Rhimmard - Taly Woods - E-Book

Rhimmard E-Book

Taly Woods

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Beschreibung

Malia ist ein 14-jähriges Mädchen, das nach dem Verschwinden ihrer älteren Schwester Arie in eine neue Welt voller Geheimnisse und Magie eintaucht. Eine Welt, die die magischen Geschöpfe vor Jahrhunderten errichtet haben, um sich vor den Menschen zu schützen. So wunderschön, wie keine andere. Malia entdeckt, dass auch sie selbst magische Fähigkeiten besitzt. Inmitten von Hexen, Kriegern und Feen, lernt sie sich als Seherin zu beweisen. Sie findet neue Freunde und ein neues Zuhause bei der mächtigen Seherin Nola. Doch es zieht sie immer wieder zurück zu den Menschen, zu ihrer Familie. Die magische Welt wird seit jeher von der bösen Hexe Lisala bedroht, die, um ihre Existenz für immer zu wahren, die Körper anderer junger Frauen besetzt. Keiner weiß, wie sie aussieht, keiner weiß, ob und wann sie angreifen wird. Die Bewohner von Rhimmard sind gewappnet zu kämpfen und schließlich hängt alles von einer Gruppe Teenagern ab. Können sie Lisala aufhalten? Kann Malia nach Hause zurückkehren? Wird sie ihre Schwester je wiedersehen?

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Seitenzahl: 425

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Inhaltsverzeichnis

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Lyn

Das blaue Licht der Polizeiautos blitzt in den Pfützen der Straßen der Woodworth Avenue. Ein junges Mädchen wird vermisst. Durch die gesamte Nachbarschaft zieht sich seit Wochen eine trübselige Stille und große Sorge. Das Gras im Vorgarten wächst wild, Pflanzen und Büsche sind in der prallen Mai-Sonne vertrocknet. In der Einfahrt liegen ein Longboard und ein Cityroller, die den Weg vor der Garage versperren. Man könnte kaum glauben, dass hier eine fünfköpfige Familie lebt. Die Trauer bildet förmlich eine dunkle Wolke um das Haus.

Malia Pallice ist ein unscheinbares, vierzehnjähriges Mädchen, das mit ihrer Familie in einem kleinen Häuschen am Stadtrand von Chicago wohnt. Ihr Vater Peter arbeitet als Buchhalter in einer renommierten Anwaltskanzlei. Ihre Mutter Stacy versorgt die Familie und hält den Haushalt in Schuss. Normalerweise. Seit acht Wochen sind ihre Eltern außer Gefecht und verlassen kaum das Wohnzimmer. Den ganzen Tag sehen sie sich Nachrichten an und starren auf das Telefon, in der Hoffnung, die Polizei hätte endlich eine gute Nachricht zum Verschwinden ihrer ältesten Tochter Arie. Sie wollte im Wald neben dem Haus joggen gehen und kam von dort nicht wieder zurück. Arie joggte beinahe jeden Tag im Wald, was Malia einfach nicht verstehen konnte. Die Schwestern waren so unterschiedlich, wie sie nur sein konnten. Malia ist die Lässige in der Familie und liebt es zu skaten. Die Wände ihres Zimmer sind mit vielen Skateboards und Caps dekoriert. Es sieht mehr nach einem Jungszimmer aus, als das eines vierzehnjährigen Mädchens. Vermutlich, weil sie auch nur mit Jungs befreundet ist. Sie teilt nicht dieselben Werte wie andere Mädchen in ihrem Alter. Styling, Mode und Beliebtheit gehören nicht zu ihren Interessen. Malia ist ruhig, nachdenklich und mag es, dass die Jungs in ihrem Freundeskreis sie so annehmen, wie sie ist. Sie hasst es, im Mittelpunkt zu stehen und sieht den Mädchen in der Schule lieber dabei zu, wie sie sich dabei zum Affen machen, anderen aufzufallen und zu imponieren. Arie war eine von ihnen. Sie war beliebt, hübsch, offen und gesellig. Sie und ihre Freundinnen waren immer hübsch gerichtet und teilten sämtliche Bilder auf Onlineplattformen. Am Tag ihres Verschwindens jedoch, trug sie kein Handy bei sich. Beim Joggen genoss sie immer den Moment der Einsamkeit. Die Ruhe, die nicht gestört werden konnte. Die Zeit, ihre Gedanken wegtreten zu können. Sie ließ ihr Telefon in ihrem Zimmer. Es war eine der ersten Fragen, die die Polizei stellte. Es wäre besser gewesen, sie hätte es bei sich getragen, als sie verschwand. Vielleicht hätte sie so die Möglichkeit gehabt, Hilfe zu rufen.

Es ist ein verregneter Donnerstagmorgen im Mai. Seit Aries Verschwinden hat Malia kaum eine Nacht durchgeschlafen und ist jeden Tag müde. Noch mit halb geschlossenen Augen steht Malia auf und weckt ihren kleinen Bruder Chase. Sie hebt ihn aus seinem Bett und trägt den verschlafenen kleinen Mann ins Badezimmer. Sie setzt ihn auf den Rand der Badewanne, schnappt sich einen Waschlappen, wäscht ihm das Gesicht mit kaltem Wasser. Anschließend bestreicht sie eine Zahnbürste mit etwas Paste und drückt sie ihm in die Hand. Malia setzt sich neben ihren Bruder und putzt sich selbst ebenfalls die Zähne. Es ist ein Ritual geworden, das die beiden nun seit einigen Wochen jeden Morgen durchleben. Die ersten Tage, nach Aries verschwinden, waren Malias Eltern zwar besorgt, doch sie hatten große Hoffnung, dass ihre Tochter bald gefunden wird. Je mehr Tage verstrichen, desto mehr zogen sie sich zurück. Der Alltag war schließlich nicht mehr zu bewältigen.

Chase wird langsam immer wacher. Er spült sich den Mund aus und geht zurück in sein Zimmer, um sich anzuziehen. Chase ist in der ersten Klasse und freut sich noch auf jeden Tag, an dem er etwas lernen kann. Seine Lehrer sind begeistert von seinem Interesse und seiner Mitarbeit am Unterricht. Malia ist sich sicher, die Freude an der Schule wird ihm noch schnell genug vergehen. Sie hat oft das Gefühl, dass Chase nicht versteht, was passiert ist. Als wäre Arie einfach in den Urlaub gefahren. Erfragt jeden Tag nach ihr, aber niemand hat es bisher übers Herz gebracht, ihm zu sagen, dass sie vielleicht nicht mehr nach Hause kommen wird. Unbeschwerte Kinderaugen. Wie gern wäre Malia jetzt in seinem Alter. Sie erinnert sich gern zurück. Das erste Mal auf einem Skateboard, den ganzen Tag mit dem Rad durch die Nachbarschaft schlängeln und ihre Großmutter besuchen, bei der sie immer ein Zuckerbrot bekommen hat. Heute müsste sie sich wahrscheinlich dabei übergeben. Ihre Großmutter schmierte ihr eine Scheibe Brot mit viel Butter und schüttete gefühlt ein halbes Kilogramm Zucker darauf. Der Alptraum jedes Zahnarztes. Dass ihre Eltern es nicht verboten haben, wundert Malia bis heute. Als Kind hat sie es geliebt.

Malia steht vom kalten Rand der Badewanne auf, spült ihren Mund aus und kämmt ihre langen braunen Haare. Sie geht in ihr Zimmer um ein weißes T- Shirt aus dem Schrank zu ziehen. Dazu eine kurze Jeanshose. Sie stülpt sich eine ihrer zahlreichen Caps verkehrt herum über den Kopf und verlässt ihr Zimmer, um die Pausenbrote zu streichen. Ihre Eltern sitzen wie jeden Tag auf dem grauen Designersofa im Wohnzimmer und sehen die Morgennachrichten. Die Hoffnung, das Telefon würde klingeln oder Arie würde jeden Moment zur Tür hereinkommen und im Wohnzimmer stehen, fesselt ihre Eltern an die Couch. Malia drückt ihren vertieften Eltern einen Kuss auf die Wangen und wünscht ihnen einen guten Morgen. Ihr Vater blickt sie kurz mit seinen traurigen Augen an. Sie geht in die Küche und richtet für sie und ihren Bruder Cornflakes zum Frühstück und Sandwiches für die Pause. Chase hopst die Treppe hinunter und lächelt Malia an. Malia lächelt zurück. Sie liebt ihren Bruder. Das Familienleben vor dem Verschwinden ihrer Schwester fehlt ihr. Das Haus hat sich seither nicht verändert. Aries Schuhe stehen im Flur und ihr Zimmer ist noch genauso unordentlich wie sie es verlassen hat. Die Sorge um ihre Familie, ist das Einzige, das Malia morgens aufstehen lässt und ihr die Kraft gibt, jeden Tag weiterzumachen. Für Malia ist es okay, die Rolle ihrer Mutter vorübergehend zu übernehmen, trotzdem wäre es ihr lieber, sie könnte weiterhin einfach nur das Kind sein. Malia und Chase schultern ihre Rucksäcke über die Regenjacken, schnappen sich Longboard und Roller und fahren gemeinsam durch die nassen Straßen zu Chases Schule. Malias Schule befindet sich nur einige Straße weiter. Jeden Morgen bringt sie ihren kleinen Bruder bis zur Eingangstür und holt ihn dort wieder ab. Chase stellt einen Haufen Fragen, was Malia immer ein bisschen Ablenkung schenkt. Der Schulweg ist im Moment das Schönste an ihrem Tag. Weil sie ihren Bruder begleitet, kommt sie selbst jeden Morgen zu spät zum Unterricht. Ihre Lehrer kennen ihre Lage und lassen ihr die Verspätungen durchgehen. Am Schulgelände angekommen rennt Chase ohne sich zu verabschieden los und stürmt in das Gebäude. Malia bleibt kurz stehen und wartet, bis sich die Türen hinter ihrem Bruder schließen. Dann geht auch sie weiter.

Der Vormittag vergeht nur langsam. In der Pause sitzt Malia mit ihren Freunden an einem Tisch und starrt ihr Sandwich an. Die Jungs unterhalten sich über die neue hübsche Schülerin aus der Parallelklasse. Philipp, ein großgewachsener, blonder Junge aus ihrem engen Freundeskreis hat ein Auge auf sie geworfen. Sie ist wunderschön, hat langes blondes Haar, doch für Malias Geschmack ist sie viel zu überschminkt.

Mike ~ "Frag sie einfach um ein Date"

Philipp ~ "B...bist du... irre? Was, wenn sie nein sagt? Dann blamiere ich mich ja vollends!"

David ~ "Was, wenn sie ja sagt? Sonst bist du doch auch nicht so schüchtern. Was stellst du dich so an?"

Philipp ~ "Malia, du bist doch auch ein Mädchen."

Malia ~ "Ja, ich bin ein Mädchen. Gut erkannt."

Philipp ~ "Sprich du sie für mich an. Und wenn ihr euch unterhaltet, kannst du sie ja mal an unseren Tisch bitten. Und dann lernt sie uns alle ganz zwanglos kennen."

Malia ~ "Du spinnst."

Mike ~ "Wenn sie uns alle kennenlernt, hast du aber leider keine Chance mehr mein Großer!" Mike ist der Mädchenschwarm der Gruppe und das ist ihm auch bewusst.

Philipp ~ "Auf euch ist einfach kein Verlass."

David ~ "Alter, du stehst ja echt auf sie."

Malia ~ "Ich kauf dir einen Schokodrink, dann gehts dir besser."

Malia hat lange nicht gelacht und fühlt sich fast etwas schuldig, als sie bei Philipps beschämtem Getue schmunzeln muss. Ihre Freunde reiten nicht ständig auf dem Verschwinden ihrer Schwester herum. Sie stellen keine Fragen mehr, so wie es die Lehrer und andere Mitschüler tun. Sie stehen ihr wortlos zur Seite. Wenn ihre Freunde da sind, kann sie den großen Stein, den sie Zuhause herumträgt, abgeben.

Nach dem finalen Gong stürmen alle Schüler sofort aus den Klassenzimmern. Malia geht als Letzte hinaus, um nicht im Trubel auf den Gängen unterzugehen. Sie stapft aus dem Klassenzimmer und wirft sich lässig ihren Rucksack über die Schulter. Wortlos quetscht sie sich im Gang an ihren Mitschülern vorbei und macht sich auf den Weg, um ihren Bruder abzuholen. Der Regen hat inzwischen aufgehört und die Sonne kämpft sich durch die letzten schwarzen Wolken. Chase setzt sich jeden Nachmittag vor dem Schulhaus auf einen großen Stein und wartet auf seine Schwester. Die Direktorin steht dabei stets vor der großen Eingangstür und beobachtet Chase, bis Malia ihn geholt hat. Zu groß ist ihre Sorge, dass auch ihm etwas zustoßen könnte. Einen weiteren derartigen Schicksalsschlag würde die Familie nicht überstehen. Malia sitzt in ihrem Zimmer und bindet sich vor einem kleinen Spiegel an der Wand ihre Haare zu einem hoch sitzenden zerzausten Knoten zusammen. Den ganzen Nachmittag hat sie auf ihrem Zimmer verbracht und Musik gehört, während sie ihre Hausaufgaben erledigt hat. Sie steht auf und geht die Treppen hinunter in die Küche. Chase sitzt nebenan am Esstisch. Er bastelt an einem neuen Roboter-Modell. Für seine sechs Jahre ist er bereits sehr schlau und fasziniert von Technik. Es ist halb sieben abends. Malia knurrt der Magen. Sie holt zwei große Töpfe aus dem Küchenschrank und versucht sich an Pasta mit einer Soße aus Tomaten und Zucchini. Malia hat nie wirklich gelernt zu kochen. Ihre Interessen richten sich nicht hin zur Haushaltsführung. Daher gab es seit Tagen meist nur Pizza oder Makkaroni mit Käse. In der ersten Zeit kamen jenen Tag Nachbarn, um nach der Familie zu sehen. Einige von ihnen haben dabei auch eine große Schüssel Lasagne oder einen Braten vorbei gebracht. Das reichte meist für zwei, drei Tage. Doch inzwischen kümmert es niemanden mehr. Ihre Mutter ist nicht in der Lage, für die Familie zu sorgen. Sie weint den ganzen Tag.

Wild mischt Malia alle Zutaten in einem Topf zusammen und verwendet mutwillig alle möglichen Gewürze. Sie wird Tag für Tag mutiger und hat sich und Chase bisher noch nicht mit ihrem Essen vergiftet. Während die Nudeln im blubbernden Wasser kochen, sieht sie ihrem Bruder besorgt zu. Er hatte mit Arie nie ein sehr inniges Verhältnis. Der Altersunterschied ist einfach zu groß. Zwischen ihnen liegen zehn Jahre Altersunterschied. Nach zwei Töchtern hatten ihre Eltern recht spät entschlossen, noch ein weiteres Kind zu bekommen.

Malia war etwa in seinem Alter, als ihre Mutter ihnen den Nachwuchs verkündete. Sie war sehr aufgeregt und hat ihm sofort eine Ecke in ihrem Zimmer frei geräumt, dabei war noch genug Platz im Haus, sodass Chase von Geburt an sein eigenes Zimmer haben konnte. Sie wollte ihn einfach bei sich haben. Es war, als würde sie ein neues Spielzeug bekommen. Doch als er dann geboren war, konnte sie kaum etwas mit diesem kleinen, zerbrechlichen Säugling anfangen. Sie hatte die Idee, er würde nach Hause kommen und sofort mit ihr spielen können. Wie ein Welpe. Dass er so klein war und erst noch wachsen musste, passte ihr so überhaupt nicht.

Malia erschrickt, als sie plötzlich durch ein lautes Zischen aus ihren Gedanken gerissen wird. Das Wasser kocht über und überschwemmt die komplette Herdplatte. Schnell nimmt Malia den Topf zur Seite und trocknet alles vorsichtig ab. Fast hätte sie sich dabei verbrannt. Sie stellt die Hitze niedriger ein und platziert den Topf für die restliche Zeit darauf. Die Eieruhr zeigt noch vier Minuten an. Malia richtet die Teller für sie und Chase auf den Esstisch, zwei weitere behält sie für ihre Eltern direkt in der Küche und schöpft ihnen etwas Pasta mit Soße und dazu ein paar Blätter Salat. Vielleicht haben sie ja heute Hunger. Sie essen kaum noch etwas. Malia stellt die Teller auf dem Wohnzimmertisch ab und wartet einen Moment, ob ihre Eltern zugreifen. "Danke Liebes" haucht ihr Vater, aber die Teller bleiben unberührt. Traurig nimmt Malia die Töpfe vom Herd und setzt sich zu Chase an den großen Küchentisch. Ihrem Bruder muss die Pasta wohl schmecken. Er verschlingt sie, ohne zu kauen. So schlecht schmeckt es auch Malia nicht. Sie wird immer besser im Kochen. Allerdings fehlt ihr auch nach wie vor der Appetit. Das Verschwinden von Arie belastet die ganze Familie.

Als ihr Teller leer ist, sieht sie noch einmal nach ihren Eltern. Sie sitzen unverändert wie hypnotisiert auf dem Sofa. Das Essen haben sie nicht angerührt. Stacy blickt ihr mittleres Kind an. Malia erkennt die tiefe Erschütterung in den Augen ihrer Mutter.

Malia ~ "Ich habe euch extra Essen gemacht" Sagt sie mit einem dicken Kloß im Hals. "Bitte esst etwas. Es wird doch kalt".

Stacy ~ "Danke, mein Schatz."

Sie nimmt die Gabel in die Hand und zwingt sich wenigstens eine Nudel zu essen.

Stacy ~ "Das schmeckt sehr gut, Liebes. Irgendwann musst du mir zeigen, wie du das gemacht hast" versucht Malias Mutter sie aufzumuntern. Dabei legt sie die Gabel jedoch wieder zur Seite.

Malia geht zurück in die Küche und spült den Topf und die leeren Teller ab. Ihren Eltern lässt sie die Mahlzeit noch stehen. Vielleicht würde sie ja später noch der Hunger drängen.

Draußen ist es bereits dunkel geworden. Malia schnappt sich Chase und bringt ihn ins Bett. In seinem Zimmer hängen überall Bilder von Sternen und Milchstraßen. Wenn er groß ist, wolle er Wissenschaftler werden. Das sagt er, seit er sprechen kann. Die Sterne leuchten, wenn man das Licht ausschaltet. Chase zieht rasch seinen Schlafanzug an und kuschelt sich unter seine Decke. Er liest seiner Schwester jeden Abend eine Geschichte vor, um das Lesen zu lernen. Für sein junges Alter ist er dabei schon wirklich gut. Fleißig übt er jeden Abend. Die Geschichte handelt von Drachen und den Mythen des Mittelalters. Jeden Abend liest Chase eine Doppelseite. Es wird noch eine Ewigkeit dauern, bis er das Buch fertig gelesen hat. Dafür, dass es ein Kinderbuch ist, hat es unglaublich viele Seiten. Malia ist so erschöpft von den anstrengenden vergangenen Tagen, dass sie noch während der Geschichte in Chases Bett einschläft. Chase liest einfach weiter seine Seiten zu Ende. Er genießt es nicht allein sein zu müssen.

Am folgenden Freitagmorgen wird Malia durch ein heftiges Klopfen an der Haustür geweckt. Im nächsten Moment hört sie ihre Mutter verzweifelt aufschreien. Sie muss sich kurz orientieren, bis sie realisiert, dass sie nicht in ihrem Zimmer ist. Chase schläft noch tief und fest. Sie wischt sich den Schlaf aus den Augen und geht zur Treppe. Die Stimmen aus dem Wohnzimmer hallen die Stufen hinauf. Die Polizei ist gekommen. Es gibt wohl Neuigkeiten von Arie. Malia läuft angespannt die Treppe ein Stück hinunter und setzt sich auf eine der Stufen. Sie sieht ihre Mutter auf dem Sofa sitzen und weinen. Ihr Vater ist empört und läuft nervös im Wohnzimmer auf und ab.

Officer ~ "...Wir haben den gesamten Wald abgesucht und auch das Gelände den Fluss hinunter. Es gibt leider keine Spur Ihrer Tochter und es sind keinerlei Hinweise eingegangen. Wir müssen davon ausgehen, dass sie in den Fluss gestürzt und ums Leben gekommen ist. Es tut mir leid, Ihnen die Nachricht überbringen zu müssen Mr. und Mrs. Pallice, aber wir werden die Kräfte bei der Suche nach Ihrer Tochter nun reduzieren. Es gibt kein Lebenszeichen. Nach so vielen Wochen allein, vermutlich verletzt, ist die Wahrscheinlich sehr gering, dass die überlebt hat. Ich möchte Ihnen mein aufrichtiges und tiefes Beileid aussprechen."

Peter ~ "Was fällt Ihnen ein, unsere Tochter einfach für tot zu erklären!? Auf Ihr Beileid kann ich verzichten."

Die Wut in seiner Stimme ist deutlich spürbar und dringt Malia bis ins Mark.

Officer ~ "Wir erklären ihre Tochter nicht für tot, Mr. Pallice. Mir müssen nur unsere Ressourcen schonen."

Peter ~ "Ressourcen schonen....?"

Die Stimmen verzerren sich in Malias Kopf. Sie fühlt, wie ihr das Blut in den Adern stockt und ihr Herz einen Aussetzer macht. Arie tot? Das kann nicht sein. Das darf nicht sein! Sie kann nicht einfach weg sein! Malia fühlt sich schwindelig. Sie verliert die Orientierung. Ihr Herz pocht so laut, dass sie es hören kann. Ihr wird zugleich warm und kalt. Sie fühlt sich wie versteinert. Da entdeckt ihre Mutter das Mädchen auf der Treppe sitzen.

Stacy ~ "Malia!" Sie ruft erschrocken.

In diesem Moment erwacht Malia aus ihrer Starre, blickt ihre Eltern und die Polizeibeamten im Wohnzimmer wortlos an und rennt mit tränenüberlaufenem Gesicht von der Treppe hinunter durch die Eingangstür und verlässt das Haus. Sie rennt. Ihre Gedanken kreisen sich und sie kann nicht begreifen, was gerade passiert ist. Sie will einfach nur rennen. Die kalten Steine in der Kiesauffahrt stören sie nicht unter ihren nackten Füßen. Sie spürt nichts außer Trauer, Verzweiflung und Hass. Sie rennt die Einfahrt hinab in Richtung des Waldes, in dem Arie vermisst gegangen ist. Der Wald ist nicht weit von Malias Zuhause entfernt und dennoch kommt ihr der Weg gerade endlos vor. Sie rennt die Wiese entlang, durch Sträucher und Büsche. An Bäumen vorbei bis zum Fluss. Der Fluss verläuft etwas tiefer, als der Wald. Malia klettert an den Wurzeln hinab zum Wasser. Dort soll Arie hineingefallen sein? Das ist unmöglich! Arie war doch immer so vorsichtig und der Fluss liegt fernab vom Weg! Außerdem kannte sie den Wald besser als jeder andere. Jede Wurzel, jeder Strauch, jede noch so kleine Blume war ihr bekannt. In dem Fluss waren sie oft als Kinder schwimmen, er ist nicht gefährlich. Die Strömung ist kaum merklich. An dem Baum neben ihr hängt noch immer das zerrupfte Tau, das ihr Vater vor fast zehn Jahren dort für sie aufgehängt hat. Daneben hängen morsche Bretter ihres alten Baumhauses in den Zweigen einer massiven Eiche. Das Wasser ist eiskalt, als Malia ihren Fuß hinein streckt. Ihr Atem geht so tief, dass sich ihre Lungen komplett damit ausfüllen. Ihr Kopf ist hingegen vollkommen leer. Kein Gedanke durchfährt sie. Sie schließt ihre Augen und springt ins Wasser, um sich regungslos vom sanften Strom treiben zu lassen. Mit dem Blick zum Himmel hält sie sich an den Wolken fest, reglos auf der Wasseroberfläche. Minuten vergehen. Sie fühlt Aries Nähe, als würde sie sie tragen. So nah wie bereits seit langer Zeit nicht mehr. Das Wasser ist kalt, doch in diesem Moment behaglich.

Was tut sie da? Soeben haben ihre Eltern bereits eine Tochter verloren, sollen sie nun eine weitere auf dieselbe Art verlieren? Malia schwimmt, doch die Strömung wurde inzwischen stärker und das Wasser tiefer. Mit aller Kraft versucht sie, den Rand des Flusses zu erreichen, um dort eine Wurzel zu erwischen, der Strom ist zu stark. Immer wieder wird sie unter Wasser gezogen. Das laute Rauschen durchdringt sie und die Stromschnellen treiben sie ab. Es gibt nichts, woran sie sich festhalten könnte und das Wasser ist zu stark, als dass sie dagegen ankämpfen könnte. Sie war früher oft in diesem Wald, doch erinnert sie sich nicht, dass der Fluss so reißend war. Ebenso erinnert sie sich nicht an den Wasserfall, auf den sie inzwischen zusteuert. Sie war dumm zu glauben, dass sie die Gewalt des Wassers bekämpfen kann. Ihre Eltern werden einem dramatischen Schicksal ausgesetzt. Ihre große Tochter verschwindet spurlos und ertrinkt im eiskalten Wasser. Und aus Fahrlässigkeit und Übermut verlieren sie nun auch ihre zweite Tochter auf dieselbe Art. Was musste Arie nur durchmachen auf diese Weise zu sterben? Malia schließt ihre Augen, widmet ihre letzten Gedanken an ihre Familie und fällt.

Dos

Als sie ihre Augen öffnet, hört sie eine seltsam Stimme. Doch sie wird so stark von der Sonne geblendet, dass sie nichts sehen kann. Was ist passiert? Sie lebt? Das ist unmöglich. Ihre Glieder schmerzen, als hätte sie am ganzen Körper Prellungen. Malia dreht sich über ihre Schulter auf den Bauch und blickt in den Wald. Er sieht anders aus als vorher. Die Pflanzen sehen vertrocknet aus. Riesige weiße Blüten reckten sich wohl einst zur Sonne; doch nun verlieren sie ihren Glanz im Schatten der Bäume. Malia versucht aufzustehen. Sie fühlt sich sehr schwach. Ihre Kleidung ist nass und so schwer, dass sie von ihr zu Boden gezogen wird. Es gelingt ihr nur langsam sich aufzurichten. Sie sieht sich um und wird überwältigt. Imposante Mammutbäume ragen zum Himmel empor. An ihnen hängen Äste wie Lianen. Der Boden ist so übersät mit Sträuchern und abnormen Blumen, dass Malia keinen Weg in den Wald erkennen kann. Sie spürt noch das kalte Wasser, das wellenartig an ihren Füßen kitzelt, die auf einem schimmernden weißen Stein stehen, der weit in den Fluss ragt. Eine große Steinplatte neben der anderen bilden eine Art Flussbett. Der Fluss, der eben noch so reißend war, ist nun ganz klar und still. Nicht weit weg sieht Malia den Wasserfall, von dem sie eben gestürzt ist. Allerdings liegt der obere Teil des Wasserfalls in einem Nebel, den Malia so noch nie zuvor gesehen hat. Im Wasser entdeckt sie ungewöhnlich große Fische. Auf der Oberfläche tanzen Libellen. Ab und an springt ein Fisch aus dem Wasser und reißt eine der Libellen mit sich unter die Wasseroberfläche. Ist es wirklich ein Fisch oder eher ein Drache? Die Kreatur hat eine lange Flosse, flügelähnliche Seitenflossen und am Maul sechs bartartige Haare herabhängen. Ein Drachenfisch. Das Wasser ist so klar, dass sie jedes Detail sehen kann. Die Fischen scheinen eher zu schweben, als zu schwimmen.

Wo ist sie hier? Sie hat diesen Ort noch nie zuvor gesehen. Ihr hat auch niemand hiervon berichtet. Arie war so oft im Wald, sie hätte ihr von diesem seltsamen Ort erzählt, wenn sie ihn gesehen hätte. Sie hatten immer ein sehr gutes Verhältnis und als Kinder waren sie jeden Tag zusammen im Wald. Arie ist nur zwei Jahre älter als Malia. Sie haben alles miteinander geteilt, sich alles erzählt. Es gab nie Geheimnisse zwischen den beiden.

Im angrenzenden Gebüsch raschelt es und eine nuschelnde Stimme nähert sich ihr. Erleichtert, jemanden um Hilfe bitten zu können, wendet sie sich zum Wald. Sie vermutet Wanderer oder Jäger, die sie hoffentlich nach Hause bringen werden. Unter den vertrockneten Blumen erscheint eine zwergige, knubbelige Frau mit zerzausten, weißen Haaren. Die Frau sieht weder nach Wanderer, noch nach Jäger aus. Sie trägt ein graues Leinengewand mit orangefarbenen Blumenverzierungen. Die Frau blickt Malia prüfend an.

Malia ~ "Entschuldigen Sie bitte, können Sie mir helfen? Wo bin ich hier? Können Sie mir zeigen, wie ich wieder nach Hause komme?"

Die Frau tritt näher und zieht Malia an ihrer Kleidung. Dabei schüttelt sie den Kopf. Malia schreckt zurück, rutscht dabei fast von dem nassen Stein. Die Zwergenfrau nimmt Malias Hand und legt sie auf ihre Stirn. Ihre Hand ragt fast bis über ihren gesamten Kopf, so klein ist sie. Ihre Haut fühlt sich wachsartig an und plötzlich kribbelt Malias Handfläche. Blitzartig schießen Bilder in ihren Kopf. Sie sieht die Frau mit weiteren Zwergen in einem Dorf aus Felsenspalten und einigen Zwergenkindern. Glühwürmchen fliegen umher, erhellen den Wald, der im Schein ihrer Lichter imposant leuchtet und glitzert. Die Frau streift durch Felder, streicht über Blüten und Knospen, die sich dadurch in ihrer vollen Schönheit entfalten. Erschrocken zieht Malia ihre Hand zurück. Die Frau neigt ihren Kopf zur Seite.

Malia ~ "Dein Name ist Proota" flüstert sie zur Zwergengestalt. "Wo bin ich hier? Wer sind die anderen Zwerge?"

Ihre Handfläche kribbelt noch immer, als hätte sie gerade einen Stromschlag bekommen. Was war das? War es wirklich? War es real?

Proota ~ "Zwerge?" stößt sie empört auf. "Ich bin eine Galuma! Ich schütze den Wald und kümmere mich um die Blumen. Dummes Kind. Weist du gar nichts? Weist du nicht, wie die Gezeiten wechseln? Das passiert nicht von selbst! Was hat man dir beigebracht? Komm mit mir. Du wirst bereits erwartet".

Malia ~ "Erwartet? Von wem?"

Doch Proota ist bereits vorangegangen. Die Galuma ist schnell, trotz ihrer kurzen Beine.

Malia ~ "Warte!" ruft sie noch und rennt der aufgebrachten Proota hinterher.

Sie zwängt sich unter den Blumen hindurch, um Proota folgen zu können. Die Galuma kümmert sich also um die Blumen? Hat Proota gerade Urlaub oder weshalb sehen die Blüten alle tot aus? Diesem Wald fehlt Wasser! Und das, obwohl er direkt am Fluss liegt. Ihm fehlt es an Liebe. Man muss keinen besonders grünen Daumen haben, um das zu erkennen. Zwischen den weißen Blumen ragen unzählige vertrocknete, dunkelrote, kelchförmige Pflanzen empor. Die Kelche sind fast so groß wie Malia selbst. Malia hofft nur, dass diese Blumen keine Fleischfresser sind, sie wäre sonst bestimmt ein appetitlicher Happen in dieser Dürre. Nach einigen Metern öffnet sich das Blumenmeer und Malia erblickt schmale Wege zu den Felsenspalten, die sie zuvor in Prootas Gedanken gesehen hat. Blätter und Äste knacken unter ihren kalten Füßen, als sie durch den Wald stapft. Das Wachstum an Blumen und Pflanzen schmückt alte, zerfallene Steinruinen, Säulen und Mauern. Proota führt Malia eine schmale Treppe aus geflochtenen Wurzeln und Steinen hinauf zu einer der Ruinen auf einem Hügel. Durch einen großen Torbogen hindurch erreichen die beiden ein Gemäuer aus alten, moosigen Steinen. Überall ragen Lianen von den Bäumen, die wie Girlanden zwischen den Ruinen hängen. Auf den Bäumen klettern Äffchen. Sie schwingen sich von Ast zu Ast, hoch oben in den massiven Bäumen. Auch am Boden huschen die Tierchen umher und sammeln stachelige Beeren von den Sträuchern. Die Äffchen sehen anders aus, als Malia es gewohnt ist. Doch nichts hier ist, wie sie es kennt. Mal abgesehen davon, dass es in Chicago keine Affen in freier Wildbahn gibt, haben diese hier buschige Ohren und einen buschigen Schwanz, wie Füchse.

Das letzte Mal, als Malia sich so verloren gefühlt hat, war, als sie am Flughafen ihre Familie verloren hatte, als sie acht Jahre alt war. Sie wollten in den Ferien nach Seattle fliegen und Malia war sehr aufgeregt. Ihre Augen waren überall. So viele verschiedene Menschen. Die einen kamen aus dem Urlaub, die anderen waren wie sie auf dem Weg dorthin. Geschäftsleute mit dem Handy in der einen und dem Trolli in der anderen Hand. Die große Halle des Flughafens war gleichermaßen mit Hektik, sowie mit Ruhe gefüllt. Plötzlich öffnete sich eine Tür und wie die Enten kamen einige Flugbegleiter, die ihrem Piloten in einer geraden Reihe folgten. Pilot sein stellte sie sich damals als Traumjob vor. Man sieht die Welt, gleitet hoch über den Wolken, ist von den verschiedensten Menschen mit den verschiedensten Geschichten umgeben und kann hinfliegen, wohin man möchte. Genau das will ich auch mal werden, dachte sie sich damals. Doch ihr Flug hatte Turbulenzen wegen eines Gewitters und damit war dieser Traum schnell wieder aus ihrem Kopf vertrieben. Sie war sich damals sicher, sie könne nie so starke Arme haben, um ein ganzes Flugzeug im Sturm festzuhalten.

Malia ~ "Was sind das für Tiere?"

Proota ~ "Meine Liebe, du kennst sie nicht? Weist du denn gar nichts?" Proota scheint etwas verärgert zu sein. "Das sind Wuppies. Sie sehen süß aus, aber leg dich lieber nicht mit ihnen an."

Proota führt Malia über eine Lianenbrücke zu einem Eingang. Dort angekommen, verbeugt sie sich kurz vor ihr und verschwindet mit einem kurzen Blinzeln. Malia erschrickt. Sie blickt nervös umher. Proota ist tatsächlich verschwunden. Sie ruft ihren Namen, doch davon schreckt sie nur die Wuppies auf. Mit weit aufgerissenen Mündern geben sie grelle, schreiende Laute von sich. Malia kann sich bereits denken, wovor Proota sie gewarnt hat. So süß die Wuppies wirken, ihre Schreie sind schmerzhaft und ihre langen Reißzähne wahrscheinlich tödlich. Was für ein trostloser, liebloser Ort. Malia will nach Hause.

Sie steht vor einem gigantischen Tor aus ineinander verschlungenen Baumwurzeln. Sie weis nicht, wie ihr Weg weiter gehen soll. Erwartungsvoll legt sie ihre ausgestreckte Hand auf die Wurzeln. Mit knarrenden Geräuschen bewegen sich die Wurzeln tatsächlich und schlängeln sich auseinander. Ein kleiner Spalt öffnet sich vor Malia. Gerade so groß, dass sie sich durchzwängen kann. Malia tritt ein und findet sich in einem Innenhof wieder, der von der Wurzelpracht komplett überdacht wird. In der Mitte steht ein prunkvoller Brunnen, in dem leuchtend blaues Wasser plätschert. Der erste schillernde Anblick, der Malia bisher gewährt wird. Der Brunnen ist mit vielen Verzierungen geschmückt. Sie beschreiben eine Art Geschichte. Interessiert lässt Malia ihre Hand über die Muster fahren. Sie zeigen die geheimnisvollen Fische und den Wasserfall. Leider sind die Bilder bereits so verblichen und abgebröckelt, dass Malia die Muster nicht mehr genau erkennen kann. Oben aus dem Brunnen ragen vier der Fische aus einer Welle empor. Aus ihren Mäulern sprudelt das leuchtende Wasser in weichen Tropfen heraus. In dem kreisförmigen Hof stehen vier gegenüberliegende, zerbrochene Steinbänke. Ansonsten befindet sich Malia ganz allein hier. Sie sieht sich nach einer Lösung fragend um, doch entdeckt keinen weiteren Durchgang. Auch keine Treppe, die sie erklimmen könnte. Das Wurzeltor schließt sich wieder und sperrt Malia in den Hof ein. Sie versucht noch durch das Tor zu entkommen, doch sie schafft es nicht rechtzeitig. Weinend sinkt Malia vor dem Tor zu Boden und lehnt sich an den Wurzeln an.

Es ist, als würde sie die vergangene Stunde endlich realisieren. Wo ist sie? Was ist passiert? Ist all das hier echt? Wird sie wieder nach Hause finden? Wird sie hier wieder entkommen? Wo ist Proota hingegangen? Wieso hat sie sie hier allein gelassen? Ist Arie dasselbe passiert? Ist sie hier irgendwo? Malia denkt an ihre Eltern. An Arie. An Chase. Und an ihr ganzes, langweiliges Leben, das sie sich gerade jetzt mehr als alles andere zurück wünscht. Ihr entfährt ein schmerzerfüllter, verzweifelter Schrei, der in ihren Tränen verstummt. Ein Wuppy klettert zwischen den Wurzeln hindurch in den Innenhof zu Malia. Es blickt sie eine ganze Weile lang an und steuert dann direkt auf den Brunnen in der Mitte des Hofes zu. Malia mustert es interessiert. Welch geheimnisvolles Wesen.

Malia ~ "Kannst du sprechen?"

Das Wuppy reagiert nicht auf Malias Rufe. Es klettert auf den Rand des Brunnens und verweilt dort. Malia erhebt sich und nähert sich ihm langsam an. Sie will das wunderbare Geschöpf nicht erschrecken oder verjagen. Außerdem hat Proota sie vor den Wuppies gewarnt. Nur wenige Meter entfernt dreht sich das Wuppy zu Malia und gibt knackende Laute von sich, als würde es mit ihr sprechen wollen. Malia streckt ihre Hand aus. Das Wuppy spiegelt ihre Bewegung und streckt ihr nun auch seine Hand entgegen. Malia nähert sich immer weiter an, bis ihre Handfläche die des Wuppies berührt. Sie erwartet wieder die Übertragung von Bildern, wie es bei Proota war, empfängt aber nichts.

Die Hand des Wuppies ist warm und sehr klein. Sie entdeckt lange Nägel an den Fingerspitzen des kleinen Fuchsäffchens. Vorsichtig nimmt Malia ihre Hand zurück und senkt sie. Das Wuppy zieht die seine ruckartig zu sich. Es blickt Malia eindringlich an. Plötzlich unterbricht es die Stille und gibt einen lauten grellen Schrei von sich, dass Malia sich vor Schmerz die Ohren zuhalten muss. Sie schreckt ängstlich zurück, als sie die Reißzähne des bislang so süßen Äffchens erblickt. Der Schrei des Wuppies lässt sie erstarren. Er lähmt sie regelrecht. Das Wuppy rennt wild kreisend im Innenhof umher. Es klettert die Wurzeln hinauf, springt wieder ab und umkreist Malia. Diese kann ihren Blick nicht von dem Äffchen abwenden und dreht sich bestimmt vier Mal um ihre eigene Achse im Kreis. Immer wieder weicht sie dem Wuppy aus. Es springt auf den Brunnen und rennt wieder zurück auf die Wurzeln. Malia fühlt sich schwindelig und bemerkt dabei nicht, dass sie sich immer weiter dem Brunnen nähert. Sie erschrickt sich an dem umher rennenden Wuppy so sehr, dass sie plötzlich rücklings in den Brunnen fällt. Schon wieder...

Das Wasser ist angenehm warm und sie sinkt wie ein Stein immer tiefer den Brunnen hinab. Ein Strom zieht sie weiter und Malia versucht nicht dagegen anzukämpfen. Vielleicht ist das der Weg, um sie aus ihrem Traum zurück in die Wirklichkeit zu führen. Das hier kann nicht real sein. Entweder ist sie tot, oder dieser Sog holt sie zurück nach Hause. Als sie auftaucht, ringt sie nach Luft. Sie findet sie sich in einem kleinen See wieder, der in einer unterirdischen Höhle liegt. Weder tot, noch Zuhause. An einer weißen Sandbank wird sie von sieben Gestalten empfangen. Eine davon ist etwas pummelig und klein. Die anderen sechs sind groß gewachsen und sehr schlank. Ihre Gesichter sind zart. Einige haben spitze Ohren und Flügel, die prunkvoll aus ihren Schulterblättern ragen. Malia steigt Schritt für Schritt aus dem Wasser, nähert sich der weißen Sandbank mit den geheimnisvollen Gestalten.

Tris

Die Frau in der Mitte ergreift das Wort ~ "Wir haben dich bereits erwartet."

Noch jemand, der sie erwartet hat, denkt Malia sich. Die Frau trägt ein prunkvolles Kleid aus großen Blütenblättern und Spitze. Ab der Taille bauscht sich ein langer Rock aus roten Blüten. Vorn endet er an den Knien, hinten liegt er wie eine leichte Schleppe auf dem Boden auf. Und obwohl der Stoff durch die großen Blüten schwer erscheint, so wirkt er als würde er knapp über dem Boden schweben. Die Korsage des Kleides bildet einen herzförmigen Ausschnitt und scheint fast durchsichtig zu sein. Sie wird von Lianenbändern gehalten, die eng um den Körper gewickelt sind und nach oben ein verschlungenes Kragengestellt bildet, das sich um ihren Hals schmückt. Ihre blauen Haare sind nach oben gesteckt und mit kleinen weißen Blüten verziert. Aus ihrem Rücken ragen schimmernde Feenflügel, die sich sanft auf dem Kleid ablegen.

Malia ~ "Wer sind Sie? Und wie konnten Sie mich erwarten?"

Frau ~ "Mein Name ist Karima. Ich habe dich gesehen. Du bist spät dran. Das Schuljahr ist schon fast zu Ende. Folge mir!"

Schuljahr? Ihr reicht schon die Schule Zuhause. Wieso sollte sie hier noch zusätzlich zur Schule gehen? Sie ist doch nicht verrückt geworden. Das glaubt sie zumindest. Wer weiß schon, was passiert ist. Sie könnte durchgedreht sein und eine Phantasie in ihrem Kopf abspielen. Sie könnte eine Kopfverletzung haben. Schließlich ist sie einen Wasserfall hinuntergestürzt. Sie könnte auch Tot sein und dies ist das Nirvana. Je tiefer ihre Gedanken gehen, desto sicherer ist sich Malia: Sie muss halluzinieren.

Karimas Begleiter blicken Malia an und gewähren ihr mit einer dezenten Handbewegung den Vortritt. Die Gestalten tragen alle eine Art Uniform. Ein Gewand aus Seide, das mit verblüffender Leichtigkeit den Körper umschmiegt. Malia reiht sich ein und folgt Karima gespannt. Durch einen Felsspalt verlassen sie die Tiefen der Höhle. Je weiter sie gehen, umso größer wird der Spalt und formt sich immer mehr zu einem hohen, mit Verzierungen und Säulen geschmückten Gang. Die Säulen sehen aus wie die der Ruinen draußen im Wald. Moosbewachsen, kalt und kahl. Der Gang ist menschenleer - und wuppyleer. An den Seiten reihen sich breite, schwere Holztüren. Karima öffnet eine der Türen und tritt ein.

Karima ~ "Malia ist eingetroffen", sagt sie zu einem kleingewachsenen Mann mit lieblichem Klang in ihrer Stimme.

Professor ~ "Nimm Platz, nimm Platz, meine Liebe!"

Der kleine Mann ähnelt Proota, nur, dass er viel höflicher ist. Er scheint ebenfalls ein Galuma zu sein. An Malias Hand führt er sie an einen freien Tisch. Der Galuma verbeugt sich vor Karima und sie verlässt lächelnd das Zimmer.

Professor ~ "Schüler, das ist Malia. Sie ist eben erst in Rhimmard eingetroffen und wird noch viele Fragen haben. Seid nett zu ihr und kümmert euch bitte ein bisschen um sie. Ich bin Mr. Todle, Liebes, ich unterrichte Naturkunde und Tränke. Nun, dann geben wir dir erst einmal trockene Kleidung."

Mr. Todle zückt einen dünnen Ast aus seiner Tasche, der aussieht wie ein krummer Zauberstab. Er tippt damit auf Malias linke Schulter. Zwei Mal. Dann blinzelt er kurz und Malias Kleidung windet sich eng um ihren Körper. Sie wringt sich aus, bis ihre ganze Kleidung schließlich keinen Tropfen Wasser mehr enthält. Das Gefühl ist beengend und kurz hat Malia Angst, dass sich auch ihr Körper mit ihrer Kleidung auswringt. Malia setzt sich lässig in den alten, klapprigen Stuhl, der für heute ihr Platz sein wird.

Mr. Todle ~ "Fahren wir fort."

Der Galuma dreht sich zu seinen vielen Tafeln, die hinter einem Pult aufgereiht sind und kritzelt weiter an einem Bild, das verschiedene Pilze darstellt. Er hat eine tiefe, kratzige Stimme und einen leichten, lispelnden Sprachfehler. Trotz ihrer akustisch bedrohlichen Kraft ist seine Stimme sehr eindringlich und wirkt irgendwie beruhigend. Malia sieht sich im Klassenzimmer um und mustert die anderen Schüler. Einige von ihnen haben Flügel, wie Karima. Andere sehen aus wie normale Menschen, wie Malia. Die Mädchen tragen hauptsächlich Kleider aus Blumen und Blättern, die Jungs Hosen aus Leder und Hemden aus Leinen. Für Malia wäre das alles viel zu kitschig. Das Mädchen, das neben Malia sitzt, trägt einen weißen Rock, der aussieht, als würden sich unzählige Pusteblumen um sie schlingen. Sie hat braune, kurze Haare und kirschrote, glänzende Lippen. Malia trägt ihre schlabbrigen Klamotten vom Vortag und wird von den anderen Schülern skeptisch gemustert. Sie tuscheln. Bevor sie neben ihrem kleinen Bruder eingeschlafen ist, hatte sie sich nicht mehr umgezogen. Es wäre aber auch egal gewesen, denn ihr Style fällt hier definitiv auf.

Das Mädchen mit dem Pusteblumenrock flüstert zu Malia ~ "Hey! Ich heiße Fili. Schön, dich kennen zu lernen!" Sie lächelt Malia aufgeregt an.

Mit einem coolen Kopfnicken entgegnet sie ihr ~ "Malia" und schenkt ihre Aufmerksamkeit wieder Mr. Todle.

Malia tippt gelangweilt mit ihren Fingern auf ihrem Tisch, während sie versucht, Mr. Todle zu folgen. Er redet von Pilzen mit komischen Formen und Namen, die Malia sich nicht merken kann. Einige der Pilze haben wohl verschiedene Fähigkeiten, die die Schüler wissen sollten. Malia wirft ihren Kopf gelangweilt in den Nacken. Wann ist dieser Albtraum endlich vorbei? Sie will einfach nur nach Hause. Sie muss für Chase und ihre Eltern da sein. Sie kann hier nicht einfach so herumsitzen und einem Zwerg zuhören, der von komischen Pilzen philosophiert. Kann sie nicht einfach wieder gehen? Wer würde sie daran hindern? Kann ein Zwerg mit einem Zauberstab sie aufhalten? Den Ausgang wird sie wohl finden und der Weg zum Wasserfall sollte nicht allzu weit sein. Sie muss nur aufpassen, dass sie die Wuppies nicht verschreckt. Wie sie her kam, so wird sie auch wieder zurückkommen. Klingt doch logisch. Malia steht zögerlich auf und erhebt sich von ihrem Stuhl. Soll sie heimlich hinausschleichen, oder zeigt sie Anstand und verabschiedet sie sich? Sie beschließt, den Raum ohne großes Aufsehen zu verlassen und schleicht sich Richtung Tür, als Mr. Todle gerade die Zeichnung einer weiteren Pilzsorte an der Tafel anfertigt. Als sie den Türknauf berührt, hört sie ein Räuspern.

Mr. Todle ~ "Wo gehen Sie denn hin, Ms. Malia? Langweile ich Sie?"

Malia ~ "Es tut mir leid, Mr. Todle, aber ich muss dringend wieder nach Hause!" Malia stürmt nach diesen Worten aus dem Klassenzimmer.

Alle Schüler sind still und blicken verdutzt zur Tür. Mr. Todle folgt ihr. Er ruft ihr etwas nach, sie kann es in ihrem Eifer aber nicht mehr verstehen. Sie hat die Orientierung verloren und weis nach dem großen Gang in dem sie vorhin zum Klassenzimmer geführt wurde nicht weiter. Der Spalt aus dem sie kam ist nicht zu sehen. Malia folgt ihrem Bauchgefühl. Sie stürmt den Gang entlang und biegt einige Male in weitere Gänge ab, doch jeder der Gänge sieht exakt so aus wie der vorherige. Läuft sie im Kreis?

Schnaufend bleibt sie an einer Kreuzung stehen. Sie betrachtet den linken Gang, dann den rechten. Dann wieder den linken. Und schließlich den Gang aus den sie kam. Alle sehen gleich aus. Alle drei haben die selben Säulen, die vor den Wänden emporragen. Verbunden durch einen gigantischen Bogen. Unter den Bögen reihen sich Holztüren auf, die in die Klassenzimmer führen. Ballförmige Lampen erhellen die hohen Decken. Sie schweben wie Luftballons an der Decke entlang. Malia entscheidet sich für eine Richtung. Irgendwo wird sie bestimmt raus kommen und einen Ausgang finden. Sie kann jetzt nicht stehen bleiben. Sie rennt immer weiter, rennt an der offenen Tür vorbei, in der noch immer Mr. Todle steht und ihr mit erhobenem Finger immer wieder nur Miss stammelnd. Sie tut ihn mit den Worten ich kann jetzt wirklich nicht, tut mir echt leid ab und läuft weiter. Etwa vier Mal kreuzt sie Mr. Todies Klassenzimmer. Sie kommt sich inzwischen albern vor und sie ist sich sicher, der Gang ist verhext. Doch fast hätte sie in ihrem Eifer etwas übersehen. Eine Treppe. Malia bleibt ruckartig stehen, dreht sich um, rennt den Gang zurück, ein fünftes Mal vorbei an Mr. Todies Klassenzimmer und um die Ecke. Eine schmale Treppe führt zwischen zwei Säulen in die dunkle Wand. Malia tritt zurück und sieht sich die geheimnisvollen Stufen mit geneigtem Kopf an. Ist dies ein Ausgang? Der Eingang war der Brunnen. Sie ist nach unten getaucht. Demnach muss der Ausgang oben liegen. Logisch. Sie muss nach oben gelangen. Malia tritt vor und erklimmt die viel zu schmalen Stufen. Die Treppe geht kreisförmig nach oben. Sie sieht nicht, wohin sie tritt. Das Licht aus dem Gang reicht nicht weiter als acht Stufen hinauf, danach ist der Weg stockfinster. Sie lässt sich davon aber nicht aufhalten. Stufe für Stufe setzt Malia ihre Schritte fort. Oben angekommen gelangt sie in einen turmähnlichen Raum, durch den ein sanfter Wind weht. Quadratisch, ohne Einrichtung, ohne Möbelstücke. An einer Seite ein prunkvolles Kirchenfenster, gegenüberliegend bildet sich eine Art Terrasse, die in einem weiteren Turm endet. Säulen und Steinbögen stehen frei auf dem Weg zwischen den Türmen. Keine Wände, keine Decke schützen den Weg. Der Boden ist von Wiese überdeckt. Am Rand befinden sich lediglich halbhohe Steinmauern. Malia tritt in den Gang und erblickt die Aussicht. Sie befindet sich in schwindelerregender Höhe. Es ist unmöglich, dass sie so weit hinaufgegangen ist! Unter ihr wölben sich Wiesen und Wälder. Felsen und Steine im Nebel. Ein leichter Wind fährt ihr durchs lange, braune Haar. Sie steht so weit oben, dass sie beinahe die Wolken anfassen kann. Hoch oben auf einer idyllischen Burgruine. Malia ist erschlagen von der Pracht die sich ihr eröffnet. Sie überblickt ein gigantisches Reich. Hektisch nutzt sie die Aussicht und sucht nach dem Brunnen, in den sie gefallen ist. Oder nach dem Fluss. Es muss einen Anhaltspunkt geben, wie sie wieder zurückkommt oder zumindest in welche Richtung sie gehen muss.

Karima taucht wie aus dem Nichts hinter ihr auf. ~ "Malia. Du wirst hier keinen Weg finden!"

Malia ~ "Ich muss nach Hause! Bringen Sie mich nach Hause!"

Karima ~ "Ich kann dich nicht nach Hause bringen. Es ist für dich die Zeit gekommen, hier zu sein. Dies ist dein Schicksal. Dies ist dein Zuhause. Dieses Reich braucht dich."

Malia ~ "Dieses Reich? Dieser trostlose Wald und diese kahle, alte Burg? Ich sage Ihnen, wer mich braucht! Meine Familie! Mein Bruder braucht mich!"

Karima ~ "Malia bitte!" Karima legt ihre Handflächen vor ihrem Gesicht aneinander, als würde sie beten.

Malia ~ "Was soll ich hier? Was soll mein Schicksal sein?"

Karima ~ "Du wirst finden, was du wirklich suchst."

Malia tritt zu Karima vor ~ "Und was soll das sein?"

Karima ~ "Deine Familie."

Malia traut ihren Ohren kaum. Arie. Ist sie hier?

Malia ~ "Ich HABE eine Familie. Sie sitzt Zuhause und wartet auf mich! Meine Schwester ist verschwunden, meine Eltern sind depressiv und ich kümmere mich um meinen kleinen Bruder. Sie brauchen mich. Meine Familie braucht mich, verstehen Sie das nicht? Ich muss wirklich nach Hause. Bitte!"

Karima ~ "Bedaure, Malia. Dies wird dein neues Zuhause sein. Hier wirst du vorbereitet. Du erhältst deine Ausbildung. Komm, ich zeige dir dein Zimmer".

Malia ~ "Ausbildung? Wofür?"

Malia ist schockiert. Sie soll hier bleiben?! Was soll sie hier lernen? Es kann nur ein schlechter Traum sein. All das ist zu verrückt um wahr zu sein. Albträume, die dich in ihrem grausamen Geschehen festhalten, enden mit einem Schockmoment. Malia nimmt ihren Mut zusammen. Sie nimmt ein paar Schritt Anlauf, rennt von Karima weg, hüpft mit einem Hecksprung über die hüfthohe Mauer und fällt. Den Blick zum Himmel gerichtet, schlägt ihr der Wind die Haare um die Ohren. Sie schließt ihre Augen, bereit erneut am Flussufer aufzuwachen - in ihrer Welt. Ein Schlag trifft sie, zieht sie kopfüber nach unten. Das ist der Moment, sie ist sich sicher. Sie fühlt eine starke Umarmung, die sie führt, ehe ihr Fall langsamer wird.

Malia traut sich ihre Augen zu öffnen. Sie befindet sich noch immer in schwindelerregender Höhe, fliegend. Gehalten durch die starken Arme von Karima, deren Flügel wild schlagen. Malia wird steif vor Angst. Sie fliegt über Wiesen und Felder, über die Akademie an Türmen vorbei, bis schließlich im Innenhof der Akademie ihre Füße wieder den Boden spüren.

Viele Schüler tummeln sich dort und sind von Malias und Karimas Landung kaum beeindruckt. Als wäre es das Normalste der Welt. Sie reden, lachen, manche sind für sich allein und lesen. Es scheint, als wäre gerade eine Pause oder der Unterricht beendet. Malia hat kein Zeitgefühl mehr. Sie könnte nicht schätzen, wie spät es ist, selbst wenn sie wollte. Sie klopft sich die Kleidung zurecht und atmet tief aus, um Fall und Flug sacken zu lassen. Ihr Magen wird flau. Die Aufregung, die fremde Umgebung. Ihr ist alles zu viel. Keuchend bedankt sie sich bei Karima. Sie hat sie gefangen, gehalten und ihr Leben gerettet. Und auch Malia ist nun klar: Es ist kein Traum. Sie ist hier und sie wird hier bleiben müssen.

Karima ~ "Ich zeige dir dein Zimmer. Komm mit."

Malia folgt Karima in das Innere der Ruine. Auch hier sieht jeder Gang aus wie die vorherigen. Wer soll sich denn hier auskennen?

Karima ~ "Du wirst alles Wichtige kennenlernen und du wirst entdecken, wie sich deine ganze Welt hier verändern wird, sobald du es akzeptierst."

Malia rollt genervt mit den Augen. Wieso muss denn immer alles so kompliziert sein? Gespannt geht sie mit Karima durch das altertümliche Gemäuer und verliert direkt wieder die Orientierung. Einige Schritte weiter bleibt Karima vor einer Wand stehen. Vor ihnen befinden sich nur Gemäuer. Weshalb hält Karima an? Sie streckt ihre rechte Hand nach vorn aus. Spreizt alle Finger angespannt ab und beugt schließlich ihren Daumen und den Ringfinger zueinander, bis sie sich berühren. Mit den anderen Fingern drückt sie gegen die Mauer. Sie berührt damit drei der kleinen Steine, aus denen die Mauer besteht und drückt diese damit ein Stück hinein. Mit einem lauten Beben schieben sich die Steine nach vorn und bilden einen Eingang, der in einen versteckten Flur führt. Malia ist beeindruckt.

Karima ~ "Das ist die erwachsene Art, das Tor zu diesem Flur zu öffnen. Die meisten Schüler haben ihre eigene Methode entwickelt und gehen einfach durch die Wand hindurch. Aber ich muss dich ja beeindrucken, dir soll es hier ja gefallen."

Karima zwinkert Malia neckisch zu. Sie betreten den Flur. An den Wänden hängen Fackeln und rechts und links zeigen dezente Holztüren die Schlafräume an. Sie gehen tief in den Gang hinein, bis Karima an der Tür mit der Ziffer 275 Halt macht. Karima öffnet die Tür und sie betreten das große Zimmer. Darin befinden sich zwei Betten und in der Mitte drei Sofas, die eine Feuerstelle einkreisen. Die rechte Seite des Zimmers ist wohl bereits bewohnt. Über dem Bett hängen Girlanden und überall stehen abgebrannte Kerzen. Für Malias Geschmack etwas kitschig, aber immerhin ist alles in dezenten Farben gehalten. Ein großes Kirchenfenster zwischen den Betten öffnet den Blick nach draußen. Es ist neben den Kerzen die einzige Lichtquelle in diesem Raum. Der Ausblick ist atemberaubend.

Karima ~ "Dies ist dein Zimmer, Malia. Das linke Bett gehört dir. Wir haben ein paar Sachen für dich vorbereitet, die dir gefallen könnten. Deine Mitbewohnerin befindet sich vermutlich gerade draußen. Zweifelsohne werdet ihr euch ausgezeichnet verstehen."

Karima schwenkt mit ihrem Arm dabei durch den Raum. Auf einem Schreibtisch stehen Kisten für Malia bereit.

Karima ~ "Bitte, richte dich ein. Andira wird dich später zum Abendessen führen." Karima verabschiedet sich.

Die Führung ist also beendet? Und wer ist Andira? Ihre Mitbewohnerin?

Malia sieht sich um. Sie begutachtet zunächst Andiras Seite des Zimmers.

Solange sie noch nicht zurück ist, kann sie ungestört herumstöbern. Über ihrem Bett hängt ein weißer Traumfänger mit Federn und kleinen glänzenden Spiegelstücken. An der Wand über dem Bett sind getrocknete Rosen und Hopfenpflanzen befestigt. Die Kerzen, die sie in verschiedenen Regalen aufgereiht hat, riechen nach unterschiedlichen Düften. Zwischen ihnen sammeln sich einige Fläschchen mit Ölen darin. Malia rümpft die Nase. Das ist so gar nicht ihr Ding. Sie dreht sich weg und beschließt, ihre eigenen Kisten zu erforschen. Malia öffnet den ersten Karton und packt alles auf ihrem Bett aus. Viel fällt nicht heraus. Ein paar Kristalle, schwarze Steine und ein Pendel an einer silbernen Kette. Malia zieht fragend eine Augenbaue nach oben. Was soll sie denn damit? Sie sieht sich weiter auf ihrer Seite des Zimmers um. Neben dem Bett steht ein kleiner, alter Kleiderschrank. Er ist mit handbemalten Blumenranken verziert. Als sie ihn öffnet, stellt sie fest, dass sich dort bereits Kleidung befindet. Erschrocken schließt sie den Schrank direkt wieder. Schwarze Kleider mit Federn oder Spitzenverzierungen hängen auf hölzernen Kleiderbügeln. Vermutlich sind das Sachen von Andira. Aber wo soll sie denn dann ihre Sachen unterbringen? Da fällt Malia auf, dass sie keine Sachen hat, die sie irgendwo verstauen könnte. Die Kleidung die sie trägt, ist das Einzige, das sie bei sich hat.

Malia entdeckt eine weitere Tür auf Andiras Seite des Zimmers. In der Hoffnung, hier einen freien Kleiderschrank zu finden, öffnet sie die Tür. Dahinter findet sie jedoch einen kleinen Waschraum. Sie wäscht sich mit kaltem Wasser das Gesicht und sieht sich prüfend im Spiegel an. Ihr schießen alle möglichen Fragen durch den Verstand. Sie weiß immer noch nicht, wo sie sich befindet. Weshalb sie hier ist. Wie und wann - oder auch OB - sie wieder nach Hause kommt. Malia fährt sich mit den nassen Händen durch ihr zerzaustes Haar und wirft ihren Kopf in den Nacken. Sie atmet tief durch. Sie muss sich zusammenreißen.

Ketr

Die Tür des Schlafzimmers knarzt. Scheint, als wäre Andira zurück. Malia geht aus dem Badezimmer hinaus in den Schlafraum. Dort steht sie. Ein zierliches, blasses Mädchen mit langen, herbstroten Haaren, die teilweise in schmale Zöpfe geflochten sind. Bauschige Federn sind darin befestigt. Sie trägt ein langes, schwarzgrünes Samtkleid mit einer großen, locker fallenden Kapuze, die sie halb über ihren Kopf gezogen trägt. Ihre Haut ist zart wie Porzellan.

Andira ~ "Du bist Malia?" Fragt das Mädchen leise.

Ok Malia, freundlich sein, sie ist deine neue Mitbewohnerin und du weißt nicht, wie lange du noch hier sein musst!