie dem Rätsel auf der Spur ist, entdeckt Malia neue Kräfte, neue Freunde und ihren Mut, denn sie muss sich erneut dunklen Gefahren stellen.

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Seitenzahl: 300

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Inhaltsverzeichnis

Mon Bis

Hog

Lyn Hog

Dos Hog

Tris Hog

Ketr Hog

Pyn Hog

Sys Hog

Sefen Hog

Oht Hog

Mon Hog

Xera

Lyn Xera

Dos Xera

Tris Xera

Ketr Xera

Pyn Xera

Sys Xera

Sefen Xera

Oht Xera

Mon Xera

Byn

Lyn Byn

Dos Byn

Mon Bis

Der kalte Nebel des Krieges zieht über das Land hinweg. Stille kehrt ein. Nach vielen beängstigenden Wochen verstummen nun endlich die Schläge der Kämpfe. Die Nacht ist eingebrochen und Malia und ihre Freunde müssen die Geschehnisse erst noch realisieren. Es ist wie ein Traum. Ein sehr schlimmer Traum, denn es ergibt alles keinen Sinn. Keiner traut sich etwas zu sagen, denn keiner kennt in diesem Moment die passenden Worte. Lisalas Niederlage war im Endeffekt zu einfach. Es ging so schnell und Malia hat sich einen Kampf immer viel dramatischer vorgestellt. Doch welch große Opfer mussten sie bringen! Sie hatten Glück, dass Lisala einfach so vor ihnen stand. Es war leichtsinnig sich unter die Freunde zu schmuggeln, aber hätte Andira es nicht früh genug erkannt, hätte Lisala tatsächlich leichtes Spiel gehabt, sie alle im Schlaf zu ermorden. Leichtsinnig, aber genial. Es war klug von Andira, Nola in ihre Vermutung einzubeziehen. Doch dadurch ist diese wundervolle alte Dame gestorben. Nola hat sich geopfert. Es war ihr nicht wichtig, was mit ihr selbst geschehen wird. Es ging immer nur um Rhimmard. In ihren Augen hatte ihr eigenes Leben weniger Wert als die Rettung dieser Welt. Diese wunderbare Frau war wie eine Familie für Malia geworden. Und wieder musste sie sich verabschieden. Die Stelle, an der Nola starb, ist gekennzeichnet durch Asche und violett leuchtende Glut, die leise vor sich hin knistert. Daneben liegt Fili, die sich für Nola geopfert hat, unwissend, dass Nola genau vorhatte, an diesem Tag zu sterben. Ihr guter Wille wurde so grausam bestraft. Doch hätte dieser erste Angriff nicht Fili, sondern Nola getroffen, hätte der Körpertausch nicht stattfinden können und Lisala wäre nur in Verbindung mit Aries Tod untergegangen.

Tris und Andira knien an der Klippe, die Sullys leblosen Körper in die Tiefe gezogen hat. Wütige Wellen preschen gegen das Land. Andira hat zwar Sullys Tod gerächt, doch es reicht ihr nicht aus. Sie hätte Lisala dafür lieber gefoltert, als sie in einem schwachen Moment einfach auszulöschen. Es war wirklich zu leicht. Ein wilder Kampf hätte viel mehr ihrer Wut genommen. Andira fühlt sich, als hätte sie nur eine Fliege zerquetscht, die sie etwas zu sehr genervt hat. Sie hat viel zu lange gewartet. Hätte sie Arie getötet, wären ihre Freunde noch am Leben. Andira wollte es nie zugeben, nie schwach wirken, doch Sully gehörte ihr Herz. Er hat sie immer durchschaut, immer ihren Kern gesehen. Er hat sich ihr immer wieder aufgedrängt, weil er wusste, dass sie mehr ist, als sie zeigt, und sie hat es genossen. Er hat sie gesehen. Er hat sie ernst genommen. Er war nie eingeschüchtert von ihrer Macht. Andira wusste schon immer, dass sie eine besonders mächtige Hexe ist. Sie hatte als kleines Mädchen schon Zauber durchgeführt, die ihr niemand beibringen konnte. Sie war immer konzentriert, gebündelt in ihrer Magie. Sie hatte sich nie aus der Ruhe bringen oder ablenken lassen. Damit hatte sie ihre Kraft schnell unter Kontrolle und konnte schon früh schwierige Zauber ausführen. Andira hat keine Geschwister und ihre Eltern waren immer beschäftigt. Kinder aus der Nachbarschaft fanden sie gruselig. Die Hexerei war alles, was sie hatte. Die Akademie besuchte sie eher, weil ihre Eltern es wollten und weil es sich so gehört. Doch sie wusste immer, dass sie bereits mächtiger ist als einige ihrer Lehrer dort. Wie die Nachbarskinder, hatten auch die anderen Schüler früher oft Angst vor ihr und mit ihrer kalten Art konnten nur wenige umgehen. Es war schwer für sie, diese Freunde nun zu finden und heute so viele von ihnen zu verlieren, bricht ihr das steinerne Herz. Dass ausgerechnet Sully einer von ihnen ist, kann sie kaum ertragen.

Die Zwillinge Loomy und Luana halten sich weinend in den Armen. Überrumpelt von den Ereignissen und ängstlich fließen ihnen Tränen über die Wangen. Sie haben eben erst ihr Zuhause verlassen, um in den Krieg zu ziehen und dabei nicht bemerkt, dass sie dem Bösen direkt in eine Falle gefolgt sind. Es waren nur wenige Minuten, die nun alles veränderten und sie vergingen wie ein Augenaufschlag. Die beiden Hexen konnten nicht reagieren, sie haben Andira allein an der Front stehen lassen. Sogar Fili hat versucht einzuschreiten. Doch sie standen nur wie versteinert da, gelähmt von den Blitzen, die durch die Luft peitschten. Wären sie im Krieg überhaupt eine Hilfe gewesen? Wären sie dafür vorbereitet gewesen? Sie haben sich jedenfalls in diesem Gefecht versteckt. Flucht statt Kampf. Feige. Und nun trösten sie sich gegenseitig, anstatt ihren Freunden beizustehen. Doch es ist auch ihr Verlust. Auch ihre Freunde sind gestorben und sie konnten nichts dagegen tun. Sie hatten Angst. Die mächtigste Hexe der Zeit stand vor ihnen und drohte, sie alle zu töten. Es fällt ihnen schwer zu begreifen, dass Arie von Lisala nur besetzt war. Dass dieses anfänglich unschuldige Mädchen von ihr gesteuert wurde und nun wieder ganz die friedvolle und gute Person sein soll, die sie einst war. Eine solch dunkle Macht muss in dieser langen Zeit einen Stempel hinterlassen haben. Es muss doch bereits eine dunkle Seite in Arie geherrscht haben, die sich Lisala zu Nutzen machen konnte. Können sie Arie nun vertrauen? Ist Lisala ganz sicher völlig aus ihr entwichen? Hatte sie wirklich die ganze Zeit über keine Kontrolle über das, was sie getan hat?

Arie liegt in Malias Armen. Der Moment fühlt sich an wie eine Ewigkeit. Malia hält ihre Schwester fest an sich gedrückt. Tränen rauschen über ihre Wangen. Minuten vergehen, ohne eine Regung von Arie. Sie hat ihre Schwester eben erst wieder gefunden und nun so schnell wieder verloren. Davids Hand drückt Malias Schulter. Er würde ihr in diesem Moment gern jeden Schmerz von der Seele nehmen. Asche und Schnee wirbeln in Zeitlupe durch die kalte Nachtluft.

David ~ "Malia... Malia, sieh nur, Aries Augen!"

Malia schreckt auf. Aries Wimpern zucken. Sie wacht auf. Ihre Schwester lebt. Malias Trauertränen verwandeln sich sogleich in Freudentränen. Arie ist erschöpft, aber sie lebt. Kaum zu glauben, was ihr widerfahren ist. In den Armen ihrer Schwester fühlt sie sich nun jedoch ganz sicher. Sie ist nicht mehr allein und sie spürt, wie ihre Seele langsam wieder Platz in ihrem Körper findet. Tiefe Atemzüge füllen ihre Lungen, als sie mehr und mehr erwacht.

David ~ "Wir sollten sie ins Haus bringen, Malia. Es ist kalt hier draußen und Arie ist total fertig."

Malia nickt zwar, doch sie fühlt sich wie versteinert. David greift Arie unter die Arme und hievt sie hoch. Arie ist schwach. Zu schwach, um aufrecht stehen zu können. David stützt sie und geht mit ihr ins Haus. Malia versucht zu Andira und Tris zu gehen, doch ihr Körper fühlt sich so schwer an, dass sie sich kaum zum Laufen überwinden kann. Tris und Andira stehen Trauer und Wut ins Gesicht geschrieben. Malia möchte ihr Leid ausdrücken, doch hat sie das Gefühl, dass die beiden jeden Moment explodieren könnten. Obwohl Andira mit Lisala auch Nola getötet hat, weiß Malia, dass dieser Plan aus Nolas Kopf entsprang. So sehr sie leidet, sie kann Andira keine Schuld für Nolas Tod geben. Was Andira geleistet hat, wäre keinem anderen in diesem Moment gelungen. Eine unschuldige Person zu opfern, hätte sie selbst nicht geschafft. Selbst, wenn es nicht Nola gewesen wäre. Malia setzt sich neben ihre Freundin und greift unterstützend nach ihrer Hand. Die Zwillinge haben sich inzwischen auch aus ihrer Umarmung lösen können und stehen hinter Andira und Tris.

Luana ~ "Wir müssen sie beerdigen."

Malia ~ "Du willst jetzt Gräber schaufeln?"

Andiras Wut bündelt sich ~ "Wir können Sully nicht beerdigen. Sein Körper ist weg, falls du das noch nicht bemerkt hast! Wir können ihn nicht im Zyklus weiterschicken! Er ist dort unten, von der Klippe verschlungen und im Meer vergraben! Fischfutter!"

Loomy ~ "Andira, das wissen wir. Aber Fili und Nola sind hier. Sie können wir beisetzen. Und je früher wir das tun, desto schneller können sie wachsen."

Andira ~ "Ok, geht zur Seite."

Luana ~ "Bitte Andira, lass uns..." Andira nickt.

Malia ~ "Wachsen? Zyklus? Was habt ihr vor?"

Loomy ~ "Geht lieber etwas zur Seite. Wir begraben sie, Malia. Damit sie zurück in den Zyklus der Natur finden können. Wir sollten sie hier nicht einfach liegen lassen. Sie müssen doch weiterziehen."

Malia, Andira und Tris erheben sich von ihren Knien und gehen zu Filis Körper. Tris legt zum Trost seine Arme um Malia. Trotz der eingebrochenen Winternacht ist ihnen nicht kalt. Andira steht kerzengerade aufgerichtet neben Malia. Die Zwillinge halten sich an den Händen und platzieren sich neben dem Leichnam ihrer Freundin. Sie brabbeln unverständliche Worte im Kanon vor sich hin. Ihre Augen sind geschlossen. Filis Körper hebt vom Boden ab und unter ihr wühlt sich der schneebedeckte Erdboden auf.

Tris ~ "Grabt nicht zu tief, Mädels."

Malia denkt an die Gräber Zuhause. Dort wird noch sehr viel tiefer gegraben, als die Zwillinge bisher die Erde geöffnet haben und es muss tausend mal anstrengender sein, als durch Magie. Fili sinkt in die Erde wie in Treibsand. Ihre schillernden Flügel glänzen im Schein des Mondlichts. Malia ist ergriffen. Diese wunderbaren Wesen waren viel zu jung und zu tapfer, um zu sterben. Sie ist froh, dass sie sich an Tris' starken Armen halten kann. Sein schneller Herzschlag pocht in seinen Adern. Bei ihm hat Malia das Gefühl, dass ihre Lasten plötzlich von den Schultern genommen werden. Auch, wenn er im Moment die wahrscheinlich größere Trauer bewältigen muss. Sie lehnt ihren Kopf an seine warme Schulter. Aus der kleinen Steinhütte werden sie heimlich von David beobachtet.

David hat sich erst vor einigen Stunden vor Malia geöffnet, ihr seine Zuneigung gestanden und nun begreift er, dass sie hier während ihres Fehlens ein neues Leben gelebt hat. Sie hat Freunde gefunden, Tris kennengelernt und David fragt sich, wie die beiden zueinander stehen. War es ein Fehler, Malia zu folgen? Er wird es herausfinden müssen. Er kann das Geschehene noch nicht begreifen. Die Mächte, die sich in dieser Nacht bekämpft haben, sind für ihn völlig surreal. Ebenso wie die Idee, dass Malia eines dieser mysteriösen Wesen sein soll.

Malia ist verwirrt und insgeheim nicht erfreut, dass ihre verstorbene Freundin einfach an Ort und Stelle vor Nolas Haus begraben wird, doch für die anderen scheint es normal zu sein und sie möchte niemanden verletzen. Es hat etwas friedliches, wie ihr Körper so schnörkellos in die Erde beigesetzt wird. Keine langen Reden, keine große Feier, nur ein paar Freunde, die in aufrichtiger und tiefer Trauer ihre Verlorenen unter die schützende Erde legen. Aus der aufgewühlten Erde springen goldene Funken. Sie tanzen wie kleine Feuerwerke über Filis Grab, bis sie schließlich in einem geschwungenen Schriftzug zusammenfinden. Filomena steht in leuchtenden Lettern in der Luft geschrieben. Aus dem F ragen kleine Feenflügel heraus.

Andira lässt es sich allerdings nicht nehmen, die Beisetzung von Nola selbst durchzuführen. Sie stellt sich zu den Zwillingen, drückt deren Arme zu Boden und drängt sich nach vorn. Nolas Körper ist im Feuer vollständig verbrannt, es gibt nichts, was sie vergraben könnten. Doch Andira wirbelt die Erde um, sodass sich ihre Asche darunter verteilt. Mit Nola vergräbt sie auch die Überreste von Lisalas Seele. Die Glut, die immer noch knistert, wird für immer einen warmen Fleck im Boden hinterlassen. Aus Nolas Grab schießen keine Lichter heraus. Stattdessen wächst eine einzelne kleine Margerite aus der gefrorenen Erde empor. Die Blume wächst hoch, öffnet ihre Blüte, weht im Wind, kräuselt sich zusammen und verwelkt wieder. Der Verlauf des Lebens und ein Zeichen der Vergänglichkeit.

Luana, Loomy, Tris und Malia gehen zurück ins Haus, als Andira ihr Werk beendet hat. Sie sind erschöpft. Was geschehen ist war zu furchtbar. Dennoch hat Malia das Gefühl, dass nun ein kleines Stückchen Frieden in ihr gebrochenes Herz zurückkehrt. Ein kleines Pflaster auf einem großen Riss. Sie dreht sich um, wagt noch einen kurzen Blick zurück und sieht, dass Andria ihnen nicht ins Haus folgt. Stattdessen bleibt sie noch eine ganze Weile am Grab stehen und läuft schließlich weg. Mit festen Schritten durch den Schnee in Richtung Folkocs. Malia ist klar, dass Andira nicht nur diesen Verlust verarbeiten muss. Sie hat auch ihre Eltern verloren und sie fühlt sich schuldig. In diesem Moment muss sie sich schrecklich allein fühlen. Malia will ihr die Zeit geben und vertraut darauf, dass ihre Freundin eines Tages wieder zu ihr zurückkommen wird. Sie schickt ihr nur einen Gedanken, der ihr in diesem Moment als wichtig erscheint: Pass auf dich auf. Ich bin hier, wenn du mich brauchst.

Andira bleibt eine kurze Weile stehen, dreht sich zu Malia und Malia fühlt ihre Trauer und gleichzeitig Dankbarkeit. Sie empfängt einen Gedanken: Alles Gute zum Geburtstag. Trotz allem.

Malia wartet. Dann verschwindet Andira im Schatten der Nacht.

Hog

Die Bewohner Folkocs' sind noch Wochen nach dem Krieg bis ins Mark erschüttert. Ihre einst so wunderschöne Stadt wurde völlig zerstört. Die bunten Steinhäuser waren zerfallen. In den Trümmern lagen Tote. In diesen Zeiten wurde nur wenig gesprochen, jedoch packten alle mit an, um die Stadt wieder aufzubauen. Krieger schleppten die schweren Felsen, Hexen setzten die Verstorbenen bei. Feen hievten Stein um Stein in die Höhe, bis die Häuser wieder aufgebaut waren. Generationen halfen zusammen. Wo ein Kind seinem Vater Steine reichte, sorgten Großmütter nebenan in der Stadthalle für Verpflegung. Nachbarn und Freunde unterstützten sich.

Die meisten Häuser sind inzwischen wieder errichtet worden, viele andere bleiben leer. Die Bewohner in Folkocs versuchen ihren Alltag so gut es geht wieder aufzunehmen. Tris, Loomy und Luana sind zurück zu ihren Familien gegangen. Malia, Arie und David hüten Nolas Haus und kümmern sich um die Tiere. Sie haben beschlossen, vorerst dort zu bleiben, zumindest, bis sich die Zeiten gebessert haben und sie herausfinden können, wer Nolas Nachfahren sind. Jemand muss schließlich das Haus übernehmen. Malia hofft jeden Tag auf Andiras Rückkehr. Ihre Eltern sind im Krieg gestorben und Malia möchte wissen, wie es ihr geht. Seit sie nach dem Kampf fortgegangen ist, hatten sie

keinen Kontakt mehr. Ihr früheres Zuhause ist leer und zerstört. Niemand war da, um es wieder aufzurichten. Es gibt inzwischen einige dieser Ruinen in der Stadt. Ganze Familien, die einfach von Lisala ausgelöscht wurden. Malia geht davon aus, dass Andira ihre Eltern sofort beigesetzt hat. An einem schönen Ort, an dem sie friedlich ruhen können. Doch wo ist Andira jetzt? Auch Luana und Loomy haben seither nichts mehr von ihr gehört. Sie ist wie vom Erdboden verschluckt.

Malia macht sich auf den Weg in die Stadthalle, dort soll noch am selben Abend die Wahl stattfinden, in der ein Nachfolger des Bürgermeisters bestimmt werden soll. Auch, wenn die wenigsten in dieser Zeit hierfür bereit sind, ist es wichtig, dass der Posten des Bürgermeisters neu besetzt wird. Es gibt viele freiwillige Anwärter, die sich zur Wahl aufstellen lassen, im Endeffekt hat jedoch einzig das Komitee das letzte Wort. Auch Nola war Teil des Stadtkomitees. Malia fragt sich, wer ihre Position einnehmen wird. Wird sie überhaupt ersetzt? Als sie in der Halle ankommt, trifft sie auf viele fleißige Helfer. Malia packt mit an. Sie ist früh in die Stadt losgezogen, um Reue für ihre Schwester zeigen zu können. Obwohl Arie keine Schuld trifft, fühlt sie sich doch verantwortlich. Nolas Haus hat keinen Schaden davongetragen und Malia fühlt sich mitschuldig, dass Folkocs so schwer zerstört wurde, während sie Zuhause in Chicago war.

Der Raum füllt sich schnell mit Besuchern und Mitgliedern des Stadtkomitees. Die Feen zaubern noch einige Bänke aus Wurzeln aus dem Boden und die Sitzung beginnt. Malia setzt sich an den Rand, um nicht aufzufallen. Eine Älteste tritt auf ein Podest und übernimmt nach einem lauten Räuspern das Wort.

Binna ~ "Wir eröffnen die erste Sitzung dieser neuen Zeit. Der Bürgermeister hat den Angriff von Lisala und ihren Truppen nicht überlebt. Sein Geist ist im Wind und sein Körper ist eins mit dem Nährboden der Natur. Es gibt viele Interessenten für dieses begehrte Amt, doch zu Beginn des Krieges teilte der Bürgermeister einen Wunsch an das Stadtkomitee, welches die Ernennung des neuen Oberhauptes dieser Stadt betrifft. Das Stadtkomitee ist mit dem Wunsch des Bürgermeisters einstimmig einverstanden und ernennt daher ohne öffentliche Abstimmung Ms. Karima zur neuen Bürgermeisterin von Folkocs." Die Worte gleiten einschläfernd langsam über Binnas zittrige Lippen.

Die Älteste nickt und verlässt mit wackeligen, aber hastigen Schritten ihr Podest. Im Raum herrscht Stille. Darauf war wohl niemand gefasst. Von der Wahl ausgeschlossen zu werden und eine neue Bürgermeisterin vorgesetzt zu bekommen, hat niemand erwartet. Karima erhebt sich überrascht aus der Menge und tritt vor.

Karima ~ "Vielen Dank, Binna. Es ist mir eine große Ehre! Ich habe mich nicht um den Posten beworben und bin dementsprechend sehr freudig überrascht über die Wahl. Dass der Bürgermeister persönlich mich als seine Nachfolgerin anerkannt hat, macht mich stolz und ich werde mein Bestes geben, seine Arbeit ehrwürdig weiterzuführen. Ich nehme die Wahl selbstverständlich an und bedanke mich für das Vertrauen des Komitees. Die Akademie wird somit in Zukunft unter einer neuen Leitung stehen müssen, damit ich mich voll und ganz auf die Bedürfnisse Folkocs' konzentrieren kann. Ein Nachfolger wird bis zu Beginn des nächsten Schuljahres von mir erwählt werden. Als erste Amtshandlung möchte ich noch heute eine Kathedrale errichten. Sie soll eine Gedenkstätte unserer Verstorbenen sein und jedem Zuflucht und Kraft schenken, der sie benötigt. Wir verwenden die Trümmer der Stadt, die für die Häuser nicht mehr brauchbar sind, Steine aus Ruinen, deren Bewohner im Krieg gestorben sind und errichten damit etwas Neues. Als Zeichen des Neubeginns und des Zusammenhaltes. Lasst uns alle mit anpacken und nach vorn blicken."

In der Stadthalle herrscht weiterhin Stille. Die Bewohner sind überrumpelt worden und nun erhalten sie direkt den ersten Befehl. Tuscheln und Augenrollen fahren durch die Reihen. Eine Kathedrale stellt sich Malia schön vor, obwohl sie nicht gläubig ist. In Rhimmard glauben die Bewohner mehr an die Natur, an eigene Kräfte und an Energien. Sie beten nicht einen Gott an, sondern glauben an die gemeinsame Stärke. Malia schließt ihre Augen und versucht die Kathedrale vor ihrem inneren Auge erscheinen zu lassen. Sie möchte versuchen, den noch so skeptischen Bürgern in der Stadthalle eine Vision zu schenken. Wurzeln ragen aus dem Boden, halten Felsen in einem Netz aus Zweigen zusammen. Hopfensträucher und Schleierkraut ranken sich empor. Der Boden ist mit Moos benetzt. Einige Bürger meditieren, andere besuchen zusammen mit ihren Kindern ein verlorenes Familienmitglied. Die Baumgräber der Verstorbenen bilden einen Wald um die Kathedrale, doch die Wurzeln des Turmes überragen jeden Baum. Flötenklänge und Chorgesänge hallen durch die Kathedrale. Ihr Plan scheint zu funktionieren, denn es ertönen Aaahs und Ooohs aus der Menge und einer nach dem anderen erhebt sich, um Steine für die Kathedrale zu sammeln. Karima sieht Malia tief in die Augen. Sie weiß genau, was Malia getan hat. Sie weiß, wie sie ihre Kräfte eingesetzt hat und sie sendet ihr ein Gefühl von Dankbarkeit. Malia lächelt zurück.

Karima war eine exzellente Leitung für die Akademie. Malia ist sich sicher, dass sie auch auf dem Posten der Bürgermeisterin exzellent sein wird. Dass sie jedoch als Rektorin nun abtritt, enttäuscht Malia. Sie weiß zwar noch nicht, ob sie an die Akademie zurückkehren wird und ob sie in Zukunft dort unterrichtet werden kann, dennoch ist sie sicher, dass Karima dort fehlen wird. Malia fragt sich, wer wohl die neue Leitung übernehmen wird. Ob es einer der Lehrer sein wird, oder jemand unbekanntes. Ihr Blickkontakt wird unterbrochen, als Karima einige Hände schütteln und Glückwünsche entgegennehmen muss. Da entscheidet sich Malia, die Halle ebenfalls zu verlassen und am Bau der Kathedrale mitzuwirken.

Einige Feen haben in den Feldern neben der Stadt bereits damit begonnen, Wurzeln und Sträucher aus dem Boden ragen zu lassen. Eine Ellipse aus Ästen ragt weiter und weiter aus der verschneiten, kalten Erde heraus. Sie verschlingen und verknoten sich, bilden ein stabiles Gerüst. Krieger füllen die Geflechte an den Seiten mit Steinen. Malia ist fasziniert, wie edel und kunstvoll die Arbeit ist. Es wirkt wie ein Tanz zwischen Liebenden. Diese wunderbaren Wesen stehen im Kreis, streichen Formen in die Luft, lassen Äste und Zweige wachsen, bis sie schließlich an der Spitze der Kathedrale zueinanderfinden und sich verknoten. Moosbetten, Riesenpilze und Baumstümpfe ploppen aus der Erde. Efeu wächst empor, hält sich an den Ästen fest und wie in Malias Vision ranken sich Hopfensträucher und Schleierkraut an den Wänden. Karima hat sich dazugesellt. Sie tritt in die Mitte der Kathedrale und ritzt mit Hilfe ihrer Magie Wörter in die Rinden an der Decke. Die Worte sind in Libell, daher kann Malia sie nicht entziffern.

"Gelisylvana, aliaxtra valiynys ynusilva,

vastra vlistyra lirinys astra, ilistys, vastrinys vlistyra.

Lystyra rynys aliaxtra vlistyra,

aergoh virasto astra vlistyra,

pixula valifstra mlauk ilistys vlistyra,

lystyra qwifuna valiynys astra plaksu ilistys vlistyra.

Lisylvana, niristyra laggys vastrinys ilistys astra vlistyra,

luszyra berula lirinys astra pnev ilistys vlistyra valiynys.

Lystyra vlistyra rynys astra vlistyra,

vlistyra astra lystyra astra ilistys vlistyra.

Vlistyra laggys qulama ilistys astra vlistyra,

Lystyra muna got valifstra vlistyra vlistyra.

Xen aliaxtra vlistyra valiynys astra omono ilistys vlistyra.

Paku mana valiynys astra vlistyra,

vlistyra aliaxtra, vlistyra lirinys, astra vlistyra."

Die Linien schimmern in gleißendem Gold. Malia vermutet, dass die Worte das Gebet der Religion Lisylvana darstellen, die schon vor Jahrhunderten in Rhimmard entstanden ist.

Die Sonne kämpft sich durch die Wolkendecke am Himmel und erhellt nach Tagen im Nebel endlich wieder die Stadt. Sonnenstrahlen schimmern zwischen den Zweigen der Kathedralendecke hindurch. Malias Wangen erwärmen sich in ihrem Licht. Es ist ein ermutigender Moment für die Bürger. Ein Zeichen, dass ihr Weg nach vorn gebahnt ist. Dass sie auf dem richtigen Weg sind.

Karima legt ihre Hand auf Malias Schulter.

Karima ~ "Vielen Dank für die Vision! Ich war tatsächlich beeindruckt. Du hast seit unserer letzten Begegnung viel gelernt. Die Arbeit mit Nola scheint dir gut getan zu haben."

Malia lächelt und nickt.

Karima ~ "Malia, dein Verlust tut mir sehr leid. Nola hatte ein außerordentlich gutes Herz. Ihr Ableben ist auch ein Verlust für die ganze Stadt. Du bist nicht allein, hörst du? Sprich darüber, wenn dir danach ist, ich bin überzeugt, jeder hier wird sich dir annehmen und ich denke, einige haben auch noch spannende Geschichten über Nola zu erzählen. Wie du sicher weist, war Nola im Komitee tätig und hinterlässt nun auch hier eine große Lücke. Ich würde mich sehr freuen, wenn du bereit wärst, ihren Platz irgendwann einzunehmen."

Malia ~ "Im Komitee?" Es verschlägt ihr die Sprache.

Karima ~ "Selbstverständlich. Du hast ein Anrecht darauf. Überleg es dir in Ruhe. Du musst mir nicht sofort antworten. Wir werden uns sicher bald wiedersehen."

Karima lässt Malia stehen und widmet sich einer Gruppe Galumi, die gerade dabei sind, Eisblüten zwischen den Ästen wachsen zu lassen. Malia verlässt wortlos und überwältigt die Kathedrale und läuft einen im Schnee ausgetrampelten Pfad hinter dem Pflanzengerüst

entlang. Dort wurden die Verstorbenen beigesetzt. Der Boden ist wild aufgewirbelt und schon bald werden hier die ersten Sprösslinge wachsen. Malia hat sich die Tradition der Beisetzung durch Luana erklären lassen. Die Toten werden in die Erde gelegt, damit aus ihnen wieder ein Baum wachsen kann. So leisten sie weiterhin ihren Beitrag zur Natur und sie folgen einem natürlichen Kreislauf. Aus dem vergangenen Leben entsteht neues Leben. Trotz der Tragik, dass sie ihre Freunde und Nola verloren hat, freut sich Malia darauf, den Bäumen um Nolas Haus beim Wachsen zuzusehen. Die Gräber auf dem Friedhof in Chicago sind trostlos, trocken, grau, wie kalter Stein. In Rhimmard beginnt stattdessen mit jedem Ende ein neuer Anfang. Malia findet diese Vorstellung sehr viel tröstender. Sie hat das Gefühl, dass ihre Freunde so immer noch bei ihr sind.

Lyn Hog

Die Sonne geht früher auf, als in den Wochen zuvor und der Winter neigt sich allmählich dem Ende zu. Malia, Arie und David kümmern sich um Nolas Haus und ihre Tiere, doch die kleine Steinhütte ist für drei Personen allmählich zu klein. Arie ist in Nolas Schlafzimmer gezogen und David schläft im Wohnzimmer auf dem Sofa. Toffee gefällt es, dass er nachts nicht mehr alleine ist, doch Malia ist der Ansicht, dass David nun wirklich wieder nach Hause - in seine Welt - gehen sollte. David wehrt sich alledings vehement dagegen. Er will bei Malia bleiben, aus Angst sie noch einmal zu verlieren. Malia ist es ein Rätsel, wie David überhaupt den Weg nach Rhimmard finden konnte. Diese Welt ist für magische Wesen, nicht für Menschen. Was, wenn ihm aufgrund dessen etwas passiert? Was, wenn diese Welt ihn 'abstößt'? Malia hat David sehr gern. Er ist ihr Freund. Doch er empfindet mehr für sie und aus diesem Grund begibt er sich in Gefahr. Malia weiß nicht, ob sie Davids Gefühle erwidern kann. Er ist lieb, freundlich, fürsorglich. Alles, was man auf den ersten Blick niemals von diesem gutaussehenden Rebellen erwarten würde. Außerdem findet sie es schön, vertraute Menschen um sich zu haben. Wären Arie und David nicht bei ihr, wäre Malia ganz allein. Bei ihrer großen Schwester fühlt sich Malia eigentlich am sichersten, doch seit sie Arie wieder bei sich hat, hat sie auch das Gefühl, ihre Schwester nur schwer wiederzuerkennen. Arie hat sich verändert. Sie war die Verantwortungsvolle und Bodenständige. Schon ein kleines bisschen erwachsen. Malia konnte sich auf sie stützen. Zur Zeit ist Arie aber still und ängstlich. Sie hat Alpträume von Lisala. Manchmal schlafwandelt sie. Malia macht sich Sorgen.

Vor dem Haus beginnen die Lebensbäume von Nola und Fili ihre ersten Zentimeter zu wachsen. Damit die zarten Setzlinge nicht vom Schnee zerdrückt oder vom Wetter geschädigt werden, stellt David einige Holzscheite um sie herum auf. Arie und Malia sitzen währenddessen im Haus am Esstisch. Malia will den Moment nutzen, um mit ihrer Schwester alles zu sprechen.

Malia ~ "Wie soll es weitergehen? Bleiben wir hier? Gehen wir auf die Akademie? Du hast gewiss auch Kräfte, Arie. Bestimmt bist du auch ein Mentibus, wie ich. Du kannst lernen, das zu beherrschen."

Arie ~ "Das will ich gar nicht, Malia. Sieh doch, was dieses ganze Kräfte-Ding anrichtet! Menschen sind gestorben. Meinetwegen."

Malia ~ "Das warst nicht du!"

Arie ~ "Wie kannst du dir da sicher sein?"

Malia ~ "Lisala hat dich benutzt. Sie hat deinen Körper eingenommen. Du hattest doch keine Chance. Es ist nicht deine Schuld."

Arie ~ "Ich kann es nicht, Malia. Und ich werde nicht auf diese Akademie gehen. Ich will einfach nach Hause, verstehst du das nicht?"

Arie steht vom Tisch auf und geht in die Küche, um das frisch gespülte Geschirr vom Frühstück abzutrocknen. Malia ignoriert ihren Fluchtversuch und spricht weiter.

Malia ~ "Willst du über deine Träume sprechen? Du schlafwandelst, weißt du das? Fast jede Nacht. Du geisterst durchs Haus und schreist David an. Er erschrickt noch zu Tode. Vor ein paar Tagen bist du sogar barfuß durch den Schnee zur Klippe gestapft. Gott sein Dank hat David mitgekriegt, dass du zur Tür raus bist. Wer weiß, was passiert wäre, wenn wir dich nicht wieder ins Haus geholt hätten. David hat heute noch blaue Flecken, weil du ihn geschlagen hast, als er dich tragen wollte. Wenn das so weiter geht, müssen wir nachts deine Tür verschließen."

Arie wird scharf ~ "Lass es, Malia! Du hast keine Ahnung! Lass mich in Ruhe! Ich will deine Hilfe nicht! Und ich will hier nicht mehr sein!"

Malia ~ "Man kann nicht einfach so weg. Nur wer in Rhimmard wirklich Zuhause ist, erhält die Chance zwischen den Welten zu wählen. Wenn du dich wehrst, bist du hier gefangen. Solange du einen Weg fort von hier suchst, wirst du ihn nicht finden."

Arie ~ "Aber du weißt, wo das Tor ist. Du warst Zuhause."

Malia ~ "Ich weiß aber nicht, ob das Tor noch existiert. Und wie ich es verstanden habe, ist es nicht immer geöffnet, falls mal jemand durchlaufen will. Es öffnet sich für die richtigen Personen."

Arie ~ "Mach es auf und lass mich durchlaufen. Das ist doch nicht so schwer. Nicht diese Welt hält mich gefangen, Malia, sondern du!"

Arie stapft wütend aus dem Haus, um den Tieren Futter zu geben. Malia legt besorgt die Stirn in die Hände und schließt ihre Augen, als David durch die offene Haustür kommt und sich den Schnee von den Schuhen klopft. Sie schüttelt nur den Kopf, um ihm zu signalisieren, dass sie nicht darüber sprechen will. Die Tage in Rhimmard fühlen sich in dieser Zeit sehr lange und sehr ermüdend an. Wäre nicht die Arbeit am Haus und in den Ställen, wären sie endlos. Malia hat beschlossen, Nolas Haus nach Hinweisen auf eine Familie zu durchsuchen. Es muss einen Nachfahren geben, dem all das nun gehört. Nola hat nie über ihre Familie gesprochen. Hatte sie einen Mann? Kinder? Diese wundervoll herzliche Person kann doch nicht ihr ganzes Leben lang allein gewesen sein. Viele Schränke gibt es nicht außerhalb der Küche. Im Wohnzimmer steht noch eine Truhe und über dem Kamin reiht sich Nolas Sammlung an Vasen. In Malias Zimmer steht nur eine alte Kommode für ihre Kleidung. Nolas früheres Schlafzimmer hat Malia erst ein Mal betreten. An dem Tag, als sie ihre erschöpfte Schwester in Nolas Bett gelegt hat, damit sie sich ausruhen kann. Der Tag, an dem Nola starb und der Krieg endete. Arie hat ihr gestattet, das Zimmer - das inzwischen Aries festes Schlafzimmer geworden ist - zu durchsuchen. Malia beginnt jedoch im Wohnzimmer. Eine eingestaubte Holztruhe mit schweren EisenScharnieren steht hinter der Sofarückseite, die zum Esszimmer zeigt. Im Schloss steckt der angerostete Schlüssel, so groß wie Malias ganze Hand. Ein Schloss, in dem der Schlüssel steckt. Malia hat nur geringe Hoffnung etwas hilfreiches oder geheimnisvolles darin zu finden. Sie greift den kalten Schlüssel und dreht ihn im Schlüsselloch nach links. Der Schlüssel dreht weiter und weiter, doch das Schloss öffnet sich nicht. Er dreht durch. Malia rüttelt am Schloss, versucht den Schlüssel in die andere Richtung zu drehen, doch er dreht sich immer weiter. Kein Rütteln, kein Ziehen, nichts öffnet das alte, verrostete Schloss. Seufzend setzt sich Malia auf den Boden. David kniet sich neben sie.

David ~ "Soll ich mal nachsehen, ob Nola irgendwo Werkzeug hat? Vielleicht können wir das Schloss aufstemmen?"

Malia ~ "Nein, lass nur. Vielleicht finde ich ja woanders etwas. Wie hoch ist die Chance, dass Nola diese Truhe aufbekommen hat? Sie hatte noch weniger Muskelkraft als ich. Wahrscheinlich sind nur ein paar Decken drin. Ich werde vielleicht doch erst einmal oben nachsehen. Danke."

David ~ "Alles klar. Soll ich dir helfen?"

Malia nickt und David reicht ihr eine Hand, um aufzustehen. Als sie danach greift, schreckt sie zusammen. Ihr fährt es kalt über den Rücken. Malia steht schnell auf und zieht ihre Hand wieder zu sich. Seit David ihr eröffnet hat, dass er sie mag, fühlt sie sich unbehaglich dabei, mit ihm allein zu sein, geschweige denn ihn zu berühren.

Malia ~ "Wir sollten Arie fragen, ob sie uns hilft. Ich finde es falsch, in ihrem Zimmer herum zu wühlen, wenn sie nicht dabei ist."

Sie geht zum Fenster und ruft ihre Schwester herein. Arie ist immer noch sauer, doch ihr ist auch kalt, also begleitet sie Malia und David nach oben. In Nolas früherem Schlafzimmer ist es eisig und düster. Malia hat sich beim letzten Mal nicht im Zimmer umgesehen. Sie war nur auf Arie konzentriert und ihr Blick war nur auf ihre Schwester fokussiert. Die Möbel sind alt, aus dunklem, abgegriffenem Holz. In der Mitte steht ein Doppelbett, das von ockerfarbenen Vorhängen umrandet ist. Ein Doppelbett und zwei Nachttische. Nola hatte also früher vermutlich einen Partner. War sie verheiratet, hat sie Kinder? Wer hat früher in der kleiner Kammer geschlafen, die inzwischen zu Malias Schlafzimmer geworden ist? Neben dem Bett stehen noch zwei Kommoden und ein Kleiderschrank im Raum. Malia streift mit ihrer Hand über die kunstvolle Verzierung. Darauf stehen eingerahmte Bilder aus früher Zeit. Eine junge Frau, im Blumenkleid, das einen kleinen Jungen auf dem Arm trägt. Ein Mann, der mit eben diesem Jungen auf dem Schoß vor der Hütte auf der alten Bank sitzt, auf der auch Nola so gern saß. Ein traditionelles Familienfoto mit orangenem Sepiastich. Die junge Frau darauf in einem zugeknöpften Kleid mit hohem Kragen, der Mann trägt einen platten Hut, das Kind mit gestriegeltem Seitenscheitel und Leinenhemd. Daneben steht eine gepresste, getrocknete Ringelblume in einem weiteren Bilderrahmen.

David und Arie machen sich bereits an den Nachttischen zu schaffen. Sie wühlen sich durch die vollgestopften Schubladen, ziehen gebügelte Taschentücher heraus, Wolle und Stricknadeln, einen Monokel, eine alte Zigarrendose, vier Knöpfe und neun Paar Schnürsenkel. Doch nichts davon hilft ihnen weiter. Malia kniet sich vor eine der Kommoden, um dort die Regale und Schubladen zu durchsuchen. Hinter den knarrenden Flügeltüren des alten Schrankes verstecken sich Handtücher und Bettwäsche. Gewöhnlich.

Ein lautes Wwhhooooaaah hallt durch das Zimmer, als David die oberste Schublade der anderen Kommode öffnet und im nächsten Moment fliegt ein weißer StoffBH durch die Luft. Er hat Nolas Unterwäsche entdeckt. Verstört schreckt er von der Kommode zurück. Malia und Arie können ihr schallendes Gelächter nicht zurückhalten. Schon sehr lange haben sie nicht mehr so ausgiebig gelacht. Arie kullern Tränen über die Wangen, als Malia David mit dem alten Wäschestück durch das Schlafgemach jagt.

Im großen Kleiderschrank finden sie lediglich noch einige Schürzen, Kleider, Strickjacken und Wolljacken. Die Kommode beinhaltet neben Nolas Unterwäsche noch Socken und Kopftücher. Hinweise auf Nachfahren finden sie keine - bis auf die Bilder auf der Kommode am Fenster. Malia weiß jetzt, Nola hatte einen Ehemann und einen Sohn. Sie muss die beiden nur finden. Doch wie? Ist Nolas früherer Mann noch am Leben? Haben sie sich getrennt, oder war Nola bereits eine Witwe? Sie hat nie ein Wort über ihn verloren. Ebenso wenig wie über ihren Sohn. Malia hat mehrere Wochen bei Nola gewohnt und nie hatten sie Besuch. Die einzigen, mit denen Nola sich hin und wieder getroffen hatte, waren die Dorfältesten. Sie haben sich jede Woche zum Spieleabend getroffen und haben dabei alles ausgiebig diskutiert, was sie an Gerüchten in den Gassen aufgeschnappt haben. Mit Sicherheit wissen die Ältesten auch alles über Nolas frühere Familie. Mit etwas Glück und Geschick erfährt Malia von ihnen, wo sie Nolas Sohn finden kann.

Draußen ist die Nachmittagssonne aufgegangen und Malia, Arie und David haben entschieden, das Haus vom angetauten Schnee zu befreien. Sie möchten die Wege räumen, die Gemüsebeete freischaufeln und die Ausläufe der Tiere wieder auf Vordermann bringen. Ein Teil des Schnees ist bereits durch die Sonne abgetaut und hat den Boden in Matsch verwandelt - was nur die Schweine freut. Die Zäune der Gehege sind unter der schweren Last zum Teil eingebrochen oder umgestürzt. Ein florierender Rosenbusch an der Hauswand ist ebenfalls dem Eis zum Opfer gefallen. Sie schnappen sich Schaufeln, eine Harke und Besen und machen sich an die Arbeit. David räumt die Wege frei, Malia befreit die Beete von Eis und Matsch und Arie stutzt den Rosenbusch zurecht, in der Hoffnung, dass er in der Frühjahrssonne zu neuer Blüte kommen wird. Die Arbeit ist hart, anstrengend und die noch immer kalte Luft schmerzt in Malias Lunge. Sie schaufelt den Schnee aus den Beeten und lockert die darunter gefrorene Erde auf. Auf dem Markt wird sie später Samen besorgen, um den Sommer über wieder mit frischem Gemüse versorgt zu sein. Denn für Malia steht fest, sie bleibt hier, bis sie einen Erben gefunden hat.

Arie zwickt die erfrorenen, trockenen Äste des Rosenbusches ab, so weit unten, dass nur noch ein kleiner Strauch übrig bleibt. Sie piekst sich dabei ständig mit den Dornen in ihre kalten, zarten Finger. In einer großen Wanne sammelt sie die abgeschnittenen Äste. Sie stutzt und stutzt, doch es scheint nicht weniger zu werden. Die Äste sind so sehr in einander