Romana Extra Band 160 - Rona Wickstead - E-Book

Romana Extra Band 160 E-Book

Rona Wickstead

0,0
5,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

DIE BUCHT DER HEIMLICHEN TRÄUME von RONA WICKSTEAD

Strand, Meer und Sonne – in Griechenland will Charlotte eine Enttäuschung vergessen. Als sie in der malerischen Bucht von Pilion den charmanten Alexis kennenlernt, ist ihr Glück perfekt. Doch dann muss sie glauben, dass Alexis hinter einem skrupellosen Bauprojekt steckt …

STERN DER LIEBE ÜBER SYDNEY von MICHELLE DOUGLAS

Brees erster Stopp auf ihrem geplanten Roadtrip durch Australien ist die Hochzeit des besten Freundes ihres Bruders. Doch Bräutigam Noah wird vor dem Altar sitzen gelassen! Und plötzlich reist Bree nicht allein weiter, sondern mit dem enttäuschten, aber umwerfend sexy Noah …

NIE ZU SPÄT FÜR DAS GROSSE GLÜCK von ALISON ROBERTS

Kinderherzchirurg Anthony Morgan heilt kleine Herzen. Sein eigenes dagegen scheint seit einem Familiendrama für immer zerbrochen. Bis er die aparte Schwester Elsie kennenlernt. Vielleicht gibt es auch für sein Herz Hilfe! Durch Freundschaft – oder vielleicht sogar durch Liebe?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 533

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Rona Wickstead, Michelle Douglas, Alison Roberts

ROMANA EXTRA BAND 160

IMPRESSUM

ROMANA EXTRA erscheint in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0 Fax: +49(0) 711/82 651-370 E-Mail: [email protected]
Geschäftsführung:Katja Berger, Jürgen WelteLeitung:Miran Bilic (v. i. S. d. P.)Produktion:Christina SeegerGrafik:Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

Deutsche Erstausgabe 2025 in der Reihe ROMANA EXTRA, Band 160

© 2025 by Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg für Rona Wickstead: „Die Bucht der heimlichen Träume“

© 2021 by Michelle Douglas Originaltitel: „Billionaire’s Road Trip to Forever“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Maike Claußnitzer

© 2023 by Alison Roberts Originaltitel: „How to Rescue the Heart Doctor“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Dorothea Ghasemi

Abbildungen: Jorge Ferreiro, santosha57 / Adobe Stock, alle Rechte vorbehalten

Veröffentlicht im ePub Format in 06/2025 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783751533119

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. Jegliche nicht autorisierte Verwendung dieser Publikation zum Training generativer Technologien der künstlichen Intelligenz (KI) ist ausdrücklich verboten. Die Rechte des Autors und des Verlags bleiben davon unberührt. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, JULIA, HISTORICAL, TIFFANY

Alles über Roman-Neuheiten, Spar-Aktionen, Lesetipps und Gutscheine erhalten Sie in unserem CORA-Shop www.cora.de

Werden Sie Fan vom CORA Verlag auf Facebook.

Rona Wickstead

Die Bucht der heimlichen Träume

1. KAPITEL

Es war die Stille, die ihm so ungewöhnlich vorkam. Alexis Kalokairis versuchte sich zu erinnern, wann er zum letzten Mal hier gewesen war. Vermutlich war es mehr als fünfzehn Jahre her. Normalerweise bevorzugte er Orte, in denen es lebhafter zuging: Athen, Santorini und all die anderen Hotspots rund um das Mittelmeer, in denen man feiern konnte, wo immer etwas los war und man jederzeit Leute fand, die bereit waren, die verrücktesten Sachen zu unternehmen.

Im Gegensatz dazu war hier niemand. Bis auf die ältere Frau aus Argalasti, die mehrmals in der Woche im Haus sauber machte, war Alexis völlig allein. Das war vermutlich das Ungewohnteste an seiner augenblicklichen Situation.

Während er noch an der Brüstung der Terrasse stand und über die Olivenbäume hinweg auf das Meer blickte, klingelte sein Handy. Er brauchte im Grunde nicht mal auf das Display zu schauen, um zu wissen, dass es seine Großmutter war. „Hallo, Yiayia!“

„Hallo, mein Junge“, hörte er die Stimme von Anastasia Melidis. „Bist du gut in der Villa angekommen?“

„Natürlich“, antwortete er ein wenig pikiert. Hielt ihn eigentlich die ganze Welt für unfähig? „Die Fahrt von Athen nach Volos dauert nur dreieinhalb Stunden, und die Kurvenstrecke über die Pilion-Halbinsel bis zu unserer Bucht habe ich auch recht schnell geschafft. Das ist keine Nordpolexpedition.“

„Nein, mittlerweile nicht mehr“, meinte die alte Griechin gut gelaunt. „Inzwischen sind die Straßen auf der Halbinsel asphaltiert und die Buchten mit Strom versorgt. Das war damals noch anders, als dein Großvater und ich diese Gegend entdeckten. Wildromantisch war das. Aber ich rufe nicht an, um mit dir über alte Zeiten zu plaudern, in denen du noch gar nicht auf der Welt warst.“

„Vermutlich nicht“, sagte er. „Ich schätze, du willst wissen, ob ich schon etwas erreicht habe. Die Antwort ist Nein. Ich bin ja erst seit gestern hier.“

„Nun sei mal nicht so empfindlich“, entgegnete sie unbeeindruckt. „Ich weiß, wir haben ausführlich über unsere Vorgehensweise gesprochen. Ich gehe davon aus, dass du die Baupläne für den Hotelkomplex vor deiner Abreise bekommen hast?“

„Ja, ich habe alles bei mir. Dieser Architekt – Jannis Liagouras – wird morgen Nachmittag vorbeikommen und sie mit mir durchgehen. Ich möchte sichergehen, dass das Gebäude weit genug von der Villa entfernt ist, um auch den Blick zur Seite nicht zu versperren. Den Plänen nach wird es ja ziemlich groß werden. Sechzig Zimmer sind kein Pappenstiel.“

„Das ist genau der Grund, weshalb mir wichtig war, dass du von Anfang an das Projekt vor Ort begleitest“, rief Anastasia. „Und natürlich, damit du die Geschichte mit dem Grundstück für die Zufahrt regelst.“

„Ich weiß, Yiayia. Ich werde alles daransetzen, möglichst schnell herauszukriegen, wem es gehört, und es ohne großes Aufsehen kaufen.“

„Das ist der Punkt“, sagte sie. „Wenn die Leute erst mal mitbekommen, dass wir in der Bucht ein Hotel bauen wollen, dann will jeder ein Stück vom Kuchen abhaben. Die Preise werden sofort in die Höhe schnellen.“

Alexis musste lächeln. Es war faszinierend, dass Anastasia eine liebevolle Großmutter und gleichzeitig eine gewiefte Geschäftsfrau sein konnte. „Es sollte kein großes Problem sein, den Eigentümer dieser Parzelle zu finden und zum Verkauf zu überreden. Und bis dahin wird niemand in der Gegend etwas über unsere Pläne erfahren.“

„Du wirst das schon regeln, mein Junge“, sagte sie. „Ich wollte dir nur noch einen Tipp geben. Warst du schon in der kleinen Taverne am Strand?“

Alexis seufzte. „Ich sagte doch, ich bin gestern erst hier angekommen.“

„Du könntest testen, ob die immer noch so einen hervorragenden Tsatsiki machen. Und wenn du dort den alten Filippos triffst, dann grüß ihn von mir und erkundige dich ganz nebenbei nach dem Grundstück. Der kennt so ungefähr jeden in der Gegend. Vielleicht ist das die einfachste Art, es herauszubekommen.“

„Das ist eine gute Idee. Ich werde gleich heute mal vorbeigehen und es versuchen. Je schneller wir das Thema vom Tisch haben, desto besser.“ Er trat wieder an die Brüstung und schaute, ob er die Taverne von der Terrasse aus erkennen konnte. Aber die Bäume waren im Weg. Stattdessen leuchtete ein Stückchen weiter rechts etwas Knallrotes durch die Zweige. Er runzelte die Stirn. Was war denn das?

„Tu das. Ich verlasse mich auf dich. Es wäre doch gelacht, wenn wir beide nicht in der Lage wären, so ein Projekt auf die Beine zu stellen.“

„Genau, Yiayia.“ Er verabschiedete sich mit einem Gefühl der Dankbarkeit. Wenigstens sie vertraute ihm noch, nachdem sein Vater und sein Bruder Stavros ihn für unfähig erklärt und aus der Geschäftsführung der Reederei Kalokairis entfernt hatten.

Es war nicht angenehm, sich an das Desaster zu erinnern, aber genau wie sich ein kranker Zahn zum ungünstigsten Zeitpunkt immer wieder meldete, trat ihm regelmäßig vor Augen, wie er sich gleich mit seinem ersten wichtigen Kooperationsprojekt blamiert hatte. Wenn er ehrlich war, hatte er von Anfang an Zweifel gehabt, ob er dem Deal zustimmen sollte, aber seine Verlobte Daphne und ihr Vater waren so überzeugend gewesen … und es hätte der Grundstein einer engeren Zusammenarbeit zwischen den Familien Kalokairis und Markoudis werden können, genau wie seine Hochzeit mit Daphne.

Aber dann war beides gescheitert: zuerst das Geschäft, dann die Beziehung. Der alte Markoudis hatte alle Schuld von sich gewiesen und Alexis als einen unfähigen Geschäftsmann hingestellt.

Er hatte nicht ganz unrecht, musste Alexis zugeben, zumindest was die Reederei betraf. Dafür hatte er sich nie so recht begeistern können, im Gegensatz zu Stavros, dem dieses Geschäft sozusagen im Blut lag. Aber wenn die eigene Familie damit seit Generationen ihr Geld verdiente, lag es einfach nahe, auch dort tätig zu werden.

Lange genug hatte er diese Entscheidung hinausgezögert und die Geduld seines Vaters auf eine harte Probe gestellt, während er das süße Leben rund um das Mittelmeer und darüber hinaus genoss. Aber er hatte die Vereinbarung respektiert, dass er spätestens zu seinem dreißigsten Geburtstag in die Firma einsteigen würde. Das hatte leider nur ein Jahr gehalten. Er seufzte. Vor zwei Monaten war er einunddreißig geworden – und hatte bisher nichts Bedeutendes in seinem Leben vorzuweisen. Vermutlich war es das, was Daphne ihm am meisten übel nahm, auch wenn sie es nie ausgesprochen hatte.

Er zwang sich, an etwas anderes zu denken. Am besten setzte er direkt den Tipp seiner Großmutter in die Tat um. Er zog sich Shorts und ein hellblaues Leinenhemd an, schlüpfte in seine Loafer und setzte die Sonnenbrille auf. Es war nicht das Schlechteste, wenn sein neues Projekt mit einem Tavernenbesuch begann.

Langsam ging er die Auffahrt hinunter und musste daran denken, wie er als Kind manchmal einen Teil seiner Sommerferien hier verbracht hatte, während seine Eltern ihre Kreuzfahrten machten, die nie reiner Urlaub, sondern immer auch ein Stück weit Business waren, weil sie wichtige Geschäftspartner mitnahmen. Großmutter Anastasia, die Mutter seiner Mutter, hatte ihm in diesen Wochen viel Freiheit gelassen. Jeden Morgen war er voller Begeisterung zum Strand gelaufen und hatte sich mit den anderen Kindern getroffen – die meisten von ihnen gehörten zu den Familien, die am Strand kampierten, entweder mit Zelten oder mit Wohnmobilen, rostige, häufig selbst ausgebaute Gefährte mit bunten Aufklebern, die den Protest ihrer Besitzer gegen alles Mögliche zum Ausdruck brachten. Es waren schöne Zeiten gewesen. Vielleicht hatte er sich nie so sorglos und glücklich gefühlt wie damals.

Die Taverne sah aus wie früher. Aus dem kleinen Wirtschaftsgebäude strömte der Duft von gegrilltem Fleisch. Jetzt, Anfang Juni, hatte die eigentliche Saison noch nicht begonnen, deshalb war die Terrasse menschenleer. Im Juli und August war hier manchmal kein freier Platz zu finden gewesen, erinnerte er sich. Alexis setzte sich an einen Tisch unter dem mit Weinlaub überrankten Holzgestell, von dem abends bunte Lichterketten die Tische beleuchteten.

Ein junger Mann kam aus dem Haus und sah ihn neugierig an. „Alexis? Bist du das?“

Alexis lachte. „Ganz recht, Kostas. Nach all den Jahren bin ich mal wieder hier.“

„Na so was!“ Kostas grinste. „Wie du siehst, gibt es die Taverne immer noch. Nur dass ich sie inzwischen übernommen habe.“

„Echt jetzt? Und dein Großvater? Ist der auch hier?“

Ein Schatten legte sich über das Gesicht des Gastwirts. „Nein, leider nicht. Der hatte diesen Winter einen Schlaganfall und lebt jetzt in Lavkos bei meiner Tante.“

„Oh“, sagte Alexis enttäuscht, nicht nur, weil er nun Anastasias Ratschlag nicht mehr umsetzen konnte, sondern auch weil er bedauerte, den freundlichen alten Mann nicht wiedersehen zu können. „Das tut mir leid.“

„So ist der Lauf der Dinge, nicht wahr?“, sagte Kostas achselzuckend. „Und du? Machst du Urlaub in der Villa deiner Großmutter? Ist deine Familie auch hier?“

„Nein, ich bin allein“, antwortete Alexis und fügte rasch hinzu: „Ich wollte spontan für ein paar Tage ausspannen.“ Es sollte auf keinen Fall so klingen, als hätte er niemanden, der mit ihm hierherfahren würde.

„Schön, dich mal wiederzusehen!“, freute sich Kostas. „Deine Cousins und Cousinen sind ja im Sommer immer mal wieder hier und bevölkern die Villa. Aber du hast dich lange nicht blicken lassen.“

„Ich war viel unterwegs“, sagte Alexis ausweichend. „Und wie läuft es für dich so?“

Kostas wiegte den Kopf. „Bisher kommen nur einige Griechen an den Wochenenden, aber in ein, zwei Wochen werden die ersten Touristen anreisen, schätze ich. Wir haben jetzt eine Webseite, und ich habe schon Anfragen für Tischreservierungen.“

Alexis lachte. „Webseite! Tischreservierungen! Wer hätte das gedacht, als dein Großvater damals hier die ersten Plastikstühle um seine selbst gebauten Holztische aufstellte! Ich entsinne mich noch daran, wie die Fläche hier dafür gegossen wurde.“

„Ja, die Zeiten ändern sich“, meinte Kostas. „Du solltest mal die umliegenden Buchten sehen. Da ist viel gebaut worden.“ Sein Blick wurde fragend. „Euch gehört immer noch der Großteil der Grundstücke hier, nicht wahr? Habt ihr mal darüber nachgedacht, sie zu verkaufen? Es gibt eine Menge Leute, die sich hier gern ein Ferienhäuschen zulegen würden.“

„Das muss meine Großmutter entscheiden“, antwortete Alexis ausweichend. Er wusste, bei diesem Thema musste er vorsichtig sein. Andererseits hatte Kostas ihm gerade eine Steilvorlage für eine seiner wichtigsten Fragen geliefert. „Aber was ist zum Beispiel mit dem Land, auf der der verfallene Ziegenstall steht? Du weißt schon, das Stück, bevor die Straße unten auf die Zufahrt zum Strand trifft. Hat das inzwischen den Besitzer gewechselt?“

„Ich weiß, was du meinst. Früher gehörte es diesem Glatzkopf, der auf Skiathos eine Bäckerei hatte, weißt du noch? Aber der ist inzwischen tot. Ich habe keine Ahnung, wer es geerbt hat.“ Kostas verzog den Mund. „Aber das ist nicht gerade das Sahnestück dieser Bucht, so lang und schmal und zu tief gelegen für einen anständigen Meerblick. Wieso willst du das wissen?“

Alexis versuchte ein harmloses Gesicht zu machen. „Fiel mir nur gerade so ein.“

„Ich hab gesehen, dass dort neuerdings ein Wohnmobil steht“, bemerkte Kostas. „Vielleicht wissen die Leute mehr.“

„Ach, ist nicht so wichtig“, behauptete Alexis und bestellte sich rasch ein Souvlaki, um das Thema zu wechseln. Aber nach dem Essen würde er den kleinen Umweg machen und gucken, ob sich auf diesem Wege etwas in Erfahrung bringen ließ.

An diesem Tag war das Wasser spiegelglatt. Und ziemlich kühl, dachte Charlotte, als sie die Taucherbrille mit dem Schnorchel absetzte und Richtung Strand schwamm. Klar, es war erst Juni. Sie sollte nicht undankbar sein. In einem englischen Seebad wäre das Meer noch viel kälter, und die Sonne hatte gerade jetzt in der Mittagszeit viel Kraft.

Sie sollte sich wieder eincremen, fiel ihr dabei ein. Mit ihren roten Haaren und der hellen Haut würde sie sonst schnell einen Sonnenbrand riskieren. Am besten sollte sie zu ihrem Camper zurückgehen und sich für eine Stunde in den Schatten setzen. Mit der Zeit würde ihre Haut hoffentlich unempfindlicher werden. Und es könnte auch nicht schaden, mal wieder eine Lektion ihres Griechischkurses auf dem Handy zu hören. Schließlich wollte sie sich ja mit den Menschen hier verständigen können und nicht wie die üblichen Touristen ständig auf die Englischkenntnisse der Einheimischen hoffen müssen.

Sie wickelte sich in ihr Handtuch und beschloss, ihren Sonnenschirm und das mit Steinen beschwerte Strandlaken zurückzulassen. Auf jeden Fall würde sie heute Nachmittag noch einmal hierher zurückkommen. Und so menschenleer wie diese Bucht war, machte sie sich keine Sorgen, dass sich jemand daran zu schaffen machen könnte.

Es war unglaublich ruhig hier. Manchmal war sie regelrecht erleichtert, wenn die Zikaden auf den Bäumen über ihrem alten roten VW-Bus mit dem rustikalen Innenleben ihr schnarrendes Konzert anstimmten, damit sie sicher sein konnte, nicht ihr Gehör verloren zu haben. Nachts hingegen, wenn sie in ihrem sorgfältig verriegelten Wagen zu schlafen versuchte, hörte sie alles Mögliche – das Knacken von Holz, die Glocke einer Ziege, die sich womöglich verirrt hatte, sogar Fetzen von Musik, die vielleicht aus der Taverne stammten, die ein Stück weiter gelegen war und in die sie unbedingt einmal gehen sollte, um die Besitzer kennenzulernen. Aber bisher hatte sie darauf verzichtet, einfach weil sie so sparsam wie möglich leben wollte, bis sie ihren ersten Reisebericht verkauft hatte.

Sie hatte den weichen Sand und den Streifen mit den Kieseln hinter sich gelassen und ging nun mit schnellen Schritten auf ihren Bus zu. Beunruhigt stellte sie fest, dass sich von der anderen Seite eine Person näherte, ein großer schwarzhaariger Mann. Er steuerte zielstrebig ihr Wohnmobil an und machte nicht den Eindruck eines Urlaubers, der einen Spaziergang unternahm. Wer war das? Kontrollierte die Gemeinde eventuell die Wohnmobile an ihren Stränden? Ihre Freundin Anna, die es als Mitarbeiterin des Tourismus-Büros wissen sollte, hatte ihr versichert, dass sie an dieser Stelle unbehelligt stehen dürfte. Von einer Stellplatzgebühr war nie die Rede gewesen.

Die tausend Bedenken, die alle vor ihrer Abfahrt geäußert hatten, schossen ihr durch den Kopf. „Du willst ganz allein nach Griechenland? An einen einsamen Strand? Hast du keine Angst, überfallen zu werden? Wie kannst du sicher sein, dass dich niemand übers Ohr haut? Du kannst noch nicht mal die Sprache! Wie willst du dich gegen diese Leute durchsetzen, wenn sie dir dumm kommen?“ Und der beste Spruch hatte gelautet: „Lass dich bloß nicht mit so einem griechischen Playboy ein!“

Das fiel ihr natürlich jetzt ein, denn genauso sah dieser Mann aus. Anfang dreißig, leicht gewellte dunkle Haare, Dreitagebart, angenehm, aber nicht übertrieben gebräunt. Er hatte genau die richtige Sonnenbrille auf, um sein markantes Gesicht zu betonen, genau das passende Hemd, das lässig seine sportliche Figur unterstrich. Als sei er einer Anzeige in einem teuren Herrenmodekatalog entsprungen. Als er jetzt lächelte, waren strahlend weiße Zähne zu sehen, und nachdem er seine Sonnenbrille in die Haare geschoben hatte, erkannte sie warme dunkle Augen, die sie neugierig musterten.

„Hallo! Gehören Sie zu diesem Wohnmobil?“, fragte er in beinahe akzentfreiem Englisch.

„Warum wollen Sie das wissen?“, entgegnete sie skeptisch.

Er lächelte unbeirrt weiter. „Weil wir dann quasi Nachbarn wären. Ich wohne in dem Haus dort oben.“

„In der Luxusvilla?“, entfuhr es ihr. Davon hatte Anna ihr mit besonderem Nachdruck erzählt. („Denen gehört die halbe Bucht! Und das Riesenhaus! Alles vom Feinsten, sagt man … Die Leute müssen Geld wie Heu haben.“)

„Wenn Sie es so nennen wollen …“ Er zeigte mit einer lockeren Handbewegung auf ihren Bus. „Ein bisschen mehr Platz als in Ihrem Camper habe ich dort schon.“

„Das kann ich mir vorstellen“, sagte sie trocken. „Aber mir reicht der Wagen. Ich brauche ihn nur als Schlafplatz und um gelegentlich rauf nach Argalasti zum Einkaufen zu fahren.“

„Heißt das, Sie sind ganz allein unterwegs?“

Mist, dachte Charlotte. Natürlich war es ziemlich eindeutig – auf der provisorisch gespannten Wäscheleine hingen nur zwei Badeanzüge und ein Handtuch, vor dem Bus standen ein einzelner Stuhl und eine einzige Kaffeetasse. Es war wohl nicht sehr schlau von ihr, auf jegliche Weise darauf hinzuweisen, dass hier eine Frau allein reiste. Er sollte zumindest wissen, dass sie in der Gegend vernetzt war. „Ich besuche hier meine Studienfreundin“, erklärte sie hastig. „Die arbeitet in Milina für eine Ferienwohnungsvermietung, deshalb ist sie viel unterwegs und wird mich demnächst auch mitnehmen, um mir den Pilion zu zeigen. Aber erst einmal wollte ich ein paar Tage Strandurlaub machen.“

„Guter Plan“, nickte er. Sein Lächeln war hinreißend, dachte sie. Wer hätte gedacht, dass man ausgerechnet in so einem versteckten Winkel auf so einen gut aussehenden Mann treffen konnte! Aber sofort spürte sie auch ein wenig Misstrauen in sich aufsteigen. Da war bestimmt ein Haken dabei! Sie sollte vorsichtig sein.

„Ich habe mich gar nicht vorgestellt“, fuhr er jetzt fort. „Ich bin Alexis.“

„Charlotte“, erwiderte sie automatisch. „Aus England, wie man sieht.“ Sie wies auf das britische Kennzeichen.

Alexis nickte. Sein Blick fiel auf die Blätter mit griechischen Vokabeln, die sie hinter den Scheibenwischer geklemmt hatte, damit sie nicht wegflogen. „Sie lernen unsere Sprache? Die Mühe geben sich die meisten Touristen nicht!“

„Ich möchte diese Gegend näher kennenlernen“, erklärte sie ihm. „Und deshalb halte ich es für angemessen, mit den Menschen hier reden zu können.“

„Respekt!“, meinte er mit einem anerkennenden Nicken. „Das klingt, als wollten Sie länger bleiben.“

„Ich schreibe Reiseberichte“, erklärte sie ihm. „Vielleicht wird sogar ein Reiseführer über den Pilion daraus. Da sollte man sich doch etwas intensiver mit der Region auseinandersetzen, um die es geht.“

„Auf jeden Fall“, stimmte er ihr zu. „Wie intensiv kennen Sie sich denn schon aus? Wissen Sie zum Beispiel, wem das Land gehört, auf dem Sie hier campen?“

Charlotte zog irritiert die Augenbrauen nach oben. „Meine Freundin hat mir versichert, dass ich hier stehen darf, ihre Familie ist immer schon hierhergekommen. Strand ist in Griechenland Allgemeingut, hat sie gesagt. Das darf jeder nutzen. Und keine Sorge, ich lasse hier keinen Müll rumliegen.“

„Nein, nein, das meinte ich nicht!“, versicherte er eilig. „Aber ich hatte den Eindruck, Sie möchten doch die Menschen kennenlernen, oder? Und ihre Geschichten. Dieser alte Ziegenstall zum Beispiel. Es gibt doch bestimmt einen Grund dafür, warum er verfallen ist.“

Sie kniff die Augen zusammen, um sich das Gemäuer anzusehen, das sich zwischen einigen Oleanderbüschen versteckte. Das Dach war längst eingestürzt, und zwischen den Mauersteinen wuchsen jede Menge Pflanzen. Sie hatte sich sogar schon ein paar Zweige Oregano von dort mitgenommen. „Sieht etwas wild-romantisch aus, nicht? Kennen Sie die Hintergründe?“

„Leider nein“, bedauerte Alexis. „Als ich früher hier war, hat mich das nicht so interessiert. Aber jetzt ist meine Neugier geweckt.“

„Ich kann mich ja mal umhören“, schlug sie vor. „Wenn es eine interessante Geschichte gibt, lasse ich es Sie wissen.“

„Gute Idee“, sagte er. „Bestimmt laufen wir uns bald wieder über den Weg, dann können Sie mir ja sagen, ob Sie Erfolg hatten.“

„Alles klar“, erwiderte sie und beobachtete überrascht, wie er sich mit einer lässigen Handbewegung zum Gehen wandte. „Bis dann!“

„Bis bald!“, rief er gut gelaunt und ging davon.

Sie sah ihm nach, bis er zwischen den Oleanderbüschen verschwunden war.

Alexis war sich nicht sicher, ob er das vernünftig angefangen hatte. Immerhin hatte er sich bremsen können, statt die Engländerin direkt zum Essen einzuladen oder sonst etwas Aufdringliches zu tun. Sie wirkte nicht wie eine Frau, die auf so etwas begeistert reagieren würde.

Aber verflixt, sie war attraktiv! Ihre schlanke Figur, ihre kastanienroten Haare und die leuchtend grünen Augen hatten ihn sofort in ihren Bann gezogen. Das war ihm schon lange nicht mehr passiert. Genauer gesagt, seit seine Beziehung mit Daphne in die Brüche gegangen war. Es war so eindeutig gewesen, dass sie sich nur so lange für ihn interessiert hatte, wie er ein scheinbar erfolgreiches Mitglied der Reederfamilie Kalokairis war – und als das nicht geklappt hatte, war sie plötzlich verschwunden.

Danach hatte er erst einmal Zeit gebraucht, um sich mit dem Rauswurf aus der Firma auseinanderzusetzen. Er musste zugeben, dass einige der Vorwürfe zutrafen, die er sich von Stavros und seinem Vater hatte anhören müssen. Er war manchmal etwas oberflächlich gewesen und war den Details seiner Projekte nicht ausreichend auf den Grund gegangen. Es war ihm schwergefallen, morgens rechtzeitig im Büro zu sein, nachdem er jahrelang den Großteil der Nächte durchgefeiert hatte und keinen Wecker zu stellen brauchte. Und er hatte sich zu sehr von anderen beeinflussen lassen, statt auf seine eigene innere Stimme zu hören, die ihm schon frühzeitig geraten hatte, die Finger von dieser komplizierten Kooperationsvereinbarung zu lassen. Stattdessen hatte er seinem angehenden Schwiegervater geglaubt (und wenn er ehrlich sein wollte, war es auch einfacher gewesen, seinen Wünschen zu entsprechen) – und hatte dafür einen hohen Preis bezahlt.

Was hingegen diese Engländerin anging, sagte ihm seine innere Stimme äußerst deutlich, dass er sie nicht aus den Augen lassen sollte. Sie war ganz anders als die Frauen, die er bisher gekannt hatte. Schon allein die Tatsache, dass sie offensichtlich auf eigene Faust unterwegs war und bereit, ihr eigenes Ding zu machen, faszinierte ihn. Offensichtlich brauchte sie weder den Luxus eines gepflegten Hotelzimmers noch die Fürsorge eines Begleiters – sie machte den Eindruck, als käme sie ganz gut allein zurecht. Und trotzdem wirkte sie weder abweisend noch rechthaberisch, sondern wie eine Person, die neugierig war auf das, was das Leben ihr zu bieten hatte.

Er wollte sie wiedersehen. Nicht nur, um mehr über den Besitzer des Grundstücks herauszufinden. Sondern auch, weil er hoffte, sie näher kennenzulernen. Alexis war es nicht gewohnt, allein zu sein. Er konnte sich gut vorstellen, dass man sich mit ihr auf nette Weise die Zeit vertreiben könnte …

So bald wie möglich würde er dafür sorgen, dass sie sich wieder über den Weg liefen. Und dann würde er weitersehen.

Sobald der gut aussehende Grieche ihren Blicken entschwunden war, machte sich Charlotte auf die Suche nach ihrem Handy, das sie immer in ihrem Bus versteckte, wenn sie zum Strand ging. Sie wählte die Nummer ihrer Freundin Anna und hatte Glück. „Hallo, Charlie! Alles in Ordnung bei dir?“

„Aber ja, es ist wunderbar hier!“, versicherte Charlotte. „Ich habe nur eine kurze Frage. Sie betrifft das Grundstück hinter dem Platz, wo mein Bus steht. Du weißt schon, so ein total verfallener Stall. Weißt du, was es damit auf sich hat?“

„Diese alte Ruine? Ich weiß nur, dass das Land früher einem entfernten Verwandten von mir gehört hat. Sein Großvater hat damals noch dort ein wenig Landwirtschaft betrieben, glaube ich. Aber irgendwann lohnte sich das nicht mehr, und sie haben es aufgegeben.“

„Also ist dein Verwandter der Besitzer?“

„Nein, der ist vor zwei Jahren gestorben. Keine Ahnung, wer das geerbt hat … er hat eine umfangreiche Verwandtschaft, die hatten aber bestimmt mehr Interesse an den Häusern, die ihm auf Skiathos gehörten. Wieso willst du das wissen, Charlie? Sag bloß nicht, dass du es kaufen möchtest.“ Anna lachte, als wäre das eine absolute Schnapsidee.

„Nein, natürlich nicht. Aber ich habe gerade einen Mann getroffen, der fragte mich danach.“

„Oho! Erzähl mir mehr darüber. Was ist das für ein Mann, für den du dir die Mühe machst, dich nach solchen Lappalien zu erkundigen?“

„Vielleicht kennst du ihn ja. Er heißt Alexis und wohnt in der Villa oberhalb der Bucht.“

„Na so was, da machst du ja direkt die tollsten Bekanntschaften! Die Villa gehört der Melidis-Familie, die kommen auch gelegentlich im Sommer hierher oder vermieten die Bude an ihre reichen Schickimicki-Freunde. Das ist bestimmt einer davon. Warum fragt der denn dich nach diesem Grundstück?“

„Das weiß ich auch nicht, Anna. Vielleicht will er es kaufen und hört sich erst mal um? Ich dachte nur … Um ehrlich zu sein, würde ich mir diese Villa gern mal ansehen. Man hat bestimmt einen fabelhaften Blick von dort oben, und ich bin natürlich auch total gespannt, wie die oberen Zehntausend hier leben. Nun ja, wenn ich ihm mehr erzählen kann, hätte ich einen Grund hinzugehen.“

Sie ahnte, wie Anna bei diesen Worten grinsen würde. „Hui, du bist ja durchtrieben, Charlie! Natürlich ist mir dein Wunsch Befehl, damit du deinen Typen bald wiedersehen kannst. Sieht er gut aus?“

„Zu gut, Anna. Der spielt nicht in meiner Liga. Aber das Haus würde ich mir schon gern mal ansehen. Es wäre bestimmt ein wirkungsvoller Kontrast, verfallene Schafhütte und Traumvilla in ein und derselben Bucht.“

„Wie du meinst. Ich frage meine Mutter, die kriegt so etwas immer schnell raus. Und wenn dein Schickimicki-Typ hier ein Ferienhaus bauen will, wäre das vielleicht für uns alle interessant. Diese Bucht ist touristisch noch völlig unterentwickelt. Ich hätte nichts dagegen, wenn sich in dieser Hinsicht was tut.“

Charlotte widersprach ihr nicht, weil sie Annas Motive verstand. Sie selbst hingegen schätzte gerade die Tatsache, dass es hier noch stille Buchten ohne endlose Reihen von Sonnenschirmen am Strand gab. Stattdessen verabschiedete sie sich, um endlich ihren nassen Bikini gegen Shorts und ein Sonnentop auszutauschen und sich mit einem Kaffee und ein paar Keksen in den Schatten zu setzen.

Sie zwang sich, die tägliche Lektion ihres Griechischkurses zu hören und sich einige Stichworte für den geplanten Reisebericht für ein britisches Onlinemagazin zu machen. Aber sie wurde immer wieder abgelenkt durch Gedanken an den gut aussehenden Alexis und den verfallenen Ziegenstall, auf den er sie aufmerksam gemacht hatte. Sie beschloss, sich das Ganze noch einmal aus der Nähe anzusehen.

Während Alexis sich in der Designerküche der Villa einen Kaffee machte, musste er immer wieder an die schöne Engländerin in dem klapprigen VW-Bus am Strand denken. Aber je länger er das tat, umso klarer wurde ihm, dass er Gefahr lief, sich wieder einmal von seinen wichtigsten Aufgaben ablenken zu lassen. Natürlich wäre es reizvoll, sie näher kennenzulernen. Aber sinnloser Zeitvertreib war gerade nicht angesagt. Er hatte wider Erwarten von seiner Großmutter eine neue Chance erhalten, um zu beweisen, dass doch etwas in ihm steckte. Die durfte er nicht in den Sand setzen.

Bei dem Stichwort Sand fielen ihm die Baupläne ein, die er vor seiner Abfahrt in Athen bei Anastasia abgeholt hatte. Direkt nach seinem Rauswurf hatte sie ihm erklärt, sie wolle endlich die Grundstücke, die sie in der Bucht besaß, mit einem Hotel bebauen lassen, dessen Erträge zu ihrer Altersversorgung beitragen sollten. Immobilien, so hatte sie erklärt, seien ihr lieber als ein Aktiendepot, um das sie sich täglich kümmern müsste. Zu seiner Verwunderung hatte sie nicht ein großes Architekturbüro mit dem Entwurf beauftragt, sondern einen jungen Architekten aus Volos. „Ich möchte jemanden haben, der mit dem Stil auf dem Pilion besser vertraut ist“, hatte sie gesagt. Das konnte er nachvollziehen – wenn sie schon ein großes Hotel in die Bucht bauten, sollte es wenigstens an die typischen Gebäude erinnern, die diese Region prägten, und nicht einen schmucklosen Betonklotz, wie es sie in den Vorstädten Athens gab.

Ganz so einfach war es trotzdem nicht gewesen. Die Pläne, die sich jetzt in der großen Papprolle befanden, waren bereits der vierte Anlauf, denn vorher hatte Anastasia immer etwas auszusetzen gehabt. „Ich musste ihn ständig daran erinnern, dass das Gebäude etwas hermachen muss“, hatte sie geklagt. „Wir brauchen eine repräsentative Fassade, damit jeder weiß, dass man hier mit Stil wohnen wird.“

Inzwischen schien Jannis Liagouras aber begriffen zu haben, was sie wollte. Alexis zog die großen Bögen aus der Papprolle. Seine Großmutter besaß zwar einen Computer, benutzte ihn aber nicht gern und hatte deshalb darauf bestanden, dass Jannis seine Zeichnungen wie früher auf Papier anlegte. Das war einerseits günstig, weil man einen größeren Maßstab hatte als auf einem Laptopbildschirm, andererseits reichte der Esstisch nicht aus, um das Ganze auszubreiten.

Seufzend nahm Alexis die Zeichnungen und trug sie hinüber in eins der ungenutzten Schlafzimmer. Auf dem großen Doppelbett war Platz genug, und er zog sich einen Stuhl heran, um die Entwürfe in Ruhe zu begutachten.

Nach etwa einer halben Stunde fühlte er sich damit vertraut genug. Er machte einige Handyfotos und beschloss, noch einmal in die Bucht hinunterzugehen, um sich besser vorstellen zu können, wie genau das Gebäude am Hang liegen würde.

Zum zweiten Mal an diesem Tag verließ er das Anwesen und wanderte die Auffahrt hinunter. Wieder wurde ihm bewusst, wie gut es ihm tat, dass seine Großmutter ihr Vertrauen in ihn setzte und ihn ausgerechnet hierhergeschickt hatte. Hier hatte er sich immer wohlgefühlt. Dieses Gefühl war ihm in letzter Zeit abhandengekommen. Es war nicht angenehm, von der ganzen Familie für einen ständig faulenzenden Loser gehalten zu werden. Aber mit diesem Projekt würde er ihnen beweisen, dass er das nicht war.

Endlich hatte er etwas gefunden, das ihm mehr lag als Frachtschiffe über die sieben Weltmeere zu schicken oder die Fährverbindungen über das Mittelmeer noch kostengünstiger zu gestalten. Als Anastasia – die früher mit ihrem Mann eine Hotelkette besessen hatte – mit ihrem Vorschlag auf ihn zugekommen war, hatte er sofort gewusst, dass dieses Projekt zu ihm passte. Er war stets gern gereist und hatte sich für die Unterkünfte interessiert, in denen er untergebracht war. In manchen hatte er sich pudelwohl gefühlt, in anderen nicht – und das hatte längst nicht immer mit dem Zimmerpreis zu tun. Nicht selten waren es die kleinen Einzelheiten, die den Unterschied machten – die Ablageflächen im Bad zum Beispiel oder eine eindeutige Beschilderung der Etagen, damit man nicht am falschen Ende des Flurs landete.

Was ihm außerdem gefiel, war, dass er das Projekt als Betriebswirt mit allen Aspekten von Anfang an begleiten konnte. In der Reederei war alles schon seit Jahrzehnten festgelegt, und von ihm wurde verlangt, sich in die Maschinerie einzufügen. Hier entstand etwas völlig Neues. Klar, es gab bereits die Baupläne – er musste zugeben, dass er davon keine Ahnung hatte und sich darauf verlassen musste, dass Jannis Liagouras wusste, was er tat. Aber bei der Inneneinrichtung, der Einstellung des Personals und anderen grundsätzlichen Entscheidungen würde er sich einbringen und dafür sorgen, dass das Hotel diese ganz individuelle Note erhielt, die im gehobenen Segment von den Kunden erwartet wurde.

Bei dem Gedanken verspürte er etwas, das er lange vermisst hatte: Vorfreude. Es wäre bestimmt anstrengend und herausfordernd, sich voll und ganz in diese Dinge einzuarbeiten, aber es würde ihm Spaß machen.

Durch diese positiven Vorstellungen motiviert, bog er von der Auffahrt auf die Straße ab, die erst vor ein paar Jahren befestigt und geteert worden war, damit der Strand für Touristen besser erreichbar war. Für die großen Baumaschinen und Zementlaster müsste sie weiter verstärkt werden, weil sie sonst der Dauerbelastung nicht standhalten würde. Alexis sprach eine Notiz in sein Telefon, um sich später genauer damit zu beschäftigen. Er wollte nicht noch einmal denselben Fehler machen und sich zu wenig um solche Einzelheiten kümmern.

Deshalb wollte er sich auch das besagte Grundstück noch einmal genauer ansehen, über das die geschwungene Zufahrt zum Hotelkomplex verlaufen sollte. Offensichtlich hatte der Architekt zunächst andere Möglichkeiten durchgespielt, aber entweder war der Hang zu steil, oder es gab ein trockenes Flussbett, das nicht zugeschüttet werden durfte. Es blieb dabei: diese kleine Ecke Land wurde gebraucht, damit das Hotel in den geplanten Dimensionen gebaut werden konnte.

Insofern blieb zu hoffen, dass er den aktuellen Besitzer schnell ausfindig machen und überreden konnte, die Parzelle zu verkaufen. Alexis wandte sich in die Richtung des verfallenen Ziegenstalls, der im Zuge der Arbeiten natürlich abgerissen werden musste.

Und dann wurde er durch einen lauten Schrei aufgeschreckt, der genau aus dieser Richtung kam.

2. KAPITEL

Es hatte sich angehört wie eine Frauenstimme, und Alexis musste sofort an Charlotte denken, deren Bus nicht weit entfernt stand. Eilig rannte er zu dem verfallenen Gebäude, und dann sah er sie auch schon: Sie hockte auf einem Mäuerchen und hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht das Bein.

Alexis lief noch schneller. „Was ist passiert?“, rief er ihr entgegen.

„Da war eine Schlange …“, stieß sie hervor.

„Wurden Sie gebissen?“, fragte er besorgt. Hier gab es mehrere Arten von Schlangen, deren Gift gefährlich sein konnte. Dann müsste er sie so rasch wie möglich nach Argalasti zum Gesundheitszentrum bringen.

„Nein“, antwortete sie und biss sich auf die Lippen. „Die ist sofort wieder verschwunden. Aber ich habe mich so erschreckt, dass ich gestolpert bin und mir den Fuß verdreht habe.“

„Ah“, sagte er mit einer gewissen Erleichterung. Aber ihrem Gesicht sah er an, dass sie Schmerzen hatte. „Glauben Sie, dass etwas gebrochen ist?“

Charlotte schüttelte den Kopf. „Nein, aber ich kann nicht auftreten. Vielleicht ist der Knöchel verstaucht?“

„Auf jeden Fall sollten Sie das kühlen.“

„Dann sollte ich wohl am besten ins Meer gehen“, erwiderte sie mit einem gewissen Sarkasmus. „In meinem Bus habe ich jedenfalls kein Eis. Ob man in der Taverne welches kriegt?“

„Kann sein“, meinte Alexis. „Aber ich weiß, wo es ganz sicher welches gibt – nämlich oben bei mir.“ Er streckte die Hand zu ihr aus. „Kommen Sie, es ist nicht weit.“

„Ich will Ihnen keine Umstände machen“, sagte sie unsicher. „Bestimmt hatten Sie andere Pläne.“

„Ich hatte heute nichts anderes vor“, gab er zurück. „Und es würde mir viel mehr Umstände machen, mir vorzustellen, dass Sie in diesem Zustand ohne Unterstützung in der Bucht herumhumpeln. Also kommen Sie schon.“

„Na schön.“ Sie wehrte sich nicht weiter, sondern ergriff seufzend seine Hand. Er zog sie vorsichtig hoch und merkte, wie wacklig sie auf den Beinen war.

„Stützen Sie sich auf meinen Arm.“ Er führte sie ein paar Schritte, stellte aber schnell fest, dass sie auf diese Weise nur langsam vorankamen. Deshalb blieb er stehen, schlang einen Arm um sie und schob den anderen unter ihre Knie, um sie mit einer gezielten Bewegung hochzuheben.

„Hey!“, protestierte sie überrascht. „Sie müssen mich nicht tragen, ich …“

„Keine Widerrede“, entgegnete er mit Nachdruck. „Sie sollten Ihren Fuß so schnell wie möglich kühlen, und wenn Sie auf diese Art zur Villa hüpfen wollen, dauert es dreimal so lange.“

Charlotte verzichtete darauf, weiteren Einspruch zu erheben. Er hatte ja recht. Ihr Fuß tat höllisch weh, und sie ahnte, dass ihr das plötzliche Auftauchen der Schlange einen größeren Schreck eingejagt hatte als gedacht. Ihr Herz pochte jetzt noch ein wenig heftiger als normal – oder hatte es vielleicht damit zu tun, dass dieser attraktive Mann sie auf seinen Armen hielt? Er schien recht durchtrainiert zu sein, denn auch als es jetzt bergauf ging, kam er nicht ein kleines bisschen aus der Puste.

So nah wie sie ihm war, konnte sie nicht umhin, den Zitruston seines Aftershaves zu erschnuppern. Sie studierte seine klassisch gerade Nase, den gepflegten Dreitagebart, nahm die Wärme seines Körpers wahr. Und jetzt lächelte er sie auch noch mit diesem hinreißenden Lächeln an! Es könnte ein fabelhafter Moment sein, wenn ihr Fuß nicht so weh täte und sie sich überdies über ihre Ungeschicklichkeit ärgerte. Sie verzog das Gesicht. Wieso hatte sie nur so panisch reagiert?

„Keine Sorge“, versuchte er sie zu beruhigen. „Wir sind gleich da.“

„Das ist mir so peinlich“, klagte sie. „Ich habe noch nicht mal genau gesehen, wie die Schlange aussah. Vermutlich hat sie sich genauso erschreckt wie ich.“

„War sie hell gefleckt und hatte eine Ausbuchtung am Kopf?“, fragte er.

„Könnte sein, es ging alles so schnell. Kennen Sie sich aus mit diesem Viehzeug?“

„Ich bin kein Experte“, erwiderte er, „aber dann wäre es eine Hornviper gewesen, und die sind äußerst giftig. Allerdings auch sehr selten. So schnell werden Sie nicht wieder einer begegnen.“

„Gut zu wissen“, murmelte sie. „Dann habe ich ja wohl Glück gehabt.“

„Na klar“, beruhigte er sie. „Und das mit dem Knöchel kommt bestimmt auch schnell wieder in Ordnung.“

Sie fragte sich, ob sein Optimismus berechtigt war. Aber dann wurde sie abgelenkt, weil sie das Gelände der Villa erreicht hatten. Sie durchquerten ein mächtiges schmiedeeisernes Tor und gelangten auf einen halbrunden Platz, auf dem ein großer schwarzer Geländewagen parkte. Hinter der niedrigen Bruchsteinmauer, die den Platz begrenzte, befand sich ein Beet, in dem Malven und Hibiskus wuchsen sowie leuchtende Bougainvilleen, zum Teil so hoch, dass sie an Holzgittern emporrankten, die an den Wänden der Villa befestigt waren.

Das Gebäude selbst war ein zweistöckiger Bau im typischen Pilion-Stil, bei dem die obere Etage ein Stück über dem Erdgeschoss vorsprang. Die teilweise geschlossenen Fensterläden waren in demselben dunkelbraunen Holz gehalten wie die schwere Haustür, die Alexis jetzt mit dem Ellbogen öffnete. Er trug sie in die mit glänzendem Marmor ausgelegte Eingangsdiele und weiter in eine große Küche mit glänzenden weißen Schrankwänden und einer großen Kochinsel. Vor dem Panoramafenster, das den Blick auf das Meer freigab, stand ein großer Esstisch mit mindestens zehn Sitzplätzen.

Alexis setzte sie behutsam ab und zog einen der Stühle unter dem Tisch vor. „Setzen Sie sich und ziehen Sie Ihren Schuh aus.“ Er öffnete mehrere Schubladen, bis er eine entdeckte, in der sich Küchenhandtücher befanden. Dann nahm er eine Schüssel aus einem anderen Schrank und ging damit zu dem riesigen amerikanischen Kühlschrank, der auf einen Knopfdruck gecrushtes Eis auszuspucken begann.

Nachdem Charlotte sich vorsichtig ihren Sneaker vom Fuß gezogen hatte, sah sie sich um. Diese Küche war von einer beeindruckenden Größe und Eleganz, aber was sie am meisten begeisterte, war der Ausblick. Sie hatte schon vermutet, dass man von der Villa aus bis hinüber zur Insel Skiathos blicken konnte, aber es jetzt tatsächlich sehen zu können, überwältigte sie. Vorsichtig tastete sie in der Potasche ihrer Shorts nach ihrem Handy.

„Sie haben doch sicher nichts dagegen, wenn ich den Blick aus dem Fenster fotografiere?“, fragte sie sicherheitshalber, während er sich mit seinen Utensilien näherte.

„Nein, natürlich nicht“, antwortete Alexis. „Aber ich empfehle Ihnen zu warten, bis Sie auf der Terrasse sind. Von dort aus wirkt es noch besser, vor allem am Abend.“ Er verteilte das Eis sorgfältig auf einem Küchenhandtuch und wickelte es behutsam um ihren Knöchel. „Geht es so?“

„Danke, das ist prima.“ Sie hob das Bein und legte es auf einen zweiten Stuhl, den er jetzt vor sie hinstellte. „Was für ein glücklicher Zufall, dass Sie gerade zur Stelle waren – und noch mal vielen Dank für Ihre Hilfe.“

„Es ist eine Selbstverständlichkeit, in einer solchen Situation zu helfen. Ich werde Sie nach Argalasti bringen, damit sich ein Arzt das ansehen kann. Sie brauchen einen ordentlichen Verband und vermutlich Medikamente.“

Charlotte starrte ihn erschrocken an. „Zum Arzt nach Argalasti? Hören Sie, das wird nicht nötig sein. Wenn ich den Fuß ein bisschen schone, wird es bestimmt bald wieder besser gehen.“

„Mag sein“, sagte er gelassen. „Aber erstens will ich da kein Risiko eingehen …“ Er zögerte mit einem verschmitzten Grinsen im Gesicht.

„Und zweitens?“, fragte sie ungeduldig.

„Zweitens habe ich nichts Frisches zu essen im Haus“, ergänzte er. Das Grinsen wandelte sich zu einem charmanten Lächeln. „Ich müsste sowieso einkaufen. Deshalb fahren wir jetzt erst einmal ins Gesundheitszentrum, und dann besorgen wir ein paar Sachen fürs Abendessen. Ich werde für Sie kochen.“

Charlotte fühlte sich ein wenig überrumpelt. „Sie können kochen?“, war der erste Satz, den sie herausbrachte. Am liebsten hätte sie ihn sofort wieder zurückgenommen, aber dafür war es nun zu spät.

„Trauen Sie mir das nicht zu?“, fragte er zurück. Zum Glück wirkte er nicht beleidigt, sondern eher amüsiert. „Halten Sie mich für einen dieser Machos, die für alle Lebenslagen auf Personal angewiesen sind?“

Hilflos zog sie die Schultern hoch. „Tut mir leid, aber ich kenne Sie ja kaum.“ Insgeheim musste sie zugeben, dass er in gewisser Weise recht hatte. Sie hatte ihn automatisch so eingestuft, denn von Anna hatte sie immer wieder gehört, dass die meisten griechischen Männer sich für gewöhnliche Hausarbeiten zu schade waren.

„Umso wichtiger, dass sich das ändert.“ Er nahm die inzwischen ziemlich feuchte Eispackung von ihrem Fuß und warf sie in die Spüle. Aus dem Gefrierschrank holte er ein kleines Kühlkissen, das er ebenfalls in ein Küchenhandtuch wickelte und ihr reichte. „Hier, das können Sie unterwegs noch mal auflegen. Aber nicht zu schnell, man kann es auch übertreiben.“

Sie ahnte, dass es wenig Sinn hatte, ihm zu widersprechen.

Im Gesundheitszentrum an der Straße Richtung Norden war am Spätnachmittag nicht mehr viel los. Ein junger Arzt untersuchte Charlottes Fuß und bestätigte ihre Vermutung, dass nichts Schlimmes passiert war. „Versuchen Sie, ihn ein paar Tage nicht allzu sehr zu belasten, dann wird es wieder besser sein“, sagte er in gebrochenem Englisch zu ihr. „Haben Sie Schmerzmittel? Vielleicht sollten Sie heute Nacht eine Tablette nehmen.“

Alexis nickte zufrieden. „Wir gehen gleich in die Apotheke und besorgen etwas.“ Er führte Charlotte wieder in seinen Range Rover und fuhr zurück in die Ortsmitte, fand einen Parkplatz in der Nähe der Plateia, des zentralen Platzes, und bestand darauf, dass sie sich sofort an einen schattigen Tisch setzte, der zu einem der Kafeneions gehörte, die hier sowohl Touristen wie Einheimische den ganzen Tag über versorgten. „Sie können eine Stärkung gebrauchen“, sagte er. „Wie wäre es mit einem Frappé?“

„Das hört sich gut an“, erwiderte sie, und Alexis sorgte dafür, dass in kürzester Zeit zwei Gläser des typisch griechischen Eiskaffees vor ihnen standen.

„Kann ich sonst noch irgendetwas für Sie tun?“, fragte er. „Haben Sie Hunger? Ich könnte Ihnen etwas Süßes oder ein Meze bestellen, denn es wird ja noch eine Weile dauern, bis wir zu Abend essen.“

Charlotte merkte auf. Den Ausdruck hatte sie schon gehört. „Was ist ein Meze?“ Wenn es etwas Landestypisches war, musste sie es unbedingt wissen und in ihren Reisebericht aufnehmen.

Alexis schenkte ihr ein hinreißendes Lächeln. „Die Griechen sind der Meinung, dass man unbedingt etwas essen sollte, wenn man Wein trinkt oder etwas Stärkeres. Deshalb gibt es immer eine Kleinigkeit dazu – ein bisschen Tsatsiki, ein paar Sardellen oder Oliven mit Brot – was gerade so da ist.“

„Vermutlich eine gute Idee, vor allem tagsüber“, meinte sie. „Gerade wenn man bedenkt, dass die Leute jetzt schon Ouzo trinken.“ Sie wies mit dem Kopf auf einen Tisch, an dem einige ältere Männer saßen, jeder mit einem Glas vor sich, das eine milchige Flüssigkeit enthielt. Das verriet, dass sie ein wenig Wasser in ihren Anisschnaps gegossen hatten. Sie schienen alle Zeit der Welt zu haben, während sie das Treiben auf dem Platz verfolgten und dabei mit den kleinen Holzperlenketten spielten, die hier offenbar zur Grundausstattung gehörten.

„Sagen Sie nicht Ouzo dazu“, korrigierte er. „Ich vermute, dass es sich hier eher um Tsipouro handelt. Der schmeckt zwar auch nach Anis, ist aber meistens noch stärker, weil er hauptsächlich privat gebrannt wird. Da hat jede Familie auf dem Pilion ihr eigenes Rezept.“

„Tsipouro“, wiederholte sie, um sich den Begriff einzuprägen. Genau solche Details wollten die Leute in einem Reisebericht lesen. „Den muss ich unbedingt auch mal probieren.“

„Aber nicht heute!“, warnte er. „Hochprozentiger Alkohol und Schmerzmittel – das passt nicht zusammen. Was mich daran erinnert, dass ich ja noch ein paar Dinge zu besorgen habe. Kann ich Sie für eine Viertelstunde hier allein lassen?“

Im ersten Moment wollte sie beleidigt protestieren – hielt er sie für ein verängstigtes Mäuschen, das nicht in der Lage war, ohne Begleitung einen Kaffee zu trinken? Aber dann traf ihr Blick seine Augen, und sie begriff, dass er es nicht so gemeint hatte. Sie sollte ihm dafür dankbar sein, mit welcher Selbstverständlichkeit er sich ihrer abgenommen hatte – ohne seine Hilfe säße sie jetzt vielleicht allein in ihrem Bus, hätte Schmerzen und nichts, was sie dagegen tun konnte. „Machen Sie sich keine Sorgen um mich, ich komme schon zurecht“, sagte sie stattdessen.

„Da bin ich mir sicher“, erwiderte er charmant. „Aber eine Frau wie Sie findet bestimmt noch mehr Bewunderer, und ich wäre am Boden zerstört, wenn ich zurückkäme und Sie wären nicht mehr da.“

Charlotte fand, er hätte damit ein wenig dick aufgetragen. Aber sie konnte nicht verhindern, dass ihr seine Worte schmeichelten und ihr Selbstbewusstsein wieder aufbauten, das in letzter Zeit ein wenig gelitten hatte. Dabei war er doch der Attraktive! Es war ihr nicht entgangen, dass ihm einige Frauen auf dem Platz interessiert nachschauten, als er jetzt zu der kleinen Apotheke am anderen Ende hinüberging.

Der Klingelton ihres Handys riss sie aus ihren Gedanken. Es war Anna, die statt einer Begrüßung direkt auf den Punkt kam. „Hör mal, Schätzchen, könnte dieser Mann, den du getroffen hast, eventuell Alexis Kalokairis sein?“

„Ich glaube ja“, antwortete Charlotte überrumpelt. So hatte er sich dem Arzt im Gesundheitszentrum vorgestellt. Sie hatte sich den Namen gemerkt, weil „kalokairi“ auf Griechisch „Sommer“ hieß.

„Bingo!“, jubelte Anna. „Da hast du dir ja einen heißen Typen an Land gezogen! Seiner Familie gehört die Kalokairis-Reederei und sonst noch so einiges. Den solltest du dir warmhalten, dann musst du in deinem Leben nie wieder arbeiten. Denk an Jackie Onassis.“

„Erstens ist es überhaupt nicht meine Absicht, nicht mehr zu arbeiten“, erklärte Charlotte ihr. „Zweitens bin ich nicht Jackie …“

„Nein, bist du nicht“, fiel Anna ihr ins Wort. „Aber dieser Alexis ist auch kein Greis wie Onassis, sondern wenn ich den Fotos trauen darf, die ich auf die Schnelle gegoogelt habe, dann sieht er aus wie ein Filmstar!“

„Ich sagte doch schon, er sieht gut aus“, gestand Charlotte. „Er scheint auch richtig nett zu sein. Aber das heißt noch gar nichts, Anna. Ich bin nicht auf der Suche nach einem Mann.“

„Schätzchen, man muss die Feste feiern, wie sie fallen“, meinte Anna unbekümmert. „Und wieso interessiert der sich für dieses Grundstück, wenn er nur auf der Durchreise ist? Was mich daran erinnert – ich habe mit meiner Mutter darüber gesprochen.“

„Und? Weiß sie, wem es gehört?“

„Ziemlich sicher“, erwiderte Anna. „Dieser entfernte Onkel hatte zwei Nichten in Argalasti, und sie meint, eine davon hätte es geerbt. Die jüngere, Eleni, ist mit dem Mann verheiratet, dem die Tankstelle an der Kreuzung gehört. Die andere heißt Fotini, sie betreibt irgendwo eine Taverne. Meine Mutter fragt noch mal nach und ruft mich morgen wieder an. Reicht dir das?“

„Klar“, behauptete Charlotte. „Mich betrifft das ja gar nicht, aber nachdem Alexis sich so viel Mühe gegeben hat …“

Wieder musste Anna sie unterbrechen. „Mühe gegeben?“, quietschte sie aufgeregt. „Was willst du damit sagen?“

Nun musste sie ihrer Freundin die ganze Geschichte erzählen. Anna war völlig aus dem Häuschen. „Er will für dich kochen? Wo gibt es denn so was? Hör mal, wenn das nicht der Auftakt zu einer ganz fabelhaften Romanze ist, dann …“

„Nun komm mal wieder runter“, versuchte Charlotte ihre Begeisterung zu dämpfen. „Nicht aus jeder Begegnung wird eine große Romanze. Ich habe da auch meine Erfahrungen.“

„Aber es könnte!“, beharrte Anna. „Versprich mir, dass du ihm wenigstens eine Chance gibst.“

In diesem Moment nahm Charlotte wahr, wie Alexis mit einer Einkaufstüte auf sie zukam. Sie musste sich eingestehen, dass ihr Herz schon ein wenig schneller klopfte. Und als er sie jetzt auch noch anstrahlte, als wäre sie etwas ganz Besonderes … „Na gut, ich verspreche es“, sagte sie. „Lass uns morgen wieder telefonieren, ja?“

„Auf jeden Fall!“, rief Anna. „Ich will alles wissen!“

„Ich werde berichten“, gelobte Charlotte.

Alexis hatte Charlotte schon von Weitem erspäht. Sie saß sehr entspannt an ihrem Platz und telefonierte, aber nun blickte sie auf, erkannte ihn – und lächelte. Verwundert stellte er fest, dass das etwas ganz Ungewohntes mit ihm machte: Er fühlte sich leichter. Für einen Moment war der ganze Druck verschwunden, der auf ihm lastete. In diesem Augenblick ging es nicht um Erfolg oder Misserfolg, sondern nur um die Frage, was sich zwischen ihm und dieser Frau entwickeln könnte. Mit ihrem roten Haar und den vorwitzigen Sommersprossen entsprach sie so gar nicht dem Typ, den er bisher bevorzugt hatte – Daphne zum Beispiel war schwarzhaarig, und ihre sorgfältig gepflegte Haut bräunte quasi über Nacht. Außerdem war sie sehr temperamentvoll, während er nicht immer sicher sein konnte, was Charlotte gerade dachte.

Aber gerade das forderte ihn heraus. Er wollte sie näher kennenlernen, wissen, wie er sie zum Lachen bringen konnte, aber auch ernsthaft mit ihr diskutieren. Schon in der kurzen Zeit, die sie in der Villa gewesen war, hatte es sich dort nicht mehr so von der restlichen Welt abgeschottet angefühlt. Er würde alles daransetzen, dass sie dort so viel Zeit wie möglich verbrachte.

Er schwenkte seine Einkaufstüte ein wenig, denn damit war der Anfang gemacht. Er hatte ein anständiges Stück Filet beim Metzger erworben, und die Gemüsehändlerin gleich nebenan hatte ihm eine gute Auswahl an sonnengereiften Produkten verkaufen können. Jetzt konnte er nur noch hoffen, dass er mit seiner Auswahl ihren Geschmack getroffen hatte. „Ich habe gar nicht gefragt, ob Sie Vegetarierin sind“, sagte er und ließ sich auf dem Stuhl ihr gegenüber nieder.

„Nicht wirklich“, antwortete sie. „Ich esse zwar nicht viel Fleisch, aber das liegt eher daran, dass ich es nicht zubereiten kann. Da setze ich meine Hoffnung eher auf Sie.“

Alexis lachte. „Oho! Ich weiß ja nicht, was Sie von mir erwarten, aber dann sollten wir keine Zeit verlieren. Sind Sie bereit zur Abfahrt, oder wollen Sie die Gelegenheit nutzen und noch etwas besorgen?“

Sie schüttelte den Kopf und sah ihn ein wenig verlegen an. „Selbst wenn ich wollte, ich habe überhaupt kein Geld bei mir. Ich hätte gern wenigstens unseren Kaffee bezahlt, aber im Moment bin ich leider total auf Sie angewiesen. Nächstes Mal stecke ich mein Portemonnaie ein, bevor ich mir den Fuß verrenke.“

„Ich hoffe nicht, dass Sie sich noch mal den Fuß verrenken“, sagte er, während er die Bedienung heranwinkte und ihr einen Schein zusteckte. „Ansonsten ist es mir eine Freude, Ihnen zur Verfügung zu stehen.“

„Hoffentlich bedauern Sie das nicht irgendwann“, meinte sie trocken. „Bisher hatte ich den Ruf, kompliziert und anstrengend zu sein.“

„Wie kommt denn das?“, fragte er überrascht. Aber gleichzeitig wurde ihm auch bewusst, wie wenig er über sie wusste.

Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. „Das sollten Sie zum Beispiel mit meinem früheren Verlagsleiter besprechen. Er fand, ich wäre anmaßend und kompromisslos.“

„Und sehen Sie sich selbst auch so?“

Charlotte seufzte. „Wenn kompromisslos bedeutet, dass ich mich nicht verbiegen und mir alles gefallen lasse, dann trifft es vermutlich zu.“ Sie sah ihn mit einem Blick an, der schwer zu deuten war. „Wissen Sie, wenn ein Mann so ist, dann nennt man ihn zielstrebig und ehrgeizig. Bei einer Frau heißt es eher schwierig oder machthungrig. Da wird häufig mit zweierlei Maß gemessen.“

„Ich hatte bisher nicht den Eindruck, dass Sie anmaßend oder schwierig sind“, erklärte Alexis. „Was die Kompromisse angeht – da warten wir mal, bis ich Ihnen mein Essen serviert habe. Ich koche gern, aber ein Jamie Oliver bin ich nicht.“

Sie lachte laut auf. „Seien Sie ganz beruhigt – wer so wenig vom Kochen versteht wie ich, freut sich so ungefähr über alles, was ihr vorgesetzt wird.“ Sie beäugte kurz seine Einkaufstüte. „Wenn es nicht gerade mit Blumenkohl gefüllte Feuerqualle ist oder so was Ähnliches.“

„Ich muss sagen, Sie haben eine blühende Fantasie“, grinste er. „Über diese Möglichkeiten habe ich noch gar nicht nachgedacht. Aber vielleicht nächstes Mal.“

Charlotte wusste längst, dass sie auf die andere Seite der Halbinsel fahren müsste, um die Sonne über dem Wasser untergehen zu sehen. Aber auch ohne dieses Erlebnis war die Aussicht von Alexis’ Terrasse phänomenal. Die Bäume unterhalb der Villa verdeckten die Taverne und die wenigen Camper, die sich bereits am Strand aufhielten, während das Meer sich dunkel gegen den Himmel abgrenzte. Die einzig sichtbaren Lichter gehörten zu einem Schiff am Horizont, das in Richtung Chalkidiki unterwegs war. Es wirkte, als wäre man völlig allein auf diesem Fleckchen Erde, während langsam die Dämmerung einsetzte.

Sie konnte nicht anders als eine ganze Reihe von Fotos mit ihrem Handy zu machen, während er in der Küche das Abendessen zubereitete. Sie war sich nicht ganz sicher, was er da kochte, aber es roch schon sehr lecker – und so schmeckte es auch, als er es ihr eine Weile später vorsetzte.

„Jetzt müssen Sie eine Entscheidung treffen“, sagte Alexis zu ihr, nachdem er die leeren Teller zurück in die Küche gebracht hatte. „Was soll es sein, ein Glas Wein zum Abschluss oder eine Schmerztablette?“

Charlotte blickte auf ihren Fuß, der auf einem Hocker ruhte. Sie hatte zwischenzeitlich fast vergessen, was damit passiert war. „Ich glaube, ich kann ein Glas Wein riskieren“, entschied sie. „Irgendwie gehört es zu so einem Abend dazu, finde ich.“

„Eine gute Entscheidung“, nickte er und goss ihr etwas Rotwein ein. „Kosten Sie.“

Sie nahm einen Schluck und lehnte sich entspannt zurück. „Nicht übel! Daran könnte ich mich gewöhnen.“

Er schenkte lächelnd nach. „Und sonst? Wie geht es Ihnen?“

„So gut wie schon lange nicht mehr“, gestand sie. „Es ist einfach traumhaft hier.“

Sein Blick ruhte aufmerksam auf ihr. „Wenn es Ihnen vorher nicht so gut ging … darf ich fragen, was der Grund war, hierherzukommen?“

Für einen Moment schwenkte sie nachdenklich ihr Glas. „Ich brauchte einen Tapetenwechsel“, antwortete sie schließlich. „Ich habe bis vor Kurzem in London gelebt und für ein großes Reisemagazin gearbeitet. Es war seit Langem klar, dass die Chefredakteurin dieses Frühjahr in den Ruhestand gehen würde, und man hatte mir Hoffnungen auf ihre Nachfolge gemacht, aber …“ Sie brach ab und starrte düster in die Ferne. Es tat immer noch weh, sich daran zu erinnern.

„Aber Sie haben die Stelle nicht bekommen?“, fragte Alexis mitfühlend.

Sie atmete tief aus. „Wenn man es so zusammenfasst, klingt es viel zu banal. So als würde ich wegen einer Sache rumheulen, die jedem mal passiert.“

„Solche Geschichten sind nie banal, Charlotte. Es steckt immer mehr dahinter, als auf den ersten Blick zu erkennen ist.“

Überrascht sah sie ihn an. Das Windlicht beleuchtete sein Gesicht nur spärlich, aber sie erkannte … Mitgefühl? „Ja, das stimmt.“ Sie hatte zunächst nicht mehr darüber erzählen wollen, aber nun beschloss sie, es doch zu tun. „Sechs Jahre lang habe ich mich mit ganzer Kraft für den Verlag eingesetzt. Ich habe sogar einen neuen Bereich eingeführt, der den Schwerpunkt auf ökologisch verantwortungsbewusstes Reisen legt, das hat uns einen deutlichen Vorsprung am Markt verschafft. Ich kann die unbezahlten Überstunden gar nicht zählen, die ich gemacht habe. Als Mildred – unsere Chefin – dann verabschiedet wurde, haben alle fest damit gerechnet, dass ich ihren Job kriege, nicht nur ich. Aber dann hat Harvey …“ Sie brach ab, als sie bemerkte, dass sie ihr Weinglas so fest umklammerte, dass es zu zerbrechen drohte.

„Wer ist Harvey?“, fragte Alexis mit sanfter Stimme.

Charlotte schluckte. „Harvey ist unser Verlagsleiter. Und der Sohn des Verlegers. Wir hatten eine Zeit lang eine Beziehung. Harvey schlug allerdings vor, das Ganze ruhen zu lassen, bis Mildred gegangen und die Nachfolge geklärt war. Ich war einverstanden. Ich konnte ja nicht ahnen, dass er längst eine neue Flamme hatte. Und damit nicht genug, er hatte sich ausgerechnet die Tochter von Sir John McIntosh geangelt. Wissen Sie, wer das ist?“

„Der Medienzar, dem mehrere wichtige Zeitungen gehören?“ Alexis war offensichtlich gut informiert.

„Genau der. Und Kayla McIntosh hielt nichts davon, dass ihre Vorgängerin den Job bekommt. Deshalb hat Harvey stattdessen sie als Nachfolgerin eingestellt. Sie können sich vorstellen, dass wir alle ziemlich überrascht waren, als es bei der Abschiedsparty verkündet wurde.“ Sie trank den letzten Schluck und stellte das Glas beiseite.

„Überrascht?“, wiederholte er ein wenig ungläubig. Gleichzeitig beugte er sich vor und legte ihr seine Hand auf den Arm. „Charlotte, Sie haben es nicht nötig, auf diese Weise tiefzustapeln. Jeder an Ihrer Stelle wäre zutiefst verletzt gewesen und vermutlich auch unglaublich wütend über so eine Behandlung.“

Sie spürte die Wärme, die von ihm ausging, sah das Verständnis in seinen Augen. Vielleicht war es nötig gewesen, ihren Kollegen gegenüber die Starke zu spielen, die sich nicht unterkriegen ließ. Ihm gegenüber jedoch musste sie nichts vormachen, er hatte längst begriffen, was mit ihr passiert war. „Ja, ich war total wütend“, gestand sie. „Ich konnte erst einmal nicht fassen, auf wie gemeine Art und Weise ich hintergangen worden war. Er hätte es mir doch wenigstens vorher mitteilen können, nicht wahr? Stattdessen stand ich da wie eine Idiotin, um die alle einen Bogen machen, weil sie nicht wissen, was sie ihr sagen sollen. Vermutlich hat die eine Hälfte gedacht, ich würde gleich in Tränen ausbrechen, und die andere erwartete, ich würde eine Szene machen und Harvey zumindest einen Teller mit Vitello tonnato um die Ohren hauen.“

„Und wie haben Sie tatsächlich reagiert?“

„Tja!“ Sie stieß ein freudloses Lachen aus. „Bis heute weiß ich nicht genau, wie ich darauf kam, aber ich bin nach vorn gegangen und habe gesagt, ich hätte auch etwas mitzuteilen – nämlich dass ich kündigen und mich als Autorin von Reiseberichten selbstständig machen würde. Und genau das habe ich dann getan. Ich ließ mir meinen Resturlaub auszahlen, kratzte mein Erspartes zusammen und kaufte diesen Bus.“

„Das war also eine sehr spontane Entscheidung?“ Seine Hand lag immer noch auf ihrem Arm, und sein Daumen begann sie sanft zu streicheln. Es fühlte sich gut an.

„Na ja, ich hatte immer mal darüber nachgedacht“, antwortete sie. „Ich habe viel Erfahrung und eine Menge Kontakte in der Branche. Aber vermutlich hätte ich es nicht getan, wenn das nicht passiert wäre. Ich sage mir gelegentlich, dass es vielleicht ganz gut war, auf diese Weise zu einem solchen Schritt gedrängt zu werden …“

„… aber im Augenblick fühlen Sie immer noch, wie schmerzlich es war“, ergänzte er leise. Er rückte ein wenig näher, um ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht zu streichen.

Charlotte schloss kurz die Augen bei seiner Berührung. Es war gleichzeitig unerwartet und tröstlich, wie sehr sie sich von Alexis verstanden fühlte, obwohl sie ihn kaum kannte. Weder ihren Eltern noch ihrer Schwester gegenüber hatte sie zugeben können, wie tief sie Harveys Verrat getroffen hatte. Alle waren nach dem Motto „Charlotte ist so taff, die schafft das schon“ schnell wieder zur Tagesordnung übergegangen und hatten ihre Entscheidung in erster Linie als einen nächsten Karriereschritt abgehakt.

Und dann kam dieser Mann, der sie erst vor ein paar Stunden getroffen hatte, und erfasste mühelos, was in ihr vorging. Kein Wunder, dass sie sich so zu ihm hingezogen fühlte! Sie hatte ihn ja von Anfang an attraktiv gefunden, aber das kam immer wieder mal vor. Doch gerade gut aussehende Männer waren oft auch sehr ichbezogen und oberflächlich. Sie legten es darauf an, eine Frau zu erobern; was in ihrem Inneren vorging, interessierte sie dabei nicht besonders. 

Der hier war anders, was sie gleichermaßen faszinierte und beunruhigte. „Warum erzähle ich Ihnen das alles?“, fragte sie stirnrunzelnd. „Normalerweise bin ich nicht so … weinerlich.“

„Du bist nicht weinerlich, Charlotte.“ Alexis schob seinen Stuhl jetzt ganz dicht an ihren und nahm ihre Hand. „Im Gegenteil, ich merke doch, wie du versuchst, deine Verletzung für dich zu behalten. Aber das musst du nicht. Es macht dich nicht schwächer, wenn du sie zugibst. Im Gegenteil.“

Ihre Blicke trafen sich, und ihr stockte der Atem über das, was sie in seinen Augen lesen konnte: Sympathie, Mitgefühl, aber auch Begehren. Alexis war definitiv mehr als ein freundlicher Zuhörer, dem sie ihre Probleme berichten konnte. Was er jetzt zweifelsfrei dokumentierte, indem er sich vorbeugte und sie küsste.

3. KAPITEL

Auf der Autofahrt zurück, auf der Terrasse, während er für sie kochte, sogar während des Essens hatte sie sich immer wieder vorgenommen, ihn nicht zu nahe an sich heranzulassen. Für Männer wie ihn war es vermutlich keine Schwierigkeit, eine Frau ins Bett zu bekommen, und sie wollte nicht auf der Liste seiner zahllosen Eroberungen landen. Außerdem, hatte sie sich gesagt, war es viel zu früh für sie, sich schon wieder auf einen Mann einzulassen.