Rico und Oskar – Band 1-3 der preisgekrönten Kinderkrimi-Serie im Sammelband (Rico und Oskar) - Andreas Steinhöfel - E-Book

Rico und Oskar – Band 1-3 der preisgekrönten Kinderkrimi-Serie im Sammelband (Rico und Oskar) E-Book

Andreas Steinhöfel

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Beschreibung

Brodelndes Adrenalinzeugs x 3! Die Tieferschatten, das Herzgebreche, der Diebstahlstein – alle drei »Rico und Oskar«-Bände in einer E-Book-Gesamtausgabe, durchgehend farbig illustriert von Peter Schössow. Das ist wie Müffelchen bei Frau Dahling auf dem Plüsch-Sofa vor einem Miss-Marple-Film. Aber in Farbe! Diese imposante (Imposant: beeindruckend, mächtig, auffällig. Aber nur mit hinten einem T am Ende und nur, wenn man nicht vorher im Sitzen seine Schuhe am Strand ausgezogen hat. Sonst hat es hinten ein D, und man muss sich dauernd unaufällig am Hintern kratzen.) Ausgabe kann man sich nicht entgehen lassen.

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Für Gianni … das ist von mir zu dir Genau wie umgekehrt A.S.

Die Nudel lag auf dem Gehsteig. Sie war dick und geriffelt, mit einem Loch drin von vorn bis hinten. Etwas getrocknete Käsesoße und Dreck klebten dran. Ich hob sie auf, wischte den Dreck ab und guckte an der alten Fensterfront der Dieffe 93 rauf in den Sommerhimmel. Keine Wolken und vor allem keine von diesen weißen Düsenstreifen. Außerdem, überlegte ich, kann man Flugzeugfenster nicht aufmachen, um Essen rauszuwerfen.

Ich ließ mich ins Haus ein, zischte durch das gelbgetünchte Treppenhaus rauf in den Dritten und klingelte bei Frau Dahling. Sie trug große bunte Lockenwickler im Haar, wie jeden Samstag.

»Könnte ’ne Rigatoni sein. Die Soße ist auf jeden Fall Gorgonzola«, stellte sie fest. »Lieb von dir, mir die Nudel zu bringen, Schätzchen, aber ich hab sie nicht aus dem Fenster geworfen. Frag mal Fitzke.«

Sie grinste mich an, tippte sich mit dem Finger an den Kopf, verdrehte die Augen und guckte nach oben. Fitzke wohnt im Vierten. Ich kann ihn nicht leiden und eigentlich glaubte ich auch nicht, dass die Nudel ihm gehörte. Frau Dahling war meine erste Wahl gewesen, weil sie öfters mal was aus dem Fenster wirft, letzten Winter zum Beispiel den Fernsehapparat. Fünf Minuten später schmiss sie auch noch ihren Mann raus, den allerdings nur aus der Wohnung. Danach kam sie zu uns, und Mama musste ihr ein Schlückchen Gutes einschenken.

»Er hat eine Geliebte!«, hatte Frau Dahling verzweifelt erklärt. »Wenn die blöde Kuh wenigstens jünger wäre als ich! Schenken Sie mal nach!«

Weil die Glotze jetzt im Eimer und der Mann weg war, hatte sie sich am nächsten Tag zum Trost einen todschicken Flachbild-Fernseher und einen DVD-Player gekauft. Seitdem gucken wir uns zusammen manchmal einen Liebesfilm an oder Krimis, aber nur an den Wochenenden, wenn Frau Dahling ausschlafen kann. Unter der Woche steht sie bei Karstadt am Hermannplatz hinter der Fleischtheke. Sie hat immer ganz rote Hände, so kalt ist es da.

Während des Fernsehens essen wir Müffelchen mit Wurst und Ei oder Lachs. Bei Liebesfilmen schnieft Frau Dahling mindestens zehn Tempos voll, aber am Schluss schimpft sie dann immer los, von wegen, nun hätten der Kerl und die Frau sich also gekriegt und jetzt ginge das Elend erst richtig los, aber das würden die natürlich nie zeigen in den Filmen, so ein total verlogener Scheiß – noch ein Müffelchen, Rico?

»Bleibt es bei heute Abend?«, rief Frau Dahling mir nach, als ich rauf in den Vierten rannte, immer zwei Stufen auf einmal.

»Klar!«

Ihre Tür schlug zu und ich klopfte bei Fitzke. Man muss immer bei Fitzke klopfen, seine Klingel ist nämlich kaputt, vermutlich schon seit 1910, als das Haus gebaut wurde.

Warten, warten, warten.

Schlurf, schlurf, schlurf hinter der dicken Altbautür.

Dann endlich Fitzke in Person, wie üblich in seinem dunkelblauen Schlafanzug mit den grauen Längsstreifen. Sein Knittergesicht war voller Bartstoppeln und in alle Richtungen standen ihm die strähnigen grauen Haare vom Kopf ab.

Echt, so was Ungepflegtes!

Ein dumpfer, muffiger Geruch schlug mir entgegen. Wer weiß, was der Fitzke da drin lagert. In seiner Wohnung, meine ich jetzt, nicht in seinem Kopf. Ich versuchte, unauffällig an ihm vorbeizugucken, aber er versperrte die Sicht. Mit Absicht! Ich war schon in jeder Wohnung im Haus, nur in Fitzkes nicht. Er lässt mich nicht rein, weil er mich nicht leiden kann.

»Ah, der kleine Schwachkopf«, knurrte er.

Ich sollte an dieser Stelle wohl erklären, dass ich Rico heiße und ein tiefbegabtes Kind bin. Das bedeutet, ich kann zwar sehr viel denken, aber das dauert meistens etwas länger als bei anderen Leuten. An meinem Gehirn liegt es nicht, das ist ganz normal groß. Aber manchmal fallen ein paar Sachen raus, und leider weiß ich vorher nie, an welcher Stelle. Außerdem kann ich mich nicht immer gut konzentrieren, wenn ich etwas erzähle. Meistens verliere ich dann den roten Faden, jedenfalls glaube ich, dass er rot ist, er könnte aber auch grün oder blau sein, und genau das ist das Problem.

In meinem Kopf geht es manchmal so durcheinander wie in einer Bingotrommel. Bingo spiele ich jeden Dienstag mit Mama im Rentnerclub Graue Hummeln. Die Hummeln haben sich in den Gemeinderäumen der Kirche eingemietet. Ich hab keine Ahnung, warum Mama so gern dorthin geht, da treiben sich nämlich wirklich fast nur Rentner herum. Manche gehen, glaube ich, nie nach Hause, denn sie haben jeden Dienstag dieselben Klamotten an, so wie der Fitzke seinen einzigen Schlafanzug, und ein paar von ihnen riechen komisch. Vielleicht findet Mama es einfach nur toll, dass sie beim Bingo so oft gewinnt. Jedes Mal strahlt sie, wenn sie auf die Bühne geht und zum Beispiel so eine billige Plastikhandtasche abholt – eigentlich sind es fast immer billige Plastikhandtaschen.

Die Rentner kriegen das selten mit, viele von denen pennen nämlich irgendwann über ihren Bingokärtchen ein oder sind sonst wie nicht richtig bei der Sache. Erst vor ein paar Wochen saß einer von ihnen ganz ruhig am Tisch, bis die letzten Zahlen durch waren. Als die anderen gingen, stand er nicht auf, und als schließlich die Putzfrau ihn zu wecken versuchte, war er tot. Mama hat dann noch überlegt, ob er vielleicht schon den Dienstag zuvor gestorben war. Mir war er auch nicht aufgefallen.

»Tach, Herr Fitzke«, sagte ich, »ich hoffe, ich habe Sie nicht geweckt.«

Fitzke sieht noch älter aus als der Rentner, den es beim Bingo erwischt hat. Und echt schmuddelig. Angeblich lebt er selber auch nicht mehr lange, deshalb trägt er immer nur seinen Schlafanzug, sogar zum Einkaufen bei Edeka. Falls er mal aus den Latschen kippt, hat er dann immerhin gleich die passenden Klamotten an. Seit er klein war, habe er es schon am Herzen, hat Fitzke mal zu Frau Dahling gesagt, deshalb käme er total schnell aus der Puste und irgendwann dann PENG! Ich finde, auch wenn er bald stirbt, könnte er sich ruhig ordentlich anziehen oder wenigstens ab und zu den Schlafanzug waschen, zum Beispiel an Weihnachten. Ich würde jedenfalls nicht gern zusammengebrochen bei Edeka vor der Käsetheke liegen und total eklig riechen, obwohl ich erst seit einer Minute tot bin.

Fitzke stierte mich nur an, also hielt ich ihm die Nudel unter die Nase. »Ist das Ihre?«

»Woher hast du die?«

»Gehsteig. Frau Dahling meint, es könnte eine Rigatoni sein. Die Soße ist jedenfalls Gorgonzola.«

»Lag die da nur so«, fragte er misstrauisch, »oder lag sie in irgendwas drin?«

»Wer?«

»Kauf dir mal ein Gehirn! Die Nudel, du Schwachkopf!«

»Wie war noch mal die Frage?«

Fitzke verdrehte die Augen. Gleich würde er platzen. »Ob sie da nur so lag auf dem Gehsteig, deine beknackte Nudel, oder in irgendwas drin! Hundekacke, weißt schon.«

»Nur so«, sagte ich.

»Dann zeig mal genauer.«

Er nahm mir die Nudel ab und drehte sie zwischen den Fingern. Dann steckte er sie sich – meine Fundnudel! – in den Mund und schluckte sie runter. Ohne zu kauen.

Tür zu, WUMMS!

Der hat sie doch nicht alle! Die nächste Fundnudel, das ist mal klar, werde ich extra in Kacke wälzen und Fitzke bringen, und wenn er dann fragt, lag die irgendwo drin, sage ich, nein, das ist Hackfleischsoße.

Mann, Mann, Mann!

Eigentlich hatte ich das ganze Haus abklappern wollen mit der Nudel, aber nun war sie ja mal weg, verschwunden hinter Fitzkes schlechten Zähnen. Ich trauerte ihr nach. Das ist ja immer so, wenn man was verloren hat: Vorher findet man es gar nicht so dolle, aber hinterher war es auf einmal die beste Nudel der Welt. Frau Dahling ging es ähnlich. Erst hatte sie letzten Winter auf ihren Mann geschimpft, weil er ein verdammter Ehebrecher war, und inzwischen guckt sie sich einen Liebesfilm nach dem anderen an und hätte ihren Mann gern zurück.

Ich wollte schon von Fitzke runter in den Zweiten laufen, aber dann überlegte ich es mir anders und klingelte erst noch an der Wohnung gegenüber. Da wohnt der Neue, der vor zwei Tagen eingezogen ist. Gesehen hab ich ihn noch nicht. Jetzt hatte ich zwar die Fundnudel nicht mehr, aber es war eine gute Gelegenheit, um Hallo zu sagen. Vielleicht ließ er mich zu sich rein. Ich bin sehr gern in anderen Wohnungen.

Diese hier stand lange frei, weil sie so teuer war. Mama hat mal überlegt, sie zu mieten, im vierten Stock gibt’s nämlich mehr Licht als im zweiten und sogar ein Stückchen Aussicht, weil man durch die Bäume über das flache alte Urban-Krankenhaus auf der anderen Straßenseite gucken kann. Aber als Mama erfuhr, was die Wohnung kosten sollte, hat sie es gelassen. Was ein Glück ist, sonst wäre Fitzke unser direkter Nachbar. Dieser Fresssack.

Der Neue heißt Westbühl, so steht es auf seinem Klingelschild. Er war nicht zu Hause, und ein bisschen war ich jetzt doch erleichtert. Das gibt Stress, wenn ich den mal mit seinem Namen anreden muss. Wegen Westen und Osten und so weiter. Ich bringe nämlich links und rechts immer durcheinander, auch auf dem Kompass. Wenn es um links und rechts geht, startet automatisch die Bingotrommel in meinem Kopf.

Ich ärgerte mich, als ich die Treppen runterlief. Hätte Fitzke nicht mein Beweismittel vernichtet, wäre es ein prima Tag gewesen, um Detektiv zu spielen. Der Kreis der Verdächtigen war nämlich sehr klein. Den fünften Stock mit den beiden schicken Dachwohnungen zum Beispiel konnte ich mir zurzeit komplett sparen. Runge-Blawetzkys sind gestern abgezischt in die Ferien, und der Marrak, der neben ihnen wohnt, hat sich gestern und heute noch nicht blickenlassen. Wahrscheinlich hat er wieder bei seiner Freundin übernachtet, die ihm auch die Wäsche macht. Alle paar Wochen sieht man den Marrak nämlich mit einem riesigen Sack voller Klamotten durch die Gegend rennen, raus aus dem Haus und wieder rein, und wieder raus und wieder rein und so weiter. Frau Dahling hat mal gesagt, es sei schrecklich mit den jungen Männern von heute, früher hätten sie zum Ausgehen nur eine Zahnbürste mitgenommen, heute wäre es der halbe Wäscheschrank. Der Marrak war jedenfalls nicht zu Hause. In seinem Briefkasten, unten im Hauseingang, steckte noch die Werbung von gestern. Ich gucke Krimis lieber als Knutschfilme, da fallen einem solche Sachen sozusagen ganz von selbst auf.

Okay, fünfter Stock abgehakt. Im vierten wohnen Fitzke und der Neue mit der Himmelsrichtung im Namen. Im dritten Stock, gegenüber von Frau Dahling, wohnt der Kiesling. Bei dem hätte ich sowieso erst abends klingeln können, weil der den ganzen Tag auf Maloche ist, als Zahntechniker in einem Labor in Tempelhof.

Im Stockwerk darunter: Mama und ich, und uns gegenüber die sechs Kesslers, aber die sind auch schon in den Ferien. Aus Kesslers Eigentumswohnung im Zweiten führt eine Treppe in die darunter liegende Wohnung, die gehört ihnen nämlich auch. Herr und Frau Kessler brauchen viel Platz für ihre vielen Kinder.

Am meisten gefreut hatte ich mich auf die Wohnung im Ersten gegenüber von Kesslers, also unter der von Mama und mir. Da wohnt nämlich Jule mit Berts und Massoud. Die drei sind Studenten. Aber ohne vorzeigbare Nudel fiel der Besuch bei ihnen leider aus. Berts ist ganz in Ordnung. Massoud kann ich nicht leiden, weil Jule in ihn statt in mich verliebt ist. So viel schon mal dazu. Hätte ich bloß mal dort angefangen mit meiner Befragung, oder beim alten Mommsen, unserem Hausverwalter – der wohnt parterre.

Alles Fehlanzeige.

Also ab in den Zweiten, nach Hause.

Als ich in unsere Wohnung kam, stand Mama vor dem goldenen Spiegel mit den vielen kleinen Dickebackenengeln dran im Flur. Sie hatte ihr himmelblaues T-Shirt hochgezogen bis unters Kinn und guckte besorgt ihre Brüste an, wer weiß wie lange schon. Ich konnte ihr nachdenkliches Gesicht im Spiegel sehen.

Viele Leute, vor allem Männer, gucken Mama auf der Straße nach. Da läuft sie natürlich nicht mit raufgezogenem T-Shirt rum, aber sie sieht eben einfach toll aus. Immer trägt sie superkurze enge Röcke und ein knappes Oberteil mit tiefem Ausschnitt. Dazu hochhackige silberne oder goldene Sandalen mit Riemchen. Die Haare blond und offen und lang und glatt, und außerdem jede Menge tingelige, klingelige Armbänder und Halsketten und Ohrringe. Am liebsten mag ich ihre Fingernägel, die sind sehr lang. Mama klebt jede Woche was Neues drauf, zum Beispiel winzige schillernde Zierfische oder auf jeden Nagel einen einzelnen kleinen Marienkäfer. Sie sagt immer, es gebe einen Haufen Männer, die das mögen, und deswegen sei sie bei ihrer Arbeit so erfolgreich.

»Irgendwann werden das Hängemöpse«, sagte Mama zu ihrem Spiegelbild und zu mir. »Ich geb ihnen noch zwei, drei Jahre, dann werden sie Opfer der Schwerkraft. Das Leben ist ein verdammter Abreißkalender.«

Schwerkraft kannte ich nicht, das musste ich nachgucken. Ich gucke immer alles im Lexikon nach, was ich nicht kenne, um schlauer zu werden. Manchmal frage ich auch, Mama oder Frau Dahling oder meinen Lehrer, den Wehmeyer. Was ich rausgefunden habe, schreibe ich dann auf. So in etwa:

SCHWERKRAFT: Wenn was schwerer ist als man selbst, zieht es einen an. Zum Beispiel ist die Erde schwerer als so ziemlich alles, deshalb fällt keiner von ihr runter. Entdeckt hat die Schwerkraft ein Mann namens Isaac Newton. Sie ist gefährlich für Busen und Äpfel. Womöglich auch noch für andere runde Sachen.

»Und dann?«, sagte ich.

»Dann gibt’s neue«, sagte Mama entschlossen. »Hier geht’s schließlich um mein Betriebskapital.« Sie seufzte, zog das T-Shirt wieder runter und drehte sich zu mir um. »Wie war’s denn in der Schule?«

»Ging so.«

Sie sagt nie Förderzentrum, weil sie weiß, wie sehr ich das hasse. Der Wehmeyer versucht dort seit Jahren vergeblich, die Bingokugeln in meinem Kopf zu ordnen. Ich hab mal überlegt, ihm vorzuschlagen, dass er vielleicht erst die Maschine anhalten soll, bevor er sich mit den Kugeln beschäftigt, aber dann hab ich es gelassen. Wenn er nicht selber drauf kommt, hat er eben Pech gehabt.

»Warum hat der Wehmeyer dich denn noch mal antanzen lassen?«, sagte Mama. »Ich dachte, gestern war schon der letzte Schultag?«

»Wegen einem Ferienprojekt. Was schreiben.«

»Du und schreiben?« Sie runzelte die Stirn. »Was denn?«

»Nur einen Aufsatz«, murmelte ich. Die Sache war komplizierter, aber ich wollte Mama noch nicht einweihen, bevor ich es erfolgreich ausprobiert hatte.

»Verstehe.« Ihre Stirn wurde wieder glatt. »Schon was gegessen, ein Döner oder so?« Sie wuschelte mir mit einer Hand durch die Haare, beugte sich vor und drückte mir einen Kuss auf die Stirn.

»Nee.«

»Also Hunger?«

»Klar.«

»Okay. Ich mach uns Fischstäbchen.« Sie verschwand in der Küche. Ich warf meinen Rucksack durch die offene Tür in mein Zimmer, dann folgte ich ihr, setzte mich an den Esstisch und guckte zu.

»Ich muss dich mal was fragen, Rico«, sagte Mama, während sie Butter in der Pfanne zerließ.

Mein Kopf rutschte automatisch zwischen die Schultern. Wenn Mama mich was fragt und dabei meinen Namen benutzt, bedeutet das, dass sie sich vorher Gedanken gemacht hat, und wenn sie sich Gedanken macht, hat das meistens einen ernsten Hintergrund. Mit ernst meine ich schwierig. Mit schwierig meine ich die Bingokugeln.

»Was denn?«, fragte ich vorsichtig.

»Es geht um Mister 2000.«

Ich wünschte mir, die Fischstäbchen wären schon fertig. Selbst ein Dummkopf konnte ahnen, worauf dieses Gespräch hinauslief. Mama öffnete den Kühlschrank und kratzte und hebelte mit einem Messer im Tiefkühlfach rum, wo unter einem Mantel aus blauem Eis die Packung mit den Fischstäbchen festgefroren war. »Er hat wieder ein Kind freigelassen«, fuhr sie fort. »Diesmal eins aus Lichtenberg. Schon das fünfte. Das davor war aus –«

»Wedding, ich weiß.«

Und die drei davor aus Kreuzberg, Tempelhof, Charlottenburg. Mister 2000 hält seit drei Monaten ganz Berlin in Atem. Im Fernsehen haben sie gesagt, er sei vermutlich der schlaueste Kindesentführer aller Zeiten. Manche nennen ihn auch den ALDI-Kidnapper, weil seine Entführungen so preisgünstig sind. Er lockt kleine Jungen und Mädchen in sein Auto und fährt mit ihnen davon, und danach schreibt er den Eltern einen Brief: Liebe Eltern, wenn Sie Ihre kleine Lucille-Marie wiederhaben wollen, kostet Sie das nur 2000 Euro. Überlegen Sie sich genau, ob Sie für einen so lächerlichen Betrag die Polizei verständigen wollen. Dann erhalten Sie Ihr Kind nämlich nur nach und nach zurück.

Bis jetzt haben alle Eltern die Polizei erst verständigt, nachdem sie bezahlt haben und ihr Kind am Stück wieder bei ihnen eingetrudelt ist. Aber ganz Berlin wartet auf den Tag, an dem eine kleine Lucille-Marie oder irgendein Maximilian nicht vollständig zu Hause ankommt, weil die Eltern Mist gebaut haben. Könnte ja sein, manche von denen sind ganz froh, dass ihr Kind entführt worden ist, und rücken deshalb nicht mal einen Cent als Lösegeld raus. Oder sie sind arm und besitzen nur fünfzig Euro oder so. Wenn man Mister 2000 nur fünfzig Euro gibt, bleibt von einem Kind womöglich nur eine Hand übrig. Die spannende Frage ist, was er dann wohl zurückschickt, die Hand oder den Rest. Vermutlich die Hand, das ist unauffälliger. Außerdem würden für ein Riesenpaket mit Restkind drin die 50 Euro bestimmt komplett fürs Porto draufgehen.

Ich finde jedenfalls, 2000 Euro sind total viel Geld. Aber in der Not, das hat Berts mir mal erklärt, kriegt die Kohle jeder zusammen, wenn er nur will. Berts studiert Beh-Weh-Ell, das hat was mit Geld zu tun, also weiß er wohl Bescheid.

»Hast du 2000 Euro?«, fragte ich Mama. Man konnte ja nie wissen. Für den Notfall könnte ich ihr erlauben meinen Reichstag zu knacken. Die Münzen wirft man oben in die Glaskuppel ein, die hat einen Schlitz. Den Reichstag habe ich schon, seit ich denken kann, und wenigstens für einen Arm oder so müsste mein Gespartes inzwischen reichen. Für zwanzig oder dreißig Euro hätte Mama dann wenigstens eine kleine Erinnerung an mich.

»2000 Euro?«, sagte sie. »Seh ich so aus?«

»Würdest du sie zusammenkriegen?«

»Für dich? Und wenn ich dafür töten müsste, Schatz.« Es knackte und ein dicker Brocken Eis landete auf dem Küchenboden. Mama hob ihn auf, machte so ein Geräusch wie Puhhh oder Pfff und warf ihn ins Spülbecken. »Das Gefrierfach muss dringend mal abgetaut werden.«

»Ich bin nicht so klein wie die anderen Kinder, die bis jetzt entführt worden sind. Und ich bin älter.«

»Ja, ich weiß.« Sie pfriemelte die Packung auf. »Trotzdem hätte ich dich in den letzten Wochen jeden Tag zur Schule bringen und auch wieder abholen sollen.«

Mama arbeitet bis frühmorgens. Wenn sie nach Hause kommt, bringt sie mir eine Schrippe mit, gibt mir einen Kuss, bevor ich ins Förderzentrum abzische, und dann legt sie sich schlafen. Sie steht dann meistens erst nachmittags auf, wenn ich längst wieder daheim bin. Es hätte nie geklappt, mich wegzubringen und wieder abzuholen.

Sie hielt kurz inne und kräuselte die Nase. »Bin ich eine verantwortungslose Mutter, Rico?«

»Quatsch!«

Einen Moment lang sah sie mich nachdenklich an, dann kippte sie die tiefgefrorenen Fischstäbchen aus der Packung in die Pfanne. Die Butter war so heiß, dass es spritzte. Mama machte einen kleinen Hüpfer zurück. »Kackdinger! Jetzt stink ich nach dem Zeugs!«

Sie würde sowieso noch duschen, bevor sie heute Abend in den Club ging. Nach Fischstäbchen duscht sie immer. Das teuerste Parfüm der Welt, hat sie mal gesagt, klebt nicht so sehr an einem dran wie der Geruch von Fischstäbchen. Während die Dinger in der Pfanne brutzelten, erzählte ich ihr von meiner Fundnudel und dass Fitzke sie vernichtet hatte, weshalb ich jetzt nicht mehr rauskriegen konnte, wem sie gehört hatte.

»Der alte Saftsack«, murmelte sie.

Mama kann Fitzke nicht ausstehen. Vor ein paar Jahren, als wir in die Dieffe 93 eingezogen waren, hatte sie mich durchs ganze Haus mitgeschleppt, um uns den Nachbarn vorzustellen. Ihre Hand war ganz schwitzig gewesen, voll der Klammergriff. Mama ist mutig, aber nicht kaltblütig. Sie hatte Angst gehabt, die Leute könnten uns nicht leiden, wenn sie rauskriegten, dass sie keine Dame war und ich ein bisschen behindert. Fitzke hatte auf ihr Klopfen geöffnet und im Schlafanzug vor uns gestanden. Im Gegensatz zu Mama, die sich nichts anmerken ließ, hatte ich gegrinst. Das war wohl der Fehler gewesen. So in etwa hatte Mama dann gesagt, Tach, ich bin also die Neue hier, und das ist mein Sohn Rico. Er ist ein bisschen schwach im Kopf, aber da kann er nichts für. Wenn er also mal was anstellt …

Fitzke hatte die Augen zusammengekniffen und das Gesicht verzogen, als hätte er einen schlechten Geschmack im Mund. Dann hatte er, ohne ein Wort, uns die Tür vor der Nase zugeknallt. Seitdem nennt er mich Schwachkopf.

»Hat er Schwachkopf zu dir gesagt?«, fragte Mama.

»Nee.« Es bringt ja nichts, wenn sie sich aufregt.

»Der alte Saftsack«, sagte sie noch mal.

Sie fragte nicht, warum ich unbedingt hatte rausfinden wollen, wem die Nudel gehörte. Für sie war das eine von Ricos Ideen, und das stimmte. Nachfragen hatte da keinen Zweck.

Ich guckte ihr zu, wie sie die Fischstäbchen wendete. Sie dudelte dabei ein kleines Lied vor sich hin, verlagerte ihr Gewicht von dem linken auf den rechten Fuß und dann wieder zurück. Zwischendrin deckte sie den Tisch. Die Sonne fiel durchs Fenster und die Luft roch lecker nach Sommer mit Fisch. Ich fühlte mich sehr wohl. Ich mag es, wenn Mama kocht oder irgendwas anderes Kümmeriges macht.

»Blutmatsche drauf?«, sagte sie, als sie fertig war.

»Klar.«

Sie stellte die Ketchup-Flasche auf den Tisch und schob mir meinen Teller hin. »Also keine Begleitung zur Schule?«

Ich schüttelte den Kopf. »Jetzt sind ja erst mal Ferien. Vielleicht schnappen sie ihn in der Zeit.«

»Ganz sicher?«

»Ja-haa!«

»Gut.«

Sie schaufelte die Fischstäbchen förmlich in sich rein. »Ich muss bald los«, erklärte sie auf meinen fragenden Blick. »Will mit Irina zum Friseur.« Irina ist Mamas beste Freundin. Sie arbeitet auch im Club. »Erdbeerblond, was meinst du?«

»Ist das rot?«

»Nein. Blond mit einem ganz leichten Stich ins Rötliche.«

»Was hat das mit Erdbeeren zu tun?«

Und was für ein Stich?

»Die haben auch so einen Stich.«

»Erdbeeren sind knallrot.«

»Nur, wenn sie reif sind.«

»Aber vorher sind sie grün. Was für ein Stich?«

»Sagt man halt so.«

Mama mag es nicht, wenn ich nachbohre, und ich mag es nicht, wenn sie so redet, dass ich sie nicht verstehe. Manche Sachen haben ziemlich bescheuerte Namen, da wird man ja wohl mal fragen dürfen, warum sie so heißen, wie sie heißen. Ich frage mich zum Beispiel, warum Erdbeeren Erdbeeren heißen, obwohl man sie nicht aus der Erde buddeln muss.

Mama schob den leeren Teller von sich. »Uns fehlen ein paar Sachen fürs Wochenende. Ich könnte den Krempel selber einkaufen, aber …«

»Ich mach das schon.«

»Bist ein Schatz.« Sie grinste erleichtert, stand auf und kramte eilig in ihrer Hosentasche rum. »Ich hab ’ne Liste gemacht, warte mal …«

Mamas Hosen sind immer so eng, dass ich manchmal Angst habe, sie eines Tages rausschneiden zu müssen. Ich frag mich, warum sie trotzdem alles in die Hosentaschen stopft. Sie hat schon mindestens zehn Plastikhandtaschen beim Bingo gewonnen, aber die benutzt sie nie. Sie hebt sie nicht mal auf, sondern versteigert sie bei eBay.

»Ist nicht viel.« Endlich hielt sie mir den zerknitterten Zettel entgegen. »Geld liegt in der Schublade. Am wichtigsten ist die Zahnpasta. Butter steht noch nicht drauf, die ist jetzt auch alle. Kannst du dir die auch so behalten, oder soll ich –«

Ich spießte das erste Fischstäbchen auf die Gabel und tunkte es superlässig in die Blutmatsche. »Kann ich mir behalten«, sagte ich.

Hoffentlich.

Das Einkaufen lief prima. Zahnpasta, Butter, Salzstangen, Salatzeugs und Joghurt. Ich hielt der Kassiererin bei Edeka das Geld hin und sie gab mir den Rest raus und sagte, schönen Gruß an deine Mutter. Sie guckte dabei, als wünschte sie Mama in Wirklichkeit einen qualvollen Tod. Nachdem wir in die Dieffe gezogen sind, ist Mama nämlich mal bei ihr gewesen, um ihr freundlich zu erklären, dass ich nicht rechnen kann und dass sie schon mal einem beide Arme gebrochen hat, der mich betuppen wollte.

Ich ging aus dem Laden raus. Leichter Wind bewegte die Bäume – ich hab vergessen, wie sie heißen, oder ich hab es nie gewusst, aber sie sehen toll aus. Von ihren Stämmen blättert die Rinde ab wie Lack von einer alten Tür, und darunter kommt hellere Rinde zum Vorschein, die auch wieder abblättert, und so weiter. Man fragt sich, wann so ein Baum nach innen rein mal aufhört.

Sonnenlicht flitzte über Millionen von Blättern und trieb winzige Schatten über die Gehsteige. Es wimmelte geradezu von Leuten, viele saßen draußen vor den Kneipen und Restaurants, und aus den geöffneten Fenstern in den Häusern plumpste Musik runter auf die Gehsteige. Ich war sehr froh in diesem Moment. Ich fühlte mich sicher.

In der langen Dieffe gibt es alles, was man braucht. Den Edeka und einen Spätkauf, zwei Gemüsehändler, einen Getränkemarkt, Bäcker, Metzger und so weiter. Man muss nie abbiegen, und genau aus dem Grund hat Mama sich für mich eine so lange, gerade Straße ausgesucht: weil ich mir lange Wege nicht gut behalten kann, schon gar keine mit Ecken drin. Ich hab ein Orientierungsvermögen wie eine besoffene Brieftaube in einem Schneesturm bei Windstärke 12. Aber von der Dieffe aus kann ich sogar allein zum Förderzentrum gehen. Dazu muss ich nur aus dem Haus raus, ein kleines Stück bis zur Mohren-Apotheke an der Ecke gehen und dann nach oben abbiegen, Richtung Landwehrkanal. Ab dann laufe ich immer geradeaus, über die Admiralsbrücke bis hin zur Schule. Hinter der Schule geht’s immer noch geradeaus weiter, durch Kleintürkenhausen bis zum Kottie, aber ich hab mich noch nie weitergetraut als bis zum Doyum Grillhaus, kurz vor dem Kottie.

Ich überlegte, ob ich auf dem Heimweg nach einer neuen Fundnudel suchen sollte. Konnte ja sein, dass sie doch nicht aus einem Fenster der Dieffe 93 geflogen war, sondern dass ein Bürgersteiggeher sie verloren oder absichtlich fallen gelassen hatte.

BÜRGERSTEIGGEHER: Passanten. Hab Mama gefragt, wie die noch mal heißen. Fremdwörter in verständliche Wörter zu übersetzen ist schwierig genug. Umgekehrt ist es noch viel schwieriger.

Ich schlappte vor mich hin und musste dabei an Hänsel und Gretel denken, die im tiefen dunklen Wald eine Spur aus Brotkrumen gelegt hatten, um sich nicht zu verlaufen. Womöglich hatte jemand eine Nudelspur ausgelegt, um sich nicht im Kiez zu verirren. Falls er das getan hatte, war er noch tiefbegabter als ich. Wenn nämlich hier zufällig solche Allesfresser wie Fitzke unterwegs waren, sah es für einen Nudelspurenleger ziemlich schlecht aus. Hänsel und Gretel war von den Vögeln des Waldes auch ihre Brotspur aufgefuttert worden, und wo waren die beiden am Schluss gelandet? Richtig, beim großen bösen Wolf!

Am Spielplatz blieb ich stehen. Der Spielplatz ist wie eine Halbinsel von der Grimmstraße eingerahmt, die macht nämlich weiter oben beim Kanal eine Schleife, kommt dann wieder runter und trifft auf die Dieffe, weshalb sie sozusagen doppelt ist. Der Spielplatz ist groß und bei gutem Wetter immer voller Mütter und jeder Menge Dötzeken. In Neukölln, wo wir früher wohnten, ist Mama oft mit mir auf den Spielplatz gegangen. Ich hatte eine Schippe und ein Sieb und jede Menge Förmchen besessen. Irgendwann hatte ich mit der Schippe ein Loch gegraben, das Sieb und die Förmchen reingeworfen und die Schippe hinterher. Dann hatte ich alles mit den Händen zugeschaufelt und das Zeug nie wiedergefunden.

Ich guckte noch ein bisschen zum Spielplatz und freute mich für die vielen kleinen Dötzekens, die schlauer waren als ich, und dann fiel mir die Fundnudel wieder ein. Ich ging langsam über den Gehsteig, den Blick auf die grauen Pflastersteine am Boden gerichtet. Ich sah ein zerknülltes Duplo-Papierchen. Ich sah ein paar Scherben, die vor den großen Altglascontainern verstreut lagen, und eine ausgetretene alte Zigarettenkippe. Dann sah ich zwei kleine Füße mit hellen Strümpfen in offenen Sandalen.

Ich hob den Kopf. Der Junge, der da vor mir stand, reichte mir gerade so bis an die Brust. Das heißt, sein dunkelblauer Sturzhelm reichte mir bis an die Brust. Es war ein Sturzhelm, wie ihn Motorradfahrer tragen. Ich hatte gar nicht gewusst, dass es die auch für Kinder gibt. Es sah völlig beknackt aus. Das Durchguckding vom Helm war hochgeklappt.

VISIER: Ein Durchguckding. Ich hab Berts danach gefragt, der fährt ein Motorrad. Jule und Massoud sind zusammen im Urlaub, hat er außerdem gesagt. Pfff …

»Was machst du da?«, sagte der Junge. Seine Zähne waren riesig. Sie sahen so aus, als könnte er damit ganze Stücke aus großen Tieren rausbeißen, einem Pferd oder einer Giraffe oder dergleichen.

»Ich suche was.«

»Wenn du mir sagst, was, kann ich dir helfen.«

»Eine Nudel.«

Er guckte sich ein bisschen auf dem Gehsteig um. Als er den Kopf senkte, brach sich spiegelnd und blendend Sonnenlicht auf seinem Helm. An seinem kurzärmeligen Hemd, bemerkte ich, war ein winziges knallrotes Flugzeug befestigt wie eine Brosche. Eine Flügelspitze war abgebrochen. Zuletzt guckte der kleine Junge kurz zwischen die Büsche vor dem Zaun vom Spielplatz, eine Idee, auf die ich noch gar nicht gekommen war.

»Was für eine Nudel ist es denn?«, sagte er.

»Auf jeden Fall eine Fundnudel. Eine Rigatoni, aber nur vielleicht. Genau kann man das erst sagen, wenn man sie gefunden hat, sonst wäre es ja keine Fundnudel. Ist doch wohl logisch, oder?«

»Hm …« Er legte den Kopf leicht schräg. Der Mund mit den großen Zähnen drin klappte wieder auf. »Kann es sein, dass du ein bisschen doof bist?«

Also echt!

»Ich bin ein tiefbegabtes Kind.«

»Tatsache?« Jetzt sah er wirklich interessiert aus. »Ich bin hochbegabt.«

Nun war ich auch interessiert. Obwohl der Junge viel kleiner war als ich, kam er mir plötzlich viel größer vor. Es war ein merkwürdiges Gefühl. Wir guckten uns so lange an, dass ich dachte, wir stehen hier noch, wenn die Sonne untergeht. Ich hatte noch nie ein hochbegabtes Kind gesehen, außer mal im Fernsehen bei Wetten, dass ..? Da war ein Mädchen gewesen, das spielte wie eine Bekloppte irgendwas total Schwieriges auf der Geige, und gleichzeitig rief der Gottschalk ihr kilometerlange Zahlen zu und sie musste dann sagen, ob es eine Primzahl war oder nicht. Frau Dahling hatte, ohne zu kauen, ein Lachsmüffelchen runtergeschluckt und gesagt, die Kleine würde es mal weit bringen, weshalb ich gedacht hatte, Primzahlen wären was Wichtiges. Sind sie aber nicht.

PRIMZAHL: Eine Primzahl ist eine Zahl, die man nur durch 1 und durch sich selber teilen kann, wenn man keine Brüche erhalten will. Zum Beispiel an den Armen. Wenn ich der Gottschalk gewesen wäre, hätte ich das Mädchen gefragt, warum sie nicht lieber Blockflöte oder Trompete spielt. Da kann man zur Not einfach nur reinpusten.

»Ich muss jetzt weiter«, sagte ich endlich zu dem Jungen. »Bevor es dunkel wird. Sonst verlaufe ich mich womöglich.«

»Wo wohnst du denn?«

»Da vorn, das gelbe Haus. Die 93. Rechts.«

Ich ärgerte mich im selben Moment, dass ich rechts gesagt hatte. Erstens wusste ich nicht wirklich, ob es rechts war oder nicht doch eher links, und zweitens liegt gegenüber der Häuserzeile das alte Urban-Krankenhaus, lang gestreckt wie eine schlafende Katze, und man erkennt sofort, dass das kein Wohnhaus ist.

Der Junge schaute an meinem ausgestreckten Arm entlang. Als er die 93 sah, rutschte seine Stirn erst rauf, als wäre ihm gerade eine tolle Erleuchtung gekommen oder so was, und dann wieder runter, als würde er gründlich über etwas nachdenken.

Zuletzt wurde seine Stirn wieder ganz glatt und er grinste. »Du bist wirklich doof, oder? Wenn man etwas direkt vor Augen hat und nur geradeaus gehen muss, kann man sich unmöglich verlaufen.«

Immerhin stimmte die Straßenseite. Trotzdem wurde ich langsam sauer. »Ach ja? Ich kann das. Und wenn du wirklich so schlau wärst, wie du behauptest, wüsstest du, dass es Leute gibt, die das können.«

»Ich –«

»Und ich sag dir noch was: Es ist kein bisschen witzig!« Alle Bingokugeln waren auf einmal rot und klackerten durcheinander. »Ich hab mir nicht ausgesucht, dass aus meinem Gehirn manchmal was rausfällt! Ich bin nicht freiwillig dumm oder weil ich nicht lerne!«

»Hey, ich –«

»Aber du bist ja wohl eins von den Superhirnen, die alles wissen und dauernd mit irgendwas angeben müssen, weil sich nämlich sonst keiner für sie interessiert, außer wenn sie im Fernsehen Geige spielen!«

Es ist total peinlich, aber wenn ich mich heftig über etwas aufrege, zum Beispiel Ungerechtigkeit, fange ich an zu heulen. Ich kann überhaupt nichts dagegen machen. Der Junge kriegte ganz erschreckte Augen unter seinem Sturzhelm.

»Jetzt wein doch nicht! Ich hab das gar nicht so –«

»Außerdem weiß ich, was ’ne Primzahl ist!«, brüllte ich.

Was vor lauter Aufregung im Moment so ziemlich das Einzige war, das ich noch wusste. Jetzt sagte der Junge gar nichts mehr. Er guckte runter auf seine Sandalen. Dann guckte er wieder hoch. Seine Lippen waren ganz dünn geworden. Er streckte eine Hand aus. Sie war so klein, dass sie doppelt in meine passte.

»Ich heiße Oskar«, sagte er. »Und ich möchte mich aufrichtig bei dir entschuldigen. Ich hätte mich nicht über dich lustig machen dürfen. Das war arrogant.«

Ich hatte keine Ahnung, was er mit dem letzten Wort meinte, aber die Entschuldigung hatte ich verstanden.

ARROGANT: Wenn man auf jemanden herabsieht. So schlau kann Oskar also gar nicht sein, schließlich ist er viel kleiner als ich und musste ständig zu mir raufgucken.

Man muss nett sein, wenn jemand sich entschuldigt. Wenn einer nur so tut als ob, kann man ruhig weiter sauer sein, aber Oskar meinte es aufrichtig. Hatte er ja gesagt.

»Ich heiße Rico«, sagte ich und schüttelte seine Hand. »Mein Vater war nämlich Italiener.«

»Ist er tot?«

»Logisch. Sonst hätte ich ja nicht war gesagt.« Der Wehmeyer hat gesagt, eine meiner Stärken beim Schreiben von Aufsätzen wären die Zeiten, also Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und die So-als-ob-Zeit.

»Tut mir leid. Wie ist er denn gestorben?«

Ich gab keine Antwort. Ich hab noch nie jemandem davon erzählt, wie Papa gestorben ist. Das geht keinen was an. Es ist eine sehr traurige Geschichte. Ich zog die Nase hoch, guckte über den Zaun auf den Spielplatz und versuchte, an was anderes zu denken. Zum Beispiel, ob dort auch Schippen und Förmchen und Siebe und so weiter vergraben waren, und wenn ja, wie viele und in welchen Farben. Bestimmt waren es hunderte. Wenn ich sie alle ausgrub, konnte Mama sie bei eBay versteigern, zusammen mit ihren Handtaschen.

Oskar druckste ein bisschen herum, als er merkte, dass da nichts mehr kam. Irgendwann nickte er endlich und sagte: »Ich muss jetzt nach Hause.«

»Ich auch. Sonst schmilzt die Butter.« Ich hob die Einkaufstasche hoch. Und dann, weil er so ordentlich aussah in seinen komischen Klamotten, wie eins von diesen Kindern, die dauernd Gemüse und Obst und zuckerfreies Müsli aus dem Bioladen essen müssen, sagte ich: »Unsere Butter war alle, weil es bei uns heute Mittag Fischstäbchen mit Blutmatsche gab.«

Ich ging und nahm mir vor, mich kein einziges Mal umzudrehen. Der sollte bloß nicht denken, dass ich ihn toll fand mit seinem Sturzhelm und den Monsterzähnen. Dann drehte ich mich doch um und sah ihn in die andere Richtung in der Dieffe verschwinden. Von Weitem sah er aus wie ein sehr kleines Kind mit einem sehr großen blauen Kopf.

Erst als ich wieder zu Hause war, die Butter in den Kühlschrank geräumt hatte und anfing, mit einem Messer das Eisfach auszukratzen, fiel mir ein, dass ich Oskar gar nicht gefragt hatte, was er mutterseelenallein hier im Kiez zu suchen hatte. Oder was das kleine knallrote Flugzeug an seinem Hemd bedeutete. Und warum er einen Sturzhelm für Motorradfahrer trug, obwohl er zu Fuß unterwegs war.

Frau Dahlings Locken waren ganz hübsch geworden. Ich drückte ihr die Salzstangen in die Hand, als sie mich einließ. Durch die offene Wohnzimmertür fiel rotgoldenes Abendlicht bis in den Flur. Da hängen überall kleine Bildchen in Plastikrahmen an den Wänden, meistens mit gezeichneten kleinen Kindern drauf, die ganz große Augen haben und zum Beispiel vor dem Eiffelturm stehen oder auf einer Brücke in Venedig. Es gibt auch Bilder mit Clowns und dergleichen drauf, von denen die Hälfte heult. Ziemlich kitschig.

»Mir geht’s nicht wirklich gut, Schätzchen«, sagte Frau Dahling und machte die Wohnungstür zu. »Ich hab so ein graues Gefühl.«

Fast hätte ich gejuchzt. Ein graues Gefühl bedeutet, dass wir keinen Liebesfilm gucken. Ich habe nichts gegen Liebesfilme, aber sie machen mich manchmal ein bisschen nervös. Es gibt keinen einzigen Liebesfilm über tiefbegabte Menschen, als würden die niemanden finden zum Verknallen. Okay, es gibt Forrest Gump, aber der Film hat kein glückliches Ende, und außerdem kann ich Forrest nicht besonders gut leiden, er ist so schrecklich aufdringlich und verfressen.

Frau Dahling legte mir eine Hand auf die Schulter und lotste mich vor sich her in ihr Wohnzimmer. So doof bin ich nun auch nicht, dass ich mich in ihrer kleinen Wohnung verlaufen würde, aber ich sagte nichts. Das graue Gefühl macht ihr immer ordentlich zu schaffen, da muss man ein bisschen Rücksicht nehmen.

»Hast du eigentlich rausgekriegt, von wem die Nudel war? Fitzke?«

»Nee.«

Ich erzählte ihr nicht, dass der Blödmann die gute Fundnudel einfach verschlungen hatte. Ich pflanzte mich auf das Sofa und guckte unauffällig auf den Tisch. Ein Teller mit Leberwurstschnittchen, kleinen Gurken und halbierten Tomaten stand darauf. Mein Magen rumpelte los. Frau Dahling macht die besten Müffelchen der Welt.

»Wenn’s der Fitzke nicht war«, überlegte sie, »dann war es wahrscheinlich eine von den Kessler-Gören.«

»Nee. Kesslers sind im Urlaub. Seit gestern. Genau wie die Runge-Blawetzkys.«

Kesslers sind schon im Fernsehen und in der Zeitung gewesen und alles. Sie sind eine Sensation, weil Frau Kessler zweimal Zwillinge bekommen hatte, und zwar innerhalb desselben Jahres – zwei Jungen im Januar, zwei Mädchen im Dezember. Zwischen die doppelten Geburtstage passen also gerade mal eben so Weihnachten und Silvester. Teure Sache, das, meint Herr Kessler immer, aber er grinst dabei ganz stolz. Doppelte Zwillinge, das musste ihm erst mal einer nachmachen. Die Zwillinge sind sechs und sieben Jahre alt. Frau Dahling hasst sie wie die Pest und nennt sie Brüllwürfel.

Sie steckte die Salzstangen in ein Glas, das sie neben die Müffelchen auf den Tisch stellte. Sie machte den Fernseher an. Wir gucken immer erst Nachrichten, bevor es an die Spielfilme geht: die Abendschau aus Berlin, danach die Tagesschau. Frau Dahling ist in einen von den Sprechern von der Abendschau verknallt. Er hat braune Augen wie ein Teddybär, heißt Ulf Brauscher und Frau Dahling findet ihn toll. Als sie neulich mal wieder ein Schlückchen Gutes mit Mama getrunken hat, sagte sie, sie fände ihn sexy wie die Hölle.

Heute guckte Ulf Brauscher ganz ernst mit seinen schönen braunen Augen, denn natürlich ging es in der Abendschau um Mister 2000 und das freigelassene Kind aus Lichtenberg. Die Eltern wollten keine Interviews geben, also wurden nur die Fotos von den anderen Kindern gezeigt, die inzwischen jeder Berliner aus der Zeitung und der Glotze längst auswendig kennt: zwei Jungen und zwei Mädchen, keines von ihnen älter als sieben Jahre. Alle lächeln auf den Fotos, bis auf die kleine Sophia aus Tempelhof. Kinder sehen eigentlich immer niedlich aus, selbst wenn sie hässlich sind, aber die kleine Sophia ist die Ausnahme. Das bekannte Foto von ihr ist ein wenig unscharf, aber selbst darauf sieht man, wie dicht ihre Augen beisammenstehen in ihrem total flachen Mondgesicht. Sie hat schmale Lippen, die fast so farblos wie die dünnen Augenbrauen sind, ihre blonden Haare hängen strähnig auf die Schultern und sie trägt ein zerknittertes, dunkelrosafarbenes T-Shirt, das noch dazu beferkelt ist mit einem dicken roten Fleck Erdbeersoße oder dergleichen. Wer so aussieht und herumläuft, wird gern mal auf dem Schulhof ausgelacht oder verarscht. Sophia war das zweite Entführungsopfer von Mister 2000 und sie tut mir von allen am meisten leid. Ich weiß, wie das ist, wenn man von anderen dauernd verarscht wird, weil man anders ist.

Ulf Brauscher erklärte, dass es weiterhin keine Spur von dem Entführer gebe, und dann ging es weiter mit Politik. Neben mir machte Frau Dahling ein schnaubendes Geräusch.

»Ich wünschte, ich hätte die Adresse von dem Kerl.«

»Von Ulf Brauscher?« Den Namen konnte ich mir behalten, weil er regelmäßig unten im Bild eingeblendet wurde. Ansonsten ist mein Namensgedächtnis ziemlich im Eimer, und der Eimer hat zusätzlich auch noch ein Loch im Boden.

»Nee, von dem ALDI-Kidnapper.« Frau Dahling schob sich eine halbe Tomate in den Mund. »Dem würde ich gern persönlich ’ne Einladung schicken, sich eine von den Kessler-Gören abzuholen. Für die Eltern wäre das nur halb so schlimm, weißt du. Sie hätten ja auf jeden Fall immer noch ein Kind in petto, das genauso aussieht.«

»Was ist in petto?«

»Übrig.«

Das Problem mit Fremdwörtern ist, dass sie oft was ganz Einfaches bedeuten, aber manche Leute es lieber kompliziert ausdrücken.

Frau Dahling schob ein Gürkchen hinter der halben Tomate her. Es gab kleine Kracher, als sie darauf herumkaute. Dann leckte sie sich die Finger. »Wäre jedenfalls kein Verlust, wenn du mich fragst.« Sie schnaubte noch mal. »Diese Brüllwürfel sind das Schlimmste, was je in diesem Haus gewohnt hat!«

»Ich finde Fitzke schlimmer.«

Sie winkte ab und fischte nach ein paar Salzstangen. »Ach, der simuliert doch bloß. Ein Müffelchen, Rico?«

SIMULIEREN: So tun als ob. Zugegeben, das sind vier Wörter, um ein Wort zu erklären. Aber in beiden Fällen sind es gleich viele Buchstaben. Da könnte man es auch gleich so sagen, dass es jeder sofort versteht.

Ich schnappte mir ein Müffelchen und ein Stück Gurke. Frau Dahling kaute ihre Salzstangen, dann griff sie plötzlich nach der Fernbedienung und stellte den Ton vom Fernseher ab. Man sah Bilder vom Dom und von ein paar Baukränen, aber die Erklärungen dazu fehlten. Stille breitete sich im Wohnzimmer aus. Frau Dahling blickte geradeaus mit ein bisschen verschwommenen Augen und rührte sich nicht mehr. Ich guckte sie aus dem Augenwinkel an und kaute dabei vorsichtig das Müffelchen und die Gurke. Es ist immer ein bisschen gruselig, wenn das graue Gefühl über sie kommt.

»Was?«, sagte Frau Dahling nach einer Weile unwillig, ohne den Kopf in meine Richtung zu drehen.

»Sie könnten mal ausgehen«, sagte ich.

»Ist das deine Idee oder eine von deiner Mutter?«

»Meine.«

Die Idee stammte von Mama. Man muss aufpassen, wenn man als tiefbegabtes Kind Sachen sagt, die klingen könnten, als hätte man sie sich nicht selber ausgedacht. Ruck, zuck denken die Leute sonst, man wäre ein angeberischer Lügner und eigentlich doch ganz schlau, und dann stellen sie einem Rechenaufgaben und dergleichen. Aber so doof bin ich auch nicht, als dass ich nicht wüsste, wie man ein graues Gefühl kriegt. Man kriegt es, weil man einsam ist, und andere Leute trifft man nun mal bloß, wenn man ausgeht oder sich jemanden im Internet aussucht. Ich hab keine Ahnung, wie alt Frau Dahling ist, bestimmt schon fast fünfzig. Trotzdem muss sich da doch noch irgendwer auftreiben lassen, der auch gerne Müffelchen isst. An der Fleischtheke bei Karstadt ist jedenfalls noch kein Mann für sie aufgetaucht.

Die Abendschau war vorbei. Ulf Brauscher verschwand. Frau Dahling drückte entschlossen auf die Fernbedienung. Das Bild wurde schwarz, dann erschien das rosafarbene Logo vom DVD-Player.

»Wir gucken Krimi.« Frau Dahling stemmte sich aus dem Sofa und ging zum Schrank mit der Filmsammlung drin. »Miss Marple.«

Jetzt juchzte ich wirklich.

Später, als ich wieder in unserer eigenen Wohnung war und im Bett lag, konnte ich nicht einschlafen. Ein bisschen lag das an Miss Jane Marple. Ich rege mich immer auf, wenn ich einen Krimi mit ihr sehe, weil ich Angst habe, dass ihr was passiert. Beim Gucken vergesse ich vor lauter Spannung immer, dass sie letztes Mal im selben Film den Fall auch überlebt hat.

Ein bisschen lag es auch daran, dass Vollmond war. Er beleuchtete die dunklen, blinden Fenster der leeren Wohnungen vom Hinterhaus. In manchen hängen noch alte Gardinen. Ausgerechnet den dritten Stock kann ich von meinem Bett aus richtig gut sehen. Da hat sich das Fräulein Bonhöfer drin umgebracht. Fräulein Bonhöfer war eine alte Dame. Eines Tages kriegte sie Lungenkrebs und hatte keine Lust auf Krankenhaus. Sie drehte das Gas auf, steckte sich eine letzte Zigarette an und wartete eine Weile. Dann WUMMS!

Erst dachte man, das Hinterhaus habe nicht allzu viel gelitten durch die Explosion. Die Wohnungen, in denen es alles zerdeppert hatte, bekamen neue Fenster und so weiter, aber als es an das Treppenhaus ging, stellte man fest, dass im vierten und fünften Stock nachträglich Risse in den Mauern aufgetaucht waren. Der ganze Kladderadatsch war einsturzgefährlich, und alle Bewohner mussten raus.

Die Fenster im Treppenhaus wurden vernagelt, die Tür aus dem Hof ins Hinterhaus bekam ein fettes neues Sicherheitsschloss, und seitdem streiten sich die vielen verschiedenen Eigentümer der Wohnungen um die Kosten für den Wiederaufbau.

Das ist viele Jahre her. Aber angeblich, das hatte der Mommsen mir gleich nach unserem Einzug erzählt, geistert seitdem das Fräulein Bonhöfer durch ihre alten Zimmer. Mommsen war gerade Hauswart geworden, als die Bonhöfer sich damals umbrachte. Er glaubt fest daran, dass sie in ihrer früheren Wohnung immer noch nach einem Aschenbecher oder dergleichen sucht.

Ich muss da einfach immer rübergucken, ob ich will oder nicht. Ich hab schon oft überlegt, Mama darum zu bitten, Gardinen aufzuhängen oder ein Rollo, aber dann denkt sie vielleicht, ich wäre ein Weichei. Manchmal glaube ich, hinter den Schatten in der Bonhöfer-Wohnung noch tiefere Schatten zu sehen, die durch die leeren Zimmer huschen. Ich weiß zwar, dass ich mir die Tieferschatten nur einbilde, aber das macht die Sache nicht leichter. Vor allem dann nicht, wenn man mal dringend aufs Klo muss, sich aber nicht traut aufzustehen – und ich hab mich noch nie getraut, wenn Mama nachts auf Arbeit ist und ich allein in der Wohnung bin. Ich hab schon seit ein paar Jahren nicht mehr in die Hose gemacht, so wie früher. Aber ich weiß genau: Wenn ich den Tieferschatten länger als eine Minute beim Herumhuschen zusehe, ist es wieder so weit. Deshalb ziehe ich mir vor dem Einschlafen meistens die Decke über den Kopf.

Heute auch.

Unter der Decke dachte ich noch an Oskar und daran, ob ich ihn jemals wiedersehen würde. Dann schlief ich ein.

Nun hab ich fast den kompletten Sonntag gebraucht, um den Samstag aufzuschreiben. Das ist okay, ich hatte meine Ruhe, weil Mama den ganzen Tag schlief. An den Wochenenden bleibt sie noch länger im Club als sonst. Sie ist erst morgens gegen zehn nach Hause gekommen und sofort ins Bett gefallen. Weshalb sie auch nicht mitgekriegt hat, dass ich den ganzen Tag am Computer gesessen habe. Falls mein Experiment schiefgeht, ist sie dann am Schluss wenigstens nicht enttäuscht.

Die Schreiberei ist eine Idee vom Wehmeyer. Das war der Grund dafür, dass ich am Samstag noch mal bei ihm antanzen sollte, obwohl eigentlich schon Ferien waren. Es ging um einen Aufsatz über den Landwehrkanal, den ich vor zwei Wochen geschrieben hatte. Der hatte den Wehmeyer schwer beeindruckt, deshalb wollte er noch mal mit mir darüber reden.

»Deine Rechtschreibung zieht einem zwar die Schuhe aus, Rico«, sagte er. »Aber wie du schreibst, das hat schon was. Du bist ein guter Erzähler … wenn man die längere Abschweifung mal außer Acht lässt. Weißt schon – die mit der Nordsee.«

Der Landwehrkanal fließt praktisch direkt hinter der Dieffe 93 vorbei. Man kann da prima am Ufer sitzen, unter den schönen Trauerweiden oder einfach im Gras, zwischen vielen anderen Leuten. Man kann aufs glänzende Wasser gucken oder die darauf paddelnden Schwäne ärgern. Ab und zu fährt ein Dampfer vorbei mit Touristen, denen kann man zuwinken. Die winken dann immer so begeistert zurück, als hätten sie noch nie im Leben einen Jungen an einem Ufer sitzen sehen. Steht alles drin in dem Aufsatz.

Mit den Abschweifungen meinte der Wehmeyer ausgerechnet meine Lieblingsstelle, als ich mir vorgestellt hatte, wie man sich als Wasserleiche in so einem Kanal fühlt. Es ist Winter und man ist gerade ins Eis eingebrochen. Die Strömung trägt einen unter dem blauschwarzen Eis vom Landwehrkanal in die Spree. Ich hatte mir vorher auf der Deutschlandkarte angeguckt, wie es dann weitergeht: Die Spree fließt in die Havel und die Havel fließt in die Elbe und die Elbe fließt in die Nordsee und die Nordsee gehört zum Atlantik. Man hat also richtig was davon, wenn man im Landwehrkanal ertrinkt, nämlich eine tolle Reise durch drei Flüsse und am Schluss den Ozean, außer natürlich, man gerät unterwegs in eine Schiffsschraube, die einen völlig zerrunkelt, das wäre ärgerlich.

Der Wehmeyer guckte ganz listig. »Interessierst du dich für Mister 2000? Macht dir das Angst, diese Sache mit den Entführungen?«

Es ging also um die zerrunkelte Wasserleiche. Ich schüttelte den Kopf. Beim Schreiben hatte ich an jemand anderen gedacht, nicht an den ALDI-Entführer, aber das ging den Wehmeyer nichts an.

Er nickte und guckte an die Wand mit den vielen Bildern von seinen Kindern und seiner Frau und seinem Hund und dem Motorrad, das längst nicht so schön ist wie das von Berts.

»Ich hab mir Folgendes überlegt«, sagte er. »Was würdest du davon halten, so eine Art Tagebuch zu führen? Über deine Erlebnisse in den Ferien? Was du so denkst, was du so alles machst … Fahrt ihr in Urlaub, du und deine Mutter?«

»Nein. Ist das ’ne Hausaufgabe?«

»Sagen wir mal: Wenn du es wirklich versuchst, erlasse ich dir dafür nach den Ferien ein paar andere Hausaufgaben.«    

Das klang gut.

»Wie viel soll denn drinstehen?«

»Sagen wir mal … ab zehn Seiten bin ich zufrieden. Ab zwanzig gibt’s einen Bonus.«

»Was ist das?«

»Eine zusätzliche Belohnung.«

Das klang noch besser. Trotzdem war mir nicht ganz wohl dabei. Zwanzig Seiten waren ziemlich viel.

»Und die Rechtschreibfehler?«, sagte ich misstrauisch.

»Um die mach dir erst mal keine Gedanken. Du hast doch sicher einen Computer, oder?«

»Mama hat einen. Wegen eBay.«

Bei eBay wird Mama nicht nur prima die Plastikhandtaschen vom Bingo los, sondern es gibt dort auch für billig Klamotten und so weiter.

»Hat der ein Textverarbeitungsprogramm mit Korrekturfunktion?«

»Was heißt Korrektur?«

»Verbesserung.«

Verbesserungsfunktion: Ab und zu kriegt man ein Wort erklärt und versteht es dann leider erst recht nicht. Jedenfalls nicht sofort. Zum Beispiel könnte man sich bei Verbesserungsfunktion fragen, warum man was verbessern sollte, obwohl es längst tadellos funktioniert. Und schon ist man reingefallen!

Manchmal bastelt der Wehmeyer extralange Wörter und Sätze zusammen, um uns zu ärgern. Wenn ich einen schlechten Tag habe, rege ich mich darüber auf und dann geht bei mir die Bingotrommel los. Aber heute würde ich mich nicht ärgern lassen. Jetzt waren Ferien. Außerdem, das muss ich zugeben, schmeichelte mir sein Vorschlag ein bisschen. Ein Tagebuch …

Es dauerte eine Weile, dann hatte ich die vielen Wörter sortiert und verstanden. Als Mama unseren Computer gekauft hat, ist so ein Textprogramm und anderer Schnickschnack umsonst dabei gewesen. Mama benutzt es ab und zu, um Briefe zu schreiben. Ich nickte.

»Gut«, sagte der Wehmeyer. »So ein Programm verbessert deine Fehler nämlich automatisch.«

Ich war verblüfft. »Echt?«

»Echt. Aber tu mir einen Gefallen und guck dir wenigstens ein paar von den übelsten Fehlern an. Vielleicht lernst du was draus.«

Klar, ganz bestimmt! Wenn ich mir jeden Fehler einzeln angucke, dreht die Bingomaschine garantiert völlig durch.    

»Abgemacht?«, sagte Wehmeyer.

»Abgemacht.«

Er grinste und hob eine Hand. »Gib mir fünf.«

Ich schob meinen Stuhl zurück, stand auf, sagte schnell Tschüs und ging. Wenn der jetzt auch noch mit Mathe anfing, bekäme ich echt schlechte Laune.

Ja, und das war’s bis jetzt. Schon über zwanzig Seiten. Ich kann also eine Pause machen. Schreiben ist anstrengend. Aber den zusätzlichen Belohnungsbonus hab ich längst in der Tasche. Der Wehmeyer wird ganz schön Augen machen.

Nur dieses vollautomatische Verbesserungsdings ist nicht so toll. Weiter oben hatte ich ein Wort falsch geschrieben, da stand Schwene an Stelle von Schwäne. Das Programm hat mir zur Verbesserung folgenden Satz vorgeschlagen: Man kann aufs glänzende Wasser gucken oder die darauf paddelnden Schweine ärgern.

Gegen Mittag klingelte es an der Wohnungstür. Mama war gerade aufgestanden und an meinem Zimmer vorbeigeschlurft. Ich hörte sie in der Küche herumkruspeln, wo sie Kaffee aufsetzte.

»Machst du mal auf?«, rief sie.

Den Mann vor der Tür hatte ich noch nie zuvor gesehen. Er war groß und schlank, hatte kurze schwarze Haare, krachblaue Augen und am Kinn eine kleine Narbe. Er sah aus wie ein Schauspieler.

»Guten Tag!« Er lächelte und streckte mir die Hand entgegen. »Ich dachte, dass ich mich endlich mal vorstellen sollte. Bin ja schon vor ein paar Tagen eingezogen, oben im Vierten. Simon Westbühl.«

Ich gab keine Antwort. Ich starrte abwechselnd auf die Narbe an seinem Kinn und auf seine ausgestreckte Hand und wünschte mir, er hieße nur Bühl. Vor meinen Augen drehte sich eine kleine Kompassnadel wie wild im Kreis– Westen, Osten, Westen, Osten. Ich lief rot an und begann zu schwitzen. Das ist das Problem mit den Bingokugeln: Sie kullern einfach drauflos, ob es mir gerade passt oder nicht. Ich hörte sie förmlich gegen die Innenseite von meinem Schädel klackern.

Der Bühl lächelte freundlich weiter, aber in seinen Augen standen plötzlich zwei winzig kleine Fragezeichen, als hätte er noch nie einen fürchterlich schwitzenden Jungen gesehen. Seine Hand hing immer noch vor mir in der Luft. Er musste mich für komplett bekloppt halten. Ich beschloss, mich zusammenzureißen. Selbst für ein tiefbegabtes Kind ist ein Name mit einer einzigen Himmelsrichtung drin keine wirkliche Herausforderung.

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